Die russische Urfassung dieses Romans wurde 1927/28 in Berlin geschrieben und 1928 unter dem Titel «Korol, dama, walet» im Verlag Slowo, Berlin, publiziert. Vierzig Jahre später wurde sie von Dmitri und Vladimir Nabokov ins Englische übersetzt und dabei stark überarbeitet. Diese englische Version erschien 1968 unter dem Titel «King, Queen, Knave» im Verlag McGraw-Hill, New York.
Eine erste deutsche Übersetzung der russischen Fassung, besorgt von Siegfried von Vegesack, erschien 1930 unter dem Titel «König, Dame, Bube – Ein Spiel mit dem Schicksal» im Ullstein Verlag, Berlin, und wurde 1959 vom Rowohlt Verlag, Reinbek, unverändert nachgedruckt. Der vorliegenden deutschen Fassung liegt der englische Text von 1968 zugrunde.
Der Text folgt: Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke, Frühe Romane 1, Band 1, 1991, herausgegeben von Dieter E. Zimmer.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2018
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«King, Queen, Knave» Copyright © 1968 by Vladimir Nabokov
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ISBN Printausgabe 978-3-499-22552-9 (überarbeitete Ausgabe 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-00225-8
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Die erste Atlantiküberquerung in West-Ost-Richtung (von New York nach Paris) gelang dem amerikanischen Flugpionier Charles Lindbergh im April 1927. Den ersten Atlantikflug in Ost-West-Richtung (von Irland nach Kanada und weiter nach New York) schaffte der deutsche Flugpionier Hermann Köhl im April 1928, ein Jahr nach Lindberghs Flug. Ihm waren mehrere gescheiterte Versuche vorausgegangen. Die Daten sind wichtig für die Datierung der Handlung von König Dame Bube. Der Roman wurde in der ersten Jahreshälfte 1928 geschrieben. Dreyer liest im September 1927 in der Tageszeitung die (wie sich später herausstellt) verfrühte Meldung von einem geglückten deutschen Versuch. Spielte der Roman genau zu der Zeit, als er geschrieben wurde, 1928, so hätte Dreyer von Köhls erfolgreichem Flug gewusst; es war zu diesem Zeitpunkt noch niemand in Ost-West-Richtung über den Atlantik geflogen. Also kann der Roman nur im September 1927 beginnen.
Dreyer in seiner Flugzeugbegeisterung ist zu optimistisch. Der erste Transatlantikdienst, allerdings nur für Posttransport, wurde 1934 von der Luft Hansa eingerichtet; der erste Passagierdienst 1938 von den Imperial Airways und PanAm.
Die Kinder einer Cousine, in diesem Fall Dreyers Cousine Lina Bubendorf, werden ‹Neffe› und ‹Nichte› genannt. Für Franz und seine Schwester Emmi Bubendorf sind Kurt und Martha Dreyer folglich Onkel und Tante.
Die Handlung beginnt in der zweiten Septemberhälfte 1927, als Dreyer und Martha von einem Sommerurlaub in Tirol nach Berlin zurückkehren und unterwegs in einer süddeutschen Kleinstadt Station machen, wo er seine Cousine Lina besucht, aber seinen Neffen Franz zufällig nicht zu Gesicht bekommt. Welche Kleinstadt das ist, lässt sich nicht ausmachen: Dom, Herzogstandbild, Schnellzugbahnhof mit direkten Zügen nach Berlin, berühmte Herbsterdbeeren – mehr erfährt der Leser nicht. Wenn Martha jetzt gerade vierunddreißig geworden ist, ist sie 1893 geboren. Wie sich in Kapitel 13 herausstellt, gibt sie sich auf ihrem Pass jedoch vier Jahre jünger aus, als wäre sie jetzt erst dreißig. Am Ende von Kapitel 5 stellt sich heraus, dass Dreyer im Jahr 1927 etwas über fünfzig ist, also um 1877 geboren sein muss. Er ist also sechzehn Jahre älter als sie. Geheiratet haben sie vor sieben Jahren, 1920, als er für sie auch die Grunewald-Villa kaufte. Franz seinerseits ist laut Kapitel 1 am Anfang des Buchs, bei seinem Aufbruch nach Berlin, zwanzig, somit 1907 geboren und also vierzehn Jahre jünger als sie.
Er liest gerade den Roman Die toten Seelen von Nikolaj Gogol.
Die Cheloniidae sind eine Familie von Meeresschildkröten. Zu ihr gehört auch die Suppenschildkröte Chelonia mydas. Für sie soll die englisch-niederländische Mockturtlesuppe einen billigen Ersatz darstellen, der nicht mit Schildkröten-, sondern mit Kalbfleisch zubereitet wird. Der Autor will sagen, dass das für Brillengestelle, Kämme, Bürsten usw. verwendete, teuer aussehende Schildpatt (aus dem Panzer der Karett-Meeresschildkröten) meist eine billige Imitation ist.
Möglicherweise eine Anspielung auf den amerikanischen Stummfilm The Young Rajah von Phil Rosen (1922), mit Rudolph Valentino in der Hauptrolle, dem größten Frauenschwarm der 1920er Jahre, Inbegriff des Latin Lover.
Warum geflügelt? Die Quadriga, der vierspännige Triumphwagen auf dem Brandenburger Tor, geschaffen von dem Bildhauer Schadow, wird gelenkt von der stehenden römischen Siegesgöttin Victoria; diese hat große, halb geöffnete Schwingen; vor sich hält sie einen Stab mit einem Eisernen Kreuz, auf dem sich oben ein Adler mit weitgebreiteten Schwingen festkrallt. Von unten, von dem Boulevard Unter den Linden aus gesehen, sieht sie Quadriga also aus, als habe sie über sich zwei Flügelpaare.
Martha scheint zwei amerikanische Stummfilme zu verwechseln: einmal The Young Rajah (1922) mit Rudolph Valentino, zum anderen Alt-Heidelberg (1927) mit Ramón Navarro, der von seinem Verleih nach Valentinos frühem Tod gerade zu seinem Nachfolger als führender Latin Lover aufgebaut wurde.
Bei seiner Ankunft in Berlin war Franz das offenbar ziemlich schäbige Hotel Montevideo in der Nähe des (Anhalter?) Bahnhofs empfohlen worden. Dort hatte er die erste Nacht verbracht und am Waschtisch versehentlich seine Brille zertreten. Dreyer hatte er erzählt, er wohne im Hotel Video. Später, in Kapitel 5, stellt sich heraus, dass auch der Erfinder in diesem Hotel Montevideo wohnt, und zwar genau in Franz’ Zimmer.
Nicht in der russischen, nur in der englischen Fassung steht das deutsche Wort ‹Budenzucker›. Deutsche Wörterbücher verzeichnen es nicht. Was ist ‹Budenzucker›? Vielleicht nur ein Hör- oder Schreibfehler des Autors. Vielleicht aber handelt es sich nur um ein verschollenes Wort für das an Jahrmarktsbuden verkaufte Zuckerzeug.
Der Name ist einer bekannten Bibelstelle entnommen (Daniel 5,1–30): Um den babylonischen Kaiser Belsazar zu bestrafen, lässt Gott ihm ein Menetekel, nämlich die Drohung «Mene mene tekel u-parsin» an die Palastwand schreiben, die der Prophet Daniel als «Gewogen und zu leicht befunden» deutet.
Gemeint sind Flauberts Emma Bovary und Tolstojs Anna Karenin, die berühmtesten Ehebrecherinnen der Weltliteratur.
Studentenmütze (von Corpsstudenten).
Hess war der umschwärmte Star der beiden Filme, von denen sie vorher erzählt hatte, wohl ein Double von Rudolph Valentino. Sie hatte gefunden, Franz sehe ihm ähnlich.
Im Folgenden wird ein ganzes Programm im Varieté Wintergarten am Bahnhof Friedrichstraße beschrieben.
Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti (1832) ist die Oper, die Emma Bovary mit ihrem Liebhaber in Rouen gesehen hat.
Die ‹Gutter-Percher› sind offenbar wie aus Gummi (Guttapercha) wirkende Akrobaten, die Dreyer an die Kunstfiguren erinnert haben werden, die ihm der ‹Erfinder› angeboten hatte. Gleichzeitig sind sie ein Kalauer. Wörtlich übersetzt bedeutet engl. gutter percher ‹Rinnstein-Hocker›.
Das Bioskop war ein von den Brüdern Skladanowsky in Pankow bei Berlin erfundener Projektionsapparat, der erstmals die Vorführung (sehr kurzer) bewegter Bildsequenzen erlaubte. Ab 1895 führten sie ihn im Wintergarten im Anschluss an dessen eigentliches Varietéprogramm vor. In einigen Sprachen wurde ‹Bioskop› zum Wort für ‹Kino›.
Engl. All right, my treasury: wörtlich ‹In Ordnung, mein Schatzamt› (er hätte eigentlich my treasure, mein Schatz sagen müssen).
Terpsichore ist in der griechischen Mythologie eine der neun Musen, die des Tanzes, den sie auch erfunden hat.
Vivian Badlook ist fast ein Anagramm von Vladimir Nabokov: «Vladi Nabokiv»; falls man einzelne Buchstaben mehrmals verwenden darf, ergibt sich sogar «Vladimir Nabokov».
Telemark und Kristiania waren beim Skilauf zu Beginn des 20. Jh.s zwei Techniken, die Geschwindigkeit abzubremsen und Richtungswechsel zu fahren: Der Telemark war ein Bogen aus der Falllinie, der Kristiania ein scharfer Haltebogen.
Falsches Engl. «I am the voyageur. I half returned from shee-ing!»: Ich bin der Reisende (frz. voyageur). Ich halbe zurückgekommen von Skilauf.
Lucusta (1. Jh. n. Chr.) war eine berüchtigte römische Giftmischerin. Die Renaissancefürstin Lucretia Borgia (1480–1519) hatte, möglicherweise zu Unrecht, den Ruf einer verruchten Giftmischerin.
Tofana (oder Tufania) war der Name dreier süditalienischer Giftmischerinnen im 17. und 18. Jh. Berüchtigt wurde besonders Teofania di Adamo in Neapel, der über 600 Giftmorde zur Last gelegt wurden. Das verwendete Gift war wahrscheinlich das geruchlose Arsen, möglicherweise mit einer Beimischung von Belladonna. Die «Aqua Tofana» (Tofana-Wasser) wurde in Fläschchen mit dem Bild des heiligen Nikolaus von Bari verschickt.
Das «alte Gedicht», das Erika gerne rezitiert, ist gar nicht so alt. Es handelt sich um eine Ballade von Börries Freiherr von Münchhausen aus dem Jahr 1913: «Ich bin der Page von Hochburgund / Und trage der Königin Schleppe …» Sie handelt von einem geheimen Kuss, den die Königin ihrem Pagen erlaubt. In der russischen Fassung des Romans findet zwar auch das Gespräch Dreyers mit Erika statt, aber es fehlt darin jeder Hinweis auf dieses Gedicht, und es wird auch kein Wort daraus zitiert. Dort steht nur: «Er lauschte auf ihr flinkes Geplapper und erinnerte sich an tausend Belanglosigkeiten: irgendwelche Gedichte.» Wie Nabokov, der keine deutsche Literatur las, 1968 in Amerika auf diese Ballade gestoßen ist, die nicht einmal im ‹Echtermeyer› und im ‹Conrady› steht, ist unbekannt. Ein leiser thematischer Bezug zu König Dame Bube ist jedoch erkennbar. Über die englische Übersetzung (knave für ‹Bube›) ergäbe sich der Sinn «Ich bin der Bube und Schleppenträger einer Königin».
It. «Mi chiamano Mimi …»: Sie nennen mich Mimi. Die erste Arie der Mimi aus Giacomo Puccinis Oper La Bohème (1896).
Russ. shiwulja (fem., sg.): fleischfressendes Insekt, Floh, Laus, hirnloses Lebewesen, Automat. Wieso das rare russische Wort, das in der russischen Urfassung des Romans fehlt, sich in dessen englische Übersetzung verirrt hat, ist unklar – keiner der Protagonisten scheint Russisch zu sprechen oder irgendeine spezielle Beziehung zu Russland zu haben. König Dame Bube ist unter allen Romanen Nabokovs in dieser Hinsicht der unrussischste.
Tatsächlich gab es in Berlin ein solches Kriminalmuseum (heute «Polizeihistorische Sammlung»). Es befand sich allerdings im Polizeipräsidium am Alexanderplatz, das Nabokov wegen seiner leidigen Passangelegenheiten mehrmals aufsuchen musste und sehr abschätzig kommentierte, nicht im Kriminalgericht Moabit an der Turmstraße.
‹Cazelty› ist eine Verballhornung von engl casualty, Unglücksfall, ‹Slutsch› von russ. slutschaj, Zufall, oder sluch (Gerücht).
Wahrscheinlich das Ehepaar Nabokov, das russisch sprach. Véra war eine große Katzenliebhaberin. Das an der Wand lehnende Netz dürfte sein Schmetterlingsnetz gewesen sein, mit dem er in der Granitz auf Jagd ging.
‹Blavdak Vinomori› ist ein weiteres Anagramm von ‹Vladimir Nabokov›.
Deutscher Tango von Fritz Grünbaum (1925), populär gemacht durch die Band von Peter Kreuder. Der Text beginnt: «Montevideo, Montevideo ist keine Gegend für meinen Leo, / denn man weiß, dort ist’s heiß, und so schwül fürs Gefühl.»
Da mit diesem Paar wiederum Nabokov mit seiner Frau Véra gemeint sein dürften, die im Sommer 1928 tatsächlich im Ostseebad Misdroy waren, wird die für Franz unverständliche Sprache Russisch gewesen sein.
Der Name ‹Swistok› ist wohl eine Kreuzung aus ‹Rostock› und ‹Swinemünde›. Also dürfte Stralsund gemeint sein, das auf halbem Weg zwischen Rostock und Swinemünde liegt. Tatsächlich waren und sind es von Binz (‹Granitz›) zum Hauptbahnhof von Stralsund (‹Swistok›) per Bahn oder Bus knapp eine Dreiviertelstunde.
Falsches Engl.: How have you liked?: Er will sagen: Wie haben Ihnen die Automannequins gefallen?, sagt aber nur: Wie haben Ihnen gefallen?
Candida, ein Theaterstück von George Bernard Shaw (1894).
Hinter diesen von Dreyer nur undeutlich im Vorbeifahren wahrgenommenen Ortsnamen an einer von mehreren möglichen alten Autostrecken von Berlin nach ‹Swistok› (Stralsund) lassen sich Wustermark, Nauen, Friesack, Pritzwalk, Meyenburg sowie Neubukow erraten. Von Stralsund (‹Swistok›) nach Binz (‹Granitz›) sind es nicht 30, sondern noch ca. 45 km.
Das englische Telegramm besagt etwa: «WÜNSCHE DEAL ABZUSCHLIESSEN MUSS DIESEN BETRUNKENEN HABEN STOP HUNDERT OKAY RITTER».
Prousts Gebäck ist eine Madeleine, ein jakobsmuschelförmiges Kleingebäck aus Sandmasse, das, in Tee getunkt, dem Erzähler Marcel die Erinnerung an seine Kindheit zurückruft und so die Erinnerungsflut von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auslöst.
Der Roman, an dem Nabokov damals seit Jahren arbeitete, war Ada, erschienen im April 1969.
Homais ist in Flauberts Madame Bovary der aufmerksame Apotheker des Orts, durch dessen Gassen Emma nachts zu ihrem Liebhaber schleicht. Normalerweise entgeht ihm nichts.
Ein kryptischer Absatz. Möglicherweise bezieht er sich auf ein Poker-Blatt. Der Spieler hat nach dem Austeilen drei Karten in der Hand, die an sich noch nichts wert sind: Herz-Bube, Herz-Dame und Herz-König. Außerdem hat er ein niederes Kartenpaar, von dem er sich nichts verspricht und das er darum ablegt. Dafür erhält er zwei neue Karten, und die neue Fünfergruppe scheint alles zu übertreffen, was seine Gegenspieler haben oder haben könnten: ein Full House (ein Paar plus ein Drilling) und ein Straight (eine Straße aus fünf aufeinanderfolgenden Karten beliebiger Farbe). Er scheint also einen Straight Flush zu haben, eine äußerst seltene Kombination, die alles schlägt, was ihm seine Mitspieler entgegensetzen könnten: die höchstmögliche Straße aus einer Farbe. Dann hätte er als Ersatz für die abgelegten Karten eine Herz-Zehn und ein Herz-Ass bekommen. Russian Gulch (‹Russische Schlucht›) ist ein kleiner Staatspark an der Nordküste Kaliforniens, der im 19. Jh. als Holzhafen diente und wo sicher ausgiebig gepokert wurde, benannt zur Erinnerung an die in dieser Gegend tätigen russischen Trapper; in Lolita kommen Humbert und seine Nymphette dort vorbei. Jingle Bells (deutsch wörtlich ‹Klimperglocken›) ist der Titel des weltberühmten amerikanischen Winterlieds und hier wohl als ein allgemeiner Freudenruf gemeint, vergleichbar dem deutschen ‹Hurra, hurra!›. Aber für welche 1968 eingeführten neuen Personen stehen Herz-Zehn und Herz-Ass? Vielleicht für das Paar, das Franz Bubendorf in Grawitz so beneidet: Vladimir und Véra Nabokov.
Brian Boyd: Vladimir Nabokov – Die russischen Jahre 1899–1940, Reinbek: Rowohlt, 1999
Andrew Field: VN – The Life and Art of Vladimir Nabokov, New York: Crown, 1986, Seite 114–115.
Andrew Field: VN – The Life and Art of Vladimir Nabokov, New York: Crown, 1986, Seite 119.
Carl R. Proffer: A new deck for Nabokov’s Knaves; in: TriQuarterly, 17, Winter 1970, Seite 293–309.
Der riesige schwarze Uhrzeiger steht noch still, wird aber gleich seine Einmal-pro-Minute-Geste vollziehen; und dieser federnde Ruck wird eine ganze Welt in Bewegung setzen. Das Zifferblatt wird sich langsam abwenden, voller Verzweiflung, Verachtung und Langeweile, so wie einer nach dem anderen die Eisenpfeiler vorbeiwandern und das Gewölbe der Bahnstation als gleichmütige Gebälkträger fortschleppen werden; der Bahnsteig wird sich vorbeibewegen und Zigarettenstummel, verbrauchte Fahrkarten, Sonnenflecke und Spucke mit auf eine unbekannte Reise nehmen; ein Gepäckkarren wird mit bewegungslosen Rädern vorbeigleiten; ihm wird ein Zeitungsstand folgen, behängt mit verführerischen Illustriertentiteln – Photographien von nackten perlgrauen Schönen; und Menschen, Menschen, Menschen auf dem sich bewegenden Bahnsteig, die ihrerseits ihre Füße bewegen und doch still stehen, vorwärts streben und doch zurückweichen wie in einem quälenden Traum voller unglaublicher Anstrengung, Übelkeit, baumwollene Schwäche in den Schenkeln, werden rückwärts branden, fast rücklings fallen.
Es waren mehr Frauen da als Männer, wie immer bei Abschieden. Franz’ Schwester, die Blässe der frühen Stunde auf ihren schmalen Wangen und mit einem unangenehmen Geruch aus dem leeren Magen, bekleidet mit einem karierten Umhang, wie ihn ein Mädchen aus der Stadt gewiss nie trüge; und seine Mutter, klein, rundlich, ganz in Braun wie ein kompakter kleiner Mönch. Sieh die Taschentücher, wie sie zu flattern beginnen.
Und nicht nur es glitt hinweg, dieser beiden vertrautes Lächeln; nicht nur brach der Bahnhof auf und räumte seinen Zeitungsstand weg; seinen Gepäckkarren und einen Verkäufer von belegten Brötchen und Obst, der so leckere, pralle, klumpige, glänzend rote Erdbeeren hatte, die wahrhaft danach schrien, dass man hineinbeiße, und alle ihre Samenkerne verkündeten ihre Ähnlichkeit mit den Geschmacksknospen unserer Zunge – doch ach und schon dahin; nicht nur fiel alles dies zurück; das ganze alte Städtchen in seinem rosigen Herbstmorgennebel bewegte sich ebenfalls: der große steinerne Herzog auf dem Marktplatz, der dunkle Dom, die Ladenschilder – ein Zylinderhut, ein Fisch, das Kupferbecken eines Friseurs. Nichts konnte jetzt die Welt mehr halten. In großem Stil ziehen Häuser vorüber, die Vorhänge flattern in den offenen Fenstern seines Elternhauses, dessen Dielen krachen ein wenig, die Mauern knirschen, Mutter und Schwester trinken ihren Morgenkaffee im schnellen Luftzug, die Möbel erbeben von den sich beschleunigenden Stößen, und immer noch schneller, noch geheimnisvoller fahren die Häuser, der Dom, der Marktplatz, die Seitenstraßen dahin. Und obwohl jenseits des Zugfensters längst schon bestellte Felder ihr Flickenwerk entfalteten, fühlte Franz in den Knochen doch immer noch das Zurückweichen des Städtchens, in dem er seit zwanzig Jahren gelebt hatte. Außer Franz enthielt das Dritte-Klasse-Abteil mit Holzbänken zwei alte Damen in Kordsamt; eine dralle, unausweichlich rotbäckige Frau mit dem unausweichlichen Korb voll Eiern auf dem Schoß; und einen blonden Jüngling in bräunlichen kurzen Hosen, kräftig und eckig, seinem Rucksack sehr ähnlich, der vollgestopft war und aussah, als sei er aus gelbem Stein gehauen; den hatte er energisch abgeschüttelt und auf das Gepäckbrett hinaufgehievt. Den Sitz an der Tür gegenüber von Franz nahm eine Illustrierte mit dem Bild eines atemberaubenden Mädchens ein; und am Fenster im Korridor stand, den Rücken zum Abteil, ein breitschultriger Mann in schwarzem Mantel.
Der Zug fuhr nun schnell. Franz griff plötzlich krampfhaft in seine Seite, vom Gedanken durchbohrt, dass er sein Portemonnaie verloren habe, das so vieles enthielt: die feste kleine Fahrkarte, und die Visitenkarte eines Fremden mit einer wertvollen Adresse, und einen unberührten Monat menschlichen Lebens in Reichsmark. Doch das Portemonnaie war da, fest und warm. Die alten Damen begannen sich zu rühren und zu rascheln, indem sie belegte Brote auspackten. Der Mann im Korridor drehte sich um und betrat, nach einem leichten Schwanken und einem halben Schritt zurück und indem er das Schwanken des Ganges überwand, das Abteil.
Der größte Teil der Nase war entschwunden oder niemals entstanden. Dem Überbleibsel des Nasenrückens haftete die fahle, pergamentartige Haut mit Übelkeit erregender Straffheit an; die Nasenlöcher hatten allen Sinn für Anstand verloren und starrten den zurückzuckenden Betrachter wie zwei jähe Löcher an, schwarz und unsymmetrisch; Wangen und Stirn wiesen eine Skala geographischer Schattierungen auf – gelblich, rötlich und sehr glänzend. Hatte er diese Maske ererbt? Und wenn nicht, welche Krankheit, welche Explosion, welche Säure hatte ihn entstellt? Er hatte praktisch keine Lippen; das Fehlen der Wimpern verlieh seinen blauen Augen einen aufgeschreckten Eindruck. Und doch war der Mann modisch angezogen, gut gepflegt und gut gebaut. Er trug unter seinem schweren Mantel einen Zweireiher. Sein Haar war so glatt wie eine Perücke. Er zog die Knie seiner Hose ohne Hast hoch, während er sich setzte, seine grau behandschuhten Hände öffneten die Illustrierte, die er auf dem Sitz gelassen hatte.
Der Schauder, der Franz zwischen den Schulterblättern durchlaufen hatte, verjüngte sich jetzt in seinem Mund zu einem eigenartigen Gefühl. Seine Zunge fühlte sich widerlich lebendig an; sein Gaumen ekelhaft feucht. Seine Erinnerung öffnete ihr Wachsfigurenkabinett, und er wusste, er wusste, dass ihn dahinten, irgendwo an dessen fernem Ende, eine Schreckenskammer erwartete. Er erinnerte sich an einen Hund, der sich auf die Schwelle eines Fleischerladens erbrochen hatte. Er erinnerte sich an ein Kind, ein Kleinkind auf wackligen Beinchen, das sich mit den Schwierigkeiten seines Alters vorgebeugt und mühevoll ein schmutziges Ding aufgehoben und zwischen die Lippen geschoben hatte, welches einem Schnuller ähnelte. Er erinnerte sich an einen alten Mann mit Husten in einer Straßenbahn, der dem Schaffner einen Klumpen Schleim in die Hand gepustet hatte. Das waren Bilder, die Franz gewöhnlich unterdrückte, die aber stetig im Hintergrund seines Lebens herumschwärmten und mit hysterischen Krämpfen jeden neuen Eindruck begrüßten, der ihnen ähnlich war. Nach einem Schock dieser Art pflegte er sich in jener immer noch jüngsten Zeit bäuchlings auf sein Bett zu werfen und zu versuchen, den Übelkeitsanfall abzuwehren. Seine Schulerinnerungen schienen sich ständig vor möglichen, unmöglichen Berührungen mit der schmuddeligen, pickligen, glitschigen Haut des einen oder anderen Schulkameraden zu drücken, der ihn bedrängte, an einem Spiel teilzunehmen, oder ihm eifrig ein spuckesprühendes Geheimnis mitteilen wollte.
Der Mann blätterte durch die Illustrierte, und die Kombination seines Gesichtes mit dem verlockenden Titelbild war unerträglich grotesk. Die rotwangige Eierfrau saß neben dem Monstrum, und ihre schläfrige Schulter berührte ihn. Der Rucksack des Jünglings rieb sich an seinem glänzenden hotelzettelbeklebten schwarzen Koffer. Am schlimmsten aber war, dass die alten Damen, ohne ihren abscheulichen Nachbarn zu beachten, ihre Butterbrote schmatzten und an faserigen Apfelsinenschnitzen lutschten, die Schalen in Papierfetzen wickelten und geziert unter die Bank feuerten. Als aber der Mann seine Illustrierte hinlegte und, ohne die Handschuhe auszuziehen, selber ein Käsebrötchen zu essen begann und herausfordernd um sich blickte, hielt Franz es nicht länger aus. Er stand schnell auf, erhob sein bleiches Antlitz wie ein Märtyrer, rüttelte seinen einfachen Koffer los und hob ihn herab, sammelte Regenmantel und Hut ein und floh, während er seinen Koffer ungeschickt gegen den Türpfosten schlug, hinaus auf den Gang.
Es war aber dieser spezielle Waggon dem D-Zug erst auf einer der letzten Stationen angehängt worden, und die Luft in ihm war noch frisch. Sofort empfand er ein Gefühl der Erleichterung. Doch die Benommenheit war noch nicht gewichen. Eine Wand aus Buchen flimmerte am Fenster in einer fleckigen Folge von Licht und Schatten vorüber. Er begann, unschlüssig den Korridor entlangzugehen, griff nach Türknäufen und anderen Gegenständen und blickte in die Abteile. Nur in einem war noch ein freier Platz; er zögerte und ging dann weiter und schüttelte das Bild der beiden Kinder mit käsigen Gesichtern und staubschwarzen Händen ab, die ihre Schultern in Erwartung eines Nackenhiebes ihrer Mutter hochzogen, während sie leise immer wieder vom Sitz glitten, um zwischen den fettigen Papierfetzen auf dem unsäglichen Boden vor den Füßen der Passagiere zu spielen. Franz erreichte das Ende des Wagens und blieb dann stehen, von einem außerordentlichen Gedanken durchzuckt. Dieser Gedanke war so süß, so kühn und aufregend, dass er seine Brille abnehmen und sie putzen musste. «Nein, kann ich nicht, kommt nicht infrage», flüsterte Franz und war sich doch bereits im Klaren, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte. Dann prüfte er den Knoten seiner Krawatte mit Daumen und Zeigefinger, überquerte das Geklirr der beweglichen Verbindungsplatten und betrat mit einem auserlesenen sackenden Gefühl in der Magengrube den nächsten Wagen.
Es war ein Schnellzugwagen zweiter Klasse, und für Franz war die zweite Klasse etwas strahlend Anziehendes, sogar leicht sündig, und schmeckte nach schlüpfriger Ausschweifung wie ein Schluck dicken weißen Likörs oder wie jene riesige, einem gelblichen Schädel ähnelnde Grapefruit, die er sich einst auf dem Weg zur Schule gekauft hatte. Von der ersten Klasse konnte man nicht einmal träumen – die war Diplomaten, Generälen und nahezu unirdischen Schauspielerinnen vorbehalten! Die zweite aber … die zweite … Wenn er doch nur den Mut aufbrächte. Es hieß, dass sein verstorbener Vater (ein Winkeladvokat) einst bei Gelegenheit – vor langer Zeit, vor dem Kriege – zweiter Klasse gereist sei. Doch Franz konnte sich nicht entschließen. Er blieb am Anfang des Ganges bei der Anschlagtafel mit dem Inventar des Waggons stehen, und jetzt flimmerte nicht mehr ein zaungleicher Wald vorüber, sondern weite Wiesen glitten majestätisch vorbei, und in der Ferne floss parallel zu den Schienen eine Autostraße dahin, über die ein Liliputauto wie der Blitz dahinschoss.
Der Schaffner, der gerade seine Runde machte, befreite ihn aus seiner Schwierigkeit. Franz kaufte eine Zuschlagkarte, die seine Fahrkarte in den nächsthöheren Rang erhob. Ein kurzer Tunnel betäubte ihn mit seiner widerhallenden Düsternis. Dann ward wieder Licht, aber der Schaffner war verschwunden.
Das Abteil, in das Franz mit einer schweigenden unbeachteten Verbeugung eintrat, war von nur zwei Personen besetzt – einer schönen Dame mit strahlenden Augen und einem mittelalten Mann mit getrimmtem lohfarbenem Schnurrbart. Franz hängte seinen Regenmantel auf und setzte sich sorgsam nieder. Der Sitz war so weich; so behaglich trat in Schläfenhöhe etwas Halbrundes hervor, das den einen Sitz vom nächsten schied; die Photos an den Wänden waren so romantisch – eine Schafherde, ein Kreuz auf einem Felsen, ein Wasserfall. Er streckte langsam seine langen Beine aus, nahm langsam eine gefaltete Zeitung aus der Tasche. Aber er war unfähig zu lesen. Betäubt vom Luxus hielt er die ausgebreitete Zeitung vor sich und betrachtete hinter ihr hervor seine Mitreisenden. Oh, sie waren bezaubernd. Die Dame trug ein schwarzes Kostüm und einen winzigen schwarzen Hut mit einer kleinen diamantenen Schwalbe. Ihr Antlitz war ernst, ihr Auge kalt, ein feiner dunkler Flaum, das Zeichen der Leidenschaft, schimmerte über ihrer Oberlippe, und ein Sonnenstrahl ließ das sahnige Gewebe ihres Halses mit den beiden delikaten, wie mit einem Fingernagel gezogenen parallelen Querlinien an der Kehle, eine über der anderen, hervortreten: wiederum ein Anzeichen aller Arten von Wundern, nach Ansicht eines seiner Schulkameraden, eines frühreifen Fachmannes. Der Mann musste, nach dem weichen Kragen und dem Tweedanzug zu schließen, ein Ausländer sein. Hier aber irrte Franz.
«Ich habe Durst», sagte der Mann mit Berliner Akzent. «Schade, dass wir kein Obst haben. Diese Erdbeeren waren wirklich klasse.»
«Da bist du selber schuld», antwortete die Dame mit unzufriedener Stimme und fügte ein wenig später hinzu: «Ich komme da immer noch nicht drüber hinweg – wie kann man bloß etwas so Törichtes tun.»
Dreyer warf einen kurzen Blick himmelwärts, antwortete aber nicht.
«Da bist du selber schuld», wiederholte sie und zupfte mechanisch an ihrem Faltenrock, denn mechanisch hatte sie auch bemerkt, dass der linkische junge Mann mit der Brille, der in der Ecke an der Tür erschienen war, von der schieren Seide ihrer Strümpfe fasziniert zu sein schien.
«Egal», sagte sie, «es lohnt sich nicht, darüber zu reden.»
Dreyer wusste, dass sein Schweigen Martha unsagbar irritierte. Seine Augen funkelten lausbübisch, und die sanften Linien um seine Lippen wellten sich, weil er einen Pfefferminzbonbon im Mund umherrollte. Der Zwischenfall, der seine Frau irritiert hatte, war wirklich reichlich töricht. Sie hatten den August und den halben September in Tirol verbracht und jetzt, auf der Heimreise, aus geschäftlichen Gründen für einige Tage in jenem altmodischen Städtchen haltgemacht, und dort hatte er seine Cousine Lina besucht, mit der er in seiner Jugend vor etwa fünfundzwanzig Jahren zum Tanzen gegangen war. Seine Frau hatte es kategorisch abgelehnt, ihn zu begleiten. Lina, jetzt ein molliges Geschöpf mit falschen Zähnen, aber genauso schwatzhaft und liebenswürdig wie immer, hatte festgestellt, dass die Jahre zwar ihre Spuren an ihm hinterlassen hätten, dass es aber schlimmer hätte kommen können; sie hatte ihm ausgezeichneten Kaffee serviert, ihm von ihren Kindern erzählt, bedauert, dass sie nicht zuhause waren, sich nach Martha erkundigt (die sie nicht kannte) und nach seinem Geschäft (über das sie gut unterrichtet war); und dann hatte sie nach einer frommen Pause gefragt, ob er ihr wohl einen Rat geben könne …
Es war warm in dem Zimmer, in dem um den alten Kronleuchter mit seinen grauen kleinen Glasbehängen wie schmutzigen Eiszapfen Fliegen Parallelogramme beschrieben und sich immer wieder auf die gleichen Gehänge setzten (was ihn aus irgendeinem Grund erheiterte) und wo die alten Sessel ihre Plüscharme in komischer Herzlichkeit ausstreckten. Ein alter Mops döste auf einem bestickten Kissen. In Beantwortung eines erwartungsvoll fragenden Seufzers seiner Cousine hatte er plötzlich gesagt und war mit einem Lachen lebendig geworden: «Na schön, also sag ihm, dass er mich in Berlin besuchen soll. Ich werde ihm eine Stelle geben.» Und das konnte seine Frau ihm nicht verzeihen. Sie nannte es «das Geschäft mit armen Verwandten überschwemmen»; doch genau betrachtet, wie kann ein einzelner armer Verwandter irgendetwas überschwemmen? Da er wusste, dass Lina seine Frau einladen und dass Martha unter gar keinen Umständen hingehen würde, hatte er gelogen und seiner Cousine erzählt, dass sie noch am gleichen Abend abreisten. Stattdessen hatten Martha und er einen Jahrmarkt besucht und die herrlichen Weingärten eines Geschäftsfreundes. Eine Woche später, als sie sich bereits in ihrem Abteil niedergelassen hatten, hatte er auf dem Bahnsteig vom Fenster aus Lina erblickt. Es war ein Wunder, dass sie sich nicht irgendwo in der Stadt begegnet waren. Martha wollte unter allen Umständen vermeiden, von ihr gesehen zu werden, und obwohl der Gedanke an den Kauf eines Korbs voll Obst für die Reise ihn sehr verlockte, steckte er doch den Kopf nicht aus dem Fenster, rief er doch nicht mit einem leisen «Psst» den jungen Verkäufer in der weißen Jacke herbei.
Bequem gekleidet, in vollkommener Gesundheit, mit einem farbigen Nebel undeutlicher angenehmer Gedanken im Kopf und einem Pfefferminzbonbon im Munde, saß Dreyer mit übereinandergeschlagenen Armen da, und die sanften Falten des Tuches in der Beuge seines Armes entsprachen den sanften Falten auf seinen Wangen und dem Umriss seines gestutzten Schnurrbarts und den Runzeln, die ihm von den Augen aus schläfenwärts ausfächerten. Mit einem eigenartig milden, erheiterten Schimmer im Blick betrachtete er unter den Brauen hervor die grüne Landschaft, die am Fenster vorüberglitt, Marthas schönes Profil, das vom Sonnenlicht eingerahmt war, und den billigen Koffer des bebrillten jungen Mannes, der in der Ecke an der Tür Zeitung las. Müßig erwog er jenen Reisenden und tastete ihn von allen Seiten ab. Er bemerkte das sogenannte Eidechsenmuster der grün-roten Krawatte des jungen Burschen, die höchstens 95 Pfennig gekostet hatte, den steifen Kragen und auch die Manschetten und die Brust seines Hemdes – eines Hemdes, das übrigens nur als Abstraktum existierte, da, nach einem verräterischen Glänzen zu urteilen, alle seine sichtbaren Teile Stücke gestärkter Armierung von recht geringer Qualität waren, wie ein sparsamer Provinzler sie gleichwohl sehr schätzt, der sie an ein selbstgenähtes unsichtbares Unterhemd aus ungebleichtem Stoff heftet. Was nun den Anzug des jungen Mannes anging, so rief der in Dreyer eine feine Melancholie hervor, weil er nicht zum ersten Mal über das pathetisch kurze Leben jedes neuen Schnitts nachdachte: Diese Art blauer Jacke mit drei Knöpfen, schmalem Revers und Nadelstreifen war schon seit mindestens fünf Jahren aus den meisten Berliner Geschäften verschwunden.
Zwei alarmierte Augen entstanden plötzlich in den Brillengläsern, und Dreyer wandte sich ab. Martha sagte:
«Das ist alles so töricht. Hättest du bloß auf mich gehört.»
Ihr Gatte seufzte und sagte nichts. Sie wollte weitermachen – es gab noch so viele kernige Rügen, die sie erteilen konnte, aber dann fühlte sie, dass der junge Mann zuhörte, stützte statt weiterer Worte ihren Ellbogen jäh auf die Fensterseite des Klapptisches und schob dabei die Haut ihrer Wange mit den Knöcheln hoch. Sie saß so, bis das Flimmern der Bäume im Fenster lästig wurde; streckte langsam ihren reifen Körper, gelangweilt und ermattet, und lehnte sich dann zurück und schloss die Augen. Die Sonne durchdrang ihre Lider mit kräftigem Scharlachrot, durch das leuchtende Streifen einander folgten (das gespenstische Negativ des vorüberziehenden Waldes), eine Nachbildung des fröhlichen Gesichtes ihres Mannes mischte sich, als ob es langsam auf sie zu rotiere, in diese gestreifte Röte, und sie fuhr zusammen und öffnete die Augen. Ihr Mann aber saß ziemlich weit entfernt und las ein Buch mit einem Einband aus violettem Saffianleder. Er las aufmerksam und mit Vergnügen. Nichts existierte außerhalb der sonnenbeschienenen Buchseite. Er blätterte weiter, sah sich um, und die Außenwelt stürzte sich mit einem großem Sprung gierig auf ihn wie ein verspielter Hund, der genau auf diesen Augenblick gewartet hat. Doch Dreyer drängte Tom zärtlich zurück und versenkte sich wieder in seine Lyrikanthologie.
Für Martha war jenes fröhliche Strahlen nur die stickige Luft in einem schaukelnden Eisenbahnwagen. Es wird vorausgesetzt, dass sie in einem Wagen stickig ist: Das ist so üblich und daher gut. Das Leben sollte nach Plan vorgehen, streng und strikt und ohne launische Drehungen und Zuckungen. Ein elegantes Buch auf einem Tisch im Salon, das ist in Ordnung. Im Eisenbahnwagen kann man gegen die Langeweile irgendwelche billigen Illustrierten überfliegen. Aber etwas dermaßen einzusaugen und zu genießen … Gedichte auch noch … in kostbarem Einband … Wer sich selber Geschäftsmann nennt, kann, soll, darf so etwas nicht tun. Aber vielleicht tut er es absichtlich, um mich zu ärgern. Noch so eine angeberische Marotte von ihm. Na schön, mein Freund, gib nur weiter an. Wie schön das wäre, ihm das Buch aus der Hand zu reißen und im Koffer einzuschließen.
In diesem Augenblick schien die Sonne ihr das Gesicht zu entblößen, strömte über ihre sanften Wangen und brachte eine künstliche Wärme in ihre Augen mit den weiten beweglichen Pupillen zwischen der taubengrauen Iris und den anbetungswürdigen dunklen Lidern, die leicht wie Veilchen gekräuselt waren, und den üppigen Wimpern, Augen, die selten blinzelten, als ob sie ständig befürchteten, ein elementares Ziel aus dem Blick zu verlieren. Sie trug fast gar kein Make-up – nur in den winzigen Querfältchen ihrer vollen Lippen schienen Spuren orangeroter Farbe zu trocknen.
Franz, der sich bisher hinter seiner Zeitung in einem Zustand glückseliger Nichtexistenz versteckt und in den zufälligen Bewegungen und zufälligen Worten seiner Mitreisenden außerhalb seiner selbst gelebt hatte, begann nun, sich bemerkbar zu machen, und blickte die Dame offen und fast arrogant an.
Und doch hatten nur einen Augenblick früher seine Gedanken, die ständig zu morbiden Assoziationen neigten, zwei Ereignisse der jüngsten Vergangenheit zu einem jener harmonischen Bildnisse verschmolzen, die im Traum so wichtig sind, aber bedeutungslos, wenn man sich ihrer erinnert. Der Übergang aus dem Dritte-Klasse-Abteil, wo schweigend ein nasenloses Monstrum herrschte, in diesen sonnigen Plüschraum erschien ihm wie der Gang aus einer grässlichen Hölle durch das Fegefeuer der Korridore und klappernden Harmonikas in eine kleine Heimstatt der Glückseligkeit. Der alte Schaffner, der ihm vor kurzem die Fahrkarte gelocht hatte und prompt verschwunden war, war vielleicht so demütig und so allmächtig wie der heilige Petrus gewesen. Fromme Heiligenbilder, die ihn während seiner Kindheit geängstigt hatten, wurden wieder lebendig. Er verwandelte das Klicken des Schaffners in jenes eines Schlüssels, der die Pforten des Paradieses aufschließt. So wandert ein Schauspieler mit grell geschminktem Gesicht in einem Mirakelspiel über eine lange dreigeteilte Bühne aus den Klauen des Teufels in den Schutz der Engel. Und um diese alten zwanghaften Phantasien zu vertreiben, begann Franz eifrig nach menschlichen, alltäglichen Zeichen zu suchen, die den Bann brächen.
Martha half ihm. Während sie seitwärts aus dem Fenster schaute, gähnte sie: Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Wölbung ihrer angespannten Zunge im rötlichen Halbschatten ihres Mundes und das Blitzen ihrer Zähne, ehe ihre Hand zum Mund emporschoss, um ihrer Seele das Entweichen zu verwehren; woraufhin sie blinzelte und eine kitzelnde Träne mit dem Schlag ihrer Wimpern zerstreute. Franz gehörte nicht zu jenen, die dem Beispiel eines Gähnens widerstehen können, zumal nicht einem, das irgendwie an die saftig schlüpfrigen Herbsterdbeeren erinnerte, für die seine Vaterstadt berühmt war. In dem Augenblick, da er der Macht, die seinen Gaumen aufzwängen wollte, nicht mehr widerstehen konnte und krampfhaft den Mund aufriss, geschah es, dass Martha ihn ansah, und unter Zähnefletschen und Weinen wurde ihm bewusst, dass Martha bewusst wurde, dass er sie angeschaut hatte. Die morbide Glückseligkeit, die er kurz zuvor empfunden hatte, als er ihr sich auflösendes Gesicht betrachtete, wandelte sich in scharfe Verlegenheit. Unter ihrem strahlenden und gleichgültigen Blick runzelte er die Brauen, und als sie sich abwandte, berechnete er im Geiste, als ob seine Finger sich über die Zahlenrillen eines geheimen Rechenbrettes bewegten, wie viele Tage seines Lebens er dafür gäbe, diese Frau zu besitzen.
Die Tür glitt auf, und ein aufgeregter Kellner, der Herold irgendeines schrecklichen Unglücks, steckte seinen Kopf herein, bellte seine Botschaft heraus und stürzte zum nächsten Abteil, um auch dort seine Neuigkeiten auszurufen.
Im Grund hatte Martha etwas gegen diese betrügerisch frivolen Mahlzeiten, bei denen einem die Eisenbahngesellschaft Wahnsinnspreise für miese Speisen abnimmt, und dieses fast physische Gefühl nutzloser Geldausgabe, das sich mit dem Empfinden mischte, von einem gemütlichen Kraftprotz übers Ohr gehauen werden zu sollen, wurde so stark, dass sie sich ohne ihren Bärenhunger sicherlich nicht auf den langen, schütternden Weg zum Speisewagen gemacht hätte. Undeutlich beneidete sie den bebrillten jungen Mann, der in die Tasche seines neben ihm hängenden Regenmantels griff und ein Butterbrot hervorzog. Sie stand auf und nahm ihre Handtasche unter den Arm. Dreyer fand das violette Leseband in seinem Buch, legte es ein, und nachdem er einige Sekunden gewartet hatte, als ob er den Übergang aus der einen Welt in die andere nicht unmittelbar über sich bringe, versetzte er seinen Knien einen leichten Schlag und stand auf. Er füllte sofort das ganze Abteil aus, da er einer jener Männer war, die trotz mittlerer Größe und bescheidener Korpulenz doch den Eindruck außerordentlicher Massigkeit erwecken. Franz zog seine Beine ein. Martha und ihr Gatte schlurften an ihm vorbei und gingen hinaus.
Mit seinem grauen Butterbrot blieb er in dem nun geräumigen Abteil allein. Er mampfte und schaute aus dem Fenster. Ein grüner Abhang erhob sich da diagonal, bis er das ganze Fenster ausfüllte. Dann dröhnte oben eine Brücke vorüber, die einen eisernen Akkord auslöste, und gleich danach verschwand der grüne Abhang, und offenes Land entrollte sich – Felder, Weidenbäume, eine goldene Birke, ein sich schlängelnder Bach, Kohlbeete. Franz beendete sein Butterbrot, ruckelte sich behaglich zurecht und schloss die Augen.
Berlin! Schon in dem Namen der noch unbekannten Hauptstadt, im Gerumpel und Geratter der ersten Silbe und im leichten Klingen der zweiten war etwas, das ihn erregte wie die romantischen Namen guter Weine und schlechter Frauen. Schon schien der Schnellzug die berühmte Prachtstraße entlangzubrausen, die für ihn mit riesigen uralten Linden gesäumt war, unter denen für ihn eine farbenfrohe Menge brodelte. Der Schnellzug brauste an jenen Linden vorüber, die so üppig aus dem widerhallenden Namen der Prachtstraße hochgewachsen waren, und («derlin, derlin» ging die Glocke des Kellners, die verspätete Speisegäste rief) schoss unter einen gewaltigen Bogen, den perlmutterne Plättchen schmückten. Weiter entfernt drehte sich in zauberischem Dunst eine andere Ansichtspostkarte auf ihrem Ständer und zeigte einen durchsichtigen Turm vor schwarzem Hintergrund. Er verschwand, und in einem strahlend erleuchteten Kaufhaus wandelte zwischen vergoldeten Kleiderpuppen, klaren Spiegeln und gläsernen Verkaufstresen Franz in Cut, gestreiften Hosen und weißen Gamaschen und lenkte mit schwungvoller Handbewegung Kunden zu jenen Abteilungen, deren sie bedurften. Es war dies nicht länger ein bewusstes Gedankenspiel und war doch noch nicht Traum; und in dem Augenblick, da Schlaf ihn übermannen wollte, gewann Franz die Kontrolle über sich zurück und lenkte seine Gedanken nach der Maßgabe seiner Wünsche. Noch für diesen Abend versprach er sich selber eine einsame Belohnung. Er entblößte die Schultern der Frau, die eben noch am Fenster gesessen hatte, und veranstaltete einen schnellen Gedankentest (reagierte der blinde Eros? der plumpe Eros tat es und entfaltete sich im Dunkel); dann tauschte er, während er die herrlichen Schultern beibehielt, den Kopf aus und ersetzte ihn durch das Gesicht jenes siebzehnjährigen Dienstmädchens, das, bewaffnet mit einem silbernen Suppenlöffel fast so groß wie sie selbst, verschwunden war, bevor er noch Zeit gehabt hatte, ihr seine Liebe zu erklären; doch auch diesen Kopf löschte er aus und montierte an seine Stelle das Gesicht einer jener kühnäugigen, feuchtlippigen Berliner Schönheiten, denen man vor allem in der Likör- und Zigarettenwerbung begegnet. Da erst belebte sich das Traumbild: Das barbusige Mädchen hob ein Weinglas an ihre Karminlippen und schwang sanft ihr Bein in aprikosenfarbener Seide, während ihr ein rotes Pantöffelchen langsam vom Fuße glitt. Das Pantöffelchen fiel herab, und Franz, der sich nach ihm bückte, versank sanft in dunklen Schlaf. Er schlief mit offenem Munde, sodass sein blasses Gesicht drei Öffnungen vorwies, zwei schimmernde (seine Brillengläser) und eine schwarze (sein Mund). Dreyer bemerkte diese Symmetrie, als er eine Stunde später mit Martha aus dem Speisewagen zurückkam. Schweigend stiegen sie über ein lebloses Bein. Martha legte ihre Handtasche auf das Klapptischchen am Fenster, und sofort wurde der Nickelverschluss der Tasche mit seinem Katzenauge lebendig, als darin grünlicher Widerschein zu tanzen begann. Dreyer zog eine Zigarre heraus, zündete sie aber nicht an.
Das Essen, und insbesondere das Wiener Schnitzel, hatte sich als passabel herausgestellt, und Martha bedauerte nicht mehr, dass sie mitgegangen war. Ihre Gesichtsfarbe war wärmer geworden, ihre herrlichen Augen waren feucht, ihre frisch geschminkten Lippen glitzerten. Sie lächelte, wobei sie nur so eben ihre Schneidezähne entblößte, und dieses zufriedene, köstliche Lächeln verweilte für einige Augenblicke auf ihrem Antlitz. Dreyer bewunderte sie faul mit leicht zusammengekniffenen Augen und genoss ihr Lächeln, wie man ein unerwartetes Geschenk genießt, doch nichts auf Erden hätte ihn bewogen, diese Freude zu zeigen. Als das Lächeln verschwand, wandte er sich ab, wie der befriedigte Gaffer sich forttrollt, wenn der Fahrradfahrer sich wieder aufgerafft und der Straßenverkäufer die verstreuten Früchte wieder auf seinen Karren gelegt hat.
Franz kreuzte seine Beine wie einer, der sehr lahm und langsam ist, aber wachte nicht auf. Scharf begann der Zug zu bremsen. Eine Ziegelmauer glitt vorüber, ein riesiger Schlot, Güterwagen auf einem Nebengleis. Dann wurde es dunkel im Abteil: Sie waren in eine weite Bahnhofshalle eingefahren.
«Ich gehe raus, meine Liebe», sagte Dreyer, der gerne in frischer Luft rauchte.
Allein gelassen lehnte Martha sich in ihre Ecke zurück, und da sie nichts Besseres zu tun hatte, betrachtete sie die bebrillte Gestalt in der Ecke und erwog gleichgültig, ob dies vielleicht der Zielbahnhof des jungen Mannes sei und er ihn verpasse. Dreyer schlenderte über den Bahnsteig und trommelte mit fünf Fingern an die Fensterscheibe, als er vorüberkam, aber seine Frau lächelte nicht wieder. Mit einem Rauchwölkchen ging er weiter. Er schlenderte mit federndem Schritt müßig umher, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Zigarre vorgestreckt. Es wäre schön, überlegte er, eines Tages auf diese Weise unter den verglasten Gewölben eines fernen Bahnhofs auf dem Weg nach Andalusien, Bagdad oder Nischnij Nowgorod umherzuschlendern. Schließlich konnte man doch jederzeit aufbrechen; die Erde war riesig und rund, und er besaß genügend Bargeld, um sie ein halbes Dutzend Mal vollständig zu umrunden. Martha jedoch würde sich weigern mitzukommen, da sie einen gepflegten Vorortrasen dem üppigsten Dschungel vorzog. Sie würde nur sarkastisch schnaufen, wenn er vorschlüge, sich ein Jahr freizunehmen. «Eigentlich», dachte er, «sollte ich mir eine Zeitung kaufen. Ich nehme an, dass der Aktienmarkt ebenfalls ein interessantes und trickreiches Gebiet ist. Und ich will doch wissen, ob unsere beiden Flieger – oder war das nur eine wundervolle Zeitungsente – es geschafft haben, in entgegengesetzter Richtung die Leistung des jungen Amerikaners von vor vier Monaten zu wiederholen.[1] Amerika, Mexiko, Palm Beach. Willy Wald war da und wollte, dass wir ihn begleiteten. Alsdann, wo ist denn hier der Zeitungsstand? Diese alte Nähmaschine da mit ihrem arthritischen Pedal und eingewickelt in braunes Packpapier ist jetzt so deutlich, und doch werde ich sie in einer oder zwei Stunden für immer vergessen; ich werde vergessen, dass ich sie betrachtet habe; alles werde ich vergessen …» Und genau in diesem Augenblick schrillte eine Pfeife, und der Gepäckwagen setzte sich in Bewegung. Hallo, das ist mein Zug!