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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2014

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Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Illustration: Till Hafenbrak)

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ISBN Printausgabe 978-3-463-40655-8 (7. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-31291-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-31291-3

Vor dem Sturm

Bevor diese ganze Sache bei uns anfing, hatte ich eigentlich ganz romantische Vorstellungen von der Pubertät unserer Tochter Carla. Ich dachte daran, dass sie womöglich mal Alkohol trinken und Zigaretten ausprobieren und dass ich das auch irgendwie okay finden würde. Ich stellte mir vor, dass ich mit ihr schöne und inspirierende Diskussionen erleben und ihr sozusagen beim Erwachsenwerden zuschauen könnte. Ich wünschte mir diese Phase in Carlas Leben als gemeinsames Abenteuer, bei dem man zusammen auf Konzerte geht. Schließlich waren wir ja auch jung. Irgendwie sind ja alle jung.

Doch dann waren meine reizende Gattin Sara und ich bei Freunden eingeladen. Zum Essen. Irgendwann mittendrin flog die Tür auf, und eine verpickelte Silvesterrakete flog grußlos durch den Raum. Ich erkannte darin Emilia, ihre Tochter – ein Geschöpf, das wenige Jahre vorher noch auf meinem Schoß gesessen und mir alles Wissenswerte über Polly Pocket und Hannah Montana nahegebracht hatte. Und nun das.

Emilia gab mir auf Anordnung ihres Vaters missgelaunt ihre schlaffe Pfote und meckerte kurz über die stinkenden Blumenleichen, die wir in der Annahme, es handele sich um einen hübschen Strauß, mitgebracht hatten. Dann fragte sie, ob sie was vom Dessert haben könne, und verschwand in der Küche. Schließlich tauchte sie wieder auf, um zu fragen, wer ihr blaues Sweatshirt habe. Ich hob spaßeshalber die Hand, wurde mit Nichtbeachtung bestraft, und es folgte ein ungnädiger Schwall von Vorwürfen an ihre Mutter. Am Ende verabschiedete sich Emilia Richtung Party von irgendeinem Paul und ging linksseitig ab, wenn auch ohne Szenenapplaus.

Den Rest des Abends verbrachten wir damit, die Klagen und Selbstvorwürfe unserer Freunde entgegenzunehmen. Ich lernte: Kinder, die du als liebenswürdige Geschöpfe voller Anmut und Charme in Erinnerung hattest, verwandeln sich innerhalb kurzer Zeit in stinkende Monster (Jungs) oder hysterische Amazonen (Mädchen). Wenn die Familie viel Glück hat, verlassen die Jugendlichen diese danger zone der Eiterpickel und befleckten Unterwäsche als lebenstüchtige Erwachsene. Einige jedoch verbleiben für immer im Schattenreich der Adoleszenz, machen aber dennoch manchmal Karriere.

Zurück zu unseren armen Freunden, die immer sehr auf ein partnerschaftliches Verhältnis zu ihren Kindern gebaut hatten: Die Gespräche, eigentlich sind es Gebrülle, haben bei ihnen herrliche Themen wie Hygiene, Drogen, Umgangsformen, Ernährung und Faulheit. Ich bestand darauf, dass ich auch in Zukunft niemals Sätze sagen würde wie: «Ich kann nicht ertragen, wie du deine Zeit sinnlos verplemperst.» Oder: «Räum endlich diesen Saustall auf.» Ich fand, dass beide Angelegenheiten in das Selbstbestimmungsrecht der Kinder fallen und die Eltern nichts angehen. Mein Freund lachte bitter und goss sich einen Absinth ein.

Auf dem Heimweg schwiegen wir. Ich stellte mir den Besuch von Carlas erstem Freund vor und wie ich ihm die Haustür öffnen würde. Eine Mischung aus Thor, dem Hammergott, und Catweazle steht vor mir und fragt, ob Carla zu Hause ist. Ich sage: «Aha, Kamerad, erst geht es mal zum Eignungstest.» Dieser beinhaltet Fragen nach dem Beruf des Vaters, dessen politischen Präferenzen und der Marke seines Autos. Aus seinen Angaben lässt sich schon allerhand ableiten, für den Fall einer zu planenden Hochzeit beispielsweise. Außerdem will ich wissen, woher dieser junge Mann (ich werde ihn monatelang in Carlas Beisein immer nur «diesen jungen Mann» nennen) meine Tochter kennt, ob er ein Instrument spielt, «In der Halle des Bergkönigs» kitschig findet und was er von meiner Tochter will. Wenn er «In der Halle des Bergkönigs» für ein Kapitel aus «Der Herr der Ringe» hält und von meiner Tochter «gar nix» will, kann er gleich wieder abzittern. Wenn er auf die letzte Frage antwortet, er wolle «fummeln», halte ich ihm einen dreißigminütigen Vortrag darüber, wie das in den achtziger Jahren war. Und wenn er dann immer noch nicht abhaut, darf er mit meiner Tochter ins Kino. Ich rufe während des Films acht Mal an, um zu fragen, ob sie noch dort sind. So stellte ich mir das vor.

Aber wie alles im Leben kam es völlig anders.

Im Pubertier-Biotop

Nur der im Tierreich fehlenden Schulpflicht ist es zu verdanken, dass der Koalabär als faulstes Lebewesen der Welt gilt. Er hängt täglich zwanzig Stunden rum. Das würde unsere Tochter locker toppen, aber sie muss zwischendurch in die Schule.

Ihr aktuelles Idol heißt William Gaines. Das war der Herausgeber des Magazins «Mad». Von Gaines wird erzählt, er habe sich jahrelang in einem Rollstuhl herumschieben lassen, und zwar nicht, weil er gebrechlich gewesen sei, sondern aus reiner Faulheit. Das entspricht genau Carlas Vorstellung von einem perfekten irdischen Dasein. Unser Pubertier kann nicht aufräumen, weil es keinen Bock auf den Stress hat. Sie kann nicht ans Telefon gehen, weil sie das Klingeln unter Leistungsdruck setzt. Sie hätte gerne Salz in der Sauce, akzeptiert diese aber auch ungesalzen, wenn sie das Salz selbst holen muss. Sie ist fauler als ein sardischer Esel im August um die Mittagszeit.

Heute Morgen steht sie abmarschbereit im Flur. Ich sage, dass es klug sei, eine Jacke anzuziehen. Antwort: «Meine Jacke ist oben, und bis ich die geholt habe, ist der Schultag vorbei.» Wir wohnen keineswegs im Parlamentspalast von Bukarest (umbaute Fläche: 365000 Quadratmeter). Man kann eine Jacke holen und innerhalb einer halben Minute zurück sein. Dies allerdings nur, wenn man sich beim Gehen bewegt. Und Pubertiere bewegen sich nicht, jedenfalls nicht sichtbar.

Carla ist sehr gut im Chillen, Relaxen, Entspannen, Ausruhen, Runterkommen, Zeittotschlagen und einfach mal nix machen. Es handelt sich dabei übrigens nicht um dieselbe Tätigkeit in sieben Varianten, sondern laut Carla um unterschiedliche Verrichtungen, für die mein Verständnis jedoch allmählich schwindet. Carla ist aber der Meinung, dass nicht sie, sondern ich nicht ganz normal sei. Vielleicht hat sie recht. Ich werde mit zunehmendem Alter immer tüchtiger. Eigentlich schrecklich, denn ich kann mich durchaus an Gespräche mit meinen eigenen Eltern erinnern, in denen diese mir «sinnlose Faulheit», «mangelndes Interesse» und «pflanzenartiges Herumlungern» vorwarfen. Ich nahm dies 1980 müde zur Kenntnis und kochte mir einen Tee, um runterzukommen. Ich war mindestens so schlimm wie Carla. Aber das würde ich ihr gegenüber nie zugeben.

Natürlich weiß ich, dass das alles wieder mit den Hormonen und diesem ganzen Entwicklungsterror zu tun hat. Aber es ist momentan kaum vorstellbar, dass sich aus unserer lethargischen Amphibie eines Tages eine engagierte und flinke Person pellen soll, die der Gesellschaft zum Nutzen und der eigenen Natur zum Trotz Dinge anfängt und zu Ende führt.

Neulich teilte sie mit, sie könne kein Ei kochen, da sie nicht wisse, wann man es ins Wasser gebe. Ich sagte ihr, man könne es sowohl ins kalte als auch ins kochende Wasser legen. Nach einer Viertelstunde kam sie zurück und fragte, wann denn so ’n Wasser koche. Ich sah nach und stellte dann erst einmal den Herd an. Ich dachte eigentlich, wir wären schon mal weiter gewesen. Ein befreundeter Arzt klärte mich dann darüber auf, dass es sich um ein Paradebeispiel nicht miteinander verknüpfter Synapsen handele. Alles völlig normal.

Gestern wollte ich gerade ins Bett, als mich ein schwaches Stimmchen aufhielt. Es rief mich. Flehentlich. Ich ging also ins Zimmer meiner Tochter, die im Bett lag und mich mit einem Blick ansah, gegen den sich Bambis Gesichtsausdruck wie der eines Taliban-Anführers ausnahm. Ob ich ihr mal eben die Tasse von ihrem Schreibtisch reichen könne. Sie hatte tatsächlich darauf gewartet, bis jemand an ihrem Zimmer vorbeiging, nur um nicht selbst aufstehen zu müssen. Ich sagte, dass es wohl bei ihr piepe. Sie erwiderte, sie leide am Asperger-Syndrom und sei nicht dazu in der Lage, einfachste Verrichtungen zu erledigen. Ich erklärte ihr, dass sie höchstens unter dem Gaines-Syndrom leide, und erzählte ihr die Sache mit dem Rollstuhl des «Mad»-Herausgebers. Sie antwortete: «Das ist ja sehr interessant. Aber wenn du schon in meinem Zimmer rumstehst, kannst du mir auch die Tasse vom Schreibtisch geben.» Ich war so verdutzt, dass ich es tat. Darauf sie: «Na also. Geht doch.»

Manchmal fühle ich mich meiner Tochter nicht gewachsen.

Die Tee-Nagerin

Manchmal ärgere ich unsere Tochter. Ich weiß schon, das ist nicht nett und führt mittelfristig zu Konflikten. Aber es macht nun einmal Spaß, ein Pubertier zu reizen. Sie gehen steil in die Luft und explodieren in den schönsten Farben.

Zum Beispiel fragte ich sie während der Lektüre des letzten Bandes von Harry Potter bis zu zehn Mal am Tag, ob denn der böse «Lord Waldemar» schon tot sei. «Der heißt Voldemort, Voldemort, Voldemort», kreischte sie irgendwann. Gemein? Vielleicht.

Oder ich nerve sie mit einem Scherz über den hübschen amerikanischen Sänger Bruno Mars. Es gab eine Zeit, da hing ihr ganzes Zimmer mit Postern von ihm voll. Das war, nachdem der blöde Vampir ausgezogen war. Die jungen Männer kommen und gehen, wenn auch nur zweidimensional und an der Wand. Egal. Ich fand diesen Bruno nicht mal so übel, trotzdem musste er ständig für Scherze herhalten. Zum Beispiel für den hier: «Warum heißt Bruno Mars nicht Bruno Snickers? Weil er keine Nüsse hat!» Carla fand das schon beim ersten Mal nicht lustig. Eigentlich mache ich solche Scherze nur, weil ich ihre Reaktion unglaublich cool finde. Sie stellt sich dann vor mich und sagt todernst: «Ja. Papa. Der war’s jetzt. Ich schmeiß mich weg.»

Aber sie ärgert mich auch zurück. Als ich mich vor einiger Zeit weigerte, mit ihr im Auto nach Stuttgart zu fahren, um dort gegen den Bahnhof zu demonstrieren, schleuderte sie mir verächtlich entgegen, ich sei eben so eine richtige «Revolutionsbremse». Das ist ein starkes Stück für jemanden, der mit dreizehn Jahren durchaus schon zu Demos ging, auch wenn er die thematischen Zusammenhänge nicht genau verstand.

Neulich musste ich mit ihr Klamotten aussortieren. Und zwar nicht ihre, sondern meine. Sie identifizierte drei Hemden, mit denen ich aussähe wie ein Honk, sowie eine untragbare Hose. «Bitte hol mich nie in diesem Ding von der Schule ab», bat sie mich angewidert. Aber wenn wir uns nicht ärgern, vertragen wir uns eigentlich ganz gut, Carla und ich.