Inhaltsübersicht

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-14231-4

ISBN E-Book 978-3-688-11801-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-11801-4

Der Magnet: Ein hilfloses Wesen, den Lebenskräften preisgegeben

Als Caroline Meeber in den Zug nach Chicago einstieg, bestand ihr ganzes Gepäck aus einem Köfferchen, einer Handtasche aus billigem imitiertem Krokodilleder, einem bescheidenen Frühstück in einer Pappschachtel und der gelben Lederbörse, die ihre Bahnkarte, einen Papierstreifen mit der Anschrift ihrer Schwester, van Burenstraße, und vier Dollar enthielt. Es war im August 1889. Carrie war achtzehn Jahre alt, aufgeweckt, schüchtern, von den Traumbildern der Unwissenheit und Jugend beseelt. Hatte sie beim Abschied irgendwie Schmerzliches empfunden, so gewiß nicht um der Vorteile willen, die sie aufgeben mußte. Als die Mutter sie zum Abschied küßte, schluchzte sie; es würgte sie im Hals, da sie an der Mühle vorbeifuhr, wo ihr Vater im Taglohn arbeitete; das vertraute Grün rings um das Dorf, das sie zum letztenmal sah, entlockte ihr einen Seufzer – und damit waren die Bande, die sie so lose mit der Mädchenzeit und ihrem Heim verknüpften, unwiderruflich zerrissen.

Freilich gab’s da noch immer die nächste Haltestelle, wo man aussteigen, umkehren konnte. Und eben durch diese täglich verkehrenden Züge wurde die große Stadt doch viel näher gerückt. Columbia war nicht so sehr weit – selbst wenn Carrie sich dann in Chicago befand. Was bedeuten denn ein paar Stunden – ein paar hundert Meilen? Sie blickte auf den Papierstreifen mit der Adresse ihrer Schwester und fragte sich, wie alles werden würde. Betrachtete die grüne, rasch vorüberziehende Landschaft, bis ihre rascher fliegenden Gedanken diese Eindrücke durch unbestimmte Vorstellungen von Chicago ersetzten.

Wenn ein Mädchen ihr Heim mit achtzehn Jahren verläßt, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder sie findet Schutz bei Freunden und wird besser, oder sie nimmt rasch den Tugendmaßstab der Großstadt an und wird schlechter. Keine Zwischenstufe unter solchen Umständen, die Gleichgewicht hielte. Die Stadt hat ihre schlauen Kniffe, nicht weniger als der unendlich kleinere und menschlichere Versucher. Gewaltige Kräfte locken mit all der Empfindungsstärke, die dem kultiviertesten menschlichen Geiste zu Gebote stehen. Das Schimmern von Tausenden von Lichtern ist oft ebenso wirkungsvoll wie das berückende Aufleuchten eines werbenden Auges. Die unerfahrenen und erdverbundenen Menschen werden zur Hälfte durch ganz übernatürliche Kräfte ins Verderben gestürzt. Aufrauschende Klänge, der Tumult des Lebens, die weitläufige Ansiedlung der Menschenbienen drängen sich den erstaunten Sinnen in fragwürdiger Weise auf. Ist nicht ein warnender, erklärender Berater zur Stelle – welch falsche Einflüsterungen können sich des unbewahrten Gemüts bemächtigen! Da sie nicht als das erkannt werden, was sie wirklich sind, bricht ihre Schönheit, wie Musik, zuerst allen Widerstand, macht schwach, um schließlich die schlichtere Einsicht zu verdrehen.

Caroline oder Schwester Carrie – so wurde sie fast zärtlich von der Familie genannt – war schlichten Sinnes, besaß nicht die Gabe analysierender Beobachtung. Auf ihr Wohl bedacht, aber nicht allzusehr. Trotzdem war dies ihre hervorstechende Charaktereigenschaft. Glühend von Jugendphantastereien, hübsch – die noch ausdruckslose Hübschheit der Entwicklungszeit – eine Gestalt, die versprach, Wohlgeformtheit zu gewinnen, in den Augen eine gewisse eingeborene Klugheit –, stellte sie ein bezeichnendes Beispiel dar der amerikanischen Mittelklasse, zwei Generationen nach der Einwanderung. Das Lesen guter Bücher ging über ihr Interessengebiet hinaus – Wissen war ihr ein verschlossenes Buch. Unmittelbar wirkende Grazie war ihr noch nicht verliehen. Sie vermochte kaum ihren Kopf anmutig zu neigen. Ihre Hände übten noch keine Wirkung aus. Die kleinen Füße setzte sie kindlich-flach auf den Boden. Und doch beschäftigten sie ihre Gaben, rasch faßte sie auf, was das Leben an kräftigen Freuden bot, und hatte den Ehrgeiz, materielle Güter zu erringen. Ein schlecht gerüsteter kleiner Ritter, der sich auf Kundschaft in die geheimnisvolle Stadt wagte. Carrie träumte wilde Träume von einer dunklen, weitentfernten Macht, die ihr die Stadt als Beute zu Füßen warf, als demütig vor dem Pantoffel einer Frau kriechenden Büßer.

«Dies», sagte ihr eine Stimme ins Ohr, «ist einer der schönsten Badeorte Wisconsins.»

«So?» erwiderte sie nervös.

Der Zug rollte eben aus Waukesha hinaus. Schon seit einer Weile war sie sich der Anwesenheit eines Mannes bewußt. Sie fühlte, daß er ihr reiches Haar bewunderte. Er rückte auf seinem Platz unruhig hin und her – sie spürte sofort seine wachsende Teilnahme. Ihre mädchenhafte Zurückhaltung und ein gewisser Sinn für das der Sitte gemäß in diesem Falle Passende rieten ihr, im voraus jede Vertraulichkeit abzuwehren. Doch die Keckheit und magnetische Kraft des Mannes, gewonnen aus Erfahrungen und Siegen, waren stärker. Sie antwortete.

Er lehnte sich vor, legte die Ellbogen auf die Rückenlehne ihres Sitzes, gewillt, sich durch Beredsamkeit angenehm zu machen.

«Ja, das ist ein großer Badeort für die Leute aus Chicago. Prachtvolle Hotels. Sie kennen diesen Teil des Landes wohl nicht?»

«O doch», sagte Carrie. «Das heißt, ich wohne in Columbia. Bin hier noch nie vorbeigefahren.»

«Und das ist also Ihr erster Besuch in Chicago», bemerkte er.

Die ganze Zeit über drängten sich ihr gewisse Züge auf – sie blickte ihn nur von der Seite an. Frische, stark gefärbte Wangen, ein blonder Schnurrbart, ein weicher grauer Filzhut. Jetzt wendete sie sich, schaute ihm in die Augen. Instinkt des Selbstschutzes und Koketterie spielten verwirrt in ihrem Kopfe.

«Das habe ich nicht gesagt», meinte sie.

«Oh», erwiderte er sehr freundlich und mit der Miene, sich geirrt zu haben, «ich dachte».

Der Mann war der Typus des Geschäftsreisenden – eine Klasse, die der Modejargon jener Zeit «Commis voyageur» nannte. Er fiel auch unter eine noch neuere Bezeichnung, die im Jahre 1880 in Amerika allgemein gebraucht wurde und abkürzend ausdrückte: einer, der durch Kleidung und Manieren die Bewunderung empfindsamer junger Frauen erregen will – ein «Nachsteiger». Sein Anzug aus braunem Tuch wies das gekreuzte Streifenmuster auf, das, damals neu, seither die Kleidung des Geschäftsmannes kennzeichnet. Der tiefe Westenausschnitt enthüllte eine steife Hemdbrust mit weißen und rosafarbenen Streifen. Aus den Rockärmeln guckten ein Paar gleichgemusterte Leinenmanschetten hervor. Große goldene Knöpfe mit gewöhnlichen gelben Achaten, als Katzenaugen bekannt, bildeten den Verschluß. An seinen Fingern trug er mehrere Ringe – einer davon der ewig haltbare schwere Siegelring. Über der Weste schaukelte eine stattliche goldene Uhrkette, und an ihr hingen die geheimen Abzeichen der «Elk»-Vereinigung. Der Anzug saß knapp. Filzhut. Er war, im Rahmen seines Intelligenzgrades, anziehend, und was ihm als Empfehlung dienen konnte, war an Carrie beim ersten Blick nicht verschwendet.

Für den Fall, daß diese Menschengattung dauernd verschwinden sollte, möchte ich einige eigenartige Züge ihres erfolgreichen Verfahrens festhalten. Die Hauptsache natürlich: elegante Kleidung – ohne die war der Mann nichts. Dann: ein kräftiger Körper, von starkem Begehren dem Weiblichen zugetrieben. Ein Geist, dem es fernliegt, über die Probleme oder wirkenden Kräfte der Welt nachzudenken – ihn jagte nicht häßliche Gier, aber eine unersättliche Leidenschaft für wechselnde Vergnügungen. Seine Methode war immer einfach. Ihr Hauptelement: Kühnheit, durch sein Begehren und die Bewunderung für das weibliche Geschlecht unterstützt. Begegnet er einmal einer jungen Frau, pflegt er sich ihr mit freundlicher Vertraulichkeit zu nähern, in die sich etwas wie Bitte mischt – meistens führt dies zu nachsichtigem Gewähren. Zeigt sie Neigung zu Koketterie, dann wagt er, ihr die Schleife am Halsausschnitt zu richten oder, wenn sie auf ihn «fliegt», sie bei ihrem Taufnamen zu nennen. Spricht er in einem Geschäft vor, lehnt er sich gemütlich über den Ladentisch, stellt die notwendigen Fragen. In höheren Kreisen, in der Eisenbahn oder auf Haltestellen geht er vorsichtiger zu Werke. Sobald eine anscheinend verwundbare Person auftaucht, ist er ganz Aufmerksamkeit – ergeht sich in den zur Zeit beliebten Komplimenten, führt sie in das Salonabteil, trägt ihre Handtasche oder, ist dies nicht möglich, setzt er sich neben sie, in der Hoffnung, ihr bis zum Reiseziel den Hof machen zu dürfen. Kissen, Bücher, ein Fußschemel, Lampenschirm herunterziehen – das alles liegt im Bereich seines Könnens. Langt sie an ihrem Ziele an und er steigt nicht mit ihr aus, um ihr beim Tragen des Gepäcks zu helfen, so geschieht es nur, weil er, seiner eigenen Meinung nach, klar versagt hat.

Eine Frau sollte eines Tages eine ausführliche Philosophie der Kleider schreiben. Wenn sie auch noch so jung ist – da kennt sie sich aus. In der Kleidung eines Mannes gibt es ein unbeschreibliches Etwas, das für die Frau häufig die ansehenswerten Leute von den anderen trennt. Hat ein Mann einmal die Grenze nach abwärts überschritten – sie würdigt ihn keines Blickes! Dann bewirkt etwas in der Männerkleidung auch, daß die Frau ihre eigene Toilette genauer prüft. Der Mann, der an Carries Seite saß, übte eine solche Wirkung aus. Sie wurde sich der Ungleichheit bewußt. Ihr einfaches blaues Kleid mit den schwarzen Schnurverzierungen erschien ihr jetzt schäbig. Sie fühlte, daß ihre Schuhe abgetragen waren.

«Nun, ich kenne ja eine ganze Menge Leute in Ihrer Stadt. Den Kleiderhändler Morgenroth und den Tuchhändler Gibson.»

«Oh, wirklich?» Und in ihr erwachte die Erinnerung an Wünsche, die sie vor den Schaufenstern dieser Kaufleute empfunden.

Jetzt hatte er endlich das Stichwort und ließ sich geschickt von ihm leiten. In wenigen Minuten saß er dicht neben ihr. Schwatzte von Gelegenheitskäufen in der Kleiderbranche, seinen Reisen, Chicago und den Unterhaltungen dieser Stadt.

«Sie werden sich großartig amüsieren. Haben Sie dort Verwandte?»

«Ich fahre zu meiner Schwester auf Besuch», erklärte sie.

«Sie müssen in den Lincolnpark und auf den Michiganboulevard gehen. Da stellen sie jetzt große Gebäude hin. Ein zweites New York – grandios! So viel zu sehen – Theater, die Menschenmenge, schöne Häuser –, oh, es wird Ihnen schon gefallen.»

Als sie seine Beschreibung hörte, gab es ihr einen kleinen Stich. Dunkel fühlte sie ihre Bedeutungslosigkeit angesichts solcher Pracht. Sie wußte, daß ihr Leben nicht ein Kreislauf toller Freuden sein werde. Und doch lag in dem Bilde, das er vor ihr entrollte, etwas Verheißungsvolles. Es mußte sie doch freuen, die Aufmerksamkeit dieses schöngekleideten Herrn erregt zu haben. Als er ihr von einer beliebten Schauspielerin erzählte, an die sie ihn erinnere, lächelte sie. Sie war nicht dumm. Aber Aufmerksamkeiten solcher Art besaßen schon einigen Wert.

«Sie bleiben doch eine Zeitlang in Chicago?» bemerkte er bei einer Wendung des nun leicht dahinfließenden Gesprächs.

«Ich weiß nicht», sagte Carrie unsicher. – Sie dachte an die Möglichkeit, keine Arbeit zu finden.

«Doch gewiß einige Wochen», sagte er und blickte ihr gerade in die Augen.

Zwischen ihnen war jetzt schon viel mehr, als die Worte andeuteten. Er erkannte das Unbeschreibliche ihrer Anziehungskraft und Schönheit. Sie wurde sich klar, daß sie ihm gefiel – von dem einen Gesichtspunkt aus, der eine Frau zugleich entzückt und in Angst versetzt.

Sie war aus dem Grunde einfach, weil sie die vielen kleinen Kunstgriffe noch nicht gelernt hatte, mit deren Hilfe die Frauen ihre wahren Empfindungen verbergen. Manches, was sie tat, wirkte kühn. Eine kluge Freundin – hätte sie je eine besessen – würde sie davor gewarnt haben, einem Manne so fest und gerade ins Auge zu schauen.

«Weshalb fragen Sie?»

«Nun, ich werde mich da einige Wochen aufhalten. Will unser Warenlager gründlich kennenlernen und neue Muster holen. Ich könnte Ihnen die Stadt zeigen.»

«Ich weiß nicht, ob Sie – ob ich das annehmen darf. Ich werde bei meiner Schwester wohnen und –»

«Na, wenn sie was dagegen hat – das wollen wir schon in Ordnung bringen.»

Er zog einen Bleistift und Notizbuch hervor, als wäre alles abgemacht.

«Wie ist Ihre Adresse?»

Sie nestelte an ihrer Börse. Er holte eine fette Brieftasche hervor. Sie war mit Papierzetteln, einigen Eisenbahnführern, einer Rolle grüner Dollarnoten angefüllt und machte auf Carrie tiefen Eindruck. Keiner, der ihr bisher Höflichkeit erwiesen, hatte so eine Brieftasche besessen. Ein so erfahrener Reisender, ein so gewandter Weltmann war ihr noch nie nahegekommen. Die Brieftasche, die glänzendbraunen Schuhe, der fesche neue Anzug – die Art, mit der er alles tat – zauberten ihr in noch unklaren Umrissen eine Welt behaglichen Glücks vor, deren Mittelpunkt er bildete. Deshalb fühlte sie sich allem, was er unternehmen mochte, von vornherein freundlich abwartend geneigt.

Er zeigte ihr eine nette Geschäftskarte, auf der stand: Bartlett, Caryoe und Co., und in der linken Ecke Chas. H. Drouet.

«Das bin ich», sagte er, deutete auf den Namen und gab ihr die Karte in die Hand. «Wird ausgesprochen: Dru-eh. Unsere Familie war väterlicherseits französischer Abstammung.»

Sie blickte darauf, während er die Brieftasche einsteckte. Dann entnahm er einem Häufchen von Schriftstücken aus seinem Rocke einen Brief.

«Das ist die Firma, für die ich reise», er zeigte ihr eine Abbildung, «an der Ecke zwischen Staats- und Seestraße.» Aus seiner Stimme hörte man Stolz. Er fühlte: es heißt schon was, mit solch einem Haus in Verbindung zu stehen. Und er ließ das Mädchen auch so fühlen.

«Ihre Adresse?» begann er von neuem, mit gezücktem Bleistift.

Sie schaute auf seine Hand. «Carrie Meeber», sagte sie langsam.

«Dreihundertvierundfünfzig West van Burenstraße, bei S.C. Hanson.»

Er schrieb es sorgfältig nieder. «Werden Sie zu Hause sein, wenn ich Montag abend komme?»

«Ich denke schon.»

Wie wahr ist es, daß Worte nur die Schatten dessen sind, was sie bedeuten. Kleine hörbare Bande – sie ketten große unhörbare Empfindungen und Absichten aneinander. Da waren diese zwei Menschen, tauschten kurze Sätze, zogen Brieftaschen, schauten Karten an – beide unbewußt, wie wenig sie damit ihren wirklichen Gefühlen Ausdruck verliehen. Keiner von ihnen war klug genug, zu erraten, was im Geist des andern vorging. Er konnte nicht sagen, wie weit seine Verlockung von Erfolg begleitet war. Sie erkannte nicht, daß sie ihm zutrieb – bis er ihre Anschrift hatte. Da fühlte sie, daß sie etwas hatte – er, daß er einen Sieg errungen. Schon empfanden sich beide als irgendwie verbunden. Schon war er es, der das Gespräch lenkte. Seine Worte plätscherten fröhlich. Ihre Haltung war die wohligen Geschehenlassens.

Sie näherten sich Chicago. Überall zahlreiche Geschäftsreklamen. Züge blitzten vorüber. Auf weiten Strecken flachen offenen Landes sahen sie Telegraphenstangen über Wiesen der großen Stadt zueilen. Weithin Anzeichen von Vororten – dichte Rauchschwaden, die sich hoch in die Luft aufwälzten.

Oft standen zweistöckige Blockhäuser im offenen Felde, ohne Einzäunung, ohne Baumschutz – einsame Vorposten der nahenden Häuserarmee.

Dem Kinde, dem mit Einbildungskraft begabten Genie, oder dem Menschen, der noch nie gereist ist, bedeutet die erste Annäherung an eine große Stadt etwas Wunderbares. Besonders gegen Abend – der geheimnisvollen Zeit zwischen Licht und Dunkel der Welt –, wenn das Leben aus einer Sphäre oder einem Zustand in einen andern übergeht. Oh, Verheißung der Nacht! Was ist sie dem Müden! Welch alter, ewig-erneuter Hoffnungswahn! Die Seele des müden Arbeiters sagt sich: bald werde ich frei sein. Auf den Wegen der Fröhlichen werde ich wandeln, in ihrer Gästeschar weilen. Die Straßen, die Lichter, das hell beleuchtete Zimmer, in dem der Tisch gedeckt ist – alles für mich. Theater, Hotelhallen, Gesellschaft – Stätten der Muße und sangdurchwobene Pfade – mein in der Nacht. Obgleich die ganze Menschheit noch in den Geschäften eingeschlossen ist, dringt Erregung schon nach außen. Sie liegt in der Luft. Selbst die Abgestumpftesten fühlen etwas, was sie nicht immer auszudrücken oder zu beschreiben vermögen. Die Bürde wird leichter.

Schwester Carrie blickte aus dem Fenster. Ihrem Gefährten, der von ihrem Staunen gerührt war – so ansteckend sind Gefühle –, erschien die Stadt in neuem Reiz und er zeigte Carrie ihre Wunder.

«Das ist Nordwest Chicago. Dort der Strom», und er wies ihr ein schlammiges Flüßchen, auf dem Wanderer aus fernen Gewässern mit gewaltigen Masten dem Ufer hinter schwarzen Pfosten zustrebten. Ein Schnauben, Rasseln, Schienenklappern, und es war vorüber. «Chicago wird eine große Stadt», fuhr er fort. «Ein Wunder. Sie werden eine Menge zu sehen finden.»

Sie hörte es kaum. Angst verwirrte sie. Nun fühlte sie erst, daß sie sich allein, fern von der Heimat, in ein Meer von Leben und Wagnis stürzte. Der Atem stockte – ihr wurde ganz schwach, so heftig klopfte ihr Herz. Sie schloß die Augen halb, versuchte zu denken, es sei nichts – Columbia war ja gar nicht so entfernt.

«Chicago! Chicago!» rief der Schaffner und riß die Tür auf. Nun fuhren sie in eine vom Klang und Geräusch des Lebens, von vielen Menschen erfüllte Halle ein. Carrie ergriff ihre arme kleine Tasche, schloß die Hand fest um die Börse. Drouet erhob sich, reckte die Beine, um die Hosen gerade zu richten, und packte sein sauberes gelbes Lederköfferchen.

«Ihre Verwandten werden Sie wohl erwarten? Darf ich Ihre Tasche tragen?»

«O nein. Bitte nicht. Es wäre mir lieber, meine Schwester erblickte Sie nicht an meiner Seite.»

«Schön», meinte er gutmütig. «Doch ich will in der Nähe bleiben – für den Fall, daß sie nicht da ist – und Sie dann hinausbegleiten.»

«Sie sind so freundlich», sagte Carrie. Sie empfand wohltuend seine Aufmerksamkeit in ihrer seltsamen Lage.

«Chicago!» rief der Schaffner langgezogen. Sie befanden sich unter einem großen, schattenspendenden Perrondach. Schon begannen die Lampen aufzuleuchten, überall standen Waggons, der Zug fuhr im Schneckentempo. Die Reisenden drängten an die Türen.

«Na – da wären wir ja», sagte Drouet. «Auf Wiedersehen, am Montag.»

«Leben Sie wohl», sagte sie und drückte die ihr gereichte Hand.

«Und vergessen Sie nicht: ich werde aufpassen, bis Sie Ihre Schwester finden.»

Sie lächelte ihm in die Augen. Sie gingen hinaus; er tat, als beachte er sie nicht. Eine recht gewöhnlich aussehende Frau mit magerem Gesicht eilte Carrie auf dem Bahnsteig entgegen.

«Da bist du ja, Schwester Carrie!» Und die übliche Begrüßungsumarmung.

Carrie fühlte sofort, wie sehr sich die zärtliche Stimmung um sie gewandelt hatte. Inmitten des Lärmes, all des Neuen, faßte die kalte Wirklichkeit sie an der Hand. Nicht eine Welt von Licht und Vergnügen. Keine Freudenrunde. Ihre Schwester schleppte die Härte von Müh und Arbeit mit sich.

«Wie geht’s daheim? Vater – Mutter?» Carrie antwortete, aber sah von der Schwester fort. Rückwärts in der Halle, nahe am Gitter, das zum Warteraum und der Straße führte, stand Drouet. Er schaute zurück. Als er merkte, daß sie ihn erblickt hatte, nun bei ihrer Schwester untergebracht, wendete er sich zum Gehen und spendete ihr den Schatten eines Lächelns. Nur Carrie sah es. Als er fort war, schien ihr, sie hätte etwas verloren.

Sie empfand seine Abwesenheit im Innersten. Mit ihrer Schwester war sie sehr allein, ein einsames Wesen auf wildbewegter, gleichgültiger See.

Was Armut androht: Granit und Messing

Minnies Wohnung lag in einem Teil der West van Burenstraße, der von Arbeiter- und Beamtenfamilien bewohnt wurde, von Leuten, die mit der um beiläufig 50000 jährlich steigenden Einwohnerzahl gekommen waren und immer noch kamen. Die Wohnung lag im dritten Stock, die Vorderfenster gingen auf die Straße, wo am Abend die Lichter der Lebensmittelläden leuchteten und Kinder spielten. Carrie dünkte das ertönende und verhallende Klingeln der Pferdebahnglöckchen ebenso hübsch wie neu. Als Minnie sie in das Vorderzimmer führte, blickte sie auf die erhellte Straße hinunter, staunte über all die Geräusche, die Bewegung, das Summen der gewaltigen Stadt, die sich in jeder Richtung Meilen und Meilen weit erstreckte.

Nach Erledigung der ersten Begrüßungsworte gab Frau Hanson Carrie das Kind und begann das Abendmahl zu bereiten. Ihr Mann hatte einige Fragen gestellt, setzte sich dann, seine Zeitung zu lesen. Ein schweigsamer Mann, in Amerika geboren; sein Vater war Schwede. Seine Arbeit bestand jetzt darin, die Kühlwagen auf dem Viehmarkt zu reinigen. Ob die Schwester seiner Frau da war oder nicht, war ihm gleich. Ihr Äußeres machte auf ihn keinen wie immer gearteten Eindruck. Seine einzige Bemerkung zur Sache bezog sich auf die Möglichkeit, in Chicago Arbeit zu finden.

«Eine große Stadt», sagte er. «In ein paar Tagen kannst du schon etwas finden. Jeder kann das.»

Ohne viel Worte wurde vorausgesetzt, daß Carrie arbeiten und ihre Unterkunft und Nahrung zahlen werde. Der Mann war ehrlich, moralisch sauber, sparsam und hatte bereits eine Anzahl von Monatsraten auf zwei Grundstücke weit draußen im Westen erlegt. Sein Ehrgeiz ging dahin, eines Tages dort ein Haus zu bauen.

Während der Zubereitung des Mahles hatte Carrie Zeit, die Wohnung genau anzusehen. Sie hatte die Fähigkeit, die jeder Frau in so reichem Maße eignet: intuitive Beobachtungsgabe. Im Heim ihrer Schwester spürte sie den öden Kreislauf eines kärglichen und engbegrenzten Daseins. Die Tapeten stimmten nicht zueinander. Die Zimmerböden waren mit Strohmatten bedeckt, in der Halle lag ein dünner, verschlissener Teppich. Die Möbel gehörten offenbar zu jener armseligen, hastig zusammengestellten Art, wie sie auf Raten verkauft wird.

Sie saß mit Minnie in der Küche und hielt das Kind, bis es zu weinen anfing. Dann ging sie mit ihm auf und ab, sang ihm vor. Hanson, der im Lesen gestört wurde, trat hinzu und nahm es ihr ab. Ein angenehmer Zug seines Charakters kam zum Vorschein: er war geduldig. Hatte sein Kind wohl sehr gern.

«Su, Su», machte er im Gehen, «Su, Su», und in seiner Stimme lag etwas wie ein schwedischer Akzent.

«Wirst dir wohl zuerst die Stadt ansehen wollen, nicht?» sagte Minnie beim Essen. «Na, am Sonntag wollen wir in den Lincolnpark.»

Carrie bemerkte, daß Hanson sich nicht dazu äußerte. Es war, als dächte er an etwas anderes.

«Ja», meinte Carrie, «ich will mich morgen ein wenig umtun. Habe ja Freitag und Sonnabend vor mir – es wird nicht schwer für mich sein. Wie kommt man in das Geschäftsviertel?»

Minnie begann zu erklären, doch ihr Mann zog das Gespräch an sich.

«In dieser Richtung», sagte er, nach Osten weisend. Dann erging er sich in der längsten Rede, die er bis jetzt gehalten, und schilderte die Lage von Chicago. «Du wirst gut tun, in den großen Geschäftshäusern an der Franklinstraße und am anderen Flußufer nachzufragen. Masse Mädel arbeiten dort. Kannst von dort auch leicht heimfahren. Es ist nicht sehr weit.»

Carrie nickte und fragte ihre Schwester über die Nachbarn aus. Minnie sprach jetzt leise, erzählte das Wenige, was sie wußte, während Hanson sich mit dem Kinde beschäftigte. Schließlich sprang er auf, übergab das Kind seiner Frau.

«Ich muß früh morgen aufstehen, deshalb will ich nun zu Bett gehen», und verschwand für die Nacht in dem kleinen dunklen Schlafzimmer hinter der Halle.

«Er arbeitet ziemlich weit von hier, auf dem Viehmarkt», erklärte Minnie, «deshalb muß er um halb sechs aufstehen.»

«Wann stehst du auf, das Frühstück zu machen?» fragte Carrie.

«Etwa zwanzig Minuten vor fünf.»

Sie beendeten gemeinsam die Tagesarbeit, Carrie wusch die Teller, Minnie zog das Kind aus, brachte es zu Bett. Sie zeigte in ihrem Gehaben geübten Fleiß und Carrie erkannte, daß ständige Arbeit ihr Leben ausmachte.

Sie sah auch ein, daß sie auf ihre Beziehung zu Drouet werde verzichten müssen. Hier konnte er sie nicht besuchen. Aus Hansons Betragen, der gedämpften Art von Minnie, aus der ganzen Atmosphäre der Wohnung schloß sie auf entschiedenen Widerstand gegen alles, was nicht der hergebrachte Arbeitstrott war.

Wenn Hanson jeden Abend im Vorderzimmer saß und seine Zeitung las, um neun Uhr, Minnie etwas später zu Bett ging – was würden sie von ihr erwarten? Sie begriff, daß sie zuerst werde Arbeit finden, sich als zahlungsfähig werde erweisen müssen, ehe sie an Gesellschaft irgendeiner Art denken durfte. Ihr kleiner Flirt mit Drouet schien ihr jetzt etwas Unangemessenes.

«Nein», sagte sie sich, «hierher darf er nicht kommen.»

Sie bat Minnie um Tinte und Papier, die auf dem Kaminsims im Eßzimmer lagen, und als Minnie um zehn schlafen gegangen war, zog Carrie Drouets Karte hervor und schrieb ihm.

«Sie dürfen mich nicht hier besuchen. Müssen warten, bis Sie wieder von mir hören. Die Wohnung meiner Schwester ist so klein.»

Nun grübelte sie, was sie noch hinzufügen sollte. Gerne hätte sie eine Anspielung auf ihr Gespräch im Zug gemacht, war aber zu schüchtern dazu. Sie schloß, indem sie ihm ungeschickt für seine Güte dankte. Die Endformel bereitete ihr Kopfzerbrechen – schließlich entschied sie sich für ein würdevolles «mit besten Empfehlungen», das sie dann in «freundliche Grüße» umwandelte. Sie siegelte den Brief, schrieb die Adresse, ging in das Vorderzimmer, in dessen Nische ihr Bett stand, zog den einzigen, kleinen Schaukelstuhl an das offene Fenster und saß da, schaute in wachsendem Staunen in die Nacht, auf die Straße hinaus. Zuletzt ermüdete sie das Nachdenken, wurde ihr auch ein wenig langweilig, und da sie schläfrig war, entkleidete sie sich und ging zur Ruhe.

Als sie am nächsten Morgen um acht erwachte, hatte Hanson sich schon zur Arbeit begeben. Ihre Schwester nähte im Eßzimmer, das zugleich Wohnzimmer war. Nachdem Carrie sich angekleidet hatte, bereitete sie ein bescheidenes Frühstück, dann fragte sie Minnie um Rat, wohin sie sich zuerst wenden sollte, Minnie hatte sich sehr verändert, seitdem Carrie sie zuletzt gesehen. Jetzt war sie eine zarte, wenn auch kräftige Frau von siebenundzwanzig Jahren. Die Ideen ihres Gatten färbten auf ihre Lebensanschauungen ab. Härter geworden, hatte sie eine enger begrenzte Auffassung von Vergnügen und Pflicht, als je in ihrer so bedrückten Jugend. Sie lud Carrie nicht ein, weil sie sich nach ihr sehnte, sondern weil Carrie daheim unzufrieden war, hier wahrscheinlich Arbeit finden und Pension zahlen konnte. Gewiß freute sie sich auch über die Anwesenheit der Schwester. Doch was die Arbeit anlangte, teilte sie ganz die Meinung ihres Mannes. Alles war gut genug, solange es etwas – sagen wir anfangs fünf Dollar die Woche – eintrug.

«Ladenmädchen», dies Schicksal wurde für Carrie in Aussicht genommen. Sie sollte in eines der großen Geschäftshäuser eintreten, dort würde es ihr ganz gut gehen, bis – nun, bis sich etwas ereignete. Keiner von ihnen wußte genau, was eigentlich. Sie dachten nicht an eine Verbesserung. Zählten nicht gerade auf eine Heirat. Die Dinge würden so – irgendwie – weitergehen – bis zufällig das Bessere eintreten und Carrie für ihr Kommen und ihren Fleiß in der Stadt belohnt würde. Unter solch verheißungsvollen Umständen machte sie sich am Morgen auf die Suche.

Ehe wir ihr folgen, wollen wir einen Blick auf die Umgebung werfen, in der sich ihre Zukunft abspielen sollte. Im Jahre 1889 hatte Chicago die dem Anwachsen eigentümlichen Eigenschaften, die so abenteuerliche Pilgerfahrten selbst ganz junger Mädchen erklären. Die zahlreichen, immer zunehmenden geschäftlichen Möglichkeiten erwarben der Stadt einen bis in die Ferne dringenden Ruhm, der sie zu einem Riesenmagnet machte – von allen Seiten zog er die Menschen an. Hoffnungsvolle, Hoffnungslose – die ihr Glück erst noch suchen mußten und solche, deren Schicksal und Geschäfte schon irgendwo anders gestrandet waren. Eine Stadt von über fünfhunderttausend Einwohnern mit dem Ehrgeiz, dem Wagemut, der Arbeitskraft einer Millionenstadt. Straßen und Häuser waren schon über ein Gebiet von fünfundsiebzig Quadratmeilen verstreut. Die Bevölkerung wurde nicht so sehr durch den schon bestehenden Handel, als vielmehr durch jene Industrien wohlhabend, die die Ankunft neuer Einwohner vorbereiteten. Überall erklangen die Hämmer bei der Errichtung neuer Gebäude. Gewaltige Betriebe entstanden. Die riesigen Eisenbahngesellschaften, die schon lange vorher die günstigen Aussichten der Stadt erkannt hatten, bemächtigten sich großer Strecken zur Überführung und Verladung von Waren. Straßenbahnlinien wurden weit in das offene Land hinausgeführt, da man ein rasches Anwachsen der Stadt voraussah. Meilen und Meilen von Straßen und Kanälen legte man durch Gebiete, in denen vielleicht ein einziges Haus allein dastand – Pionier für die zahlreiche kommende Einwohnerschaft. Es gab offene, dem Sturmwind und Regen preisgegebene Gebiete, die nachts noch durch lange im Winde flackernde Gaslampenreihe erleuchtet wurden. Schmale Brettersteige zogen sich hier vor einem Hause hin, da vor einem Geschäft, in weiten Zwischenräumen, und endeten manchmal auf offenen Grasflächen.

Im Mittelpunkt der Stadt befand sich der Engroshandel und das Geschäftsviertel, wohin der nicht eingeweihte Arbeitsuchende gewöhnlich zuerst verschlagen wurde. Damals war es ein für Chicago bezeichnendes, anderen Städten gewöhnlich fehlendes Merkmal, daß bedeutendere Firmen eigene Gebäude innehatten. Es war möglich, da es so viel Platz gab, und verlieh den meisten Engrosgeschäften, deren Bureaus zu ebener Erde lagen und von der Straße aus gesehen werden konnten, ein stattliches Aussehen. Die großen, jetzt so bekannten Spiegelfenster kamen damals rasch in Gebrauch. Die Bureaus im Untergeschoß machten deshalb einen vornehmen und wohlhabenden Eindruck. Der Wanderer konnte im Vorbeischreiten eine elegante Einrichtung, viel mattes Glas, fleißig arbeitende Angestellte, noble Kaufleute in ebenso noblen Anzügen und sauberer Wäsche sehen, die herumlungerten oder in Gruppen zusammensaßen. Glänzende Messing- oder Nickelplatten an dem viereckigen Steintor kündigten in höflichen und zurückhaltenden Worten die Firma und die Art des Geschäftes an. Das ganze Zentrum sah hochmütig und vornehm aus, berechnet, dem gewöhnlichen Bittsteller Angst einzujagen, ihn ganz klein zu machen, die Kluft zwischen Armut und Erfolg weit und tief erscheinen zu lassen.

In dieses wichtige Geschäftsquartier wagte sich die schüchterne Carrie vor. Sie ging die van Burenstraße in östlicher Richtung entlang, durch eine weniger bemerkenswerte Gegend, die in eine Masse von Blockhäusern und Kohlenhöfen ausläuft und schließlich am Fluß aufhört. Tapfer schritt Carrie vorwärts. Es trieb sie der ehrliche Wunsch, Arbeit zu finden. Doch bei jedem Schritte mußte sie stehenbleiben, eine Szene zu betrachten, die sie besonders anzog, und inmitten von so viel offensichtlicher Macht, die sie nicht begriff, überkam sie ein Gefühl der Hilflosigkeit. Was waren das für große Gebäude? Diese seltsam gewaltigen Interessen und Kräfte – welchem Zwecke dienten sie? Sie hätte den Sinn einer Steinschneidewerkstätte in Columbia begreifen können, in der kleine Marmorstücke zu persönlichem Gebrauch zerschnitten werden. Doch als die Arbeitsplätze irgendeiner ungeheuren Steinwarengesellschaft in Sicht kamen, voller Geleise und Waggons, flußwärts von Docks durchschnitten, auf denen sich gewaltig rollende Krane aus Holz und Stahl in die Luft reckten – da verlor dies in ihrer kleinen Welt jede Bedeutung.

So ging es ihr mit den großen Rangierbahnhöfen, den dichten Massen von Schiffen auf dem Flusse, den riesigen Fabrikanlagen jenseits der Straße, am Wasser entlang. Durch die offenen Fenster konnte sie die Gestalten von Männern und Frauen in Arbeitsschürzen erblicken, die geschäftig ab und zu eilten. Die breiten Straßen schienen ihr ummauerte Geheimnisse, die großen Bürohäuser Labyrinthe, die nur ein paar wichtige Menschen angingen, irgendwo. Die Leute, die damit zu tun hatten, konnte sie sich nur so vorstellen: Geld zählend, prachtvoll gekleidet, in Wagen fahrend. Womit sie handelten, wie und wozu sie arbeiteten – davon hatte sie nur eine ganz dunkle Vorstellung. Es war alles wundervoll, alles gewaltig, alles sehr weit von ihr, und im Innersten fühlte sie sich entmutigt. Das Herz klopfte ihr ängstlich, wenn sie daran dachte, irgendeines dieser mächtigen Gebäude zu betreten und dort um Arbeit zu bitten – um etwas, was sie tun konnte – irgend etwas.

Wir fordern vom Schicksal: Vier Dollar fünfzig die Woche

Als sie nun über den Fluß in das Engrosviertel gelangte, blickte sie um sich – an welche Tür sollte sie pochen? Sie betrachtete die großen Fenster und achtunggebietenden Schilder und ihr wurde bewußt, daß man sie ansah; erkannte, was sie war – ein Lohnsklave. Noch nie vorher hatte sie das getan, der Mut fehlte ihr. Um einer gewissen unerklärlichen Demütigung zu entgehen, da sie dabei ertappt wurde, nach einer Stellung auszulugen, beschleunigte sie ihre Schritte, nahm eine gleichgültige Miene an, wie sie scheinbar jenen eignet, die irgendeine Besorgung machen. Auf diese Weise ging sie an zahlreichen Engroshäusern und -geschäften vorüber, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Doch nachdem sie einige Blocks weit gegangen, fühlte sie, daß dies nicht das richtige sei, und begann von neuem Umschau zu halten, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Etwas weiter erblickte sie eine große Tür, die aus irgendeinem Grunde ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie war mit einer schmalen Messingplatte geschmückt und schien der Eingang zu einem gewaltigen Bienenstock von sechs oder sieben Stockwerken zu sein. Vielleicht, dachte Carrie, können die mich brauchen, und überquerte die Straße, um einzutreten. Etwa zwanzig Schritte von dem ersehnten Ziel entfernt, sah sie durch das Fenster einen jungen Mann in einem grauen, schachbrett-gemusterten Anzug. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, ob er irgendwie mit der Firma verbunden war, doch da er zufällig in ihre Richtung schaute, ließ ihr schwaches Herz sie im Stich – sie lief davon, zu überwältigt von Scham, um einzutreten. Gegenüber stand ein großes, sechs Stock hohes Gebäude, mit dem Schild «Storm und King», das sie von Hoffnung belebt anblickte. Ein Engros-Kleidergeschäft, das Frauen anstellte. Carrie konnte sie im oberen Stockwerk auf und ab eilen sehen. Hier wollte sie eintreten – um jeden Preis! Sie schritt über die Straße, gerade auf den Eingang zu. In diesem Augenblick traten zwei Männer heraus, machten an der Tür halt. Ein blaugekleideter Telegrammbote flitzte an ihr vorüber, die wenigen Stufen zum Eingang hinauf, verschwand. Einige Leute aus der hastenden Menge, die die Fußbahn füllte, eilten an der Zögernden vorüber. Hilflos blickte sie um sich, wich zurück, da sie sich beobachtet fühlte. Die Aufgabe war zu schwer. Sie konnte nicht an den Leuten vorüber.

Diese Niederlage griff ihre Nerven furchtbar an. Mechanisch schleppte sie sich vorwärts. Jeder Schritt Teil einer Flucht, die sie erleichterten Herzens unternahm. Ein Häuserblock nach dem andern. Auf Straßenlaternen, an den verschiedenen Ecken las sie Namen: Madison, Monroe, La Salle, Clark, Dearborn, State – und ging weiter. Ihre Füße ermüdeten auf dem holprigen Steinpflaster. Aber wenigstens freuten sie die hellen, sauber gehaltenen Straßen. Die mit stetig wachsender Wärme scheinende Morgensonne ließ die Schattenseite angenehm kühl empfinden. Carrie blickte zum blauen Himmel empor, er dünkte sie schöner als je zuvor.

Sie ärgerte sich jetzt ein wenig über ihre Feigheit. Kehrte um, entschlossen, Storm und King aufzusuchen, in das Gebäude einzutreten. Auf dem Wege gelangte sie an ein Engros-Schuhwarengeschäft. Durch die großen Spiegelfenster sah sie, abgeschlossen, hinter matten Glasscheiben verborgen, das Geschäftsbüro. Außerhalb der Einfriedung, gerade neben der Tür, saß ein grauhaariger Herr an einem kleinen Tisch, ein großes Hauptbuch offen vor sich. Mehrere Male schritt sie zögernd an dem Haus vorbei, als sie aber merkte, daß sie niemand beobachtete, stolperte sie durch die Gittertür, stand bescheiden-wartend da.

«Na, junges Fräulein,» meinte der alte Herr und sah sie nicht ohne Güte an, «was wünschen Sie?»

«Ich bin – das heißt – haben Sie – ich meine, brauchen Sie irgendeine Hilfskraft?» stammelte Carrie.

«Im Augenblick nicht», erwiderte er lächelnd. «Kommen Sie doch mal nächste Woche. Gelegentlich brauchen wir schon jemanden.»

Sie empfing die Antwort schweigend, schob ungeschickt hinaus. Sie war ein wenig erstaunt über den freundlichen Empfang. Hatte es sich schwieriger gedacht – gedacht, man werde ihr etwas Kaltes, Hartes sagen – sie wußte selbst nicht was. Es war doch schon viel, daß man sie nicht beschämt, sie nicht ihre traurige Stellung hatte fühlen lassen.

Irgendwie ermutigt, wagte sie sich in ein anderes großes Gebäude. Eine Kleiderfirma – mehr Leute – gutgekleidete, etwa vierzigjährige Männer – von Messinggeländern umgeben.

Ein Bürojunge näherte sich ihr.

«Wen wünschen Sie zu sprechen?»

«Ich möchte den Geschäftsführer …»

Der Junge lief fort, meldete es einem Herrn, der sich mit zwei andern unterhielt. Einer von ihnen trat auf sie zu.

«Ja?» fragte er kalt. Die Begrüßung brachte sie sofort um allen Mut.

«Brauchen Sie eine Hilfskraft?» stammelte sie.

«Nein», erwiderte er kurz, drehte sich auf den Absätzen um. Wie betäubt ging sie hinaus, der Bürojunge riß beflissen die Tür vor ihr auf. Erleichtert tauchte sie in die Menge zurück, die sie verbarg. Ein heftiger Rückfall nach ihrer vor kurzem erst so fröhlichen Stimmung.

Jetzt schlenderte sie eine Zeitlang ziellos dahin, wendete sich nach der, nach jener Seite, erblickte eine große Firma nach der andern, hatte aber nicht die Kraft, ihre Nachforschung fortzusetzen. Später Mittag; sie war hungrig. Entdeckte ein anspruchsloses Gasthaus und trat ein, geriet aber in Verwirrung, als sie die für ihre Verhältnisse übertrieben hohen Preise bemerkte. Ein Teller Suppe war alles, was sie sich leisten konnte. Nachdem sie ihn rasch geleert, ging sie wieder hinaus. Die Suppe hatte ihre Kräfte doch etwas hergestellt, ihr Kühnheit eingeflößt, die Suche von neuem aufzunehmen.

Als sie einige Blocks weiter ging, um an irgendeiner passend scheinenden Stelle haltzumachen, traf sie wieder auf die Firma Storm und King. Und diesmal zwang sie sich, einzutreten. In ihrer Nähe plauderten einige Herren miteinander, beachteten sie nicht. Man ließ sie stehen. Nervös blickte sie zu Boden. Schon hatte sie die Grenze der Verzweiflung fast erreicht – da winkte ihr von einem der zahlreichen Pulte innerhalb der Schranke ein Mann zu.

«Wen wünschen Sie zu sprechen?»

«Irgend jemanden, bitte», erwiderte sie; «ich suche Arbeit.»

«Oh, dann ist’s Herr McManus. Nehmen Sie Platz.» Und er deutete auf einen Stuhl an der Wand. Gelassen schrieb er weiter, bis nach einer Weile ein gedrungener Herr von der Straße eintrat.

«Herr McManus», rief der Mann am Pult, «das junge Fräulein da wünscht Sie zu sprechen.»

Der korpulente Herr wandte sich Carrie zu. Sie stand auf, kam ihm entgegen.

«Was kann ich für Sie tun, Fräulein?» fragte er, blickte sie neugierig an.

«Ich möchte wissen, ob ich hier eine Stellung finden kann.»

«Als was?»

«Nichts Bestimmtes», stotterte sie.

«Haben Sie je in der Engros-Kleiderbranche gearbeitet?»

«Nein.»

«Können Sie stenographieren und maschineschreiben?»

«Nein.»

«Na, dann haben wir nichts», sagte er. «Wir verwenden nur geübte Hilfskräfte.»

Schon wollte sie rücklings zur Tür, da zog ihn etwas in ihrem kläglichen Gesicht an.

«Haben Sie schon vorher gearbeitet?» fragte er.

«Nein», sagte Carrie.

«Es ist wohl kaum möglich, daß Sie in einem Engros-Hause dieser Art Beschäftigung finden. Haben Sie’s schon in einem Warenhaus versucht?»

Carrie mußte verneinen.

«Also, wenn ich Sie wäre», sagte er und schaute besonders nett drein, «würde ich es da probieren. Warenhäuser verwenden oft junge Frauen.»

«Danke», sagte sie. Durch diesen Funken freundlichen Interesses fühlte sie sich im Innersten erwärmt und ermutigt.

«Ja», meinte er, als sie der Tür zuschritt, «versuchen Sie’s mal in einem Warenhaus.» Damit ging er.

Zu jener Zeit befanden sich die Warenhäuser noch am Anfang ihres erfolgreichen Wirkens und es gab nicht viele. Die ersten drei, die um 1884 in Amerika eröffnet wurden, waren in Chicago. Carrie kannte die Namen einiger aus Anzeigen in den «Täglichen Nachrichten» und machte sich jetzt auf, sie zu suchen. Die Worte des Herrn McManus hatten ihr irgendwie den tief gesunkenen Mut zurückgegeben, und sie wagte zu hoffen, daß sie in jenem Bereich etwas finden werde. Eine Weile verbrachte sie mit Auf- und Abgehen, glaubte die Gebäude zufällig finden zu können. So leicht läßt sich der Mensch, der im Begriff steht, eine harte, aber notwendige Aufgabe zu erfüllen, durch jene Selbsttäuschung beruhigen, die ihm eine scheinbare Suche gewährt, ohne daß sie zu wirklichem Ziel führt. Schließlich erkundigte sie sich bei einem Polizisten und wurde zwei Blocks weiter zum «Basar» gewiesen.

Sollten diese weitläufigen Detailgeschäfte je verschwinden – sie werden ein interessantes Kapitel in der Handelsgeschichte unserer Nation bilden. Noch nie vorher war die Welt Augenzeuge eines ähnlichen Aufblühens aus bescheidenen Anfängen gewesen. Sie waren im Stil wirksamster Unternehmungen aus Hunderten von Läden zusammengefaßt und auf einer imponierenden wirtschaftlichen Grundlage errichtet. Schöne, geräuschvolle, erfolgreiche Geschäfte mit einem Heer von Angestellten, Schwärmen von Chefs.

Carrie schritt durch die von rastloser Arbeit erfüllten Räumen. Die ausgestellten Waren, Zier- und Bekleidungsgegenstände, Papierwaren, Juwelen, entzückten sie. In jeder Abteilung eine verwirrend-lockende Schau. Ihr war, als habe jedes Schmuckstück ein Anrecht auf sie, und doch blieb sie nicht stehen. Nichts, was sie nicht hätte gut brauchen können – nichts, nach dessen Besitz sie sich nicht schon seit langem sehnte. Die zierlichen Schuhe und Strümpfe, die feingefältelten Röcke und Jupons, Spitzen, Bänder, Steckkämme, Börsen – jedes einzelne Stück erregte ihren Wunsch, und sie empfand es bitter, daß sie keines dieser Dinge zu kaufen vermochte. Sie war eine Arbeitsucherin, eine Ausgestoßene ohne Beschäftigung, die jeder beliebige Angestellte auf den ersten Blick als arm und arbeitsbedürftig erkennen konnte.

Man darf Carrie nicht etwa für eine nervöse, reizbare, hochgespannte Natur halten, die ungerechterweise in eine kalte, berechnende, unpoetische Welt geworfen war. So war sie gewiß nicht. Aber Frauen sind in bezug auf ihre äußere Erscheinung sehr empfindlich.

Carrie fühlte nicht nur drängende Sehnsucht nach allem Neuen und Schönen in der Frauenmode, sie bemerkte auch mit leisem Herzweh die feinen Damen, die sie voll gespannter Aufmerksamkeit für die ausgestellten Waren streiften, ohne sie zu beachten, an ihr vorüberrauschten, als wäre sie nicht vorhanden. Carrie hatte bis jetzt ihre glücklicheren Schwestern nicht kennengelernt. Kannte auch nicht die Natur und das Äußere der Ladenmädchen, mit denen sie keinen Vergleich aushielt. Die meisten waren sehr hübsch, trugen eine Miene der Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit zur Schau, die den Begünstigteren eine gewisse Pikanterie verlieh. Ihre Kleider waren nett, manchmal elegant, und so oft Carrie dem Blick einer von ihnen begegnete, fand sie darin scharfes, prüfendes Durchschauen ihrer eigenen Stellung. Durchschauen der Mängel in ihrer Kleidung und jenes Schattens in ihren «Manieren», der ihr wohl anhaften und allen offenbaren mußte, wer und was sie war. Flamme des Neides loderte in ihrem Herzen empor. Sie erkannte dunkel, wie viel die Stadt enthielt – Reichtum, Mode, Frohsinn – alle Zierde für Frauen, und von ganzer Seele sehnte sie sich nach prachtvollen Gewändern und Schönheit.