Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2015
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Lektorat Frank Strickstrock
Umschlaggestaltung ANZINGER WÜSCHNER RASP, München
Titelfoto © dpa-Report
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ISBN Printausgabe 978-3-06435-8 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978-3-644-04801-0
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-04801-0
Für Horst, Susanne, Curt und Max
sowie für jene jungen Journalisten, denen
ich vielleicht ein bisschen helfen konnte.
Ein Stottertrottel? Der war ich fast, mit 10: Da wollte ich etwas sagen unter lauter Vierzehnjährigen – und brachte kein Wort heraus, wieder mal. Panik! Mutwillig versuchte ich das äußerste Gegenteil: Überwinde deine Angst, verblüffe sie alle, indem du den großen Zungenbrecher von 29 Silben meisterst, mit dem sie sich abends am Lagerfeuer lachend plagten! Ich trainierte heimlich, provozierte den nächsten Wettstreit im fehlerfreien Herunterrattern – und siegte! Das war der Durchbruch. Den Gewinn dieser kühnen Tat streiche ich seit achtzig Jahren ein.
Mit dem Wortbandwurm (in Kapitel 33 wird er in voller Länge vorgestellt, nebst seiner etwas albernen Begründung) habe ich mir die Zunge geschmiert mein Leben lang – vor jedem Fernsehauftritt, jedem Vortrag, jedem Seminar. Hören sollte das keiner; manchmal also auf der Herrentoilette. Und mit weiteren Klassikern des Sprechtrainings: dem Cottbuser Postkutscher in vielen Variationen, dem Erzdiözesanpräses, dem höllisch schweren «Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid» und dem Hochseilakt der Zungenakrobatik: «Un chasseur sachant chasser sans son chien sait chasser».
Über die Wörter darf man nicht stolpern, wenn die Rede fließen soll. Reden können! Jeder Lebenslage rhetorisch gewachsen sein! Das hat mir hundertfach den Umgang erleichtert: mit Lehrern und mit Schülern, mit Chefredakteuren und Politikern. Ja, manchmal auch erschwert.
Wenn’s nun aber ans Erzählen gehen soll am Abend eines langen Lebens, dann stellt sich die Frage: Wen kann eigentlich was interessieren? Da muss man grübeln, sortieren, verwerfen, es auch an den Enkeln testen. Wie es war, den Hitler noch leibhaftig gesehen zu haben, das wollten sie schon wissen. Wie ich mich 1943 den Fängern der Waffen-SS entwand, das interessiert auch andere. Wie ich es schaffte, diesen Krieg zu überleben.
Wie ich dann mitmischen durfte bei der Wiedergeburt der deutschen Presse nach 1945. Dass ich 1956 im «Platzl» gegenüber dem Hofbräuhaus den Herzog von Windsor maßkrugschwingend auf dem Tisch stehen sah unter rasendem Applaus – den, der mal Kaiser von Indien gewesen war! Wie ich mich mit Henri Nannen hakelte, dem großen Zampano. Wie Axel Springer mich erst umwarb, dann hofierte, dann in den Hintern treten ließ.
Auch warum ich Milliardären misstraue, kann ich erzählen. (Wie denn nicht, wenn man vieren von denen über den Weg gelaufen ist?) Warum ich mich auf den Montblanc geplagt habe. Wie ich fünf Bundeskanzlern und zwei US-Präsidenten begegnete, auch Leni Riefenstahl und Gina Lollobrigida, und wie ich in die Hütte der letzten Feuerland-Indianerin geriet, mehr Katzen hatte sie in der Küche als Zähne im Mund, 1983 ist sie gestorben. Und wie ich 1997 im gepanzerten Geländewagen ins beklemmende Srebrenica fuhr.
War ich denn ein rasender Reporter auf zwanzig Kriegsschauplätzen? Nein. Oder einer der Vernetzten, der von den Feuilletons Verwöhnten, der auf jeder Hochzeit Tanzenden, die die Mode machen und den Zeitgeist definieren? Nein. Ein Einzelgänger, ein Querdenker war ich mein Leben lang, auf Widerspruch gebürstet und vor jeder Mode auf der Hut. In diesem Geist habe ich meine Bücher geschrieben, und das schafft auch Feinde. Aber spannend war es schon. Und zu verbergen habe ich nichts.
Habe ich Rezepte fürs Alter und für ein langes Leben? Eher keine. Wie sollte ich denn das zur Nachahmung empfehlen: Hart arbeiten – fröhlich essen – fröhlich trinken – und nicht zum Arzt gehen, wenn’s nicht piekt? Einen Menschen suchen, der ähnlich tickt auf fünfzig Jahre – unbedingt. Und dann: Nicht aufhören – anfangen! Wenn die Beine lahmen, kann man immer noch einen Husarenritt riskieren. Wir taten das mit 60 und 70: Wir wanderten aus. Nach Mallorca nur, aber in die Wildnis, mit selbsterzeugtem Strom, das schiere Abenteuer, zehn Jahre lang.
Schließlich: Nicht vererben – verjubeln! Unsere Finca auf Mallorca haben wir verkauft, und nach meinen 68 Jahren im Beruf haben wir heiter und entspannt begonnen, sie zu verzehren. Die Kinder wissen das und finden es richtig. Und was ruft man ihnen zu zu guter Letzt, ihnen und den Enkeln? Frei nach Theodor Herzl: Macht keine Dummheiten, während wir tot sind!
Leben oder Tod?
Es lag an mir, ob ich diesen Tag überleben wollte. Es war mein 20. Geburtstag, und Deutschland hatte unterschrieben: Kapitulation an allen Fronten! Für morgen war der Einmarsch der kanadischen Truppen in die holländische Hafenstadt Ijmuiden zu erwarten, das letzte Quartier unserer sogenannten 20. Fallschirmjägerdivision, kein Fallschirm weit und breit – von den Alliierten bis dahin einfach liegengelassen, weit hinter der Front.
Ich stand im Mondlicht an einem Teich bei der alten Villa, die als «Bataillonsgefechtsstand» diente; am Koppel die Dienstpistole 38, die mir als Unteroffizier zustand, dazu im Fallschirmjäger-«Knochensack» eine Pistole 08, die ein Hauptfeldwebel mir vor ein paar Tagen zugesteckt hatte – «für alle Fälle», wie er sagte.
Und der Fall war da. Ich grübelte: Sollst du dich erschießen? Die Frage «Warum denn das???», die sich heute aufdrängt, beantwortete sich am 7. Mai 1945, wen wundert es, anders als im Nachhinein. Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker 40 Jahre später den vier Siegermächten für die «Befreiung» dankte (in Kapitel 39 werde ich die berühmte Rede beleuchten), hatte er viel Zeit gehabt; ich hatte sie nicht. Ich hatte Angst.
Angst zum einen, weil sich im Bataillon das Gerücht verbreitet hatte, die deutschen Soldaten in Holland würden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte bleiben müssen, um das von ihnen überschwemmte Land trockenzulegen – und um die Hunderttausende von Minen zu räumen, die deutsche Pioniere gelegt hatten; das Minenräumen (mit natürlich unzulänglichen Mitteln) führte ja oft zu Verstümmelung oder zum Tod, und wer es überlebte, dem drohten vielleicht immer noch zehn Jahre Zwangsarbeit.
Angst zum andern, die Sieger könnten uns so behandeln, wie wir die Polen behandelt hatten. Dass sie vollständig unterjocht werden sollten, war ja jedem deutschen Zeitungsleser klar – aber als «Arbeitsmann» im Städtchen Exin im sogenannten Warthegau hatte ich es zwei Jahre zuvor schmerzlich und widerlich erlebt: Wenn ein polnischer Passant vor unserer vorbeimarschierenden Abteilung nicht die Mütze zog, erging der Befehl «runterschlagen!», und stets fand sich ein Arbeitsmann, der das mit dem Spaten tat.
Angst zu haben gab es also gute Gründe. Im Tümpel quakten die Frösche. Ich schließe nicht aus, dass das Melodramatische dieser unwiederholbaren Stunde mich fasziniert haben könnte: Meine Welt geht unter, das Schicksal bin ich selbst! In den Mund sollte man sich schießen. Ein Kumpel neben mir, vielleicht ein Spintisierer wie ich, eine wechselseitige Ermutigung – und wer weiß? Doch ich war allein mit dem Lärm der Frösche, und Eisen schmeckt ja schlecht. So schleuderte ich ihnen die 08 entgegen; erst später durch Tucholskys schönes Wort bestätigt: Ich hätte mir doch sehr gefehlt.
Vermutlich war mein Entschluss, auf die Große Oper zu verzichten, durch einen unvermuteten Anprall von Lebenslust erleichtert worden: Die Wehrmacht hatte in Ijmuiden für den Fall einer Belagerung große Mengen an Konserven, Schokolade, Panzerverpflegung eingelagert, und der Festungskommandant ließ an diesem 7. Mai die Vorratskeller öffnen. Wir stürmten hin und rafften in Panik (denn morgen würden die Sieger kommen!) zusammen, was wir tragen konnten an unvorstellbarem Luxus – Konserven mit Corned Beef und jungem Aal in Öl, Zehntausende von Beuteln mit der berühmten Panzerverpflegung: Schokolade und Früchtebrot, mit Koffein und Cola versetzt. Ein Panzerfahrer sollte davon 24 Stunden wach bleiben.
Mit Gebrüll stürzten wir uns auf die kaum noch erinnerten Genüsse, drei Beutel in der Stunde – zappelnd zahlten wir den Preis dafür: einen Kaffeerausch, ein Heckmeck der Sprunghaftigkeit, eine überwache Müdigkeit mit entzündeten Augen. Da mussten Gänseleberwurst und Aal in Öl die Nerven trösten, und beim Gelage erbrochen hatten sich schließlich schon die Römer.
Am 9. Mai erschien dann die kanadische – ja, wie soll man sagen: Delegation in unserer Villa, zwei Offiziere und ein paar Mann, und befahl uns, die Gewehre und die Pistolen niederzulegen. Ich fungierte als Dolmetscher, sie verstanden mich sogar, doch sie zu verstehen war mühsam. Auf der Schule hatte ich eine andere Aussprache gelernt.
Tags darauf, am 10. Mai, verlas der Bataillonsadjutant die schier endlose Liste jener Taten und Unterlassungen, die die sofortige Erschießung nach sich ziehen würden. In den Zimmern des Bataillonsstabs verbrannten wir, im Teich ersäuften wir, was wir nicht mehr brauchten, und beim Packen des Rucksacks war zu entscheiden: Wie viel Wäsche zu wie viel Aal und wie vielen Kilodosen Schmalz?
Banges Warten, und keiner wusste, worauf.
Um 18 Uhr begann der Marsch in die Gefangenschaft. Zwischen kanadischen Panzern und johlenden Holländern marschierten wir zu einem Ruinenfeld am Rand der Stadt, vermutlich eine Flächensprengung, die der Festungsartillerie ein Schussfeld hatte verschaffen sollen; warum, wohin, wie lange? Keine Auskunft, kein Befehl. Zwölf Tage lang blieben wir zwischen Kalkstaub und Dreck uns selbst überlassen, quartierten uns in den Ruinen ein – und wurden, hurra, von deutschen Feldküchen, wer immer sie organisiert hatte, so fett wie seit Jahren nicht mehr verpflegt. Am 20. Mai: Pfingsten – die Sonne schien – und drei Mann mit Ziehharmonika, Geige und Gitarre stapften fröhlich durch den Schutt. Mein Gott: Das Leben geht ja weiter!
Am 22. Mai beginnt der große Treck, und niemand weiß, wohin. Fünfzehn Tagesmärsche von 24 bis 42 Kilometern, mit Blutblasen an den Füßen, quälendem Durst und quälender Verstopfung, unterbrochen von schrecklichen Nächten im Sumpf, die ersten drei Tage begleitet von holländischen Flüchen und auf unsere Köpfe entleerten Nachtgeschirren, von den Brücken herab.
Dabei eine Hoffnung: Wir ziehen nach Norden, offenbar dem Großen Deich vor der Zuidersee entgegen, über den der Weg nach Deutschland führen könnte. Als wir ihn erreicht haben, am 24. Mai, müssen wir antreten in Reih und Glied und bekommen von einem kanadischen Offizier und seinem Dolmetscher vorgelesen, wofür wir hier mit dem sofortigen Erschießen zu rechnen hätten: für das Verlassen der Formation, für jede plötzliche Bewegung, für die Nichtbeantwortung von Fragen, umgekehrt für das Sprechen, ohne gefragt zu sein.
Dann kommen Gruppen aus einem Offizier und drei Mann, die sämtliche Rucksäcke durchwühlen; dann andere Gruppen zur Leibesvisitation. Dann hinkt, einen Fuß im Strohschuh, ein kleiner, schwarzhaariger Offizier heran und stellt in akzentfreiem Deutsch jedem ein paar Fragen.
Mich fragt er – was sage ich: Mir befiehlt er mit schneidender Stimme von unten nach oben: «Sie waren Hitlerjugendführer!» Nein, antworte ich mit unbewegtem Kopf, nur die Augen abwärts gerichtet. «Sie waren doch Hitlerjugendführer!» Nein! Im Abgehen mustert er mich angewidert und sagt: «Sie haben ein impertinentes Gesicht.» Ich nahm mir die Freiheit, seines für impertinenter zu halten.
Ein paar nehmen sie mit, die Entlarvten und die Verdächtigen offenbar. Wir ziehen am nächsten Tag weiter, die 42 Kilometer über den Großen Deich nach Osten, Brandung auf der Zuidersee. Am Abend erwartet uns eine schlimme Überraschung: Stacheldraht. Die ersten drei Nächte hatten wir neben der Straße kampiert, auf nackter, aber trockener Erde, und mit drei Decken war es mir gelungen, ziemlich gut zu schlafen, nicht ohne romantische Gefühle; denn zum erstenmal lag ich direkt unter den Sternen, ohne die Zwangsvorstellung, man brauche ein Zelt – wie ich dies in Patagonien wieder genoss, 36 Jahre später.
Nun hat irgendein Vorauskommando eine Wiese eingezäunt für 20000 Mann und dazu eine riesige Freiluftlatrine angelegt, bestehend aus etwa dreihundert rechteckigen Gräben von der Größe eines Kindersargs – für die jeweils etwa zweihundert Benutzer eine erstaunliche Perspektive. Papier gibt es nicht, Seife gibt es nicht, auch kein Wasser; zu trinken pro Tag nicht mehr als ein Kochgeschirr voll bräunlicher Plempe aus dem Sumpf, gut ein Liter.
Braun ist auch die Brühe, die unter dem Druck der liegenden Körper im Lauf der Nacht aus der Sumpfwiese tritt. Da wälzt man sich zitternd und verzweifelt, oder man versucht, möglichst regungslos mit hohlem Kreuz zu liegen, oder man steht auf – und sieht sich vor der Wahl, die nächsten fünf Stunden fröstelnd und übermüdet im Stehen zu verbringen oder sich wieder in die Pfütze zu legen mit den zentnerschweren Decken. Und dann wieder dreißig Kilometer oder mehr durch Sonne und Staub, mit bleiernen Knien, stechenden Augen, gequollenem Darm und einer Zunge wie Löschpapier.
Seit meine Kinder mit allem Komfort aufgewachsen sind, habe ich mich oft gefragt, ob dieses Dilemma sich zerbrechen lässt: Einerseits gönnt man ihnen die Freiheit von Not. Andrerseits sind Entbehrungen, die man übersteht, charakterbildend und ein Beitrag zum späteren Lebensgenuss. Wenn ich in ein heißes Vollbad sinke oder mir die Butter dick aufstreiche, habe ich ein lebendiges Gefühl von Luxus, von Rache für erlittene Not – seit fast siebzig Jahren.
Einmal in den 18 Tagen konnten wir uns waschen in einem braunen Fluss. Am 4. Juni verließen wir Holland bei Neuschanz südlich des Dollarts, begleitet von Rufen wie «Ihr Nazischweine» und «Als Nazis zieht ihr ab, mit den Russen kommt ihr wieder».
Das beeindruckte uns weniger als die ungeheure Erleichterung, wieder in Deutschland zu sein, also der Zwangsarbeit offenbar entronnen. Und dann Bunderneuland, das erste deutsche Dorf! Hunderte standen auf der Straße, Pappschilder «Willkommen!» waren über sie gespannt, Jung und Alt klatschte und rief; sie steckten uns Brot zu und setzten uns Becher mit Tee an die Lippen. Wer außen ging, bekam auch mal einen Kuss auf die schmutzigen Stoppeln. So schön ist der Frieden? Wären wir als Sieger gekommen, sie hätten nicht lauter jubeln können.
Am Abend dieses köstlichen 4. Juli freilich wieder Stacheldraht. Irgendwoher die ersten Zeitungen, mit Fotos von ausgemergelten oder verhungerten KZ-Häftlingen und ungeheuerlichen Behauptungen über einen Massenmord an den Juden. Dass Goebbels uns belogen hatte, war ja jedem klar – aber warum logen nun auch die Sieger? Ekelhaft! (So dachten wir. Es klingt schrecklich. In Kapitel 39 werde ich es erklären.)
Dann nochmals drei Tage Marsch – über den Ems-Jade-Kanal, nur den bewachten die Kanadier, in den Nordwestzipfel Deutschlands abgeschoben und bei Bauern in reetgedeckten Einzelhöfen einquartiert. Zum Torfstechen wollten deutsche Offiziere (wer bitte?) uns abkommandieren – viel Erfolg hatten sie nicht. Den Bauern halfen wir beim Heu-Einfahren, mit fettem Essen belohnt.
Und langsam wurden wir weniger. Schon am 25. Juni waren die Österreicher entlassen worden – denn Österreich verstand es schamloserweise, sich als «befreite Nation» einstufen zu lassen. Für die Deutschen gab es eine Prioritätsliste von 95 Rängen; Rang 1: Bergleute und Landarbeiter; Rang 95: Abiturienten und Sonstige. Daneben stand die Vermutung, dass Entlassungen in die englische Besatzungszone am schnellsten gehen würden, während solche in die russische Zone nicht vorgesehen waren. In der englischen hatte ich als Verwandte die Familie meines Schwagers Eberhard Dorls in Büren bei Paderborn; die gab ich dreist als Heimatadresse an.
In Berlin zogen zwar am 11. Juli Amerikaner, Engländer und Franzosen ein, doch brachte mich das nicht auf den Gedanken, dorthin zu gehen, zu den Eltern. In einer dieser Zeitungen, in denen die Sieger uns – so sahen wir es – mit Füßen traten, las ich in jenen Tagen: «Berlin ist eine tote Stadt, von der nichts mehr existiert als der Name. Unter ihren Trümmern ist der Traum von der Weltmacht begraben, den ein Wahnsinniger in ihr träumte.» Außerdem war Berlin vom Teufel, von Stalin eingeschlossen – und hatte der nicht gerade am 1. Juli ganz Thüringen und Teile von Sachsen und Mecklenburg kassiert? «Alle paar Tage rückt Stalin um ein paar Regierungsbezirke vor», notierte ich am 5. Juli in meinem Tagebuch. «Jetzt steht er vor Lübeck und Kassel. Ich rechne noch für dieses Jahr mit dem Ausbruch des nächsten Krieges, und die russische Dampfwalze wird durchstoßen bis Lissabon.»
Berlin war ein Alpdruck, ein Ruinenmeer, das Grab meiner Jugend, meines irdischen Besitzes, vielleicht meiner Familie, das schlechthin Entsetzliche auf Erden. Man wollte ja leben, und folglich hatte man sich auf ein Leben ohne Berlin, meine schöne alte Heimat, einzurichten.
Mühsam war noch einmal die Entlassungsprozedur (nun endlich für Abiturienten und Sonstige). Am 25. Juli auf der Bataillonsschreibstube melden, im Rucksack meine gesamte irdische Habe: Wäsche, Socken und aus Ijmuiden noch ein Schatz – eine Kilodose Schmalz. Durchgangslager Uthverdum, Hosenrunterlassen vor dem Stabsarzt zum Filzlaus-Appell, weiter zum Durchgangslager Loppersum, in einem lähmenden Gewoge und Gedränge von Tausenden, eine Laus unter Läusen.
Am 26. Juli auf offenen Lastwagen zum Entlassungslager Emden. Dort hockten wir uns in glühender Sonne auf die Erde und warteten darauf, dass der Sergeant uns zur ersten Kontrollstation schleuste. Nach vier Stunden: Ein Offizier, der gut Deutsch sprach, prüfte mein Soldbuch und stellte eher beiläufig ein paar Fragen nach politischer Betätigung; ein Arzt suchte nach ansteckenden Krankheiten; ein grinsender, weißbestäubter Clown schoss jedem mit Pressluft weißes Pulver in Ärmel und Hosenschlitz – DDT, in Mengen, die jeder meiner Kleiderläuse tausendfachen Tod bereiteten.
Dann das Stacheldrahtgehege in der unübersehbaren Stacheldrahtlandschaft. Vier-Mann-Zelte waren darin aufgeschlagen, und fünf Tag lang passierte nichts. Zu essen eine Hungerration. Also 23 Stunden liegen und davon 15 Stunden schlafen. Dass einem keiner irgendetwas sagte, war dabei am schlimmsten. Am 2. August schließlich ins Massenlager Gaste, 6000 Landser in einer leeren Fabrik, von Sergeants gescheucht mit Trillerpfeife und Gebrüll; offenbar wurden sie ermuntert von den Schildern: «Don’t fraternize! This ist the home of treachery.»
«In der Abendsonne singen wir die letzten Lieder», so habe ich es festgehalten, in einer Mischung aus Wehmut und Angst. Wie oft hatten die Lieder uns getröstet, und nun waren sie das Signal, dass eine Masse zerfiel. Dem setzen alle Massen Widerstand entgegen, und noch dazu war diese Masse das Bekannte und Gewohnte, das neue Leben aber unheimlich und rätselhaft.
Am 3. August wurden wir ins «Endlager» Künsebeck bei Bielefeld gefahren und von dort um 15 Uhr auf die Straße gesetzt. 22 Monate nach meiner Einziehung zur Luftwaffe, gut zweieinhalb Jahre nach meiner Verbannung in den Reichsarbeitsdienst war ich wieder Zivilist – in einer Uniform ohne Rangabzeichen, Hakenkreuze und Koppel, und außer dem, was ich auf dem Leib und im Rucksack trug, besaß ich ein paar hundert Reichsmark, für die ich mir nichts kaufen konnte. Ein Mensch namens Hillebrand, der auch nach Büren wollte und den Gasthof Dorls kannte, begleitete mich und war mir ein Trost.
Ein Lieferwagen nahm uns mit nach Paderborn. Mussten uns da nicht all die Mädchen küssen, baden, laben, die uns in Bunderneuland zugejubelt hatten? Wir sahen nicht eines. Ein paar magere Gestalten mit verhärmten Gesichtern schlurften aus den Kellern. Am 28. März, vier Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner, hatten amerikanische Bomben die alte Stadt zu drei Vierteln zerstört. Den Weltkrieg sah ich brutal wie nie zuvor. Das Entsetzen griff uns an die Kehle. Das also war Deutschland nach dem Krieg.
Eine halbe Stunde lang schlichen wir bleich durch die verschütteten Straßen. Dann fanden wir einen Lieferwagen, ein Nachtquartier, einen Bummelzug nach Büren. Hillebrand begleitete mich zur Briloner Straße und gab mir einen Schubs. Ich drückte die Tür auf und erkannte die jüngste Schwester meines Schwagers. «Sind Sie Else Dorls? Sie kennen mich nicht, ich bin der Bruder von Marieluise …»
1945
Und jede Woche frische Wäsche!
Ein tiefkatholisches Bauernstädtchen mit einem Jesuitenkolleg, unbeschädigt über den Krieg gekommen, wozu der Pfarrer gepredigt haben soll, das sei kein Zufall: Vielmehr liege es daran, dass die Bürener fleißiger in die Kirche gegangen seien als die Paderborner; und vor dem Mittagessen rangen meine neuen Verwandten die Hände in ergriffenem Gebet.
Das Essen war ziemlich gut und überwältigend reichlich – diese Landleute hatten die Not der Berliner und der Soldaten nie mitbekommen. Und alle waren nett zu mir: die beiden Schwestern meines Schwagers, eine verheiratet mit einem Volksschullehrer in den Vierzigern, der schon vor mir entlassen worden war; dazu ihre zwei schrillen Töchter.
Von den vier Zimmern, die der Gasthof Dorls einst zu vermieten hatte, bewohnte die Lehrerfamilie zwei, eines eine hübsche evakuierte Düsseldorferin mit kleinem Kind, das mich entmutigte, ihr Avancen zu machen; das vierte hatte, unglaublich, freigestanden und auf mich gewartet! Weißes Bett, Sofa, Tisch und Stuhl und die übliche Kommode mit steinerner Platte, Waschschüssel und Krug – mein eigenes Reich! Dazu ein Bad pro Woche, mehr war ja ohnehin nie üblich gewesen in Friedenszeiten, ob in Berlin oder Zürich. Waschtag war, nach bäuerlicher Art, alle vier Wochen; vier Garnituren Wäsche hätte ich dazu gebraucht, und was mir daran fehlte, ergänzten die Schwestern aus dem Schrank ihres Bruders.
Der war in Stalingrad «vermisst» (und kam nie wieder). Sie sprachen nicht von ihm. Sprachen wir überhaupt von Weltkrieg, Katastrophe, zerbombten Städten und Millionen Toten? Von Hitler? Ach nein. Soldaten der Sieger sahen wir nicht, Fernsehen gab es nicht, und dem Radio glaubten wir höchstens die Hälfte: Ihm zu vertrauen hatten wir uns in den zwölf Jahren Goebbels wirklich abgewöhnt. Es sei denn Nachrichten wie diesen: In Deutschland sind 2500 Eisenbahnbrücken gesprengt, zerbombt, zerschossen, und Krupp wollen sie vollständig demontieren.
Aber die Ernte – du kommst ja wie gerufen! «Landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter» ließ ich am dritten Tag in Büren auf dem städtischen Arbeitsamt eintragen. Von der Lebensmittelkartenstelle bekam ich als Willkommen eine Zigarre geschenkt.
Anstrengend wurde er schon, mein erster Job: Bei Verwandten von Dorls, die um die Ecke wohnten, Großbauern, musste ich mich als Erstes mit gespreizten Beinen über eine Luke im Dachboden stellen, mit der Mistgabel weit unter meine Füße hinabfahren und dort die Garbe aufspießen, die ein Sohn der Familie, auf dem Leiterwagen stehend, mir auf seiner Gabel über den Kopf entgegenstreckte. Dann schwang ich die Garbe zwischen den Beinen hindurch zu mir herauf und schleuderte sie dorthin, wo die beiden kichernden mannbaren Töchter des Hauses sie verstauten. Jedes dritte oder vierte Mal misslang mir das Aufspießen, was unten ein Schnaufen hervorrief und oben meinen Schweißfluss vermehrte. Gehüllt in Staub und Häcksel, der auf der Visage kleben blieb, verdiente ich mir mein Essen.
Häufiger arbeitete ich bei anderen Verwandten im Forsthaus Hegensdorf, eine Viertelstunde mit dem Fahrrad entfernt. Der Förster war in Gefangenschaft, seine Frau hatte die kleine Landwirtschaft allein betrieben und stellte mich nun gern zum Heuwenden an, später zum Holzhacken, Äpfelpflücken und Kartoffelklauben.
Zum Lesen und zum Schreiben blieb mir reichlich Zeit. Gleich in den ersten fünf Tagen las ich «Vom Winde verweht» zum zweiten Mal; und hatte mich der weltberühmte Wälzer 1941 schon begeistert – diesmal faszinierte er mich noch dazu: Denn die Art, wie die Südstaaten unter Not und Niederlage litten und wie die Yankees sich aufführten als Besatzungsmacht, hatte die unglaublichsten Parallelen zur deutschen Gegenwart.
Und eine Kladde beschaffte ich mir und schrieb sie voll. Unbehelligt von Bomben, Granaten und Läusen unternahm ich den peniblen und ein bisschen verzweifelten Versuch, mein bisheriges Leben zu rekonstruieren, das ich ja für reich hielt. Für die Zukunft hielt ich fest: Wer gesund sei, sich beliebig oft waschen könne und ein Klo mit Wasserspülung habe, der solle sich nicht einbilden, er könne noch von ernsthaften Problemen geplagt werden. «Wem diese Grundlage gesichert ist, für den gibt es nur noch Luxussorgen – dies ist die Realität, alles andere ist Humbug. Geistige Schmerzen gehören zu den Annehmlichkeiten des Daseins.» Qual, das war 1943, als mir im unablässig rollenden Güterzug von Polen ans Mittelmeer nächtens zwischen vierzig enggedrängt auf dem Boden Schlafenden schier die Därme platzten; da bewahrheitete sich der alte Landserspruch: Durchfall ist schlimmer als Feindberührung.
Vor allem aber warf ich mich aufs Englische in Büren. Am Grunewald-Gymnasium hatte ich in den letzten drei Jahren einen brillanten Unterricht genossen – und aus meinem letzten Fronturlaub, im Mai 1944, instinktsicher mein Taschenwörterbuch mitgenommen. Das arbeitete ich nun durch, Wort für Wort, von aback bis zoom. Alle wichtigen Wörter übertrug ich in ein Heft, um sie wieder und wieder zu memorieren – für meine ersten zehn Berufsjahre nach der Landwirtschaft erwies sich das als die optimale Investition.
Wie aber sollte es weitergehen? An alle Verwandten in den Westzonen und in Westberlin hatte ich geschrieben, am 25. August hatte ich die Freudenbotschaft beisammen: Alle leben! Meine Mutter, die jüngere Schwester, ihre beiden Töchter in Westberlin; die ältere in der Nähe von München; mein Vater in amerikanischer Internierung. Denn die Wehrmacht hatte ihn, den 57-jährigen Oberleutnant des Ersten Weltkriegs, 1943 im Rang eines Hauptmanns in eine Zweigstelle des OKW in Potsdam eingezogen – und so fiel er unter den berüchtigten «automatischen Arrest».
Aus München kam am 9. September die Nachricht: Wir bewohnen ein Landhaus in Karlsfeld zwischen München und Dachau, Eberhard ist Technischer Direktor des BMW-Werks Allach, das die Amerikaner beschlagnahmt haben.
Anfang Oktober war die meiste Landarbeit getan, mein ungeheiztes Zimmer machte das Schreiben ungemütlich, in München wusste ich eine schöne Adresse, und Albert Hillebrand, der mich vom Entlassungslager zu Dorls geleitet hatte, stand im Begriff, zu seinen Eltern nach Bruchsal zu fahren – ob wir nicht den größeren Teil der Expedition gemeinsam angehen wollten? Da besorgte ich mir bei der Militärverwaltung eine Reisegenehmigung (die brauchte man) und packte in den Rucksack nur noch die Hälfte meiner stark gewachsenen Habe: zur abgetakelten Luftwaffen-Uniform und den Fallschirmspringerstiefeln besaß ich sieben Hemden, dazu zwei Pullover, ein Paar Handschuhe, sieben Bücher, zehn Zigarillos, 61 Mark und immer noch die Kilodose Schmalz aus der Festung Ijmuiden.
Die Reise von Büren nach München dauerte vom 10. bis zum 13. Oktober. Am ersten Tag schafften wir es, die meiste Zeit auf einer Leiter am Wagenende klebend, bis Kassel; da war es 22 Uhr vorbei – Ausgangssperre! Quartier hätten wir in der zu 75 Prozent zerstörten Stadt sowieso nicht gefunden, und so taten wir es wie die vielen tausend anderen auch: Wir suchten uns einen Quadratmeter Bahnsteig mit einem Dach darüber.
Im Morgengrauen fanden wir, über die Gleise stolpernd, den richtigen Zug so früh, dass wir zwei Sitzplätze eroberten. Wir fuhren durch den Schutt von Gießen (zu 65 Prozent zerstört), durch die Trümmer von Hanau nach Frankfurt-Ost, Endstation. In den Menschenhaufen, die aus den Abteilen quollen und von den Leitern und den Puffern fielen, sprach sich herum, dass und wie man durch die Ruinen (Frankfurt zu 60 Prozent zerbombt) zum Bahnhof Frankfurt-Süd marschieren könne. Dort kaperten wir Plätze auf den Puffern eines Zugs nach Ladenburg – das sei im Süden, behaupteten einige zu wissen – und da wiederum eine Straßenbahn, die uns durchs fast unversehrte Heidelberg zum Bahnhof schüttelte.
In der Bahnhofshalle die zweite Nacht, mehrmals kontrolliert von amerikanischer Militärpolizei in ihrem Operettendress mit weißem Zaumzeug wie Paradepferde. Im Morgengrauen fanden wir einen Zug, der uns zum Schutt von Bruchsal brachte (zerstört zu 70 Prozent), Hillebrands Ziel. Ich stieg um auf einen Güterzug mit offenen Waggons, der tatsächlich nach München fahren sollte. Den Wagen teilte ich mit nur fünf, sechs Leuten; die Kisten, mit denen er beladen war, konnte man heben und sich so einen Sitz mit Lehne, ja eine Schutzwand gegen den Fahrtwind bauen.
Ein paar Stunden Aufenthalt in Kornwestheim bei Stuttgart. Mild schien die Oktobersonne, eine schöne Gelassenheit regierte. Frei war ich ja nicht nur von militärischer Bevormundung, sondern auch von allen bürgerlichen Pflichten und Terminen, von niemandem erwartet, mit Wasser, Brot und Wurst zufrieden, und eine nette stupsnasige Person in Skihosen und weißem Rollkragenpullover war um mich und drückte mich ein bisschen, obwohl es kein Gedränge gab. Und wie sich dann der Zug die Geislinger Steige hinaufwand und buntes Laub unter blauem Himmel rauschte – nie war ich herrlicher gereist.
Vor Ulm wurde es dunkel und rasch ziemlich kühl. Wir kuschelten uns aneinander und froren doch. Die Silhouette des Münsterturms im Sternenlicht – Straßenbeleuchtung gab es noch nicht so kurz nach dem Krieg in der zu 63 Prozent zerstörten Stadt. Im Davonfahren läutete das Münster uns mit majestätischer Glocke in die Nacht hinaus.
In München kletterten wir im Morgengrauen über dreißig Gleise, und dann trennten wir uns. Danke, schön war’s, es kommt nicht wieder. Ich fand den Zug nach Karlsfeld (vor Dachau) und versuchte mich durchzufragen nach «Rothschwaige 6». Ja, eine Streusiedlung dieses Namens gab es, aber wo die Nummer 6 zu finden sei, das wusste niemand. Geschlagene fünf Stunden lang irrte ich über Landstraßen und Feldwege, bei einem Bauern bekam ich warme Milch mit eingebrocktem Brot. Eine hübsche junge Frau am Weg zerbrach sich den Kopf sehr gründlich, gern und sofort hätte ich mein Reiseziel geändert, aber sie machte mir kein Angebot.
Schließlich entdeckte ich etwas, das ich nicht gesucht hatte: das BMW-Werk München-Allach. Ich wusste aus den Briefen, dass es von den Amis als Werkstatt zur Generalüberholung von Militärlastwagen beschlagnahmt worden war – und mein Schwager also der Technische Direktor! In den letzten Wochen des Krieges, als Ingenieur der Rüstungsindustrie vom Militärdienst befreit, war er von BMW Berlin zu BMW München versetzt worden. Dort ergriffen ihn die Amerikaner, stellten ihn unverzüglich an und versahen ihn mit zwei Luxusgütern: einem Auto – und einem Landhaus, aus dem sie zu seinen Gunsten einen Altnazi vertrieben hatten.
Er begrüßte mich überrascht und betonte, wie sehr meine Schwester sich freuen würde. Das tat sie denn auch – eine fröhliche Erscheinung mit ihrem prächtigen Blondschopf, 29 Jahre alt.
Baden! Essen! Und noch dazu hatte, wie in Büren, ein Zimmer auf mich gewartet – die zwölf Millionen Heimatvertriebenen fielen ja großenteils erst 1946 ein, erst durch sie entstand die große Wohnungsnot, die der Bombenkrieg noch nicht dramatisch gemacht hatte. Und ich wohnte gleichsam auf der Siegerseite! Das Überleben hatte sich gelohnt.
1945–1947
Vergnügen und Verwirrung
Nach elf Ferientagen in Rothschwaige/Post Dachau (mit der schweigenden Unterstellung, ich würde nach Büren zurückkehren) fragte mich mein Schwager, ob ich mir zutraute, als Dolmetscher ins BMW-Werk einzutreten. Zwei Tage später fing ich an. Ich nannte das alles zunächst «In München überwintern», aber es wurden 21 Jahre daraus, mit den entscheidenden Weichenstellungen für ein langes Leben.
Mein Arbeitsplatz war das Büro für das Ersatzteillager, Line Supply, wo ich einen deutschen Techniker mit einem amerikanischen Sergeanten zu koordinieren hatte. Anfangsgehalt: 280 Mark – nicht schlecht, gemessen am Einkommen eines Hilfsarbeiters, der 90 Pfennig in der Stunde, also, bei damals 48 Wochenstunden, 186 Mark im Monat verdiente; gemessen auch an den 20 Pfennig für eine Fahrt mit der Straßenbahn und den 50 Pfennig für einen Herrenhaarschnitt; lächerlich jedoch im Vergleich zu den Preisen für begehrte Güter: 200 Mark für eine Schachtel Zigaretten, 300 Mark für ein Pfund Butter. Aber die Kantinenverpflegung mit amerikanischen Konserven war ein kleines Vermögen wert.
Mein Problem war, dass ich auch auf Deutsch eine Kurbelwelle nicht von einer Nockenwelle unterscheiden konnte. Zur Lösung trug bei, dass die «Amis» sich als überaus umgänglich erwiesen. Der einzelne Soldat war zumeist ein ganz passabler Mensch, der eine Art Traumland repräsentierte, nicht selten von seinem deutschen Großvater erzählte und mit einer Schachtel Zigaretten auch mal ein Vermögen verschenkte; und Millionen junge Deutsche liebten bald den amerikanischen Soldatensender AFN, denn er brachte den Jazz, der bei den Nazis als «Negermusik» verboten gewesen war, idiotischerweise.
Die Amerikaner ihrerseits empfanden die Deutschen in Erscheinung und Lebensstil als mindestens so verwandt wie die Engländer, dabei friedlich, lernwillig und zu jeder Zusammenarbeit bereit – keine Spur von «Werwolf» oder Partisanenkrieg, worauf die Sieger doch gefasst gewesen waren. Noch dazu wurde das Fraternisierungsverbot von den «Fräuleins» tausendfach unterlaufen. So war schon im März 1946 in Reader’s Digest zu lesen: Vier von fünf aus Europa heimkehrende amerikanische Soldaten zögen die Deutschen allen mit Amerika verbündeten Völkern vor – so freundlich seien sie und von so verwandtem Wesen! Die Autoren hoben den Zeigefinger: Eine solche Einstellung könne den gedemütigten, rachsüchtigen Deutschen helfen, einen dritten Anlauf zur Weltherrschaft zu nehmen! Jeder Amerikaner müsse einsehen, «how deep are the roots of the evil your comrades died to free us from».
An solchen Sätzen musste mich die Syntax faszinieren. Ihr Studium war Teil meines Versuchs, mir das Englische total zu eigen zu machen. «This will be taken care of by Maj. Holmes himself», hörte ich kopfschüttelnd, und in mein schlaues Buch schrieb ich Sätze wie: «The story was too apt not to be made the most of». Redensarten speicherte ich: roar with laughter, talk in terms of averages, make a virtue out of a necessity. Witzige Formeln schrieb ich auf: «He was looking at me with the clear, innocent eyes of a used car salesman» oder den Zweizeiler:
Remember, my darling: Careers and caresses
Depend on your choice of Noes and of Yesses.
Und natürlich hatte die Aussprache es mir angetan, zum Beispiel die aberwitzige Betonung auf der zweiten Silbe bei executive, catastrophe, circumference, antipodes, chrysanthemum – nicht wiederum bei espionage, so gern ich ein ai auf die zweite Silbe geknallt hätte.
Gern pflegte ich den Umgang mit entlegenen und dabei saftigen Wörtern wie recalcitrant (widerspenstig), flabbergasted (verblüfft) oder tatterdemalion (zerlumpt). Indem ich dergleichen selbst in mündliche Rede einflocht, erregte ich Respekt und Heiterkeit und bei Sgt. McElroy aus Portland/Oregon den Wunsch, ihm eine Bewerbung aufzusetzen – ich, eine englischsprachige Bewerbung? «Yeah, you can make ’em big words!», sagte er.
Das war der schiere Spaß; das technische Englisch machte mir mehr Kopfzerbrechen, doch mit guten Nachschlagewerken gelang es mir, auch diese Hürde zu nehmen – mit rein sprachlichen Mitteln, bei strikter Meidung von technischem Verständnis. Selten war ja das Übersetzen so einfach wie bei the bandsaw, die Bandsäge. Der Sicherheitskoeffizient hieß eben nicht «security coefficient», sondern safety margin, die Schlauchmuffe «Gummi-Ärmel», rubber sleeve, und, meine Spitzenleistung, der funkenfrei kommutierende Einphasen-Reihenschlussmotor, sparkless single-phase series commutator motor.
So übersetzte ich Gebrauchsanweisungen und technische Handbücher ins Deutsche, Korrespondenz zwischen Deutschen und Amerikanern in beide Sprachen, und ich dolmetschte mit wachsendem Vergnügen an der Beherrschung der Materie und der Blitzartigkeit des Umschaltens. Nach achtzehn Monaten solchen Intensivtrainings behauptete ich von mir, der beste Englischsprecher der Welt zu sein unter allen, die noch nie in einem englischsprachigen Land gewesen waren.
Und der Flieder blühte, und natürlich schlug die Liebe zu, und die Erste lud mich sogar nach Hause ein, freilich nur, um sich mit mir auf eine Bank vor dem Haus zu setzen – und ich konnte mir zusammenreimen, dass sie damit den Nachbarn etwas demonstrieren wollte. Hat das Amiliebchen (das war sie also) mit dem Amikind (das bekam ich zu sehen) doch noch einen deutschen Freund gefunden!
Die zweite, Sekretärin nebenan, makellos, eine Schönheit fast, von einem Hauch Melancholie rätselhaft umweht: Sie schenkte mir das Erlebnis der ersten großen Liebe – nur gut ein Jahr, nachdem ich die Pistole in den Teich geworfen hatte. Ich führte noch Tagebuch und überschlug mich in Jubelschreien auf das Leben. Bis ich die Herrliche zu einem amerikanischen Leutnant ins Auto steigen sah. Das, schrieb ich außer mir, sei an einem verlorenen Krieg überhaupt das Schrecklichste.
Zu unseren Offizieren im Karlsfeld Ordnance Depot entwickelte sich, unabhängig davon, ein freundliches, zum Teil fast freundschaftliches Verhältnis. Sogar materiell profitierte ich davon: Der eine bezahlte mich mit Zigaretten (und ihrem unsinnigen Wert auf dem Schwarzmarkt) dafür, dass ich seiner deutschen Freundin ein bisschen Englisch beibrachte (schwierig: Nicht einmal die Aussprache «Militärguvernmang» war ihr auszutreiben). Ein anderer diente mir seine Dienstwohnung für eine Nacht als «sturmfreie Bude» an.
Auch lernte ich schon Ansätze jener Gesprächskultur kennen, die mir dann 1965 in Washington imponierte. Andrerseits fiel mir auf, dass über einen jüdischen Sergeant von den Amis hemmungslos gespottet wurde, wenn er nicht mehr im Zimmer war. Vollends verwirrte mich jener First Lieutenant, der 1946 bei der deutsch-amerikanischen Weihnachtsfeier nach dem dritten Glas Wein ohne erkennbaren Zusammenhang feststellte: «The best thing your Hitler did was he killed so many jews.» Hoppla! Und er setzte noch einen drauf: «The worst thing he did he let so many of them alive.» Ich schwieg entgeistert.
Das Merkwürdige war ja, dass wir von dem schrecklichen Massenmord an den Juden zwar nun wussten, jenseits aller Zweifel – aber dass er 1946 in der deutschen Presse, die amerikanische Neue Zeitung eingeschlossen, durchaus kein großes Thema war, und, noch erstaunlicher, nicht einmal ein Anklagepunkt im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Erst der Eichmann-Prozess von 1961 rief den Holocaust breit ins öffentliche Bewusstsein; das Wort wurde sogar erst mit der amerikanischen Fernsehserie von 1979 verbreitet. (Die Frage «Was wussten wir seit wann vom Holocaust?» werde ich in Kapitel 39 beantworten.)
Nach anderthalb Dolmetscherjahren fand ich die Chance, mein Englisch als Sprungbrett in den Journalismus zu verwenden. Der schien mir erstrebenswert für einen Universalspezialisten, der 1942 eigentlich Philosophie hatte studieren wollen – und erreichbar, weil die meisten Journalisten der Nazizeit Berufsverbot erhalten hatten; die besten Chancen besaßen die deutsch-jüdischen Remigranten, die wenigen deutschen Widerständler und die ganz Jungen, die bis 1945 nicht gedruckt worden waren.
In einer Kurzbiographie für den Verlag Hodder & Stoughton, der 1963 mein erstes Buch, «Überall ist Babylon», in England und im Commonwealth herausbrachte, stellte ich meinen Berufseinstieg mit den Worten vor: «Having learned a bit of everything and nothing completely I became a journalist.»
1947–1950
Einübung in einen schönen Beruf
Ich hatte mich bei Radio München beworben, bei der Pressestelle des Münchner Oberbürgermeisters, bei einem frisch ins Leben gerufenen Journalistenlehrgang – vergebens. So auch bei der Neuen Zeitung, dem Organ der amerikanischen Militärregierung, das sich ausgerechnet im Haus des Völkischen Beobachters einquartiert hatte, in der Schellingstraße in München-Schwabing, denn es war unversehrt. Mein Versuch, dort Volontär zu werden, scheiterte gleich am Empfang: «So was machen wir nicht», wurde mir bedeutet – kein Wunder, bei Redakteuren wie Erich Kästner als Chef des Feuilletons und einer Auflage von mehr als zwei Millionen.
Die kam durch dreierlei zustande: durch unbegrenzte Zuteilung der Mangelware Papier, der die ersten deutschen Zeitungen nur nachhecheln konnten; durch ein Angebot an Kultur und an Auslandsberichterstattung, wie man es in Deutschland seit 1933 nicht mehr erlebt hatte – forciert durch Hans Habe aus Wien, Major der US-Army und der erste Chefredakteur; und durch Habes kühne Entscheidung: Wir bieten sauberen angelsächsischen Journalismus an, mit klarer Trennung von Nachricht und Meinung, also auch mit der Freiheit, Nachrichten zu Lasten der Militärregierung zu drucken.
Selbst die Meinungen aber, die Habe vertrat und zuließ, entsprachen nicht durchweg seinem Auftrag, die Deutschen zu «belehren» und zu «erziehen». «Fürchtet euch nicht!», rief er den von Stalin eingeschlossenen Westberlinern in einem Editorial zu. Er machte Hoffnung und betrieb Versöhnung, lange bevor der amerikanische Außenminister James Byrnes in seiner berühmten Stuttgarter Rede vom 6. September 1946 eben dies zur offiziellen amerikanischen Politik erklärte: «Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen zu finden.» Demgemäß wurde Habe im Mai 1946 abgesetzt, und ich bekam erst 1973 – schicksalhaft – mit ihm zu tun.
Unter seinen Nachfolgern, offenbar zu weniger Nachsicht mit den Deutschen ermahnt, hatte einer Deutsch nicht als Muttersprache; ein anderer sprach es nicht einmal. Den Ruf der Zeitung konnte das nicht zerstören. Als sie im März 1947 inserierte «Übersetzer aus dem Englischen gesucht», witterte ich die Chance, bewarb mich, meisterte eine Probeübersetzung unter Aufsicht und Zeitdruck (the League of Nations hieß eben «Völkerbund» und nicht «Liga der Nationen») – und konnte am 1. Juni 1947 beginnen, für 350 Mark im Monat statt der 310, zu denen ich bei BMW aufgestiegen war.
Fünfzehn deutsche Angestellte der aufgeblähten «Nachrichtenredaktion» übersetzten alles, was United Press, State Department Press, die russische Nachrichtenagentur Tass und andere Agenturen englisch lieferten, zugunsten der hundert deutschen Redakteure, die offenbar nicht oder zu wenig Englisch konnten. Wir arbeiteten in drei Schichten – kurios genug in einer Zeitung, die zunächst nur zweimal in der Woche erschien, wie alle Zeitungen in den ersten Nachkriegsjahren.
Im Übersetzerstübchen saß ein fröhliches, überwiegend intellektuelles Häufchen zusammen: Studenten, eine junge Kriegerwitwe, ein kriegsversehrter Hauptmann, dem die abgeschossene Nase noch nicht wieder anoperiert worden war. Wir sprachen natürlich über das Essen: die üppige Kantine hier – zu Hause zwar Brot in Menge, Butter aber etwa in der Größe der kleinstüblichen heutigen Hotelportion einmal pro Woche; ich ließ sie mir zum Sonntagsfrühstück wie eine Praline im Mund zergehen, um wenigstens für eine Minute das Gefühl von Luxus zu haben. Mit dem Wohnen stand es noch ärger: Zunächst lebte ich mit Schwester, Schwager und meiner aus Westberlin übersiedelten Mutter in drei Zimmern – aber 1946 hatten wir das größte davon für eine vierköpfige Familie aus dem Sudetenland zu räumen. Eine Küche, ein Klo. Zwölf Millionen Deutsche waren ja aus dem neuen Polen und der alten Tschechoslowakei vertrieben worden, und weitere zwei Millionen kamen dabei um.
Und über die zwölf Nazi-Jahre sprachen wir nicht im Übersetzerzimmer, und die Nürnberger Prozesse hatten uns nicht aufgewühlt? Nicht sehr. Die Nachrichten darüber hörten und lasen die Deutschen überwiegend «ohne viel Interesse, ohne viel Hass», schrieb Golo Mann. Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1974 bis 1982, sagte es später drastisch (im Spiegel-Gespräch 2001): «Eigentlich ging es nur darum, nicht zu hungern und nicht zu erfrieren. Das andere Problem war, die fehlende Bildung nachzuholen. Was interessierte mich da, was in Nürnberg verzapft wurde?» Auch empfanden viele es als eine Farce, dass über Hitlers Schergen nun Stalins Schergen zu Gericht saßen. Dass Stalin sogar hätte angeklagt werden müssen, «zumindest für Katyn», und Churchill «zumindest als Ober-Bomber von Dresden», trauten wir uns nicht einmal zu denken – aber Rudolf Augstein schrieb es 1985 im Spiegel.
Es war das allgemeine Elend, das unser Denken, Fühlen, Reden beherrschte: 1947 noch kleinere Rationen, wenig oder nichts aufs Brot, Heißhunger auf Fettes und Süßes, «Hamsterfahrten» zu Bauern, um gerettete Kostbarkeiten wie Bettwäsche gegen Butter zu tauschen – und keine Perspektive, wann, wie es besser werden könnte. In den Restaurants dürftiges Essen, außer man hatte genug Fleisch- und Fettmarken übrig; in den Cafés statt Kaffee oder Tee meist nur die Wahl zwischen «Heißgetränk» und «Kaltgetränk» (eines von beiden hatte was mit Molke zu tun) und im berühmten Café Anast am Hofgarten die Karikatur darauf – wir bestellten «Kaltgetränk» und bekamen die Auskunft: «Heute haben wir nur Heißgetränk, aber das ist kalt. Der Ofen ist kaputt.»
Im Ruhrgebiet hatten Tausende nachts die Bahnhöfe gestürmt, um von vorbeirollenden Güterzügen Kartoffeln und Kohlen zu klauen – und zum populärsten Menschen in Deutschland wurde 1947 der Kölner Erzbischof Kardinal Josef Frings, weil er in seiner Silvesterpredigt die Plünderer verteidigte: «Wir leben in Zeiten», sprach er von der Kanzel, «wo in der Not der Einzelne sich das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat und weder durch Arbeit noch durch Bitten erlangen kann.»
Das waren nicht die Zeiten, in denen man sich um «Vergangenheitsbewältigung» hätte kümmern wollen. Dieses kostbare achtsilbige Wortgefüge kam erst in den fünfziger Jahren auf. Es unterstellt, dass die Vergangenheit etwas sei, was sich «bewältigen» lasse und dringend bewältigt werden müsse (wie eigentlich?); und wer genug damit zu tun hatte, die Gegenwart zu bewältigen, hatte selbstverständlich keine Zeit, keine Kraft und keine Lust dazu. In Deutschland herrschte eine Stimmung, schrieb der Philosoph Karl Jaspers, «als ob man nach furchtbarem Leid gleichsam belohnt, jedenfalls getröstet werden müsse, aber nicht noch mit Schuld beladen werden dürfe».