Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-10330-8
ISBN E-Book 978-3-688-10122-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10122-1
Frozzeln, hecheln, verhohnepipeln.
Gojim naches ist ein hebräischer Ausdrude, der sich nicht übersetzen läßt, und der so treffend etwas charakterisiert, wie es in keiner Sprache besser und erschöpfender möglich ist. – Die Erklärung ist mannigfaltig. – Das Thema: Gojim naches ist unerschöpflich.
Ein Beispiel: Versetzen wir uns in die Vorkriegszeit, wo wir noch beglückt und zufrieden unter dem Joche der Kaiser und Könige seufzten.
Kaiser Wilhelm wird am 12. November, morgens um 7 Uhr, zum Besuch unseres Kaisers Franz Joseph am Nordbahnhof in Wien erwartet.
Um 6 Uhr früh steht eine ungeheure Menschenmenge Kopf an Kopf Spalier, vom Nordbahnhof über die ganze Praterstraße bis zum Ring, und wartet. Es regnet – gemischt mit Schnee – ein Sturm peitscht den Wartenden diese vom Himmel kommende breiartige Substanz in die Gesichtszüge.
Da plötzlich heißt es: der Hofzug sei wegen Schneeverwehungen um einige Stunden verspätet und käme erst um 10 Uhr.
Die Menge bleibt stehen und wartet. – Kein Mensch rührt sich von seinem Platze. –
Nach vierstündigem Ausharren geht eine Bewegung durch die Reihen. Ein bummfest geschlossener Hofwagen fährt in rasendem Tempo vorüber – es sind vier weiße Handschuhe durch die vom Regen angelaufenen Fenster des Wagens zu sehen.
Die Menge schreit begeistert: «Hoch!» und geht dann befriedigt und mit einem Riesenschnupfen nach Hause.
Das ist Gojim naches! –
P.S. In die Kategorie besonders erschwerenden «Gojim naches» – wird das Bergsteigen – Fußballspielen – Wettlaufen und Studium der alten Sprachen – gezählt. –
O Leser!
Ich wage es gar nicht «Freundlicher Leser» zu sagen, denn ich habe das Recht auf die Freundlichkeit des Lesers verwirkt.
Was ich jetzt tue, ist eine große Gemeinheit.
Ich habe im Schlußwort und, wenn ich nicht irre, auch im Vorwort meiner «sämtlichen Werke», an Eides Statt versichert, daß dies meine sämtlichen Werke seien, ich nie mehr etwas schreiben werde, und daß mir nie wieder etwas einfallen wird.
Also, eingefallen ist mir ja nichts, aber geschrieben habe ich!
Ich habe einen Meineid begangen – ich bin ein Verbrecher!
Durch die Güte eines angeheirateten Rechtsanwalts erfahre ich, daß dies nach Paragraph 199 des Strafgesetzbuches, selbst unter Anwendung der allermildemdsten Umstände, sechzehn bis zwanzig Jahre schweren Kerkers, respektive Zuchthaus bedeutet.
Es ist eigentlich unklug von mir, daß ich das so öffentlich sage und mich selbst ans Messer liefere, aber ich bin zerknirscht, bin reuig und hoffe, es wird mich niemand dem Staatsanwalt übergeben.
Entrüsteter Leser! Selbst auf die Gefahr hin, daß dies geschieht, kann ich nicht anders. – Ich bin machtlos.
Die Muse ist unberechenbar – sie ist wie die Liebe, die fällt oft auf einen Kuhfladen. Die Muse war aggressiv zu mir, ich konnte mich ihrer Küsse nicht erwehren.
Man kann dem Genie nicht gebieten: «Du darfst nicht!» – Das Genie ist wie ein aus den Ufern tretender Strom, der alle Dämme bricht. Ich habe gekämpft, ich bin unterlegen!
Und wenn ich bedenke, daß unter den vielen Zuschriften, die ich nach Erscheinen meines ersten Buches bekam, auch eine war, die mich aufforderte, ein zweites Buch zu schreiben, so kann man mich nicht so verdammen. –
Ich wollte zuerst einen Roman schreiben, machte mir mit Schlagworten einen Stoff zurecht und kombinierte die spannendsten Verwicklungen.
Da erklärte man mir, daß all meine Ideen schon dagewesen wären, und wenn ich sie ausführe, könnten mich Sudermann, Wassermann, Kehlmann, Kellermann, Thomas Mann oder irgendein anderer Mann als Plagiator den Gerichten übergeben.
Wohin ich blicke, nichts als Kriminal! – –
Meine Kameraden – die Sänger, nicht die Dichter – behaupten, daß die Rollen, in denen ich im Kriminal bin, wie etwa «Florestan», «Dabilor», «Troubadour» usw., meine besten wären, weil ich mich in diesem Milieu so zu Hause fühle.
Eigentlich niederträchtig, schon weil man ganz verwirrt wird und es zuletzt selber glaubt. –
Ferner schoß mir durch den Kopf, ein Theaterstück zu schreiben, dieses in der Schweiz aufführen zu lassen, wo es vier bis fünf Monate hindurch täglich vor ausverkauften Häusern über die Bretter gehen würde.
Ich legte dort die übliche Frankenwährung als Hauptbasis meiner Schöpfung zugrunde. –
Aber es ging mir genau wie mit dem Roman, alles, was mir einfiel, hat schon ein anderer gesagt. Man kann sich das Hirn zermartern soviel man will, alles hat man entweder schon im Theater gesehen oder irgendwo gelesen.
Mit Recht empörter Leser – und dennoch – und trotzdem – wirst du fragen? –
Ja! – «Hier stehe ich, ich kann nicht anders», darf ich ruhig mit Luther sagen. – Der konnte auch nicht anders.
Aus allen Poren drängt’s, das Herz pocht, die Schläfe hämmert – es zieht mich hin zum Schreibtisch! – –
Mein Verleger sagt, das wäre die Unsterblichkeit, die so in mir tobt! – Er versprach auf das bestimmteste, mir in Walhall einen Polstersessel reservieren zu lassen, auf dem ich neben Goethe, Schiller und den anderen Dichtern sitzen werde, als einer der Ihren.
Schiller und Goethe haben ja schließlich auch nichts anderes getan, als ihre sämtlichen Werke geschrieben.
Und trotzdem kann ich ein gewisses blamables Gefühl nicht loswerden.
Stirnrunzelnder Leser, verächtlich blickende Leserin, was werdet ihr von mir denken? – –
Ich habe das Empfinden eines Wortbrüchigen. – Darum und aus dieser Erkenntnis heraus, quasi um mich selbst zu strafen, nenne ich das Buch «Der Wortbruch»!
An die Güte und Nachsicht des lieben Lesers zu appellieren, getraue ich mich erst gar nicht. –
Ich lasse dieses Buch nicht, wie das vorige, fröhlich «hinausflattern», – sondern beschämt «hinsausschleichen»! –
«Er versprach mir in Walhall einen Polstersessel.»
Für alle Fälle lasse ich mir von meinem lieben Verleger einen so großen Vorschuß geben als nur irgend möglich, denn, wenn einer von uns beiden Pleite machen soll, so soll er es sein – der Gute.
Schlimmstenfalls wird er mir keinen Polstersessel in Walhall vorbereiten, werde ich nicht neben Goethe sitzen.
Es ist ja sehr ehrenvoll, neben Goethe zu sitzen, aber weiß ich, ob der Mann nicht recht arrogant zu mir sein, mich als Tenor nicht für voll nehmen, oder sich darüber ärgern wird, daß die erste Auflage meiner sämtlichen Werke in einer Woche vergriffen war und seine nicht? – Habe ich es notwendig, nach meinem Tode, in Walhall, das Gefühl des «Überdieachselangesehenwerdens» zu haben?
Dann wäre es mir noch außergewöhnlich peinlich, wenn ich da oben Richard Wagner, Beethoven, Karl Maria von Weber oder den alten Verdi träfe. – Die sind imstande und machen mir Vorwürfe, wegen der vielen Fehler, die ich in ihren Opern gemacht habe.
Jeder einzelne Komponist würde mir vorrechnen, wie oft er sich im Grabe umdrehen mußte, wenn ich seine Rollen gesungen habe.
Die Dichter werden sagen, ich sei ein großer Sänger, und die Komponisten werden behaupten – der Slezak dichtet fabelhaft.
Von allen Seiten werde ich gefrozzelt werden. – Ich werde mich in Walhall bestimmt halbtot ärgern.
Richard Strauß wird auch da oben sein, der weiß alles von mir, er war doch mein Kapellmeister.
Ich werde den ganzen Tag, statt mit den andern auf den Wolken zu sitzen, zu jubilieren und Hosiannah zu kreischen, beschämt auf irgendeinem schäbigen, womöglich nassen Wölkele hocken und mich fortwährend heraussehnen aus dieser olympischen Gesellschaft.
Allerdings eines würde mich freuen.
Wenn meine Kollegen, namentlich die Tenorkonkurrenten, durch das Wolkengitter nach Walhall hineinblickten und mich neben Goethe sitzen sähen.
Die würden zerspringen!
Aber immer schauen sie ja nicht herein und die übrige Zeit müßte ich … Nein, ich mag gar nicht nach Walhall! – –
Ich wünsche nur eines, daß du, o Leser, mich nicht allzusehr mit Unrat bewirfst und nicht schlechter von mir denkst, als ich ohnehin bin. –
Das genügt nämlich schon.
Also schleiche denn in Gottes Namen hinaus, du zweite Frucht meines Genies, und versuche, dem Leser die Empörungsfalten von der Stirne wegzuschwatzen, – vielleicht gelingt es dir.
Der Verfasser
Wie oft habe ich meinen verewigten Freund, Ludwig Thoma, darum beneidet, daß er seinen Beruf in seinen entzückenden vier Wänden ausüben konnte.
Ein Stück Papier, ein Bleistift, schlimmstenfalls ein Füllfederhalter, und er war bereit. – Die Muse hatte er immer um sich, sie verließ ihn nie oder höchst selten auf kurze Zeit.
Wie anders ist das bei mir.
Ich kann meinem Berufe nie nachgehen, ohne daß ich eine große Menschenmenge, die mir zuhört, um mich versammle.
Ja, es ist sogar von Wichtigkeit, daß die Zuhörerschaft eine große ist, da man mir sonst in Bälde auf meine Singerei pfeifen und ich die Schwingen des Pleitegeiers über meinem Haupte rauschen hören würde.
Wenn sich das Singen auf Wien beschränkt, und man längere Zeit in seinem eigenen Heim bleiben kann, nur jede Woche dreimal hinüber in die geliebte Oper geht, so ist das herrlich. – Wenn man aber jeden zweiten Tag irgendeine andere Stadt zu entflammen hat – so nennt man dies eine Tournee. –
Es klingt ja ganz nett: Ich gehe auf Reisen – eine Tournee durch Südslawien, Serbien, Tschechoslowakei – die auf acht bis zehn Wochen berechnet ist.
Aber wenn man einen Einblick in die Vorbereitungen und die Tournee selbst tut, so glaube ich, wird mancher erbeben und sich schnell einen anderen Beruf wünschen.
Für mich ist solch eine Tournee der Extrakt alles Unangenehmen – trotzdem das eigentlich Widerwärtige, das Packen und Herrichten der diversen Kleidungsstücke und Kostüme, das Ressort meiner über alles Lob erhabenen Gemahlin ist. Aber schon das Zusehen, wie sie sich abrackert, macht mich krank.
Bei Konzerten schafft das Programm immer Meinungsverschiedenheiten, die in einer guten Ehe nicht vorkommen sollten.
Sie macht die Programme.
Fast immer – ich übertreibe nicht, meint die Gute, daß ich endlich einmal etwas Neues lernen müsse, weil man sich sonst in Pohrlitz sicher den Mund zerreißen würde, wenn ich dort wieder und immer wieder und jedesmal sachte die Hand auf die Klinke lege und den Leuten sage, daß im November der Lenz da ist.
Meine Versicherung, daß es ja doch schon wieder ein Jahr her sei und die Pohrlitzer bestimmt andere Sorgen haben würden, als sich zu merken, daß ich im Vorjahre die funkelnde Schale zum Mund emporgehoben habe, wird nicht anerkannt.
Es wird gestritten und gebohrt – bis sie endlich kategorisch erklärt, daß sie außerstande sei, nochmals ein solch allbekanntes Programm zu machen.
Fünf bis sechs neue Lieder werden aufs Repertoire gesetzt. – Herrlich! –
Was tut Gott? Die Zeit der Abreise kommt, die Lieder sind nicht studiert, die funkelnde Schale und die Hand auf der Klinke stehen wieder in der «Reihenfolge der Gesänge» – und ich bin selig.
Mein Wiener Konzertbrotgeber, Hugo Knepler, macht infolgedessen meine Programme selber. –
Er ruft an: «Also, lieber Leo, du mußt mir dein Programm sagen.»
«Gemacht. Aber weißt du, das ist nicht mein Ressort – rufe Elsa an.»
«Gnädige Frau, bitte, was singt Leo, mit Gottes Hilfe, im nächsten Konzert, außer dem ‹Lenz›?» –
Ein strahlendes Programm wird Hugo zuteil, das er mit einem begeisterten Bravo quittiert.
Vor dem Abläuten sagt er: «Aber nicht wahr, das, was er wirklich singt, muß er wenigstens zwei Tage vor dem Konzert sagen. S’tiant, gnädigste Frau, grüßen Sie mir den Leo.»
Von jetzt ab trübt das Programm unser Dasein.
Auftakt zur Tournee: «Leo, was meinst du, werden wir Einladungen annehmen? – Soll ich den Smoking einpacken?»
«Pack ihn ein, mein Kind.»
«Aber er ist dir zu eng, du ziehst ihn ja doch nie an.»
«Also packe ihn nicht ein.»
Dasselbe wiederholt sich beim Jackettanzug, der schon zehn Jahre in der Welt herumgeschleppt wird und seit elf Jahren unzuknöpfelbar ist.
Die Abfahrt.
Fünfundsechzig Handgepäckstücke und einige Hunde. Seit Beginn unserer Ehe nehmen wir uns vor, wenigstens drei Hunde und eine Katze zu Hause zu lassen – und wenn die Stunde des Abschieds kommt, so sind die lieben Tierchen vollzählig um uns versammelt und komplizieren unser Leben.
Fünfundsechzig Handgepäckstücke und einige Hunde – – –
Der Aufbruch gestaltet sich infolge der vielen Gepäckstücke sehr abwechslungsreich und mannigfaltig.
Auf zwei Wagen werden die Koffer verstaut.
Man zählt ununterbrochen. Oft verzählt man sich und bringt um elf, manchmal um neun Stücke mehr heraus, als man mitgenommen hat. Dann ist man zufrieden. Nur weniger dürfen es nicht sein, dann wird sofort nachgeforscht. Am Ende solch einer Reise kann man sich ruhig den Titel eines «Forschers» beilegen.
Ist alles auf die Wagen geladen, fährt man zur Bahn. Da wiederholt es sich ausnahmslos, daß während der Fahrt einer von uns beiden erbleicht.
«Mein Gott!»
«Was ist denn los?»
«Die Kofferschlüssel!!»
«Vergessen?»
«Nein! Gott sei Dank, da sind sie.»
Ich schlage plötzlich konvulsivisch auf die Brusttasche.
«Jesus – die Pässe!» – – –
«Ach nein, da sind sie.»
Unter diesem etwas aufregenden, für einen unbeteiligten Zuschauer sicherlich erheiternden Spiel kommt man an die Bahn.
Eine größere Abteilung Träger wird mobilisiert. Die Wagen werden entleert, und beim Entlohnen wird gestritten.
Mit treuherzigem Augenaufschlag verlangt der Taximann eine phantastische Summe.
Man sieht nach dem Taxameter. –
«Aba, gnä Herr, Sö wern do net um viere in da Fruah nach der Tax fahrn wolln? – Wo a Kalbspörkelt fuffzehntausend Kronen kost’?»
Unter Verwünschungen und nachhallenden Flüchen eilt man zur Fahrkartenausgabe, stellt sich an und wartet, bis man dran kommt. Man sagt das Reiseziel.
«Vis-à-vis bei Kasse sieben!»
Man zerspringt! – Geht zur Kasse sieben. – Man sagt das Reiseziel.
«Eine Million siebenmalhundertachtundneunzigtausendvierhundertdreiundzwanzig Kronen 35 Heller.»
Man zahlt, bekommt seine Karte und geht.
«Um Gottes willen!»
«Was ist denn?»
«Mein Portefeuille habe ich an der Kasse liegen lassen.»
«Zurück – aber schnell.»
«Nein, Gott sei Dank – da ist es. Im Pelz hab’ ich’s stecken. Bin ich jetzt erschrocken.»
«Ich nicht, ich bin das bei dir gewöhnt», – beißt es zurück.
«Du rede was – denk an die Schlüssel im Wagen.»
Eine Spannung – ein Stachel.
Zur Waage. – «Gepäck nach X sechzehn Kilo, achthundattfuffzehn Kilo, numera hundartanazwanzig!
Vier Millionen dreimalhundertachtunddreißigtausendzweihun- derteinundvierzig Kronen. – Versichern, bitte?»
«Nein.»
Man zahlt.
Die Gepäckträger lauern. – Man zahlt auch diesen die vielfache Taxe.
Die Gepäckträger verfluchen uns bis ins zehnte Glied. – Ein Viertel Wein kostet zwanzigtausend Kronen. – Was man eigentlich glaube. –
Man passiert die Sperre, steigt ein, und – nachdem uns der. Handgepäckträger noch die roten Ostern an den Hals gewunschen und uns mitgeteilt hat, was ein Beuschel mit Knödeln kostet – sitzt man.
«Um Gottes willen!»
«Was ist denn schon wieder?»
«Die Fahrkarten habe ich verloren!»
«Aber das ist ja nicht möglich, du hast sie ja …»
«Ach, Gott sei Dank, da sind sie.»
«Ich habe einen Narren zum Mann!»
Ich lehne mich verletzt in eine Ecke.
«Es ist zu heiß! – Elsa, dreh die Heizung ab.»
«Jetzt ist es zu kalt. – Elsa, dreh die Heizung auf.»
«Es riecht nach Bahn. – Elsa, rasch die Perrolinspritze.»
Man spritzt. –
«Alles ist überschwemmt. – Du hast zuviel Perrolin hineingegeben. – Elsa, mach das Fenster auf.»
Der Zug setzt sich in Bewegung.
Wir fahren.
Unbegreiflicherweise gehen alle wichtigen Züge immer um sechs Uhr morgens ab. Das hat für uns ein Aufstehen um halb vier und einen Aufbruch um fünf zu bedeuten, weil ich immer rechtzeitig an der Bahn sein will, um ein ganzes Coupé zu bekommen.
Dieses wird mit allem Handgepäck belegt. Kommt jemand und will sich hineinsetzen, knallt ihm ein energisches: «Alles besetzt!» entgegen.
Wenn sich dann der Zug in Bewegung setzt und der Kondukteur die Karten durchlochen kommt, wird ihm mit einer Träne in der Stimme mitgeteilt, daß die vier Personen, die fehlen, soeben im Wartesaal der Schlag getroffen habe.
Wenn man ihm ein gutes Wort gibt, glaubt er es.
Kommt während der Fahrt jemand und will herein, schreie ich abermals – «Besetzt!»
Wieso besetzt?
Die leeren Sitze sind im Speisewagen! – – Selbst auf die Gefahr hin, daß überhaupt kein Speisewagen im Zuge ist.
Nur bei der elektrischen Trambahn darf man das nicht machen, weil man da sofort als Lügner entlarvt würde. –
Nachdem wir uns gegenseitig wegen der Heftigkeit von vorhin um Verzeihung gebeten haben, sind wir wieder eine glückliche Ehe.
Die Handgepäckstücke werden von mehreren Beamten, als für sechs Personen zu viel, beanstandet und hierauf verstaut.
Nun wird ausgepackt. Das Allernötigste. – Die Decke, Reisemütze, ein Polster, der Sweater, drei Thermosflaschen mit Kaffee, Tee und kaltem Wiener Hochquellwasser werden ins Netz gelegt, und nun das getan ist, beschleicht uns beide eine Behaglichkeit, die bis zur Ankunft dauert.
An der Bahn steht der Impresario. – Entweder er strahlt oder er blickt düster. – Je nach dem Vorverkauf für das Konzert.
In Iglau lernte ich einen Arrangeur kennen, der blickte düster, trotzdem der Saal bis zum Rande voll war. – Er glaubte, wenn er sich glücklich zeige, würde ich das Honorar steigern.
Man findet den bereitgehaltenen Wagen, selbstverständlich geschlossen – mit Fenstern. – Ich setze mich hinein und warte. –
Sowie alle Handgepäckstücke im Wagen sind, stürzt Elsa, fahl bis an die Lippen, zum Wagenschlag und lallt verstört: «Den Gepäckschein!!» –
«Aber den hast du doch in Wien zu dir genommen.» –
«Mein Gott … Ah, Gott sei Dank, da ist er.»
Gereizt sitzen wir nebeneinander.
Ankunft im Hotel.
Ich schreie – «Die Seife!»
Sie behauptet, sie könne nicht zaubern.
Ich meine, ich verlange auch nicht, daß sie zaubern soll, ich wolle ja nur meine Seife.
Endlich ist die Seife da, und nachdem das Zimmer wohlig und behaglich gemacht wurde, was Elsa wunderbar versteht, bitten wir uns gegenseitig um Verzeihung, schimpfen auf die verfluchte Fahrerei, die uns beide so nervös macht, und beschließen den Tag in vollkommener Harmonie.
Das ist ein Tag im Leben eines Sängers.
Er wiederholt sich immer wieder, genau wie ich es geschildert habe.
In manchen Gegenden geht es auch mit den Hotels nicht so glatt, wie man es wünschte. Da gibt es oft Zimmer, bei denen man auf jedes Mindestmaß von erträglichem Zustand verzichten muß.
Ich bin nicht nachtragerisch. – Blutrache ist mir fremd. – Ich bin weich wie Wachs und meine Herzensgüte grenzt an Kretinismus.
Wenn ich über diese meine Herzensgüte nachdenke, so kommen mir Tränen der Rührung, über mich selbst, in die Augen. – Ich verzeihe meinen Feinden, sogar wenn sie ein noch höheres C singen als ich es vermag.
Aber die fünf Tage Martyrium im Hotel X in Y haben mich umgewandelt.
Ich muß mitteilen, sonst platze ich. – All der in mir aufgehäufte Groll muß heraus. –
Die Tage in dem so schönen Y hätten herrlich sein können. – Verwöhnt von meinen Freunden und vom Publikum, das sich zu meinen beiden Konzerten drängte, die Säle bis ins äußerste Winkelchen füllend – daheim aber, im Gasthaus, der Kampf bis aufs Messer.
Schon die Ankunft war trostlos. – Ein trüber Abend, der an sich schon nicht heiter stimmte – kein Mensch kam uns entgegen.
Ich frage nach meinem Zimmer. – Nr. 6. – Ich gehe hinauf. Ein Gemach mit zwei Betten. Zerdrückte Blutlachen von hingemordeten Wanzengenerationen an den Wänden, eine kleine, fünfkerzige, mit einer dicken Staubschicht bedeckte Glühbirne, deren schwaches Licht alles noch erbärmlicher erscheinen läßt, keine Nachttischlampen – kurz: ein jammervoller Aufenthalt!
Ich stürze zum Portier und verlange ein anderes Zimmer. Achselzuckend meint er: das ginge nicht, die Polizei weise die Zimmer an und man müsse nehmen, was man bekommt.
Ich beklagte mich über den betrübenden Mangel an Reinlichkeit, schilderte in bewegten Worten die zerquetschten Wanzenleichen an den Wänden, die ein sicheres Zeugnis von nachtdurchwachten Schlachten, mit den Stiefelsohlen als Waffe, ablegten.
Ja – meinte der Mann – sein Chef lege keinen Wert darauf, daß sich die Gäste wohlfühlten, weil er nicht Herr über sein Hotel sei, und es könne ihm herzlich egal bleiben, wie man über dieses denke.
Zerknirscht bat ich wenigstens um eine zweite Lampe. – Es gibt keine. – Eine Kerze. – Es gibt keine. –
Ich lasse mir den Direktor, einen jungen Mann, rufen. Der schreit mich an, als ob ich etwas gestohlen hätte.
Vernichtet gehe ich auf mein Zimmer, läute dem Hausdiener und dem Mädchen. Entsetzt, aber doch mit einer leisen Hoffnung im Busen, frage ich, ob in dem Bette Wanzen wären.
«Wo denn sollen sie sein?» meinte der Diener.
Als er jedoch den herannahenden Wahnsinn verratenden Zug in meinem Antlitz sah, meinte er mitleidig, ich solle ruhig sein, solle nicht verzagen, die Saison für die Wanzen sei erst in einem Monat.
Als ich auf die erschütternden Flecke an der Mauer wies, sagte er beruhigend, die wären vom vorigen und vorvorigen Jahr. – Ich schenkte ihm einen Dinar. –
Milka, das Stubenkätzchen, zeichnete sich durch ganz besonders hochentwickelte Unfreundlichkeit aus; bei allem, was man von ihr begehrte, frug sie, ob man von der Tarantel gestochen sei.
Als sich unser Dialog immer aussichtsloser gestaltete, packte mich eine namenlose Wut. Ich bekam einen Schreikrampf und prophezeite dem Mädchen, daß sie, falls sie den Ton nicht ändere, von mir mit schweren Körperverletzungen bedacht werden würde und daß sie es nur ihrer Zugehörigkeit zum schwachen Geschlecht und meiner angeborenen Ritterlichkeit zu danken habe, wenn sie nicht schon seit einer Stunde einen interessanten Fall in der Chirurgischen Klinik bilde.
Das Mädchen erschrak, lachte silberhell auf und ging aus dem Saal.
Nachdem sie auf fünfundsiebzigmaliges Läuten nicht wiederkam, und sich auch andere Funktionäre des Hotels nicht blicken ließen, rief ich zärtlich ihren Namen. – Milka. – Milkuschkall –
Da erschien sie und gab mir zu verstehen, daß bei ihr alles nur in Güte zu erreichen sei.
Ich verlangte Handtücher.
– Ha – Ha – Handtücher. – Sie scheinen wohl nicht ganz normal zu sein. – Sie haben ja ein Handtuch, das muß bis morgen abend für euch beide – sie meinte mich und mein beklagenswertes Weib – aushalten.
Kochend streichle ich ihr die Wangen und verspreche ihr die Ehe.
Da brachte sie ein Handtuch. – Das heißt – Handtuch wäre etwas kraß – es war eine Serviette.
An der Wand stand groß angeschrieben: «Bäder im Hause!» – Milkerle, mein Liebling – ein Bad möchte ich.
Ha – Ha! – Im Badezimmer werden die Stiefel geputzt. Alles, Mistkistel, Schaufel, Fetzen, Kübel – ist dort aufgehoben. – Hier badet kein Mensch. – Wegen Ihrem lumpigen Bad werden wir alles ausräumen. Ha – Ha –!
Milkinkerl, mein Knorpel – schmeichle ich, vor Galle berstend – also dann ein warmes Wasser.
Ha – Ha! – In der Kuchel schimpfen sie, geben keines her und behaupten, nur Dirnen wüschen sich mit warmem Wasser.
Darauf erklärte ich Milkinkerl in sanftem Ton, daß ich in meinem langen und erfahrungsreichen Leben noch nie einem so hundsmiserablen Beisel begegnet wäre, wie dieses Hotel eines darstelle.
Achselzuckend meinte sie, es wäre ja nicht ihr Hotel.
Jeden Tag glaubten wir, daß Milkas Eröffnungen heute den Gipfel erreicht hatten. Aber immer kamen neue Ursprünglichkeiten und eigenartige Auffassungen bezüglich ihrer Stellung zu den Hotelgästen zutage.
Der Hotelier war nicht daheim, der erholte sich in den dalmatinischen Gefilden, und als ich drohte, bei seiner Frau Beschwerde zu führen, lachte man so herzlich, daß ich mitlachen mußte und mich in all den Unrat und die Ungastlichkeit fügte. –
Man pries mir die Abwesenheit des Hoteliers sogar als Glücksfall, denn er habe einmal einen Geigenvirtuosen, der in Y konzertierte und mit dem ungewohnten Zustande in seinem Zimmer nicht ganz einverstanden war, persönlich hinausgeworfen.
Nichts dauert ewig, auch dieser Kelch war eines Tages zur Neige geleert. Dafür gestaltete sich die Abreise zu einem Wonnedelirium und es durchströmte uns ein Glücksgefühl, als ob das Christkind käme.
Wenn du, o Pilger, einmal nach Y kommst, und die Polizei gibt dir ein Zimmer im Hotel X, – dann nimm ein scharfgeschliffenes Schwert und stürze dich in dieses.
Von Y aus führte uns der Weg nach Jugoslawien und Altserbien, nach Belgrad.
Diese Reise gestaltete sich zu einer sehr interessanten, abwechslungs- und lehrreichen.
Mein Impresario, ein Altserbe, war ein Original, umgeben von zwei weiteren Originalen.
Einer, ein junger Rechtshörer, hatte die Funktionen des Finanzministers und war in der Geldgebarung von einer geradezu pompösen Nonchalance. Die großen Summen trug er, in ein Zeitungspapier eingeschlagen, unter dem Arm, und zwar so, daß er solcher Pakete immer mehrere hatte. – Wie leicht hätte man ihm, im Gedränge der Bahn oder auf der elektrischen Straßenbahn, mit einem Griff die ganze Reisekasse stehlen können, ohne daß er es gleich gemerkt hätte.
Der zweite war der Kriegsminister. Ein Komitatschi, der Sommer und Winter eine hohe spitzige Pelzkappe trug, den Rang eines Majors bekleidete, mutig wie ein Löwe und ebenso unzuverlässig war.
Er hatte nie einen Heller in der Tasche. Alles, was er bekam, legte er umgehend in Sliwowitz an, von dem er ganz märchenhafte Quantitäten konsumierte; infolgedessen befand er sich immer in illuminiertem Zustand, den man als einen die ganze Umgebung betäubenden Dunstkreis empfand.
Jedes Glas, das er zu sich nahm, nannte er eine «Okrepa», so heißt auf serbisch «Stärkung». – Infolge der vielen ununterbrochenen Stärkungen nannten wir ihn «Okrepa».
Auf der Eisenbahn fuhr er prinzipiell ohne Fahrkarte. Immer wußte er es so einzurichten, daß er im Speisewagen blieb und den Schaffner in ein interessantes Gespräch verwickelte, wobei er soviel Sliwowitz trank, daß er von dem hierfür verausgabten Betrage die Reise leicht hätte bezahlen können. –
Er war Schiffskapitän und ein begabter, hochgewachsener bildhübscher Mensch. – Leider nur durch den vielen Alkohol ganz ohne Halt, ein Spielball des Augenblicks – eine zerfahrene, jeder geringsten Basis entbehrende Existenz.
Das Konzertieren in dem jetzigen Serbien ist eine sehr schwierige Sache, weil die politischen Strömungen in den verschiedenen Gegenden verschieden sind.
Die Frage der Programme ist infolgedessen eine äußerst komplizierte.
All diese Schwierigkeiten zu überbrücken, die eventuell aufgeregten Gemüter zu beruhigen, dazu war mir «Okrepa» mitgegeben.
Als der Abend vorüber war und ich meine Empfindungen schilderte, gab man mir recht.
Aber ich kann sagen, daß ich nach dem entsetzlichen völkerentzweienden Krieg der Erste war, der in diesen Ländern wieder in deutscher Sprache sang und in der herzlichsten Weise aufgenommen wurde.
Was diese Nation im Kriege gelitten hat, ist ungeheuer, und doch habe ich bei niemandem ein Haßgefühl, eine ernstzunehmende, tiefgehende Abneigung gegen den ehemaligen Gegner beobachten können. – Der Krieg ist aus, all der Jammer ist vergessen. –
Speziell in Altserbien sind die Menschen wie die Kinder.
Hatte er Geld, freuten sich alle seine Freunde und lebten mit ihm in dulci jubilo – hatte er keines, so drückte ihn dies nicht weiter.
Okrepa, der Kriegsminister, bis zum Rande mit Okrepa gefüllt, wollte ihn befreien, und zu diesem Behufe alle Polizeiorgane des Ortes töten.
Mit diesen drei Menschen waren wir drei Wochen zusammen und kamen aus dem Lachen nicht heraus.
LazicOkrepa
Es war ganz unmöglich, etwas anderes zu erfahren, als wo der Sliwowitz gut, besser oder am besten sei.
Eine herrlich gelegene Stadt, die nur unter der Wucht des Krieges noch zum Teil zusammengebrochen daliegt, aber die sich schon streckt und dehnt, und deren ungezählte Neubauten ein Zeichen sind, daß sie in Bälde in strahlender Schönheit wieder erstehen wird.
Ich sah dort die erste Moschee, die einen tiefen Eindruck auf mich machte, trotz ihrer fast ärmlichen Beschaffenheit.
Sehr schöne Stunden verbrachten wir in Belgrad auf unserer österreichischen Gesandtschaft, wo wir schon beim Überschreiten der Schwelle ein warmes Heimatgefühl empfanden.
Der Rektor und einige Professoren begrüßten mich in der freundlichsten Weise, und die Stimmung im Saale war eine derart herzliche, daß ich mich kaum jemals wohler gefühlt habe als in diesem edlen, wundervoll akustischen Saale. –
Von Seiner Majestät dem König Alexander wurde ich zu einem Hofkonzert eingeladen, das mir eine sehr liebe Erinnerung bleiben wird.
Das Hofkonzert war nur für einen kleinen Kreis, Diplomatie, Hochwürdenträger und Generalität arrangiert und verlief sehr schön und ziemlich ungezwungen.
Während wir damals musizierten, trat die bildhaft schöne Kronprinzessin, jetzt Königin Maria, mit ihrem Töchterchen in den Salon.
Nun stand die eine als Königin vor mir, mein «Mäderl» ist schon Mutter, und die junge Königin sollte es damals in einigen Wochen werden.
Manchmal tritt der unselige Umstand ein, daß man das Publikum durch eine Absage enttäuschen muß.
Es war in Olmütz.
Erstens solle in der Zeitung gesagt werden, daß ich wirklich da sei. Und diese Zeitungsnotiz müsse ein Reklamespaziergang am Hauptplatz der Stadt unterstützen. –
Ich erteilte den ungläubigen Olmützern diesbezüglich einen Ordnungsruf und erklärte mich bereit, um jeden Argwohn zu bannen, mich im Hotel Bürgerhof von zwölf bis zwei Uhr öffentlich zu zeigen, und damit auch dem leisesten Mißtrauen der Boden entzogen werde, mich daselbst angreifen zu lassen, damit keiner sagen könne, ich sei ausgestopft oder nachgebildet.
Auch in meiner Heimatstadt Brünn war eine derartige Praterbudenacquisiteurunterstützung notwendig geworden, denn das Publikum glaubt so leicht, wenn man einmal krank wird und absagt, tue man dies nur, um es zu ärgern.
Meine Brünner Freunde richten es meist so ein, daß sie fortfahren, wenn ich dorthin komme. Sie sind der Anschauung, daß sie billiger davonkommen, wenn sie nach Kairo reisen, als wenn sie mich einmal zum Essen einladen.
Das sind Übertreibungen – denen ich beim besten Willen keinen Reiz abgewinnen kann.