Iny Lorentz

Die Fürstin

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Iny Lorentz

Hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt sich ein Münchner Autorenpaar, dessen erster historischer Roman »Die Kastratin« die Leser auf Anhieb begeisterte. Mit »Die Wanderhure« gelang ihnen der Durchbruch; der Roman erreichte ein Millionenpublikum. Seither folgt Bestseller auf Bestseller. Die Romane von Iny Lorentz wurden in zahlreiche Länder verkauft. Die Verfilmungen ihrer »Wanderhuren«-Romane und zuletzt der »Pilgerin« haben Millionen Fernsehzuschauer begeistert. Im Frühjahr 2014 bekam Iny Lorentz für ihre besonderen Verdienste im Bereich des historischen Romans den »Ehrenhomerpreis« verliehen. Die Bühnenfassung der »Wanderhure« in Bad Hersfeld hat im Sommer 2014 Tausende von Besuchern begeistert und war ein Riesenerfolg.

Besuchen Sie auch die Homepage der Autoren: www.inys-und-elmars-romane.de

Impressum

»Die Fürstin« erschien 2005 unter demselben Titel und dem Pseudonym Eric Maron im Verlag Knaur Taschenbuch, München

 

© 2015 der Neuauflage Knaur eBook

© 2012 Knaur eBook

© 2005 Knaur Taschenbuch

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildungen: FinePic, München

ISBN 978-3-426-43571-7

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Erster Teil

Die Braut

 

1

Charlotte suchte sich eine Astgabel, auf der sie bequem sitzen und gleichzeitig die Straße im Auge behalten konnte, pflückte einen Apfel und biss so fest hinein, dass es krachte. Dann warf sie einen Blick auf ihre Schwestern, die wie aufgescheuchte Hühner unter dem Baum hin und her liefen und erwartungsvoll zu ihr hochsahen. Ausnahmsweise schimpfte keine von ihnen, obwohl es sich für eine Tochter der fürstlichen Familie von Ostheim-Veldenburg nicht gehörte, auf Bäume zu klettern, zumal sie, da sie sich schon so ungehörig benahm, nicht einmal Früchte hinabwarf, um die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. An diesem Tag interessierten sich ihre Schwestern nicht für Obst, und das lag nicht daran, dass die Äpfel noch zu sauer waren.

Dorothea hüpfte auf und ab und schwenkte die Arme. »Kannst du schon etwas sehen?«

»Nein! Noch nicht einmal eine Staubwolke in der Ferne.« Charlotte schüttelte den Kopf, weniger, um ihre Worte zu unterstreichen, als um die Verwunderung über die Aufregung auszudrücken, die ihre Schwestern gepackt hatte. Die vierzehnjährige Henriette, die mit ihren schwellenden Formen viel weiblicher wirkte als sie mit ihren siebzehn Jahren, rang die Hände und machte dabei so ein verklärtes Gesicht, als hoffe sie, es erschiene ein Märchenprinz, der sie hinwegführe. Dabei war sie noch viel zu jung, um als Braut in Frage zu kommen, und bei dem sehnsüchtig erwarteten Besucher handelte es sich keineswegs um einen lockigen Jüngling, sondern um einen ältlichen Witwer mit gutem Auskommen, also genau um den Mann, der nach Ansicht ihrer Mutter in der Lage war, der Nächsten aus ihrer vielköpfigen Töchterschar die Zukunft zu sichern.

Charlotte war sich bewusst, wie wenig die Lebensumstände ihrer Familie dem hohen Rang entsprachen, den sich einer ihrer Vorfahren erworben hatte. Von dem Vermögen, das dieser einst zusammengerafft hatte, war nur noch die Veldenburg übrig geblieben, ein verfallendes Gemäuer an der Grenze zur Bayreuther Markgrafschaft, dazu ein kleines Meierdorf und so viel reichsfreies Land, dass man es zu Fuß in einer guten Stunde umrunden konnte. Ihre Schwestern benötigten natürlich viel länger für diesen Spaziergang, denn sie schritten, wie ihre Mutter Charlotte oft genug vor Augen hielt, nicht ungehörig schnell aus, sondern betrugen sich jederzeit so, wie es sich für junge Damen von hohem Adel gehörte.

»Siehst du denn noch immer nichts?« Henriettes quengelnde Stimme erinnerte Charlotte daran, aus welchem Grund sie auf ihrem Aussichtsposten saß. Sie starrte wieder über die Reste der alten Wehrmauer und sah, wie eine zweispännige Kutsche aus dem Schatten der Bäume kam und sich den steilen Weg zur Burg hochquälte.

»Ich glaube, da kommt unser Besucher!«, rief sie hinab.

Dorothea jubelte auf und machte einen Tanzschritt, obwohl sie wusste, dass nicht sie, sondern die Zweitälteste ihrer Schwestern den Ankömmling heiraten sollte. Michaela war sich dessen wohl bewusst, denn sie presste die Hände auf ihren üppigen Busen, um ihr Herz zu beruhigen, und reckte den Hals. Doch vom Boden aus konnte sie hinter den Lücken in der Mauer nur blauen Himmel erkennen. »Ist es der Herr von Fuchsheim?«, wollte sie wissen.

Charlotte kniff die Augen zusammen und versuchte, das Wappen auf dem Wagenschlag zu erkennen. »Ich nehme es an. Das Wappen könnte einen silbernen Fuchs auf blauem Grund darstellen.«

Ihre Worte lösten ein aufgeregtes Quieken aus. Ihre Schwestern rafften gleichzeitig ihre Röcke und liefen wie eine Gänseschar eine hinter der anderen in den inneren Teil der Burganlage. Charlotte hatte es nicht eilig. Sie aß in Ruhe ihren Apfel auf, warf das Kerngehäuse über die Burgmauer und stieg vom Baum herab. Als sie endlich in den Palas kam, hatten ihre Schwestern sich bereits umgezogen und standen in ihren besten Kleidern aufgereiht wie Soldaten, während Cordelia von Ostheim-Veldenburg von einer Tochter zur nächsten ging und den Sitz ihrer Garderobe überprüfte. Als Charlotte eintrat, drehte sie sich um und rümpfte die Nase.

»Warum hast du dich noch nicht umgezogen? Mach, dass du in deine Kammer kommst! Wasch dich aber vorher, du läufst ja wieder herum wie eine Bauernmagd. Wenn du Herrn Walram so unter die Augen trittst, bekommt er einen denkbar schlechten Eindruck von unserer Familie und zieht vielleicht sogar seine Bewerbung zurück.«

Dorothea und Henriette zuckten bei den Worten zusammen und zischten Charlotte an. Die Ältere benahm sich, als mache sie sich gegen allen Brauch Hoffnungen, der Reichsritter von Fuchsheim würde sie statt Michaela erwählen, und Henriette schien sich das Gleiche zu wünschen, rechnete sie sich in dem Fall doch Chancen aus, den nächsten Freier zu bekommen. Beide wussten, dass Michaela zarte Bande mit dem Nachbarssohn Gerolf von Weitelburg geknüpft hatte, und hofften immer noch, dieser würde sie bald heimführen. Charlotte lächelte über den sinnlosen Eifer, denn Gerolf war nur ein jüngerer Sohn ohne Aussichten, und für Romantik gab es im Leben mittelloser Fürstentöchter keinen Platz.

Sie streckte ihren beiden jüngeren Schwestern, die sie immer noch mit Blicken angifteten, die Zunge heraus und nahm sich vor, ihnen an einem der nächsten Tage einen Frosch ins Bett zu legen. Dann aber eilte sie von einem mahnenden Räuspern ihrer Mutter getrieben hinaus. In der Spülküche wusch sie sich ausgiebig, um die Harzflecken von Armen und Beinen zu entfernen, und rannte dann die Treppen hoch in die Kammer, die sie mit Henriette und der elfjährigen Adelaide teilte. Sie brauchte nicht lange, um sich für eines der beiden Kleider zu entscheiden, die nicht sichtbar geflickt waren, denn ihr Konfirmationskleid war nur für hohe Feiertage bestimmt. So zog sie das andere an, auch wenn sie keine besonders gute Figur darin machte. Da die Familie sparen musste, wurden die Kleider von einer Schwester an die andere weitergereicht, bis der Stoff so fadenscheinig geworden war, dass er kaum noch für Putzlappen taugte. Aber selbst die eifrigste Nadelarbeit konnte nicht verbergen, dass die Gewänder ihrer älteren Schwestern Charlotte zu kurz und zu weit waren. An diesem Tag machte es ihr allerdings nicht viel aus, denn der Fuchsheimer würde ihr wohl kaum einen Blick schenken.

Gerade, als sie die Kammer verlassen wollte, fiel ihr Blick auf ihre nackten Zehen, und sie kehrte seufzend um. Ihre Schuhe waren ihr schon wieder zu klein geworden, aber sie wagte es nicht, ihre Mutter zu verärgern, indem sie barfuß vor dem Gast erschien. Als sie ihre Füße endlich in das Schuhwerk gepresst hatte, tat ihr jeder Schritt weh, und um den Schmerz zu lindern schlurfte sie o-beinig dahin.

Die Mutter hatte ihre Schwestern schon wie eine Hühnerschar in die große Halle getrieben und ermahnte sie gerade, nicht zu schwatzen. Charlotte hinkte die Treppe hinab und drückte sich hinter zwei der reich verzierten, aber auch stark zerschrammten Rüstungen, die ebenso wie die an der Wand hängenden Waffen und die mächtige Tafel aus Eichenholz in der Mitte des Saals an den längst verblichenen Glanz früherer Zeiten erinnerten.

Charlottes Mutter, Cordelia von Ostheim-Veldenburg, war eine üppige Dame knapp unter vierzig, mit blondem Haar, das schon leicht silbrig glänzte, und blassblauen Augen, die überall zugleich hinzublicken schienen. Sie entdeckte ihre dritte Tochter sofort, zerrte sie aus ihrem Versteck und schob sie zwischen Michaela und Dorothea, wo sie vom Alter her hingehörte. In dem Augenblick erschien Bernward von Ostheim-Veldenburg, ein hoch gewachsener, schon leicht vom Alter gebeugter Herr mit schmalem Gesicht, einer kühn gebogenen Nase und durchdringenden blauen Augen. Er nickte seiner Frau zu und bat dann den Gast herein.

Charlotte hatte das Gefühl, alle Blicke seien kritisch auf sie gerichtet, denn in Momenten wie diesem wurde ihr mehr als sonst bewusst, dass sie wie ein Fremdkörper zwischen ihren wie Orgelpfeifen aufgereihten Schwestern wirkte. Die um zwei Jahre ältere Michaela reichte ihr gerade bis zur Schulter, war aber fast dreimal so breit wie sie, und die noch etwas kleinere Dorothea glich ihrer älteren Schwester wie ein Ei dem anderen. Sie selbst aber besaß nicht einmal einen nennenswerten Ansatz von Hüften oder Busen, und es sah bisher auch nicht danach aus, als würde sie noch ein wenig von jener weiblichen Fülle ansetzen, die ihre Mutter und die Schwestern im Übermaß besaßen.

Charlotte war sich der Mängel ihrer Figur durchaus bewusst, bekam sie doch beinahe tagtäglich zu hören, wie hässlich und aus der Art geschlagen sie sei, und daher nahm sie es dem Brautwerber nicht übel, dass sein Blick, der sich abwechselnd an Michaela und Dorothea festsaugte, über sie hinwegglitt, als wäre sie nicht vorhanden. Die beiden hatten annehmbar hübsche Gesichter und lockige, blonde Haare, die wie ihre Formen dem herrschenden Schönheitsideal entsprachen. In Charlottes Augen waren sie viel zu schade für einen Mann wie Walram von Fuchsheim, und mit einem Mal taten die Schwestern ihr Leid. Der künftige Bräutigam war klein, sogar noch etwas kleiner als Michaela, und dabei so beleibt, dass er wie ein Ball auf Beinen wirkte. Dazu hatte er eine ausgeprägte Stirnglatze und ein breites Gesicht mit einer rötlichen Knollennase und unedlen Hamsterbacken, die von einem struppigen Kinnbart betont wurden. Seine Hände waren fleckig, wahrscheinlich vom Schnupftabak, und unter seinen Fingernägeln saßen schwarze Ränder.

Diesen unansehnlichen Menschen behandelte ihre Mutter, als wäre er Adonis und der sagenhaft reiche König Midas in einer Person, und Dorothea himmelte ihn an. Ihr Vater war höflich zu ihm, aber sein unbewegtes Gesicht verriet Charlotte, dass er ebenfalls nicht sehr glücklich über diesen Bewerber war. Trotzdem hatte er zu Ehren dieses Tages seinen besten Rock angezogen, der zwar schon zehn Jahre alt war, ihm aber immer noch wie angegossen passte. Bernward von Ostheim-Veldenburg wirkte trotz seiner fünfzig Jahre jünger als sein Gast, der, wie Charlotte sich erinnerte, drei noch unmündige Söhne aus erster Ehe sein Eigen nannte. Gerade, als sie sich fragte, wie Michaela sich wohl als Stiefmutter bewähren würde, hob ihr Vater die Hand, um die Aufmerksamkeit seiner Familie auf sich zu lenken.

»Ich freue mich, euch allen mitteilen zu dürfen, dass Herr Walram mich soeben um Michaelas Hand gebeten hat.«

Charlotte erwartete, einen entsetzten Aufschrei zu hören oder gar einen Wutausbruch. Michaela war nämlich durchaus von heftigem Temperament, und im Vergleich zu dem von ihr umschwärmten Gerolf von Weitelburg war Walram von Fuchsheim nur ein fetter, alter Mann mit eher abstoßendem Äußeren. Zu ihrer Verwunderung trat ihre Schwester jedoch lächelnd auf ihren Freier zu und bot ihm die Lippen zum Kuss.

»Begrüßt auch ihr unseren neuen Verwandten!«, forderte Frau Cordelia ihre restlichen Töchter auf. Dorothea verdrehte die Augen, als hätte Michaela ihr eben alles Glück der Welt gestohlen, doch sie knickste vor dem Reichsritter und ließ zu, dass er ihr erst die Hand und dann die Wange küsste. Henriette schob sich schnell an Charlotte vorbei, sank in einen Hofknicks, der einem Grafen oder Herzog hätte gelten können, und streckte ihrem zukünftigen Schwager ebenfalls die Hand zum Kuss hin.

Walram von Fuchsheim lächelte geschmeichelt. »Ihr habt prächtige Töchter, Frau von Ostheim-Veldenburg. Da werden Euch die Freier die Türen gewiss nur so einrennen.«

»Michaela ist bereits die Zweite, die ihr Heim verlässt. Ihre Schwester Cornelia wurde im letzten Jahr mit dem Reichsritter Balduin von Kreuztriebenbach vermählt«, antwortete Frau Cordelia sichtlich zufrieden.

Charlotte wandte sich ab und zog die Nase kraus. Einfache Reichsritter wie die Herren Balduin und Walram waren normalerweise nicht die bevorzugten Schwiegersöhne für eine Familie fürstlichen Standes, so verarmt diese auch sein mochte. Ihre Eltern aber waren froh um jeden Herrn von annehmbar altem Adel, der über die fehlende Mitgift hinwegsah, denn sie hatten insgesamt acht Töchter zu versorgen. So konnte Charlotte hoffen, dass ihr wenig anziehendes Äußeres ihr das Schicksal ersparte, dem nächstbesten Interessenten in die Arme gedrückt zu werden. Lieber blieb sie als unverheiratete Tante bei ihrem kleinen Bruder Leopold, der einst die Veldenburg erben würde, oder zog zu einer ihrer Schwestern und kümmerte sich um die dort zu erwartende Schar ihrer Nichten und Neffen.

Walram von Fuchsheim bemerkte Charlottes kritischen Blick und glaubte eine gewisse Verachtung darin zu lesen. Sofort plusterte er sich auf wie ein gereizter Hahn und starrte die Hausherrin empört an. »Eure hübschen Töchter werden gewiss Freier finden, doch diese unansehnliche Bohnenstange dort drüben werdet Ihr wohl kaum unter die Haube bekommen.«

Seine Worte verletzten Charlotte, die eben noch dem Leben einer unverheirateten Jungfer den Vorzug gegeben hatte, so sehr, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ihre Mutter lachte jedoch siegesgewiss auf. »Ihr könnt versichert sein, Herr von Fuchsheim, dass ich für alle meine Töchter standesgemäße Ehen arrangieren werde!«

In Charlottes Ohren klangen diese Worte wie eine Drohung.

2

Eine eifrig umherwieselnde Schar von Dienern in grünschwarzen Livreen umgab drei Herren, die sich um das Bett eines vierten versammelt hatten und den Kranken darin anstarrten, als könnten sie die Fragen, die sie bewegten, von seiner schweißnassen Stirn ablesen.

Bergius, der Hofmedikus, hatte sich ein wenig zurückgezogen, um seine beiden Kollegen zu konsultieren, die er zu seiner Unterstützung herbeigerufen hatte, und beäugte zwischendurch ängstlich seinen Landesherrn, der aus seiner Verbitterung keinen Hehl machte. Carl Anton, Fürst von Sachsen-Saalstein-Tresskau, war der Vornehmste unter den Anwesenden, das konnte man auch an seiner Kleidung ablesen. In seinem hellblauen, mit kunstvollen Goldstickereien geschmückten Satinrock, Kniehosen aus beiger Naturseide, weißen Seidenstrümpfen und zierlichen roten Schuhen mit Silberschnallen sah er so aus, als habe er ein Fest besuchen wollen. Stattdessen stand er nun am Sterbebett seines Bruders und Erben Albrecht Eugen.

Nachdem er eine Weile auf den Kranken gestarrt hatte, drehte der Fürst sich zu seinem Leibarzt um und wies auf das wachsbleiche, ausgezehrte Gesicht auf den Kissen. »Wie steht es nun wirklich um ihn? Spreche Er ohne Umschweife und gelehrtes Gewäsch!«

Bergius zuckte unter dem ungewohnt strengen Tonfall zusammen, und seine Kollegen wichen hinter seinen Rücken zurück, um den Zorn ihres Fürsten nicht auch auf sich zu lenken. Der Hofmedikus räusperte sich mehrfach, während sein Blick durch das große Zimmer irrte, das einem lebensfrohen Edelmann den passenden Rahmen geben und nicht einen Sterbenden beherbergen sollte. Die Brokatvorhänge des Himmelbetts waren aufgebunden, so dass die zahlreichen Facetten der vergoldeten Pfosten die Flammen der Kerzen widerspiegelten, die den Raum in ein weiches Licht tauchten. Der zierliche Tisch mit seiner Intarsienarbeit aus kostbaren Hölzern und schimmerndem Perlmutt und die beiden Stühle waren an die Wand gerückt worden und verdeckten den unteren Teil eines fast dreimannshohen Gobelins, auf dem der junge Herr als Jagdpatron Hubertus dargestellt war. Das wertvolle Stück war nach Albrecht Eugens Vorgaben in einer französischen Manufaktur gefertigt worden und hatte seine immensen Schulden noch anwachsen lassen. Der Erbprinz hatte sich auch auf einem lebensgroßen Gemälde verewigen lassen, welches ihn als Paris zeigte, der einer dankbar lächelnden, nackten Aphrodite den goldenen Apfel reicht, während die ebenfalls unbekleideten Göttinnen Hera und Athene ihn voll unerfüllter Sehnsucht anschmachten. Nun aber hätte niemand mehr eine Ähnlichkeit zwischen dem im Fieber dahindämmernden Kranken und dem kraftstrotzenden Jüngling auf Bild und Wandteppich feststellen können. Trotzdem musste Bergius allen Mut zusammennehmen, um seinem Herrn reinen Wein einzuschenken.

»Der Erbprinz wird diese Nacht nicht überstehen, Euer Durchlaucht.«

Die Lippen des Fürsten glichen zwei bleichen Strichen in einer Maske roten Zorns. »Möge er auf ewig in der Hölle schmoren und du mit ihm, Medikus, weil du ihn nicht retten konntest!«

Bergius gab seine einträgliche Stellung als Leibarzt des Fürsten schon verloren und fragte sich, ob man ihn wohl in der Veste Saalstein einkerkern würde. Der Zorn über die Ungerechtigkeit des Schicksals beflügelte seinen Mut, und er hob das Kinn. »Kein Arzt der Welt hätte den jungen Herrn von dieser Krankheit heilen können!«

Er trat an das Bett, lüftete die Bettdecke und zeigte auf das grotesk angeschwollene, schwarz verfärbte und von Eiterbeulen übersäte Glied des Prinzen, von dem eine Wolke Ekel erregenden Gestanks aufstieg, die die Diener sofort mit Parfüm aus den Flakons zu bekämpfen suchten, die auf dem Toilettentisch standen.

»Es handelt sich um einen besonders schweren Fall der Französischen Seuche, Eure Hoheit. Wir können nur hoffen, dass sie nicht weiter um sich greift.«

Alexander von Pößnitz, der Kanzler des Fürsten, ein hoch gewachsener, hagerer Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und einer vorstechenden Habichtsnase, nickte besorgt. »Die Befürchtung des Arztes ist nicht von der Hand zu weisen. Erlaubt, dass ich den Polizeipräfekten anweise, die üblichen Maßnahmen zu treffen.«

Fürst Carl Anton ballte die Fäuste, äußerte sich aber nicht, und das wertete Pößnitz nach alter Gewohnheit als Zustimmung. Er verstand, was in dem Herrn über Saalstein-Tresskau vorging. Der Erbprinz war bei seinen Frauenbekanntschaften wenig wählerisch gewesen und hatte Edeldamen ebenso beglückt wie Zimmermädchen, Wäscherinnen und käufliche Dirnen, so als hätte er der Welt beweisen wollen, dass er sich von seinem Bruder, dem Regierenden Fürsten, unterschied, dessen Zuneigung zum eigenen Geschlecht hinlänglich bekannt war. Pößnitz' Blick wanderte zu Rainaud de Tailleur, dem dritten Herrn im Raum, und er nahm wahr, dass dessen schönes Gesicht sich in eine Grimasse nackter Angst verwandelt hatte.

Rainaud de Tailleur war als schlichter Reinhold Schneider geboren worden, und sein Verhältnis zum Fürsten verglichen spöttische Zungen gerne mit dem des Patroklos zu Achilles. Im Gegensatz zu seinem Herrn machte Pößnitz sich wenig Illusionen über den Charakter des fürstlichen Liebhabers, denn er wusste von seinen Zuträgern, dass der Mann ein Heuchler war, der seine Leidenschaft für den Fürsten nur spielte. Der Mann stieg außerhalb des Palastes in die Betten von Frauenzimmern und hatte sich schon des Öfteren die eine oder andere lockere Person mit dem Erbprinzen geteilt. Für einen Augenblick wünschte der Kanzler sich, die Rollen wären vertauscht und de Tailleur läge anstelle des Erbprinzen auf dem Sterbebett. Doch das Schicksal hatte es anders gewollt.

»Deck das zu«, herrschte er Bergius an, der dem Befehl erleichtert Folge leistete.

De Tailleur näherte sich dem Arzt mit schlecht verhohlener Besorgnis und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Hat Er einen Hinweis darauf, wo Albrecht Eugen sich diese schreckliche Krankheit zugezogen haben könnte?«

Bergius zuckte hilflos die Schultern. »Ich kenne nicht einmal die Hälfte der Frauen, mit denen Seine Hoheit geschlafen hat, und habe die wenigsten von ihnen vorher untersuchen dürfen.«

»Es ist erschreckend, einen Menschen in so kurzer Zeit zugrunde gehen zu sehen.« De Tailleur schüttelte sich und hätte den Raum am liebsten sofort verlassen, doch solange der Fürst keine Anstalten machte zu gehen, musste auch er ausharren.

Carl Anton starrte seinen Bruder anklagend an, als habe dieser ihn inmitten einer alles entscheidenden Schlacht im Stich gelassen. »Gott verdamme dich!«

Da sich im Gesicht des Sterbenden nichts regte und nichts darauf hinwies, dass er noch einmal erwachen würde, wandte er sich ab und schritt zur Tür. Dort blieb er stehen und drehte sich zu den Ärzten um. »Tut für ihn, was ihr könnt, und meldet mir, wenn er hinübergegangen ist.«

»Sehr wohl, Euer Durchlaucht.« Bergius verbeugte sich und atmete erleichtert auf, als der Fürst den Raum verlassen hatte.

3

Carl Anton von Sachsen-Saalstein-Tresskau eilte so rasch die Korridore entlang, dass sein Favorit Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Pößnitz folgte ihnen schwerfällig wie ein Greis, denn er musste gegen die Schatten ankämpfen, die sein Gemüt zu verdüstern drohten. Der Tod des Erbprinzen gefährdete die Herrschaft des Fürsten, denn er gab jenen Kräften Auftrieb, die Carl Anton wegen seiner Neigungen die Legitimation absprachen und schon seit Jahren gegen ihn hetzten und wühlten. In seiner Niedergeschlagenheit dachte der Kanzler sogar daran, die Bürde seines Amtes abzulegen und sich auf seine Ländereien zurückzuziehen. Mit einem solchen Schritt aber würde er seinen Souverän denjenigen schutzlos ausliefern, die ihm sogar die Luft zum Atmen missgönnten. Ein Rückzug wäre Verrat an allem, für das er bisher gelebt hatte, hielt er sich vor, und bisher hatte er sich noch nie kampflos dem Schicksal ergeben.

Er beschleunigte seine Schritte und schob sich an die Seite des Fürsten. »Euer Durchlaucht, ich bitte Euch um eine sofortige Unterredung. Die Lage ist ernst, und Ihr werdet einige harte Entscheidungen treffen müssen.«

De Tailleur ärgerte es, dass der Kanzler ihn weggedrängt hatte, und winkte heftig ab. »Bei Gott, nein! Pößnitz, lasst unserem erhabenen Herrn doch Zeit, sich von dem Schock des Verlustes zu erholen und seinen Bruder zu betrauern.«

Pößnitz bedachte den Mann, den er still für sich nur die männliche Hure nannte, mit einem tadelnden Blick. De Tailleur strich nervös über seinen hellroten Samtrock, den er über einer Kniehose aus dem gleichen Stoff und einer ebenfalls hellroten Seidenweste trug, und zog eine gekränkte Miene. Dabei wirkte er ganz und gar nicht so, als würde er das Ableben des Erbprinzen bedauern. Das mochte daran liegen, dass Albrecht Eugen ihn oft verspottet und ihm seine Verachtung für die Rolle, die er am Hof spielte, offen gezeigt hatte. Andererseits hatte der Erbprinz de Tailleur häufig zum Mitwisser seiner Affären gemacht und ihn hinter dem Rücken des ahnungslosen Fürsten auf seine nächtlichen Ausflüge in gewisse übel beleumundete Häuser mitgenommen.

Dem Kanzler war bewusst, was der selbstgefällige Ausdruck im Gesicht des Favoriten bedeutete. De Tailleur hoffte wohl, dass sein Einfluss nach dem Tod Albrecht Eugens groß genug werden würde, um ihn, Pößnitz, zu entmachten oder gar vom Hof zu vertreiben. Bereits jetzt empfand der Fürst jede Kritik an seinem Liebhaber als persönliche Beleidigung und nahm den Mann sogar dann noch in Schutz, wenn dieser sich in seiner plumpen Art einen Affront gegen höher gestellte Gäste oder Mitglieder der Hofgesellschaft erlaubt hatte. Deswegen reagierte der Kanzler nicht auf de Tailleurs Einwand, sondern öffnete die Tür zum kleinen Salon und bat den Fürsten einzutreten.

»Ich sehe, Ihr wollt mich auch heute nicht entkommen lassen, Pößnitz«, klagte der Fürst theatralisch, folgte aber der Bitte.

De Tailleur schob sich vor Pößnitz in den Raum und stampfte dann mit dem Fuß auf. »Macht schnell, denn Seine Durchlaucht benötigt dringend Trost!« An welche Art von Trost er dabei dachte, zeigte die Geste, mit der er seinem fürstlichen Gönner vor Pößnitz' Augen in den Schritt griff.

Der Kanzler wandte sich ab, um ein verächtliches Lächeln zu verbergen. Die früheren Liebhaber des Fürsten hatten sich weitaus diskreter verhalten, aber auch bei weitem nicht so viel Macht über ihn besessen wie dieser eitle Schönling. Während er und de Tailleur sich wie in einem unerklärten Zweikampf mit Blicken maßen, trat Carl Anton an den runden Tisch, dessen Oberfläche die Karte des Fürstentums Sachsen-Saalstein als Intarsienarbeit zeigte. Sein Blick wanderte unwillkürlich über die Grenzen seines kleinen Reiches, dann setzte er sich in einen Brokatsessel, der mit dem Wappen des Fürstentums geschmückt war. Dem herbeieilenden Diener befahl er, für sich und seinen Favoriten Wein zu bringen.

Der Lakai warf dem Kanzler einen Seitenblick zu, und de Tailleur lächelte selbstzufrieden. Pößnitz aber schien die Brüskierung nicht wahrzunehmen, denn er war hinter dem Sessel stehen geblieben, stützte seine Hände auf die Lehne und starrte mit gerunzelter Stirn auf die kunstfertig in das Holz eingearbeitete Karte, die jeden noch so kleinen Ort, jede Straße und jeden größeren Bach des Fürstentums wiedergab. Ein dünner, in zahlreichen Windungen verlaufender Seidenfaden trennte die Abbildung in zwei ungefähr gleich große Hälften. Pößnitz schien sich nicht für den Tresskauer Teil zu interessieren, der mit der gleichnamigen Residenzstadt auf der dem Fürsten zugewandten Seite lag, sondern für Mittstadt, das ebenfalls nach seinem Hauptort benannt worden und vor einer Generation durch Erbteilung entstanden war. Diese Hälfte des alten Staatsgebiets war an eine jüngere Linie gefallen, so dass es nun ein Fürstentum Sachsen-Saalstein-Tresskau und ein Fürstentum Sachsen-Saalstein-Mittstadt gab. Plötzlich beugte Pößnitz sich vor und setzte seinen Zeigefinger auf die Hauptstadt des zweiten Fürstentums.

»Auch wenn das bevorstehende Ableben des Erbprinzen uns alle bewegt, Eure Hoheit, müssen wir doch an die Zukunft denken.«

Das Gesicht des Fürsten verzog sich. »Welche Zukunft, Pößnitz? Mein elender Vetter hat sein Ziel doch so gut wie erreicht, denn nun kann er nach meinem Tod beide Saalsteins unter seiner Herrschaft vereinen.«

De Tailleur streichelte seinen Liebhaber, als wolle er ihn beruhigen. »Warum sich denn jetzt schon den Kopf zerbrechen? Bis dorthin werden noch Jahrzehnte ins Land gehen.«

»Niemand wünscht mehr als ich, dass Seine Hoheit noch bis ins hohe Alter die Zügel seiner Herrschaft in der Hand hält«, antwortete Pößnitz ungewohnt deprimiert. »Genau deswegen gilt es, Maßnahmen zu ergreifen, die Ulrich von Saalstein-Mittstadt jede Hoffnung nehmen, seine Pläne verwirklichen zu können.«

Carl Anton schüttelte verständnislos den Kopf. »Nach dem Tod meines Bruders ist er der nächste Thronanwärter, Pößnitz, und nichts kann ihn oder seinen Erben daran hindern, an meine Stelle zu treten.«

»Ihr habt es in der Hand, das zu ändern, Euer Hoheit. Ihr müsst nur selbst einen Sohn zeugen.«

De Tailleur stieß prustend die Luft aus den Lungen, als hätte er einen besonders schmutzigen Witz vernommen, der Fürst aber funkelte seinen Kanzler zornig an. »Ihr sprecht von einer Ehe? Bei Gott, Pößnitz! Ich habe meinem Vater die Stirn geboten, als er mich zu einer Heirat zwingen wollte, und ich werde mich auch von Euch nicht zu einem Schritt überreden lassen, der mir aus tiefster Seele zuwider ist.«

Der Favorit kicherte leise vor sich hin, denn es hatte ganz den Anschein, als würde Pößnitz sich das letzte Fünkchen fürstlichen Wohlwollens schneller verscherzen, als er gehofft hatte. Er beschloss, dem Fürsten noch am gleichen Abend die Entlassung des Kanzlers nahe zu legen.

Pößnitz kommentierte de Tailleurs lebhaftes Mienenspiel mit einem angedeuteten Schulterzucken. Wenn es ihm nicht gelang, den Fürsten zu Vernunft zu bringen, dann würde er dieses Land freiwillig verlassen. Es gab genug andere kleine Staaten im Heiligen Römischen Reich der Deutschen, in denen er ein neues Leben beginnen konnte, ohne Tag für Tag die Zerstörung seines Werks mit ansehen zu müssen. Aber so schnell, wie die männliche Hure es sich einbildete, würde er den Kampf nicht aufgeben. Sein Zeigefinger stach wie ein beutegieriger Habicht auf die Karte hinab.

»Ich bin mir sicher, dass sich Seine Hoheit, Prinz Albrecht Eugen, nicht zufällig mit der Französischen Krankheit angesteckt hat.«

Während de Tailleur verächtlich abwinkte, hob der Fürst verwirrt den Kopf. »Was wollt Ihr damit sagen, Pößnitz?«

»Im Allgemeinen dauert es Jahre, bis diese Seuche zu einem solch fatalen Ergebnis führt wie bei dem Erbprinzen. So rasch hätte er nicht aufs Sterbelager sinken dürfen, selbst wenn er seine Manneskraft bereits in viel zu jungen Jahren erprobt hätte. Man muss ihn in eine Falle gelockt und ihm eine Frau im höchsten Stadium der Krankheit zugeführt haben. Nach einigen Gläsern Wein und bei düsterem Licht hat er ihren Zustand wohl nicht bemerkt, besonders, wenn sie gut geschminkt und stark parfümiert war.«

Pößnitz kniff kurz die Lippen zusammen. »Es war allgemein bekannt, dass der Erbprinz eine morbide Vorliebe für jene Etablissements zeigte, in denen normalerweise nur Schiffer und Soldaten verkehren. Dort war es ein Leichtes für Euren hochwohlgeborenen Vetter, dafür zu sorgen, dass man Albrecht Eugen eine verseuchte Hure zuführte. Selbst wenn der Plan nicht so schnell aufgegangen wäre, hätte die Krankheit es Eurem Bruder unmöglich gemacht, einen Erben zu zeugen. So oder so wäre Saalstein-Tresskau nach diesem Anschlag an Ulrich oder dessen Erben gefallen.«

De Tailleur bemerkte, dass der Fürst nachdenklich geworden war, und winkte heftig ab. »Das sind doch lächerliche Hirngespinste, Euer Durchlaucht! Ihr wollt diese Phantastereien doch nicht etwa für bare Münze nehmen?«

Pößnitz lachte hart auf. »Sind es wirklich nur Phantastereien? Was, frage ich, könnte den Mittstädter jetzt noch daran hindern, den Erbfall zu beschleunigen? Es gibt genügend langsam wirkende Gifte, die Euer Vorkoster nicht wahrnehmen kann, und nicht jeder Koch oder Küchenjunge ist gegen Bestechung gefeit. Noch unauffälliger und sicherer wäre es, einen Jagdunfall zu inszenieren. Nur wenn ein Erbe vorhanden wäre – oder besser noch zwei –, dürfte Seine Hoheit gegen so beschaffene Zufälligkeiten des Lebens geschützt sein.«

Pößnitz sah, wie es im Gesicht des Fürsten arbeitete. Jetzt steht es auf Messers Schneide, dachte er. Entweder stellt er sich auf meine Seite, oder ich kann meinen Hut nehmen.

»Ich soll ein Weib schwängern?« Carl Anton würgte es sichtlich. Sein Blick suchte den seines Favoriten, und er las Abscheu und ein inniges Flehen in dessen Augen. Lass dir so etwas nicht antun, mein Geliebter, schien de Tailleur ihm zurufen zu wollen.

Carl Anton von Sachsen-Saalstein-Tresskau stellte sich einen Augenblick lang vor, wie es wäre, lange Jahre nur mit dem bewundernswerten Rainaud an seiner Seite zu regieren, ohne einen Kanzler, der ihm ständig mit Problemen in den Ohren lag. Er wollte Pößnitz schon sagen, dass er seine Mahnungen und Verdächtigungen herzlich leid war, aber er erinnerte sich an seltsame Zwischenfälle und Gerüchte, die er auf den Rat seines Geliebten bisher ignoriert hatte, und ihm wurde klar, dass sein Kanzler Recht haben konnte. Der Gedanke, ein Weib in seiner Nähe zu wissen, noch dazu eine Gemahlin, die Ansprüche an ihn stellen und seine traute Zweisamkeit mit Rainaud stören würde, stieß ihn jedoch zutiefst ab. Im Schloss gab es nur wenige weibliche Bedienstete, und diesen war streng verboten, sich ihm zu nähern oder dort zu verweilen, wo er sich aufzuhalten gedachte. So begegnete er Frauen nur dann, wenn er ausritt, oder an hohen Festtagen, an denen er den Adel seines Landes samt den dazugehörenden Damen empfangen musste.

»Die Vorstellung, eine Frau um mich zu haben, ist mir zuwider, Pößnitz, aber Eure Überlegungen haben Hand und Fuß. Mein Vetter hat uns oft genug bewiesen, dass er nicht eher Ruhe geben wird, als bis ich in der Gruft liege und er auf meinem Stuhl sitzt.«

Kaum hatte der Fürst diese Worte ausgesprochen, warf der Tailleur sich ihm zu Füßen. »Tut mir dies nicht an, mein Herr, mein Abgott! Ich flehe Euch an, vertreibt mich nicht von Eurer Seite, nur weil Pößnitz Euren Kopf mit seltsamen Grillen füllt.«

Carl Anton hob seinen Günstling auf und zog ihn an sich. »Wie kommst du nur auf den Gedanken, ich könnte dich von meiner Seite stoßen, mein Herz? Zwischen uns wird sich nichts ändern, glaube mir. Unsere Liebe wird durch diese Prüfung nur noch stärker werden, denn niemand wird uns beide trennen können, kein Mann und erst recht kein Weib.«

De Tailleur klammerte sich an den Fürsten und warf über dessen Schulter dem Kanzler einen triumphierenden Blick zu, denn für ihn war Pößnitz bereits auf dem halben Weg in die Veste Saalstein, die dem Fürstentum zwar den Namen gegeben hatte, aber seit der Erhebung Tresskaus zur Hauptstadt als Unterkunft für Soldaten und als Gefängnis diente. Er kannte Carl Antons Abneigung gegen das weibliche Geschlecht besser als jeder andere und war sich sicher, dass der Fürst morgen schon anderen Sinnes sein und den Kanzler entmachten würde. War Pößnitz erst aus dem Weg geräumt, gab es nur noch einen, auf den der Fürst hören würde, und das war er, Rainaud de Tailleur. Ihm schwindelte bei dem Gedanken an die Möglichkeiten, die sich dann für ihn ergeben mochten.

Da Carl Anton das vierzigste Lebensjahr überschritten hatte und seinen Vetter aus tiefster Seele hasste, benötigte er tatsächlich einen Nachfolger. De Tailleur kannte die Erbfolgegesetze des Landes nicht genau, war sich aber sicher, dass sein Liebhaber die Macht besaß, ihn als Erbprinz einzusetzen. Fürst Rainaud, dachte er, ja, das hat einen guten Klang. Oder sollte er sich dann besser wieder Reinhold nennen? Auch wenn Frankreich allen anderen Staaten als Vorbild diente, so war Sachsen-Saalstein- Tresskau doch ein Land des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und sein Herrscher sollte einen deutschen Namen tragen. De Tailleur schloss die Augen und stellte sich vor, wie Kaiser Karl VI. ihn mit allen Ehren in Wien empfangen würde und ihm eine Heirat mit einer Erzherzogin oder einer anderen Dame aus uraltem Adel antrug.

Während de Tailleur seinen Träumen nachhing, atmete Pößnitz erst einmal auf. Carl Anton würde, wie er ihn kannte, seine Zustimmung zu einer Heirat so bald nicht widerrufen, aber er musste schnell handeln, ehe die männliche Hure den Fürsten mit ihren beständigen Einflüsterungen umstimmen konnte. »Eure Hoheit, darf ich Euch bitten, mir Eure Vorstellung bezüglich Eurer zukünftigen Gemahlin mitzuteilen?«

Carl Anton schürzte die Lippen. »Ihr dürft nicht, Pößnitz. Sucht mir eine Zuchtstute aus und führt sie mir zu, damit ich sie pflichtgemäß besteigen kann. Aber belästigt mich mit dieser Angelegenheit nicht mehr als notwendig. Und nun geht! Ich will mich zurückziehen und für die Seele meines Bruders beten.«

Pößnitz kniff die Lippen zusammen, denn beinahe hätte er seinen Herrn daran erinnert, dass der Erbprinz dieses Leben noch nicht ganz verlassen hatte, aber er wollte sich nicht auch den letzten Rest Wohlwollen verscherzen. Daher verbeugte er sich nur stumm und verließ den Salon, ohne de Tailleur noch eines Blickes zu würdigen.

4

Während der Fürst sich mit seinem Liebhaber in seine Gemächer zurückzog und die Diener fortschickte, wanderte Pößnitz gedankenverloren in den Flügel des Palastes, in dem sich seine Zimmerflucht befand. Als er den kleinen, aber exquisit eingerichteten Vorraum zu seinen Privatgemächern betrat, grübelte er immer noch über die nächsten Schritte nach. Er zog seinen anthrazitfarbenen Rock aus, reichte ihn seinem Leibdiener und lockerte seine Halsbinde, als wäre ihm die Luft knapp geworden. Dann fiel ihm auf, dass der Lakai schon zum zweiten Mal leise hüstelte und auf die Tür des Arbeitszimmers wies.

»Herr von Zinggen wartet auf Euch.« Die Stimme des Dieners klang leicht schockiert, doch Pößnitz hob erfreut den Kopf.

»Das ist gut! Bringe Er Wein und einen Imbiss für Zinggen und mich. Heute Abend kann es spät werden.«

»Sehr wohl.« Der Diener verbeugte sich tief und eilte hinaus, während Pößnitz die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete und noch einmal tief Luft holte, ehe er eintrat.

Der Raum wirkte durch die massiven Bücherschränke, die kaum eine Handbreit Wand frei ließen, und die dunkel gebeizte Decke klein und düster. Den größten Teil der Fläche zwischen den Schränken nahm ein schmuckloser Tisch aus ebenfalls dunkel gebeiztem Holz ein, auf dem mehrere Stapel Bücher und etliche Akten lagen. In einem der beiden bequemen Ledersessel, die das wuchtige Möbelstück flankierten, saß ein kleiner, puppenhaft zierlicher Mann in einem wie angegossen sitzenden tannengrünen Rock, lindgrünen Kniehosen und zartgrünen Strümpfen. Es handelte sich um Philipp von Zinggen, dem seine Vorliebe für diese Farbe den Beinamen »Der grüne Baron« eingetragen hatte.

Er blätterte in dem neuesten Adelskalender, hob aber bei Pößnitz' Eintreten den Kopf, so dass dieser in ein weiß gepudertes Gesicht mit einem blutrot geschminkten Mund und einem daumennagelgroßen Schönheitspflästerchen auf der rechten Wange blickte.

»Guten Abend, Herr von Pößnitz! Ihr kommt früher, als ich erwartet habe. Seht her, ich habe bereits ein wenig vorgearbeitet und nach passenden Bräuten für unseren Durchlauchtigsten Fürsten gesucht.«

Pößnitz betrachtete den Jugendfreund und ehemaligen Liebhaber des Fürsten, dem Carl Anton trotz einiger Affären mit jungen Schauspielern und Tänzern jahrelang die Treue gehalten hatte, bis dieser unsägliche Reinhold Schneider am Hof erschienen war, mit einer gewissen Wehmut. »Seid Ihr Euch so sicher gewesen, dass Seine Durchlaucht meinen Vorschlag annehmen würde?«

Zinggen lächelte sanft. »Ich habe mindestens ebenso sehr auf Eure Überzeugungskraft vertraut wie auf die Abscheu Seiner Durchlaucht gegenüber seinem Mittstädter Vetter.«

»Ihr solltet das Vertrauen in beides nicht überstrapazieren. Wenn wir die Braut nicht rasch finden und mit unserem Achilles vermählen, werden wir Ulrich von Sachsen-Saalstein-Mittstadt schon bald hier begrüßen müssen. Das heißt, wenn wir beide uns nicht vorher in einem Kerker der Festung gegenübersitzen.«

Pößnitz blieb neben Zinggen stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und sah auf ihn hinab. »Bevor wir den nächsten Schritt angehen, muss ich den wichtigsten Punkt mit Euch klären.«

Zinggen sah das mit einem Male grimmig wirkende Gesicht des Kanzlers über sich und zog sich tiefer in die Polster zurück. »Ich stehe Euch zu Diensten.«

»Ihr kennt Carl Anton seit sehr vielen Jahren und habt selbst erlebt, was damals vorgefallen ist. Glaubt Ihr, er wäre nach all dem, was ich gerüchteweise vernommen habe, überhaupt in der Lage, die Ehe zu vollziehen?«

Um Zinggens Lippen spielte ein trauriges Lächeln. »Ich nehme an, Ihr spielt auf jenen Vorfall in seiner Jugend an, als sein erlauchter Vater ihm den Geschmack am weiblichen Geschlecht mit Gewalt beibiegen wollte. Carl Anton war damals noch keine siebzehn und die Frau, die ihn sozusagen entjungfern sollte, gut doppelt so alt und mindestens dreimal so schwer wie er. Es handelte sich um eine abgelegte Mätresse seines Vaters, dem die Formen einer Frau nicht üppig genug sein konnten. Man zwang den Prinzen, sich vor ihr auszuziehen, und die ebenfalls unbekleidete Dame ging mit den Händen daran, seinen Degen zu stählen. Dann zog sie ihn auf sich, um ihn zur Kopulation zu bringen. Das Ergebnis war jedoch nicht im Sinne des Herrn Vaters.«

»Was hat sich damals wirklich abgespielt?«, wollte Pößnitz wissen.

»Der Prinz hat sich auf der Dame übergeben.«

»… und seinen Ruf damit ein für alle Mal ruiniert.« Pößnitz schüttelte seufzend den Kopf. »Glaubt Ihr, Seine Durchlaucht könnte trotzdem in der Lage sein, seine Pflicht zu erfüllen?«

»Wie ich Euch kenne, wird ihm gar nichts anderes übrig bleiben. Körperlich ist ihm eine Vereinigung gewiss möglich.« Zinggens Stimme verriet, dass er Mitleid mit seinem Landesherrn und ehemaligen Liebhaber empfand und alles tun wollte, um weiteres Unglück von ihm fern zu halten.

»Es wird einen Erben geben, und wenn ich die zukünftige Frau des Fürsten in Männerkleider stecken und dazu zwingen muss, sich ihm in Stellungen hinzugeben, die nicht mit den Lehren der Kirche zu vereinbaren sind.« Pößnitz warf einen kurzen Blick auf die Bücher, die Zinggen vor sich aufgeschlagen hatte und in denen die Stammbäume verschiedener Adelsgeschlechter verzeichnet waren. »Doch nun heraus mit der Sprache, Zinggen. Welche Braut schwebt Euch für unseren Fürsten vor?«

»Die Hausgesetze des Fürstentums Sachsen-Saalstein, die sowohl für die Tresskauer wie auch die Mittstädter Linie gelten, fordern die Gleichrangigkeit der Ehefrau des Fürsten. Sie muss einem souveränen Haus oder zumindest dem höchsten Reichsadel entstammen.«

Pößnitz winkte ärgerlich ab. »Das ist mir nicht neu.«

Über Zinggens Gesicht huschte ein unsicheres Lächeln. »Ich wollte damit nur ausdrücken, dass es nicht leicht sein wird, eine passende Braut zu finden, da Fürst Ulrich alles in seiner Macht Stehende getan hat, um unseren erlauchten Herrn bei den hohen Häusern des Reiches in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken.«

Pößnitz schüttelte unwillig den Kopf. »Es gibt genug andere, die in schlechterem Ruf stehen als Seine Fürstliche Durchlaucht Carl Anton.«

Zinggen hob mit einer bedauernden Geste die Hände und wies dann auf einen Band, in dem die Adelsgeschlechter der Habsburger Erblande aufgelistet waren. »Es geht nicht um den Ruf eines Schurken, denn der hat andere Geschlechter nur selten gehindert, ihre Töchter herzugeben. Aber ein – drücken wir es so bösartig aus wie Fürst Ulrich – Sodomit ist alles andere als ein willkommener Bräutigam. Ich habe in den österreichischen Besitzungen außer dem Herrscherhaus in Wien selbst und seinen Seitenlinien noch genau sieben Familien gefunden, die von ihrer Abkunft her in Frage kämen. Eine Braut aus dem Umkreis des Kaisers könnte unser Herr jedoch nur dann heimführen, wenn er barfuß und in Sack und Asche nach Wien pilgern würde, de Tailleur dort auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließe, sich selbst zum katholischen Glauben bekennen würde und vom Papst persönlich die Vergebung aller Sünden erhielte.«

Pößnitz kniff die Augenlider zusammen. »So schlecht steht es um unser Anliegen?«

»Noch schlechter, als Ihr es Euch vorstellen könnt. Das Fürstentum Saalstein-Tresskau ist nicht so bedeutend, dass die hohen Familien sich um eine Verbindung mit unserem Herrn reißen würden. Daher werden wir auch in Sachsen und in den thüringischen Staaten vergeblich auf Erfolg hoffen.«

»Ausgerechnet in Sachsen würde man uns abweisen?«

Zinggen sah so aus, als wolle er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, doch er nickte nur.

Pößnitz schlug mit der Faust auf den Tisch. »Verdammt sollen diese Pharisäerseelen sein! Ich werde nie begreifen, wieso August der Starke, vor dem kein halbwegs ansehnliches Frauenzimmer zwischen Dresden und Warschau sicher ist und der Hunderttausende von Talern und bedeutende Teile seines sächsischen Erbes für den Erwerb der polnischen Krone verschleudert hat, als ruhmreicher Herrscher und leuchtendes Vorbild gilt, während unser Fürst, der das Vermögen seines Landes zusammenhält und seine Bewohner nicht bis aufs Blut auspresst, als wahrer Stiefbruder des Satans bezeichnet wird, obwohl er seine Schwäche mit unzähligen Schwarzkitteln teilt, die sich mit ihren Chorknaben vergnügen.«

Zinggen schlug das Buch über den österreichischen Adel zu und legte es beiseite. »Die katholische Kirche, in deren Schoß Kurfürst August zurückgekehrt ist, um König der Polen werden zu können, sieht die Liebe eines Mannes zu Frauen als von Gott gegeben an und drückt im Fall eines Souveräns wie ihm großzügig beide Augen zu. Die evangelischen Reichsstände prangern zwar die Ausschweifungen des Sachsenherrschers an, doch ihre Diplomaten umschwänzeln ihn, weil Sachsen nun einmal eines der Kurländer des Reiches ist. Saalstein-Tresskau aber ist in ihren Augen nur ein Staubkorn, ein Ländchen ohne jeglichen Einfluss, und es hat nichts, was die in ihren Augen skandalösen Zustände an seinem Hof entschuldigen könnte.«

Pößnitz hörte so etwas gar nicht gern. »Ich weiß selbst, dass Sachsen von seiner Landfläche und seiner Bevölkerung her mehr als zehnmal so groß ist wie beide Saalsteins zusammen, aber Thron ist Thron, und es dürfte doch genug Familien fürstlichen Geblüts geben, die ihre Tochter gern als Fürstin eines souveränen Landes sehen würden.«

»Nicht so viele, wie Ihr Euch wünscht«, antwortete Zinggen freundlich. »Die österreichischen Besitzungen fallen für die Brautsuche aus, ebenso die übrigen katholischen Dynastien des Reiches und unsere direkten Nachbarn Sachsen und Thüringen. Die Preußen und die mit ihm verbündeten Staaten werden uns ebenso die Tür weisen wie die Verwandten und Freunde der Mittstädter Linie. Die Liste der Familien, bei denen wir mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg um eine Braut werben können, ist leider sehr kurz, Herr von Pößnitz.«

»Wie kurz?« Pößnitz' Stimme traf Zinggen wie ein Peitschenhieb.

»Bedauerlicherweise stehen nicht überall heiratsfähige Töchter zur Verfügung. Entweder sind sie bereits vermählt, schon zu alt oder noch viel zu jung.«

Pößnitz ballte die Fäuste. »Wenn ich etwas hasse, ist es Geschwafel, das sich im Kreis dreht. Ich will wissen, wie viele Familien in Frage kommen!«