Dr. med. Yael Adler

Wir müssen reden, Frau Doktor!

Wie Ärzte ticken und was Patienten brauchen

Das Rezept für eine besondere Beziehung

Mit Illustrationen von Katja Spitzer

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Impressum

© Droemer eBook 2020

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Lektorat: Heike Gronemeier, München

Illustrationen: © Katja Spitzer

Covergestaltung: Isabella Materne, München

Coverabbildung: Thomas Duffé

ISBN 978-3-426-45672-9

Vorbemerkung

Alle Angaben in diesem Buch wurden sorgfältig geprüft. Dennoch können Autorin und Verlag keine Gewähr für deren Richtigkeit übernehmen.

Ein ausführliches Literaturverzeichnis findet man auf Dr. Yael Adlers Homepage: https://dradler-berlin.de//haut/wir-muessen-reden-frau-doktor.php

Die Benutzung der männlichen Formen im Text ist nicht genderkorrekt, aber erleichtert den Lesefluss. Es sind natürlich immer beide Geschlechter gemeint, außer wenn die Autorin gerade über geschlechtsindividuelle Themen schreibt.

Die Begriffe »Arzt« und »Ärzte« bzw. »Patient« und »Patienten« sind ebenfalls als Unisexbegriffe zu verstehen, die weiblich und männlich meinen.

Verweise auf wissenschaftliche Studien beziehen sich auf den Stand zum Redaktionsschluss dieses Buches.

Für Noah und Liam

 

 

Arzt: »Na, geht es Ihnen wieder gut?«

Patient: »Nein, aber besser.«

Arzt: »Ist doch gut, wenn es Ihnen wieder besser geht.«

Patient: »Ja, aber besser wäre es, wenn es mir wieder gut ginge!«

Einleitung

Arzt und Patient – selbst Beziehungsmuffel wissen, DIESE Beziehung ist wichtig, oft sogar lebenswichtig. Und das nicht nur in Corona-Zeiten. Leider steckt diese Beziehung in der Krise. Super, wenn es gut läuft … Doch wenn nicht – dann wird es schnell unangenehm, sogar schon vor dem ersten Date. Man hängt eine gefühlte Ewigkeit in der Warteschleife am Telefon, beschallt von nerviger Dudelmusik und einem mehr oder minder freundlichen »Bitte warten«. Hebt endlich jemand ab, kommt schnell die Frage: »Kasse oder privat?« Und je nach Antwort wartet man dann wochenlang auf einen Termin und schließlich stundenlang in der Praxis auf den Halbgott in Weiß – geparkt auf Freischwingern neben der Gummipflanze, ein paar zerfledderte Lesezirkel-Käseblätter vor sich auf dem Tisch.

Wird man irgendwann doch aufgerufen, ist der Aufenthalt im Halbhimmel schnell vorbei: Nach drei Minuten ist man wieder draußen, ein Rezept für eine Kortison-Creme gegen das juckende Ekzem oder eine neue Ration Pillen für oder gegen dies und das in der Hand. Ein zugewandtes Beziehungsgespräch? Eine wirklich gründliche Untersuchung, so mit Abhören und Abtasten? Oft Fehlanzeige. Informationen über mögliche Auslöser der Erkrankung und Ratschläge zum künftigen Vorbeugen? Ebenfalls eher die Ausnahme.

Nicht nur das erste Date mit der Vertrauensperson Arzt stellen sich viele Patienten anders vor. Auch in bereits gefestigteren Beziehungen knirscht es mitunter gewaltig. Natürlich gibt es viele positive, aufbauende Geschichten aus dem Gesundheitsalltag. Geschichten von Anteilnahme, Verständnis, Heilung und Rettung. Doch es sind die schlechten, die bitteren und empörenden, die im Gedächtnis bleiben, die Vertrauen zerstören und die Hoffnung nehmen auf ehrliche Zuwendung und Hilfe. Auch meine Patienten berichten mir von solchen Erlebnissen. Etwa die junge Mutter dreier Kinder, bei der eher zufällig eine aggressive Krebsform diagnostiziert wurde und die dann völlig aufgelöst und dennoch hoffnungsvoll einen Krebsspezialisten aufsuchte. Und was bekam sie dort zu hören? »Was wollen Sie denn noch hier? Sie haben maximal ein Jahr. Machen Sie sich eine schöne Zeit, eine Therapie gibt es nicht.« Die Folge: eine Patientin in doppeltem Schockzustand, geschockt von der Aussichtslosigkeit und der Art und Weise, wie ihr diese Botschaft übermittelt wurde. Die Patientin hatte Glück: Ihr Ehemann, selbst Arzt, fand einen Kollegen, der nicht nur eine Behandlung wagte, sondern ihr durch seine einfühlsame Art Hoffnung gab und damit die Stärke verlieh, die Therapie durchzuhalten. Am Ende ein Wunder – der Tod musste noch warten.

Oder der betagte Herr, dessen Darm innerlich abstirbt, weil Blutgefäße verschlossen sind, und der von mir in die Notaufnahme geschickt wurde, weil am Wochenende die meisten Praxen geschlossen sind und schnelles Handeln erforderlich war. Ich hatte meinen Patienten telefonisch ankündigt, trotzdem musste er sieben Stunden warten und wurde dann auf vorsichtige Nachfrage, wie lange es wohl noch dauern werde, von einer Schwester angeherrscht, er solle bloß nicht glauben, dass er schneller drankäme, nur weil seine hysterische Ärztin zuvor angerufen habe.

Wenn eine Beziehung gelingen soll, dann sollte man sich respektieren und Interesse und Empathie füreinander aufbringen. Das gilt für die Liebe, aber auch für das nicht minder intime Verhältnis von Patient und Arzt. In einer Arztpraxis erzählen wir oft Dinge, die wir anderen Menschen kaum anvertrauen würden. Wir zeigen unsere Schwächen und Ängste, wir sprechen über schambehaftete Erkrankungen, sind verletzlich und fühlen uns ausgeliefert. Uns gegenüber ein Mensch, den wir nicht oder kaum kennen: Was wissen wir über den Arzt? Vielleicht muss er gerade eine Steuerprüfung überstehen, daheim hängt der Haussegen schief, drei Helferinnen sind gleichzeitig krank … Es gibt viele Erklärungen, warum Ärzte nicht immer so handeln, wie Patienten es erwarten und wie es nötig wäre. Auch Mediziner sind nur Menschen, mit all ihren Problemen und manchmal Vorurteilen. Kein Wunder, dass da Gespräche auch schieflaufen. Patienten verstehen den Arzt nicht, Ärzte verstehen ihre Patienten nicht, man redet aneinander vorbei, und nur selten sind daran die medizinischen Fachbegriffe schuld. Die Folgen sind Frust und Zweifel und am Ende ausbleibende Therapieerfolge. Der Arzt wird vom erhofften Helfer zum Problemfall.

Woran liegt das und was können Patienten, aber auch Mediziner tun, um Vertrauen zu schaffen und gegenseitiges Verständnis? Wie kann es gelingen, dass Arzt und Patient ein gutes Team werden und ist Dr. Google dabei ein guter Ratgeber? Wie vorbereitet und wissend sollte man als Patient in Arztgespräche gehen und ist zu viel Internetrecherche vielleicht sogar schädlich?

Das sind nur einige von unzähligen Fragen, die bei der besonderen Beziehung zwischen Arzt und Patient eine Rolle spielen. Dieses Buch will zeigen, wie Patienten und Ärzte ticken, warum die einen so und die anderen anders reagieren, wie man das Verhalten seines jeweiligen Gegenübers lesen und vielleicht auch beeinflussen kann. Denn zu einer guten Beziehung gehören nun einmal immer zwei. In diesem Fall: ein aufmerksamer, empathischer Arzt und ein mündiger Patient!

Teil I

Wir müssen reden!

Mein Lieblingsorgan als Dermatologin ist die Haut. Auch Krankheiten, die man lieber verschweigt als bespricht, interessieren mich sehr. Doch es gibt ein Thema, für das ich in den letzten Jahren eine besondere Leidenschaft entwickelt habe: die Frage, was uns Ärzte und Sie als Patienten im Innersten zusammenhält – oder eben auch nicht. Es ist die Frage, wie wir miteinander kommunizieren und wie wir uns gegenseitig eigentlich so finden. Welche geheimen Gedanken haben wir übereinander und wie schaffen wir es, Probleme zu benennen und im besten Fall Lösungen zu finden? Wenn es gut läuft zwischen Ärzten und Patienten, kann das Heilung fördern, zu oft aber ist genau das Gegenteil der Fall.

Das habe ich einmal mehr festgestellt, als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann. Bei der Suche nach einem passenden Titel gab es für mich zwei Favoriten. »Wie geht’s uns denn heute?« trat an gegen: »Wir müssen reden, Frau Doktor!« Ersterer sollte natürlich ironisch sein. Eine Frage, die geradezu symbolisch für die gefühlte Herrlichkeit der Halbgötter in Weiß steht. Jeder Patient, der diesen Satz hört, schreckt innerlich zusammen. Noch vor wenigen Jahren gehörte er zum Standardprogramm bei vielen Chefarztvisiten. Einige meiner Freunde und Kollegen verstanden die Ironie hinter meinem Titel-Favoriten nicht. Eine Krankenschwester schrieb mir, ich könne doch meinem Buch nicht so einen arroganten Titel verpassen. Sie selbst habe in ihrer Ausbildung gelernt, dass sich Patienten bei dieser Frage nicht gesehen und wahrgenommen fühlen. Gut so, dachte ich, gut, dass immer weniger Patienten diese Frage hören müssen, aber wenn ein Titel so missverstanden werden kann, dann ist er für ein Buch über eine gelungene Arzt-Patienten-Beziehung vielleicht doch nicht die perfekte Wahl.

Dann also: »Wir müssen reden!« Auch ein Klassiker in Beziehungen, ein Satz, der in einer Partnerschaft für den Wunsch steht, einen Konflikt anzusprechen, ein Problem, eine Verletzung. Mit diesem Satz ist eine Aufforderung verbunden, etwas wieder ins Lot zu bringen, und zwar rechtzeitig, bevor die Beziehung in die Brüche geht. Doch auch dieser Titel schien missverständlich. Eine Arztkollegin meinte, damit würde ich die Verantwortung einseitig an die Mediziner delegieren, und das sei irgendwie unverschämt. Patienten, die Ärzte zu etwas auffordern würden, und sei es nur zum Reden, das gehe zu weit …

Also stellte ich den Titel zurück und begann mit dem Schreiben des Buches. Über allem stand die Frage, was die Beziehung zwischen Arzt und Patient ausmacht. Für mich persönlich ist diese Frage DAS zentrale Thema in meiner Arbeit als Ärztin. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein gutes, ein intaktes Verhältnis zwischen Arzt und Patient eine therapeutische Wirkung hat. Bei der Behandlung vieler, vor allem chronischer Leiden sind Zuwendung und Vertrauen oft wichtiger als der Einsatz von Hightech-Medizin. Denn Behandlung heißt auch handeln und etwas verändern, zum Beispiel im Verhalten oder beim Lebensstil des Patienten, es geht um das Bewusstwerden von Dingen und Verhaltensweisen, und das können Geräte und Medikamente allein nicht leisten.

In meiner Studienzeit gehörte ein gutes Miteinander, eine gute Kommunikation zwischen Arzt und Patient noch nicht zu den Ausbildungsinhalten. Lange Zeit war ärztliches Kommunizieren für mich ein Erfühlen, ein Ausprobieren, ein tägliches Üben, und klar sind dabei auch Fehler passiert. Vielen meiner Kolleginnen und Kollegen erging und ergeht es ebenso. Einige Beispiele werden Sie hier in den nächsten Kapiteln wiederfinden. Wie weit wir von einem Idealzustand entfernt sind, wurde mir noch einmal in aller Deutlichkeit klar, als ich für die Recherche zu diesem Buch unter anderem auf Facebook ganz offen folgende Fragen stellte: »Wie stellen Sie sich eine optimale Arzt-Patienten-Beziehung vor?« Und: »Wie sieht der ideale Arzt für Sie aus?«

Ich bat darum, mir von guten und auch schlechten Erfahrungen zu erzählen, und hatte eigentlich auf ein paar unterhaltsame Anekdoten gehofft, die das theoretische Fundament dieses Buches etwas auflockern sollten. Das Ergebnis war erschreckend anders. Innerhalb von nur wenigen Stunden bekam ich fast zweihundert Zuschriften mit zum Teil unglaublichen Leidensgeschichten. Situationen, die mit Angst und Schrecken und Hoffnungslosigkeit verbunden waren und dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Die positiven Geschichten waren leider in der absoluten Minderheit. Obwohl es auch diese Geschichten ganz sicher in großer Zahl gibt, war die Reaktion auf meinen Facebook-Aufruf eindeutig. Für mich ein Zeichen dafür, wie viel in dieser hochsensiblen Beziehung im Argen liegt und wie groß der Handlungsbedarf ist. Für Schwerkranke und ihre Angehörigen geht es dabei immer um Leben und Tod. Und für alle Patienten um die Erfüllung der Hoffnung, von ihrem Beziehungspartner Arzt gesehen und ernst genommen zu werden: als Mensch, und nicht nur als wandelnde Diagnose auf zwei Beinen.

Kapitel 1

Allein unter Ärzten

Bevor wir gleich richtig loslegen, gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. In jeder Beziehung können Missverständnisse zu Problemen führen. Das erste Missverständnis in der Beziehung zwischen Ärzten und Patienten ist häufig schon das Rollenbild: Eine befreundete Gynäkologin ist Oberärztin in einer Geburtsklinik. Während eines Nachtdienstes musste sie ein Kind per Kaiserschnitt auf die Welt bringen. Gemeinsam mit der Narkoseärztin und einer Hebamme bereitete sie die werdende Mutter auf die Operation vor. Der Venenzugang war gesetzt, das Aufklärungsgespräch war geführt, es konnte also losgehen, da fragte die junge Frau plötzlich: »Und wann kommt der Arzt?«

Ich selbst habe während meiner Zeit als Hautärztin in einem Krankenhaus Ähnliches erlebt. Bei einer Visite sprach ich mit einer Patientin über ihren Gesundheitszustand und die notwendige Therapie. Als ich geendet hatte, schaute sie erwartungsvoll zu dem Zivildienstleistenden neben mir und fragte ihn: »Bekommen Sie mich wirklich wieder hin, Herr Doktor?«

Und als ich vor vielen Jahren weiße Arztsocken in Größe 36 suchte, verwies mich die Verkäuferin auf den Ständer mit den »Schwesternsocken«. Arztsocken begännen erst ab Größe 40 …

Auch wenn knapp die Hälfte des angestellten ärztlichen Personals inzwischen Frauen sind und deutlich mehr junge Frauen als Männer ein Medizinstudium beginnen, bleibt für viele Patienten der Arztberuf männlich geprägt. Wenn ich in diesem Buch Bezeichnungen wie Arzt, Patient, Doktor oder Spezialist im Sinne der weiblichen UND der männlichen Form verwende, dann ist das jedoch kein Einknicken vor dieser alten Erwartungshaltung. Ich verwende diese Begriffe ausschließlich zur besseren Lesbarkeit des Textes.

Und noch etwas möchte ich voranschicken: Alle Geschichten, die ich in diesem Buch schildere, sind wahre Geschichten. Sie wurden mir genauso von Patienten und Ärzten berichtet. Verändert wurden lediglich die Fachrichtung, das Geschlecht oder Namen, um die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu schützen, ohne jedoch die Aussagen zu verfälschen.

Die folgende Geschichte hat mich besonders bewegt, weil sie zeigt, wo es gravierende Defizite in unserem Gesundheitssystem gibt, warum fehlgeschlagene Kommunikation gefährliche Konsequenzen für Patienten haben kann und dass selbst Privatversicherte und sogar Mediziner, die selbst zu Patienten werden, nicht vor Unheil gefeit sind. Diese Geschichte zeigt: Es geht nicht nur um Geld, um »Vitamin B« oder die richtige Versicherung. Sie zeigt, dass es im Kern um den Verlust an Empathie geht.

Markus arbeitet als Mediziner in einem Pharmaunternehmen an der Entwicklung neuer Medikamente. Ein Mann also, der sich auskennt im Gesundheitssystem, der sich eigentlich zu wehren weiß und sich dennoch immer wieder ohnmächtig fühlte. Markus hat ein Prostatakarzinom. Die Diagnose traf ihn mit Anfang fünfzig, mitten im Berufsleben, glücklich verheiratet, drei schulpflichtige Kinder. Markus hatte zunächst keinerlei Beschwerden. Dennoch entschied er sich – wie für sein Alter empfohlen – für eine Früherkennungsuntersuchung der Prostata. Dabei wurde zunächst der sogenannte PSA-Wert im Blut bestimmt, das prostataspezifische Antigen. Dieses Eiweiß ist ein Tumormarker. Je höher der Wert, desto aktiver das Gewebe und desto problematischer wird es. Bei Markus lag der PSA-Wert an der Obergrenze des Normalen, die Ultraschalluntersuchung der noch normal großen Prostata dagegen zeigte keinerlei Auffälligkeiten. Für sein Alter ein durchaus üblicher Befund.

Wenige Monate nach der Untersuchung spürte Markus, dass sein Urinstrahl etwas dünner und schwächer wurde. Allzu große Sorgen machte er sich deswegen zunächst nicht. Ein Prostatakarzinom ist statistisch gesehen eher eine Erkrankung älterer Männer, also der Sechzig- bis Siebzigjährigen. Markus erinnerte sich an den umstrittenen Krebsmediziner Julius Hackethal, der in den 1980er-Jahren verkündete, dass die meisten Prostatakarzinome »nur« eine Art »Haustierkrebs« seien. Ein Krebs also, der so langsam wachse, dass er mit den alternden Männern lebe, sie aber nicht umbringe, weil sie vorher aus anderen Gründen sterben würden. An die gefährliche Variante »Raubtierkrebs«, der aggressiv und schnell zupackt und rasch lebensbedrohlich wird, dachte Markus nicht. Mittlerweile weiß man, dass es viele unterschiedliche Arten von Prostatakrebs gibt und gerade jüngere Männer leider häufig von der »aggressiven« Variante betroffen sind.

Als Markus mit seiner Ehefrau, die ebenfalls Ärztin ist, über seine Beobachtung sprach, bat sie ihn, den PSA-Wert zur Sicherheit noch einmal überprüfen zu lassen. Die erneute Blutkontrolle zeigte einen massiven Anstieg des PSA-Wertes – und das innerhalb von nur vier Monaten. Kein gutes Zeichen, Markus wusste das. Jetzt musste schnell abgeklärt werden, was sich da in den letzten Monaten verändert hatte. Deshalb bat er im Universitätsklinikum um einen Termin bei einem bekannten Urologen. Der hatte bereits seinen Vater und seinen Schwiegervater erfolgreich behandelt. Beide litten an einem Prostatakarzinom, das zum Glück jeweils rechtzeitig entdeckt worden war. Offenbar ein guter Arzt, dem man vertrauen konnte. Doch diesmal wurde daraus keine Erfolgsgeschichte. Schon das Verabreden eines Termins erwies sich als äußerst schwierig. Erst drei Wochen nach der ersten Anfrage gab es überhaupt eine Reaktion aus dem Sekretariat des Professors. In der Zwischenzeit bekam Markus Hüftschmerzen. Er ließ ein MRT machen. »Nichts Auffälliges«, sagte der Radiologe.

Als Markus nach weiteren langen Wochen des Wartens endlich bei dem Urologie-Professor vorsprechen konnte, schlug dieser eine weitere MRT-Untersuchung vor, ohne das weiter zu begründen. Markus vermutete sofort Geldschneiderei, denn gerade bei Privatpatienten werden gut bezahlte Untersuchungen immer wieder sehr großzügig verordnet. In diesem Fall aber irrte Markus. Leider hielt es der Professor nicht für nötig, seinem skeptischen Patienten die Notwendigkeit eines erneuten MRT zu erklären. Dabei wäre es ganz einfach gewesen: Bei der ersten Hüftuntersuchung war kein Kontrastmittel zur Darstellung der Prostata gespritzt worden. Man konnte also genaue Aussagen zum Zustand der Hüfte treffen, aber nicht zum Zustand der Prostata. Diesen wichtigen Hinweis gab der Professor jedoch nicht. Am Ende einigte man sich auf einen Ultraschall, eine für Markus sehr schmerzhafte Untersuchung durch den Anus. Durchgeführt wurde sie vom Oberarzt, der wenig einfühlsam und ohne weitere Erklärungen agierte. Der einzige Kommentar des Oberarztes während der Untersuchung: »Es ist groß, sehr groß.«

Markus fühlte sich allein gelassen. Warum setzte sich niemand auf vernünftige Weise mit ihm auseinander? Immerhin war er selbst Arzt, man hätte offen, von Kollege zu Kollege, mit ihm reden können. Er fragte sich, wie es anderen Patienten an seiner Stelle gehen würde, Nichtmedizinern, Menschen, die die Lage überhaupt nicht einschätzen konnten. Als er dem Professor in einem Auswertungsgespräch seine Empfindungen mitteilte, war die Reaktion ernüchternd. »Tja, wir sind hier nicht wie Sie in der Industrie. Das ist ein öffentlicher Betrieb, wir sind nun mal kein Serviceunternehmen.«

Ein empathischer Arzt hätte Markus in der Partnerschaft gehalten. Er hätte ihm begründet, warum ein neues MRT nötig gewesen wäre, ihm den Ernst der Situation geschildert und vor allem die emotionale Ausnahmesituation seines Patienten erkannt und entsprechend darauf reagiert. Stattdessen wertete er Nachfragen als Kritik und begegnete dem Patienten mit Arroganz und Kaltherzigkeit, nicht mit Verständnis.

Eine gute Kommunikation zwischen Arzt und Patient heißt nicht, Laborwerte herunterzuleiern und Ansagen zu machen, sondern den Patienten emotional abzuholen. Dabei geht es im Kern um die Frage, wie es der Stärkere, der in dieser Partnerschaft immer der Arzt ist, schafft, das Denken und Fühlen des Schwächeren zu erreichen. Dazu später mehr. Markus jedenfalls hatte das Vertrauen in seine große Hoffnung, den Retter seines Vaters und seines Schwiegervaters, längst verloren. Eine gescheiterte Beziehung.

Markus’ Ehefrau Elke, die als Ärztin eine internistische Praxis betreibt, hatte inzwischen ein anderes Krankenhaus recherchiert und einen anderen renommierten Urologen gefunden. Wieder dauerte es lange, bis ein erster Gesprächstermin möglich war. Mitte Dezember klappte es dann mit der Vorstellung beim Chefarzt, der ebenfalls ein neues MRT empfahl, den Grund dafür aber erklärte. Da jedoch über die Weihnachtszeit keine Untersuchung mehr möglich war, musste sich Markus bis Januar gedulden.

Als er endlich in der Röhre lag und dem heftigen Wummern der Magnetspulen lauschte, war Markus in großer Sorge. Er fühlte, dass die Zeit mittlerweile gegen ihn arbeitete, und hoffte, dass der Radiologe im Krankenhaus gleich mit ihm über den Befund sprechen würde. Doch man richtete ihm aus, der Radiologe habe leider keine Zeit, das Ergebnis würde direkt an den Chefarzt gehen.

Zwei unendlich lange Wochen später dann der erneute Termin beim Chefarzt und eine dramatische Nachricht. Markus hatte ein Prostatakarzinom, das innerhalb von sechs Monaten quasi von null auf hundert angewachsen war. Es hatte bereits die Organkapsel durchbrochen und sich in Darm, Blase und Beckenboden hineingefressen.

Jetzt wurde eine Gewebeprobe angeordnet, um zu überprüfen, wie schwerwiegend die Zellen entartet waren und ob es Medikamente gab, die zielgerichtet gegen diesen Zelltyp eingesetzt werden konnten. Noch offen war die Frage, ob der Krebs bereits gestreut hatte. Zur Abklärung war eine weitere Untersuchung notwendig: eine sogenannte PSMA-PET/CT. PSMA steht für prostataspezifisches Membran-Antigen, PET für Positronen-Emissions-Tomografie, CT für Computertomografie. Bei diesem sehr modernen bildgebenden Verfahren werden radioaktiv markierte Antikörper vom Körper aufgenommen und zeigen dann mögliche Prostatakrebszellen an. So können auch kleinste Tumore und Metastasen recht genau lokalisiert werden.

Inzwischen quälten Markus erhebliche Schuldgefühle. Er hatte mindestens acht Wochen verloren, weil er dem Professor, dem Chefarzt der Uniklinik, nicht mehr vertraut und sich einen neuen Arzt gesucht hatte. Waren das womöglich genau die Wochen, in denen der Tumor durchgebrochen war? Hatte er durch sein Misstrauen und seinen Frust die eigenen Heilungschancen verringert? Und warum ließ das Ergebnis der Gewebeprobe so lange auf sich warten?

Als es endlich vorlag, wurde nicht Markus, sondern seine Ehefrau Elke darüber informiert. Es war ein Freitagnachmittag, als Elkes Handy klingelte, mitten in ihrer Sprechstunde. Der Urologe war am Apparat und knurrte ins Telefon: »Schwer entartet, nicht gut.« Elke versuchte, Ruhe zu bewahren. Sie bat ihre Patientin um einen Moment Geduld und verließ das Sprechzimmer.

»Haben Sie meinen Mann denn bereits informiert?«, fragte sie irritiert.

»Nein, ich hatte seine Nummer gerade nicht zur Hand, und Ihre stand ganz oben auf den Unterlagen.«

Der Arzt hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Nummer seines Patienten herauszusuchen, die selbstverständlich ebenfalls auf dem Anmeldeformular notiert war. Ein klarer Bruch des Arztgeheimnisses, doch nicht nur das – auch die Art und Weise, wie er den Befund übermittelte, war kalt und ohne jedes Einfühlungsvermögen.

Elke war wie vor den Kopf gestoßen. Als sie sich wieder gefangen hatte, sagte sie: »Okay, ich rufe meinen Mann selbst an, und dann kommen wir gemeinsam zu Ihnen, und Sie sagen uns, wie es weitergeht.«

Der Chefarzt erwiderte: »Das geht jetzt leider nicht, ich habe noch einen privaten Termin, und ab Morgen bin ich im Urlaub!«

Elke wurde wütend: »Sie warten!«, schrie sie in den Hörer. In ihrer Praxis saßen nur noch drei Patienten, sie arbeitete wie in Trance, dann holte sie ihren Mann ab und fuhr gemeinsam mit ihm in die Klinik. Der Chefarzt war geblieben und empfing das unter Schock stehende Paar mit dem Satz: »Vermutlich haben Sie sich auch zu Silvester Glück und Gesundheit gewünscht. Jetzt wissen Sie, was das bedeutet. Tja … Der Tumor ist inoperabel. Sie haben wahrscheinlich noch ein Jahr – und jetzt gehen Sie erst mal ein Weinchen trinken.«

Elke war in diesem Moment weniger Ehefrau, sondern vor allem Ärztin. Sie wollte sich nicht so abspeisen lassen, sie brauchte eine Perspektive, einen Plan. Fieberhaft dachte sie nach. Sie fragte den Arzt, was er von einer Antihormontherapie halte. Dabei wird dem Patienten ein Wirkstoff verabreicht, der die Testosteronproduktion des Körpers stoppt. Das männliche Geschlechtshormon benötigen die Krebszellen dringend, um zu wachsen. Elke hatte dazu Studien gelesen und wusste, dass diese Therapie, insbesondere in Kombination mit einer Chemotherapie, wirksam sein könnte. »Wäre das vielleicht eine gute Idee für meinen Mann?« fragte sie.

»Ja, damit können Sie erst mal nichts falsch machen«, so die Antwort des Chefarztes, der demonstrativ auf seine Uhr blickte. »Da gibt es auch noch diesen Bestrahlungsmediziner, der ist ganz toll, rufen Sie den doch mal an!«

Im Buch House of God des Psychiatrieprofessors Stephen Bergman alias Samuel Shem, das großen Einfluss auf die Reform der medizinischen Ausbildung in den USA hatte, wird das Wegschieben eines belastenden Patienten oder Angehörigen »Turfen« genannt. Turf ist im Englischen die Verkürzung von »to get rid of somebody«, was so viel wie »jemanden loswerden« oder »abwimmeln« heißt. Und genau das versuchte der Chefarzt gerade. Kurz bevor er den Raum verließ, fiel ihm dann doch noch eine persönlich gefärbte Frage ein: »Ach, Frau Kollegin, Sie haben eine eigene Praxis? Eine internistische Praxis, aha. Lohnt sich das denn heutzutage überhaupt? Na, ich freue mich jetzt erst mal auf den Skiurlaub. Sie können mich ja anrufen, um mir die Ergebnisse des PET-Scans mitzuteilen. Aber bitte rufen Sie erst nach dem Skifahren an – und vor der Sauna. Nicht dass Sie mich beim Aperol stören.«

Ein kleiner Scherz zum Abschied? Vielleicht, aber auf jeden Fall ein schlechter und in dieser Situation völlig unangebracht.

Vor lauter Vorfreude auf seinen Urlaub hatte der Chefarzt übrigens noch ein kleines Detail vergessen: Für den PET-Scan zur Metastasensuche müssen vor der Untersuchung wichtige Laborwerte bestimmt werden, etwa der Schilddrüse und der Nieren. Das aber war von der Klinik nicht veranlasst worden. Hätte Elke dieses Versäumnis nicht bemerkt, hätte diese wichtige Untersuchung nicht zum geplanten Termin stattfinden können. Einem medizinischen Laien wäre dies erst gar nicht aufgefallen.

Nun lag Markus ein weiteres Mal still und bewegungslos in einer Röhre und hoffte, dass sein Prostatakarzinom noch nicht gestreut hatte. Als er wieder aufstehen durfte, wollte er natürlich wissen, was die Untersuchung ergeben hatte. Doch der Pfleger meinte nur: »Das kann Ihnen hier jetzt keiner sagen, die Oberärztin ist nicht mehr da.« Markus war mit seiner Geduld am Ende. Nicht schon wieder tagelang warten. Er bat den Pfleger freundlich, aber bestimmt: »Bitte suchen Sie jetzt jemanden, der zuständig ist und mir sagen kann, was dabei herausgekommen ist!«

Ein paar Minuten später war der Pfleger wieder da. Er hatte die Oberärztin doch noch angetroffen, in einem Besprechungsraum. Da könne sie jetzt nicht weg, aber der Pfleger solle Markus ausrichten, dass sie keine Metastasen gefunden hätten. Für Markus war das eine existenzielle Information. Dass er keine Metastasen hatte, verbesserte seine Prognose deutlich. Hätte er nicht auf einer sofortigen Auskunft bestanden, hätte er eine weitere Woche voller Bangen und Hoffen verbracht. Denn so lange dauerte es, bis der schriftliche Befund vorlag.

Der einzige Arzt, der in diesem unrühmlichen Trauerspiel sofort verstand, dass es bei so einer lebensbedrohlichen Diagnose immer um zwei Dinge geht – um fachliche Kompetenz UND Menschlichkeit –, war der empfohlene Strahlenmediziner. An jenem Freitagnachmittag, an dem sich der Chefarzt auf dem Weg in den Urlaub befand und das verzweifelte Ehepaar im freien Fall, ging er sofort ans Telefon. Er wollte alles wissen, bot Hilfe an und warnte zum jetzigen Zeitpunkt dringend vor der Einnahme der Antihormontabletten. Sie würden das Ergebnis der Metastasensuche verfälschen.

Der Strahlenmediziner gab Kraft, er hatte ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte des Ehepaares und suchte sogar noch eine wissenschaftliche Studie mit Überlebensstatistiken heraus. Die Zahlen räumten Markus durchaus Chancen ein. Ein Mutmacher, ein Rettungsanker, der ihm Halt gab in der folgenden schweren Zeit.

Dienst nach Vorschrift

Bevor in Deutschland eine Krebstherapie begonnen wird, sollte der konkrete Fall jedes Patienten in einer sogenannten Tumorkonferenz besprochen worden sein; das ist zwar keine gesetzliche, aber eine interne Vorschrift vieler Krankenhäuser für eine ganze Reihe von Krebsarten. Im Rahmen einer solchen Konferenz versuchen Mediziner verschiedener Fachrichtungen, sich auf ein gemeinsames Therapiekonzept zu einigen.

Die Tumorkonferenz für Markus fand im großen Universitätsklinikum statt. Es ging um die Fragen, ob Chemotherapie, Bestrahlung und Operation durchgeführt werden können, ob alle drei Methoden Erfolg versprechen und wenn ja, in welcher Reihenfolge. Da das Prostatakarzinom bereits sehr groß und in andere Organe hineingewachsen war, schied eine Operation zunächst aus. Auch eine Bestrahlung erschien im ersten Schritt wenig sinnvoll. Nun hofften Markus und seine Frau auf eine kraftvolle Chemotherapie. Doch in der Tumorkonferenz lehnte die Krebs-Ärztin der Uniklinik jegliche Therapie ab. Begründung: Markus passe mit seinem fortgeschrittenen, aber noch metastasenfreien Befund nicht in das Leitlinienraster. Im Gespräch sagte sie: »Ich möchte die Verantwortung für Ihre Chemotherapie nicht übernehmen. Die wird Sie umbringen!«

Elke brach in Tränen aus. Die Reaktion der berühmten Spezialistin: »Und Sie sollten mal einen Psycho-Onkologen aufsuchen!«

Der Schock saß tief, doch aufgeben wollten Markus und Elke nicht. Auch wenn sie wussten, dass die Tumor-Uhr unerbittlich tickte. Bei einer so aggressiven Erkrankung kommt es auf jede Woche, auf jeden Tag an. Und wieder war es Elke, die für neuen Mut und neue Zuversicht sorgte. Mit viel Charme und Verhandlungsgeschick überzeugte sie eine Sekretärin im Klinikum, die Gewebeproben von Markus herauszugeben, um sie einem anderen Arzt vorlegen zu können, einem Urologen aus einer anderen Stadt. Der hatte zunächst ebenfalls skeptisch reagiert, sich am Ende aber bereit erklärt, in einer anderen Klinik eine neue Tumorkonferenz zu organisieren. Und diesmal gab es eine positive Entscheidung. Markus bekam seine Chemotherapie.

Eine Therapie, die nicht den Leitlinien entsprach und dennoch ganz offensichtlich geholfen hat. Markus lebt, die Chemo hat ihn nicht umgebracht. Seine massiv erhöhten PSA-Werte sanken auf einen nicht messbaren Wert, so wie bei ganz jungen und gesunden Männern. Danach erhielt er eine sehr kräftezehrende und belastende Bestrahlung. Auch diese hat er überstanden. Der Krebs scheint nun besiegt. Das gute Ende eines langen Weges, auf dem er trotz aller Schwierigkeiten dann doch Mediziner gefunden hat, die ihm Partner wurden. Verständnisvoll, kompetent und Mut machend.

Ich frage mich, was aus Markus geworden wäre, hätte er nicht eine Ärztin als Ehefrau an seiner Seite gehabt und wären beide nicht dank ihrer Ausbildung in der Lage gewesen, nach neuen Wegen zu suchen und Alternativen einzufordern. Viele Patienten können auf dieses Fachwissen nicht zurückgreifen. Aber sie können eines aus dieser Geschichte lernen: sich nicht entmutigen zu lassen. Eine zweite oder dritte Meinung einzuholen ist wichtig. Fordern Sie Erklärungen ein, warum ein Präparat verordnet oder eine Untersuchung durchgeführt werden soll. Lassen Sie sich von Angehörigen oder Freunden begleiten, wenn ein schwieriges Arztgespräch ansteht – vier Ohren hören mehr als zwei, zumal wenn Sie als Betroffene oder als Betroffener einer schlimmen Diagnose emotional aufgewühlt sind.

Das Deutsche Krebsforschungszentrum hat ein kostenloses Patiententelefon eingerichtet, die Nummer 0800-420 30 40 ist täglich von 8 bis 20 Uhr erreichbar. Weitere Informationen finden Sie auch auf der Homepage www.krebsinformationsdienst.de. Die Deutsche Krebshilfe und die Deutsche Krebsgesellschaft stehen Patienten und ihren Angehörigen ebenfalls telefonisch zur Seite. Gerade wenn es heißt, einen kühlen Kopf zu bewahren, kann ein zusätzlicher fachlicher Rat lebensrettend sein. Bauen Sie schon zu »gesunden Zeiten« eine gute Beziehung zu einem Hausarzt Ihres Vertrauens auf, der ebenfalls von großer Hilfe sein kann. Nutzen Sie auch Selbsthilfegruppen (www.krebsinformationsdienst.de/service/adressen/selbsthilfe.php), um vom Austausch mit anderen Betroffenen zu profitieren. Denn: Zusammen ist man weniger allein.

Welche Empfehlungen Markus aus seiner Krankengeschichte für ein besseres Arzt-Patienten-Verhältnis ableitet, lesen Sie im letzten Kapitel dieses Buches.

Kapitel 2

Zusammen ist man weniger allein

»In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine …«, sang Peter Alexander vor mehr als fünfzig Jahren über die Liebe und das menschliche Bedürfnis nach Wärme, Leidenschaft und Zuwendung. Doch noch viel weniger gern alleine sind wir Menschen, wenn wir krank sind. Selbst die kratzbürstigsten Pubertiere werden ganz kuschelig, wenn sie mit Fieber im Bett liegen. Eine kühlende Hand auf der glühenden Stirn, ein beruhigendes Wort oder einfach nur jemand, der da ist und ein bisschen mitseufzt – schon geht es ein klein wenig besser. So ähnlich funktioniert das auch noch bei Erwachsenen, wenn die Krankheiten komplizierter und bedrohlicher werden.

Aber wann sind wir eigentlich krank?

Stellen wir uns einen Fluss vor. An dem einen Ufer die Kranken und am anderen die Gesunden, sehr mit sich beschäftigt, während die Kranken sehnsüchtig herüberschauen.

Doch ist es immer so offensichtlich, wer auf welche Seite gehört?

Es gibt viele Menschen mit medizinisch klar benennbaren Krankheiten, die sich trotzdem gesund und vital fühlen. Gleichzeitig gibt es viele organisch gesunde Menschen, die sich für schwer krank halten und viel Zeit in Arztpraxen und Krankenhäusern verbringen. Und selbstredend gibt es die Gruppe derer, die älter werden, deren Körper die einstige Lebenskraft verliert. Das Altern und alles, was damit zusammenhängt – kleinere und größere Gebrechen und die Macht der Schwerkraft –, gehören zum Leben dazu. Nur fällt es uns schwer, das zu akzeptieren. Wir haben Angst vor dem Tod und glauben, ihn austricksen zu können. Gerade in meiner Hautarztpraxis treffe ich immer wieder auf Patienten, die dringend um ärztliche Hilfe bitten, dabei werden sie einfach nur älter. In einer Gesellschaft, in der ein Jugend- und Optimierungswahn herrscht, ist das für manche nur schwer auszuhalten.

Gesundheit ist in gewisser Weise also relativ. Unser Gesundheitszustand lässt sich nicht nur anhand von objektiven und medizinisch überprüfbaren Parametern ablesen, sondern hat auch eine subjektive Komponente, ist ein von uns beziehungsweise von der Gesellschaft definierter Zustand. Etwa weil unser Selbstbild Krankheit nicht zulässt, oder eine Gesellschaft diejenigen ausgrenzt, die nicht oder nur eingeschränkt »funktionieren«.

Niemand möchte allein sein, wenn es ihm nicht gut geht. Wir hoffen auf Hilfe und Zuwendung, vor allem wenn es wirklich bedrohlich wird, wenn Krankheit oder Alter den Körper so schwächen, dass man sich ausgeliefert fühlt und ausgestoßen auf der Uferseite der Kranken. Der trennende Fluss ist ein Symbol für das Gefühl Kranker unter (vermeintlich) Gesunden. Wäre es nicht ein schöner Einfall der Natur, unser Lebenslicht einfach dann auszuknipsen, wenn wir gerade auf dem Höhepunkt eines langen und erfüllten Lebens sind? Beim Tod des großen Entertainers Udo Jürgens war das so. Plötzlich hat sein Herz aufgehört zu schlagen, und viele haben hinterher gesagt: So möchte ich auch sterben. Aber oft genug verlassen Menschen diese Welt in einem langen und quälenden Prozess. Das, was man einmal war und im Inneren vielleicht noch immer ist, spielt keine Rolle mehr. Die Jungen und Fitten drängen nach mit ihrem Übermut, mit ihrer Leichtigkeit und der Ignoranz der Gesunden. Ein schwer kranker Mensch wird mit Abstand betrachtet und seine Existenz oft nur noch verwaltet.

Wäre es nicht tausendmal besser, wenn der Fluss, der Gesunde und Kranke voneinander fernhält, viele große und breite Brücken hätte, sodass sich niemand mehr isoliert oder zurückgelassen fühlte? Verbindungen, über die man entspannt hin und her gehen kann, die einem helfen, das Kranksein zu vergessen und vielleicht auch wieder richtig gesund zu werden. Diese Brücken können im Privaten Freunde und Familie bauen, aber auch Selbsthilfegruppen. Menschen, die sagen: »Egal wie es dir geht, ich bin mit dir verbunden. Ich lasse dich nicht allein!« Geborgenheit nimmt Angst.

In Praxen und Krankenhäusern müssen Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger diese Funktion übernehmen. Sie sollten – anders als in Markus’ Geschichte – Mut machen, Hoffnung geben, begleiten, da sein. Die Beziehung zwischen Ärzten und Patienten ist im Wortsinn eine lebenswichtige und im besten Fall eine echte Partnerschaft.

Wie Ärzte und Patienten sich kennenlernen und warum das nur selten freiwillig passiert

Wie haben Sie Menschen kennengelernt, die Ihnen wichtig sind? Freunde, Lebens- oder Liebespartner, Menschen, die Sie gern mal um Rat fragen und auf deren Rat Sie am Ende vielleicht sogar hören?

Ich vermute, fast immer (von der Familie einmal abgesehen, denn die kann man sich nicht aussuchen) war dabei der Zufall im Spiel. Ein tiefer Blick in die Augen des Tischnachbarn in der Mensa, eine Fete bei Freunden oder ein gemeinsames Training im Sportverein. Irgendetwas hat Sie fasziniert an diesem Menschen, und Sie haben sich gedacht, den oder die könnte man mal wiedertreffen. Dem oder der anderen ging es genauso – und schon war eine erste Verbindung da, eine Verbindung, die dann tiefer und fester werden konnte.

Ganz so läuft das bei Ärzten und Patienten nicht ab. Es ist eher unwahrscheinlich, dass man seinen Proktologen in der Straßenbahn trifft, ihn sympathisch findet und auf eine Tasse Kaffee einlädt, um ihn dann später in seiner Praxis zu besuchen. So viel Zeit hat auch niemand. Denn wenn wir zum Arzt gehen, brauchen wir Hilfe, wir wollen etwas von ihm, und zwar schnell. Eine Impfung, eine Vorsorgeuntersuchung, die Rettung unseres Lebens, wenn wir einen Unfall hatten oder einen Herzinfarkt, die Heilung einer schwerwiegenden Erkrankung. Die Gründe für einen Arztbesuch sind so vielfältig, dass es gar nicht so einfach ist, diese Beziehung und die Rollen der daran beteiligten Personen zu definieren.

Versuchen wir es trotzdem: Was ist das also für eine Beziehung, dieses Miteinander (und manchmal leider auch Gegeneinander) von Arzt und Patient? Ist der Arzt ein Dienstleister? Eine Art Handwerker der Gesundheit, den wir für eine bestimmte Leistung buchen und den wir am Ende bezahlen, wie einen Heizungsmonteur? Wir beauftragen, er liefert? Kann so Heilung funktionieren?

Natürlich nicht. Denn auch wenn wir dem Automechaniker unser Leben anvertrauen, wenn er die Lenkung und die Bremsen unseres Wagens repariert, hat das Verhältnis zum Arzt unseres Vertrauens eine andere Tragweite.

Unser Fühlen, unser Denken und unser Verhalten sind stark durch unsere Psyche geprägt. Erlebnisse in der Kindheit, die Beziehung zu unseren Eltern, unser soziales Umfeld, aber auch unsere Gene beeinflussen die Art und Weise, wie wir auf die Welt reagieren, wie wir mit Erfolgen und Misserfolgen umgehen, mit Ängsten und mit Glücksmomenten.

Folgen wir der Psychoanalyse, dann wiederholen wir in späteren Beziehungen vertraute Muster aus der Kindheit. Wir projizieren im positiven Fall die fürsorgende Mutter und den starken Vater – oder im negativen Fall, die ignorante Mutter und den strafenden Vater – auf unser Gegenüber. Vertraute Muster sind uns angenehm, sie geben Sicherheit, und das sogar, wenn es eher unangenehme Erfahrungen waren. Übertragen auf die Beziehung von Arzt und Patient bedeutet das in besonderem Maße die Hoffnung auf Fürsorge und Unterstützung.

Stellen Sie sich folgendes Bild vor: Ein vielleicht zweijähriges Kind ist mit seinem Vater am Meer. Das Kind hat zunächst Angst vor den Wellen, es traut sich nicht ins Wasser. Dann nimmt der Vater es auf den Arm, und gemeinsam gehen sie hinein in die Wellen und erleben das Auf und Ab, das Kommen und Gehen des Wassers. Das Kind entspannt sich zusehends. Es lächelt und fühlt sich sichtbar wohl. Es weiß, sein Papa hält es fest, und umgekehrt halten seine kleinen Arme sich am Vater fest.

So ähnlich fühlt sich ein Patient. Das große, kraftvolle und gefährliche Meer symbolisiert die Bedrohung durch Krankheit. Die Wellen stehen für das Auf und Ab auf der Waage unserer Körperkräfte und unserer Seele, sind unsere Suche nach Balance. Mal fühlen wir uns wohl, mal unwohl, mal gesund und mal krank. Ein starker Arzt hält seine Patienten und führt sie durch das Krankheitsmeer, er hilft, die Angst zu bewältigen und die emotionalen Wellen auszuhalten, sie zu beherrschen und nicht unterzugehen.

Jeder Patient kommt mit bestimmten Erwartungen in eine Klinik oder Arztpraxis. Werden sie erfüllt, dann fühlt man sich geborgen. Wenn nicht, dann gerät die Partnerschaft schnell in die Krise. Zu welchem Arzt wir am Ende eine Beziehung entwickeln, manchmal auch entwickeln müssen, können wir uns oft nicht aussuchen. Es hängt davon ab, wo wir wohnen, welche Ärzte und Krankenhäuser es in der Nähe gibt und wen uns Freunde und Bekannte und vielleicht auch unser Hausarzt empfehlen. Manchmal müssen wir uns auch mit dem Telefonbuch und dem Ärzteverzeichnis im Internet behelfen – ein ziemlich unübersichtliches Dickicht.

Wenn wir Glück haben, erleben wir so etwas wie Liebe auf den ersten Blick: Wir empfinden sofort tiefes Vertrauen und ein Gefühl von Geborgenheit. Doch der Normalfall dürfte eher eine arrangierte Beziehung sein, in der sich Sympathie, Respekt und Zutrauen erst entwickeln müssen. Wobei das kein Nachteil sein muss.