Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-10501-2
ISBN E-Book 978-3-688-10104-7
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10104-7
Meinem geliebten
Lieserl
in Dankbarkeit für viele Jahre
ungetrübten Glücks
Treuer Leser!
Wenn sich jemand meine drei Bücher kauft und sie zu Ende liest, kann ich ihn ruhig einen treuen Leser nennen, ohne in den Verdacht zu kommen, ihn durch plumpes Schmeicheln von vornherein bestechen zu wollen und für den Inhalt milde zu stimmen.
Das liegt mir fern.
Aus dem Titel sieht der treue Leser, daß ich schon wieder einen Rückfall im Nichteinhalten von Schwüren hatte.
Ich wollte das Buch erst: «Alle guten Dinge sind drei» nennen, aber aus Feingefühl sah ich davon ab, denn damit würde ich ja sagen, daß meine drei Bücher gute Dinge sind.
Rückfall ist der richtige Titel, da kann man mir keinen Strick drehen, mich höchstens als Meineidigen am laufenden Band verachten, was ich, wenn das Buch Erfolg hat, tiefbeschämt und freudig bewegt, gerne ertragen werde.
Lange habe ich wieder gekämpft, ob ich soll oder nicht soll, aber der sündige Trieb siegte.
Ich kann nichts anderes tun, als mich mit dem Dämon rechtfertigen, dem niemand auf die Dauer widerstehen kann.
Zwölf Jahre habe ich mich still und ruhig verhalten, das ist eine lange Zeit, und ich darf wohl hoffen, daß mir Absolution erteilt wird und man mir diesen Rückfall verzeiht.
Vielleicht hat man meinen Schwur schon vergessen und merkt gar nicht, daß ich – das wäre fein.
Ob das Buch meinen Lesern gefallen wird, weiß ich nicht, werde es aber aus Zuschriften, um die ich wieder herzlich bitte, erfahren.
Nehmen Sie dieses mein drittes Buch wieder in Gnaden auf und drücken Sie über die Unzulänglichkeit meiner Eide beide Augen zu.
Ich lasse nun dieses dritte Kind meiner Muse wieder hinausschleichen, es hinausflattern zu lassen, hatte ich schon beim zweiten nicht den Mut.
Nur schleichen darf es.
Hoffentlich schleicht es sich ein wenig in Ihre Herzen ein und macht Ihnen ein bißchen Freude.
Jetzt aber versichere ich feierlich, und dieses Mal können Sie sich darauf verlassen, daß es mein allerletztes Buch ist.
Es ist mein Schlußakkord.
Egern am Tegernsee, 25. April 1940.
Das Theater, das ich schildern will, ist das Theater der Vorkriegszeit, vor 1914.
Also mag es für heute, wo die Verhältnisse ganz andere geworden sind, nicht mehr zutreffen.
Alles ist Vergangenheit, niemand kann sich getroffen fühlen, ein Schnoferl machen oder beleidigt sein.
Da ich bestimmt annehme, daß ein Großteil meiner Leser keine Ahnung hat, was ein «Schnoferl» ist, will ich es erläutern.
Schnoferl kommt von schnofeln.
Schnofeln kann man teils aus Noblesse, teils aus schlechter Gewohnheit, die einer gewissen Redefaulheit entspringt, wie bei Helgalein, meiner Enkelin.
Die schnofelt.
Nicht aus Noblesse, vielmehr weil sie sich nicht die Mühe nimmt, die Worte im Mund präzise zu formen, sondern diese mit schlamperter, nasaler Gelässigkeit ihrer Speiseröhre entströmen läßt.
Sie ist mein Liebling, meine Zuckermaus – aber sie schnofelt.
Wenn also in Wien jemand über etwas pikiert ist, verzieht er den Mund zum Schnofeln.
Er zieht die Augenbrauen in die Höhe, macht den Mund kraus, weitet die Nasennüstern und ist beleidigt.
Das nennt man dann einen Schnoferl, einen Flunsch.
Einen Flunsch zu erläutern, würde ins Uferlose führen, darum will ich davon absehen.
Ich bin überzeugt, daß jetzt jeder meiner Leser im Bilde ist.
Alle, die diese Erinnerungen in mir erwecken, sind längst diesen letzten Weg gegangen, und doch waren sie einmal in ihrer Sphäre mächtig und gewichtig.
Das Theater in seiner damaligen Gestalt, die kleinen Provinzbühnen oder gar die Schmiere, sind heute nicht mehr gut möglich, weil doch in jeder Bauernhütte ein Radio steht, das die besten und leckersten Kunstgenüsse vermittelt.
Die einfachsten Menschen werden durch das viele Hören und Immerwiederhören, ohne daß sie es wollen, erzogen und würden heute ganz mittelmäßige oder gar minderwertige Kunstleistungen, die früher in den kleinen Städten und Dörfern an der Tagesordnung waren, durch Schimpfen und Fernbleiben ablehnen.
Schimpfen ginge noch, aber Fernbleiben!!! – Fürchterlich!
Ich habe Gelegenheit gehabt, alle diese verschiedenen Niveaus der Theater kennenzulernen.
Vom grandiosen Betrieb der Metropolitanoper in New York, über die größten Hoftheater, wie Wien, Berlin, Dresden und so weiter, herab zu den größeren und kleinen Provinztheatern.
Auch die Schmiere lernte ich als Siebzehnjähriger in Steiermark kennen, allerdings nur als eintägiger Gast.
Ich war in der Nähe von Wildon in Untersteiermark bei Verwandten zu Besuch.
Damals war ich in meinem stürmischsten und sehnsuchtsreichsten Theaterdelirium.
Der Direktor einer Wandertruppe kam persönlich zu den Honoratioren, wie er sagte, und lud zum Besuche der Vorstellungen devotest ein. Ich stellte mich ihm als zukünftiger Komiker und Charakterdarsteller vor.
Der Direktor sah mich wohlwollend an und fragte, ob ich denn nicht an seinem Theater eine schöne Rolle spielen möchte.
Wie von einem elektrischen Schlag getroffen, sagte ich beseligt zu.
Herrlich! –
Ich wählte ein altes Bauernstück, das damals sehr viel gegeben wurde: «’sNullerl.»
Einen achtzigjährigen Greis hatte ich darzustellen, der der Mittelpunkt des Stückes war.
Diese Rolle hatte ich, wie so viele andere, gut studiert, und so stand ich, als zahnloser Achtziger, mit meinen siebzehn Jahren auf den weltbedeutenden Brettern in Wildon, im Gasthof zum himmelblauen Ochsen.
Ich weiß mich nicht mehr so recht zu erinnern, wie die Sache eigentlich stattfand, weiß nur, daß das Personal aus der Familie des Direktors bestand und daß es sehr, sehr traurig war.
Eine unvorstellbare Armut.
In einem Wirtshause dritter Ordnung war ein Podium aufgestellt, armselige Kulissen, auf beiden Seiten bemalt, auf einer Seite Gebirgslandschaft, auf der anderen ein schmutziger Salon, wobei es keine Rolle spielte, wenn man sich irrte und eine Waldszene in einer Salondekoration spielte.
Ein kleiner Wohnwagen, in dem und auf dessen Dache das ganze Theater, inklusive Personal, mitgeführt wurde.
Es war jammervoll und hat sogar auf mich, der ich doch bis zum Rande mit Begeisterung für das Theater angefüllt war, recht ernüchternd gewirkt.
Mein Erfolg scheint nicht allzu epochal gewesen zu sein, denn trotz aller Schmieragen konnte man meinem Gesicht keine achtzig Jahre aufmalen.
Proben hatten auch nur zwei sehr flüchtige stattgefunden, bei denen alle Schauspieler markierend ablasen und meinten: «Auf die Nacht wird es schon gehen.»
Der einzige Erfolg war ein voller Saal, der diese armen Menschen zwei bis drei Tage der Nahrungssorgen enthob.
Dieses Debüt war ziemlich unerfreulich, und wie aus weiter Ferne fühle ich das Unbehagen noch in der Erinnerung.
Allerdings war dieses sogenannte Theater die tiefste Stufe, die auf diesem Gebiete zu erreichen ist.
Tiefer geht es nicht mehr.
Dann gab es natürlich Wandertheater höheren Ranges, wo ehrlich gearbeitet wurde und alles von einem gewissen Idealismus getragen war, der aber, wenn schlechter Besuch kam und der Hunger regierte, leicht in die Binsen ging.
Diese Theater gehörten schon Generationen derselben Familie, und ihre Direktoren setzten allen Stolz darein, würdig an würdiger Stelle zu stehen.
Ihr Fundus war verhältnismäßig reichhaltig und anständig, das Personal bestand meist aus begeisterten Kunstjüngern, die sich da ihre Sporen verdienten und dann – allerdings waren es wenige Auserwählte – unsere ganz Großen wurden.
Sie spielten auf richtigen Bühnen, mit richtigen, zum Stücke passenden Kulissen. Ich sah so manchen meiner später großgewordenen Kameraden an solch einem Wandertheater.
In Holleschau, einer kleinen Stadt in Mähren, erlebte ich einen Kollegen, der einige Jahre später zu den Berühmten zählte und das Geld nur so scheffelte.
Ich sah ihn als Hüttenbesitzer, aber seine große Karriere machte er als Komiker.
Er ist tot, ich will seinen Namen nicht nennen, ich weiß nicht, ob es ihm recht wäre.
Theaterdirektor sein, war keine beneidenswerte Stellung, und ich wunderte mich immer, wieso sich so viele Bewerber meldeten, wenn ein Theater ausgeschrieben wurde.
Was mag da wohl Verlockendes gewesen sein, um so mehr, wenn das Theater auf eigenes Risiko geführt werden mußte? –
So ein Theaterdirektor hat doch nur Unannehmlichkeiten. –
Ärger, Vorwürfe, Verdruß, Sorgen um den Geschäftsgang, Zerzaustwerden von den Zeitungen und Undank sind sein Los.
Mein Direktor in Breslau hatte über seinem Schreibtisch eine Tafel, auf der in großen Lettern zu lesen stand: «Wie man’s macht, ist’s falsch.»
Unter den Theaterdirektoren, deren ich unzählige kennenlernte, sang ich doch in allen großen und kleinen Städten als Gast, gab es herrliche Originale.
Jeder hatte irgendeine Eigenheit, ein Steckenpferd, eine schwache Stelle, die von seinen Mitgliederhorden in reizend schamloser Weise ausgenützt oder kopiert wurde.
Ein jetziger Burgschauspieler, der seinerzeit in Graz engagiert war, brachte seinen Direktor auf die Bühne und kopierte ihn bis in die kleinsten Eigenheiten derart, daß sich die Leute vor Lachen bogen.
Der Direktor selbst hatte Sinn für Humor und sah sich das Stück jedesmal an, meinte aber, es wäre unmöglich, daß er das sei.
Da war in altersgrauer, also lange vor meiner Zeit ein sehr beliebter Bänkelsänger, namens Fürst, der alle Wiener Lieder auf der sogenannten Pawlatschen aus der Taufe hob, großen Zulauf hatte und viel Geld verdiente.
Seine größte Sehnsucht war, ein wirkliches Theater zu besitzen und als Direktor Regie zu führen.
Durch die Protektion eines Mitgliedes des Kaiserhauses bekam er die Erlaubnis, im Wurstelprater in Wien ein kleines Theater zu bauen.
Es war ganz aus Holz und nannte sich stolz – Fürsttheater.
Die Stücke, die da gespielt wurden, waren auf den Geschmack des Vorstadtpublikums zugeschnitten.
Kaiser Joseph II., der Volkskaiser genannt, war meist der Held dieser Vorstadtstücke.
«Kaiser Joseph und die Schusterstochter» nannte sich so ein Stück.
Da gab es eine Schustersfamilie mit zehn Kindern, denen vor Hunger der Magen so krachte, daß man es bis in die letzte Parkettreihe hören konnte.
Der alte Schuster saß auf seinem Schusterschemel, die Mutter, hohlwangig und klapperig, schlurfte hüstelnd umher, und die Kinder schrien nach Brot.
Konzentriertes Elend.
Da erscheint in der Türe ein Mann – Direktor Fürst – in einen schwarzen Mantel gehüllt und spricht mit sonorer Stimme:
«Ös habts nix zan essen? –
Ös seids arme Leute? –
Ös habts zehn Kinda; –
Ös habts an Hunga? –»
Alle diese Fragen werden mit ja beantwortet.
Die Mutter hustet besonders stark.
Da frägt der schwarze Mann: «Sö huastn?»
Zum Vater gewendet: «Sö san a Schuasta? – Huastens a? –»
«Nein, nur die Muatta huast! –»
Nach diesem Dialog verteilt er Brot und streut allen Goldstücke in den Schoß.
Die ganze Schustersfamilie fällt dem Fremden zu Füßen und stammelt glückstrahlend: «O edler Wohltäter, sage uns, wer du bist, damit wir dir danken können!»
Da deklamiert der Schwarze: «Forschet nicht, wer ich bin, ihr werdet es nie erfahren, denn ich bin der Kaiser Joseph! –»
Damit schlägt er seinen Mantel auseinander und steht da, mit Orden bedeckt, in einer herrlichen Generalsuniform.
Alle schreien auf: «Jessas, unser Kaiser!» –
Unter den Klängen der Volkshymne fällt der Vorhang.
Auch seine Regieführung war ganz eigenartig.
Gravitätisch saß er vorne beim Souffleurkasten in seinem Regiestuhl und gab seine unkomplizierten Anweisungen.
«Sö kommen von der linken Seiten und gehn auf der rechten Seiten weg.»
Alles andere war für ihn uninteressant.
Eines Tages fragte die Soubrette: «Bitt schön, Herr Direktor, von welcher Seiten tret ich denn auf? –»
Ohne mit der Wimper zu zucken, entschied er: «Sö treten von der linken Seiten auf.»
«Aber, ich bitt schön, Herr Direktor, da treff ich doch den Artur, der mich ja nicht sehen darf?»
«Nachher kommens von der rechten Seiten!»
«Bitt schön, Herr Direktor, da ist ja keine Tür?»
«Also dann» – – jetzt kam eine Einladung zu einer intimen Goethefeier.
Das war Fürst als Regisseur.
Ebenfalls ein herrliches Original, ganz alter Schule, war Direktor Stanislaus Lesser in Olmütz.
Er führte ein sehr strenges Regiment und ohrfeigte seine Schauspieler.
Trotz seiner mittelalterlichen Schrullen wurde er von seinen Mitgliedern geliebt, und alle gingen für ihn durchs Feuer, weil er ihnen zugleich ein guter Vater war.
Das Personal bestand meist aus ganz jungen Leuten, die er sich überall zusammensuchte, die er gut führte und die sich bei ihm künstlerisch ausgezeichnet entwickelten.
Wer aus der Schule Direktor Lessers hervorgegangen war, bekam immer ein gutes Engagement und stellte überall seinen Mann.
Das Aufspüren von Talenten war die seltene Begabung dieser alten Theaterdirektoren.
Eine der köstlichsten Gestalten war schon der Generalintendant, Professor Ernst Ritter von Possart.
Von dem waren zahllose Schnurren und Anekdoten im Umlauf, die teils auf Wahrheit, teils auf harmlos boshafter Erfindung aufgebaut waren.
Seine hochtrabende Art zu reden reizte die Kameraden zum Kopieren, was fast jeder im Münchner Künstlerensemble tat.
Dies grassierte so, daß einfach nur noch im Tonfalle Possarts geredet wurde.
Er besaß alle Titel und Orden, alle Auszeichnungen und Ehrungen, die einem Sterblichen zuteil werden konnten, war überall, wohin man nur schaute, Ehrenmitglied, Präsident und Vorsitzender bei ungezählten Institutionen, wurde geadelt, und sogar eine Straße hat man nach ihm benannt.
Jedenfalls war er ein bedeutender Mensch, denn von nichts ist nichts.
Seine kleine Schwäche, daß er stolz auf das Errungene und etwas eitel war, tut dem allen keinen Abbruch, und es liegt mir fern, mich über diesen überragenden Mann irgendwie lustig machen zu wollen.
Verhohnepipelt und durch den Kakao gezogen wird jeder Direktor von seinen Mitgliedern.
Das war immer so, und ich glaube, das wird wohl auch immer so bleiben, namentlich, wenn sich solche Angriffsflächen darbieten wie bei Possart.
Vieles wurde ihm angedichtet, aber vieles ist wahr, und manches habe ich selbst erlebt.
Ein junger Schauspieler, der bei Possart seine Aufwartung machte, fragte ihn verlegen: «Verzeihen Sie, ich weiß gar nicht, wie ich Sie, verehrter Chef, titulieren darf?»
Da sagte Possart: «Ach mein Liebster, Bester, nennen Sie mich nur einfach und schlicht: Herr Generalintendant, Professor, Ernst Ritter von Possart – ich gebe nichts auf Titulaturen –»
Als das Prinzregententheater unter seiner Leitung eröffnet wurde, lud man mich ein, den Walter Stolzing, Lohengrin und Tannhäuser zu singen.
In einem Briefe wurde ich aufmerksam gemacht, daß es absolut nicht anginge, meine eigenen Kostüme zu tragen, und wenn sie noch so prächtig wären, um die Stileinheit nicht zu gefährden.
Ich möge umgehend meine Körpermaße für den Kostümschneider einsenden. Ich tat es. Nach einigen Tagen bekam ich ein Telegramm: Mammutmaße nicht vorbereitet, bringet eigene Kostüme mit.
Eines Tages stürzte ein Schauspieler zu Possart und machte ihm im Tone höchster Aufregung Vorwürfe: «Aber Herr Generalintendant, Sie haben mir doch damals, als ich Ihnen durch mein Einspringen für den erkrankten Kollegen die Vorstellung rettete, fest versprochen, daß ich die Rolle in dem netien Stück bekomme, und nun höre ich, daß sie ein anderer spielt!»
«Da habe ich eben gelogen, mein Liebster», war die lakonische Antwort.
Nach dem ersten Akt der Generalprobe im Prinzregententheater saßen wir Kameraden im Konversationszimmer beisammen und warteten den Umbau auf der Bühne ab.
Da trat Possart ein. –
Alles erhob sich respektvoll.
Er hatte ein Wurstbrot in der Hand und meinte leutselig: «Ja, ja, meine Liebsten, auch Generalintendanten müssen frühstücken.»
Nachdem wir das ehrfurchtsvoll zur Kenntnis genommen hatten, setzte er sich zu uns und begann von der großen Sängerin Milka Ternina zu schwärmen.
«Diese Ternina ist eine herrliche Frau, eine wundervolle Künstlerin, eine Gottgesandte – wie sie geht, wie sie schwebt, ach und wie sie singt – ein begnadetes Weib!
Wir müssen uns alle glücklich schätzen, Zeitgenossen der Ternina sein zu dürfen!»
In diesem Augenblick öffnete sich die Türe und der Theaterdiener Strehle meldete: «Herr Generalintendant, soeben hat Frau Ternina für heute den Lohengrin abgesagt.» –
In demselben Tonfall sagte Possart: «Diese talentlose Kanaille bringt mich noch ins Grab!»
Possart hatte auch noch die Schwäche, alle nasenlang Jubiläen zu feiern.
Die Gründe zu diesen Jubiläen waren sehr mannigfaltig.
Einmal hatte er zum fünfhundertsten Male den Franz Moor gespielt, oder es waren gerade fünfzig Jahre her, daß er von seinem in Gott ruhenden Vater zum erstenmal ins Theater mitgenommen wurde. Oder es geschah etwas vor 25 – 30 – oder 50 Jahren, das gefeiert werden mußte.
Zu diesem Behufe wurde die Jubiläumsfeier am Vormittag erschöpfend probiert.
Ein erhöhter Thron, zu dem sechs bis acht Stufen führten, wurde aufgebaut, mit Teppichen belegt und von einem Lorbeerhain umgeben.
Die Regisseure nahmen den Jubilar bei je einem Handerl, führten ihn die Stufen herauf an den Thron, setzten ihn auf diesen, und da wurde er angestrudelt.
Es folgten Ansprachen aller Angestelltengruppen, jeder sagte etwas Belangloses, legte einen Kranz am Throne nieder, und dann kam die nächste Gruppe.
Fortsetzung folgt
«Mammutmaße nicht vorbereitet, bringet elgene Kostüme mit»
Possart wurde aber von einem andern, ebenso berühmten, großen Schauspieler und Intendanten, dessen erbitterter Konkurrent er war, im Jubilieren noch übertroffen.
Vormittag die Probe wie bei Possart.
Am Abend wurde alles so gemacht, wie es festgelegt war, die Regisseure führten den Jubilar an den Händen die Stufen zum Throne hinan.
Er aber hält plötzlich an der vierten Stufe inne und deklamiert mit vollem Organ: «Nein – meine lieben Kameraden – nicht dort auf diesem Thron – nein, unter euch ist mein Platz!»
Der hatte sich den Thron bauen lassen, um ihn am Abend zu verschmähen.
Die beiden, in ganz Deutschland populären Rivalen, kannten einander nicht persönlich.
Da fügte es der Zufall, daß sie auf einer Gastspielreise im selben Abteil zusammentrafen und sich notgedrungen vorstellen mußten.
Nach Nennung der Namen fragte Possart herablassend: «Sind Sie auch beim Theater?»
Der andere ist bei der nächsten Station ausgestiegen.
Diese Großen der alten Schule redeten im Privatleben ebenso bombastisch, wie sie in ihren klassischen Rollen sprachen.
Als ich ganz jung nach Wien an die Hofoper kam, vom Nimbus all der großen Namen umnebelt, glaubte ich immer, sie scherzten und kopierten sich.
Aber sie waren so und wußten es gar nicht, daß sie irgendwie unnatürlich wirken könnten.
Ein ehemals sehr berühmter Schauspieler begrüßt seine ebenso berühmte Kollegin auf der Probe:
«Heil dir, Hermine – sei mir gegrüßt, hat Morpheus sich aus deinem Arm gelöst? –»
«Dank, Eduard – Dank! –»
Mit tränenumflorter Stimme haucht sie: «Eduard – Rimbeaud ist tot!»
«Was – wie – hör’ ich recht? Ist es die Wahrheit – ist’s ein Traum? – Hermine, sprich – Rimbeaud – tot? –»
«Ja, Eduard – tot! – Total tot!»
«Mein Gott, dieser gute, alte Rimbeaud – tot? – Unfaßbar, Hermine, unfaßbar! –»
Dabei schluchzt er, daß der ganze Körper wackelt.
Plötzlich fragt er ganz normal: «Wer war eigentlich der Mann? –»
Aber ich wollte ja von den Direktoren reden, jetzt bin ich mitten unter die Schauspieler geraten.
Die Direktoren haben es, wie ich schon sagte, nicht leicht.
Sie haben ein Völkchen zu beherrschen, das, geben wir der Wahrheit Gerechtigkeit, sagen wir, ein bißchen – eigenartig ist. –
Ich bin überzeugt, daß auch ich irgendeinen Klamsch habe, der mich aus der Reihe der ganz Normalen scheidet, nur weiß ich es nicht.
Denn es ist nicht jedermanns Sache, zu sagen: «Herr Slezak, Sie sind verrückt!»
Schon dieses Heer von Eigenartigen einmal im Zaume zu halten, erfordert eine große Autorität, um alle diese entgegengesetzten Wünsche und Forderungen nach Rollen, Vorschuß, Urlaub und was es da noch alles gibt, in für das Theater erträgliche Bahnen zu lenken, ohne daß schwere Gewitter die Arbeit stören.
Dazu gehört hohe diplomatische Begabung.
Der Direktor muß immer lavieren, auf seinem Kothurn bleiben, damit ihm niemand zu nahe kommt, und sich nur in dringenden Fällen sprechen lassen.
Hatte er einmal den Besuch eines seiner Künstler, besonders Künstlerinnen, die die Audienz ins Uferlose ausdehnten und nicht zum Weiterbringen waren, gab es ein sehr probates Mittel, sie loszuwerden.
Ich hatte in Prag einen befreundeten Bankdirektor, dessen Zeit sehr wertvoll war.
Nun kamen einflußreiche Klienten, die den Besuch bei ihm benutzten, um ihre Zeit mit allem möglichen Klatsch totzuschlagen.
Ich fragte ihn, wie er denn diese Leute los wird, ohne daß sie sich beleidigt fühlen.
Da zeigte er mir unter seinem Schreibtisch einen Knopf.
«Siehst du, wenn ich mit dem Fuß auf diesen Knopf drücke, was man nicht bemerken kann, tritt der Diener herein und meldet: Herr Direktor werden in der Sitzung erwartet, die Herren sind schon versammelt.»
Er machte gleich die Probe aufs Exempel, berührte mit dem Fuße den Knopf und richtig meldete der Diener programmgemäß, daß die Herren in der Sitzung schon eine Viertelstunde warten.
Als ich eines Tages mit meinem Direktor in der Wiener Hofoper eine Besprechung hatte, klagte er beim Verabschieden: «Ach, jetzt kommt die Koloratursängerin N.N., die wird mir doch wieder endlos dasitzen und mich mit allem Möglichen anöden.»
Da gab ich ihm den Rat, sich doch dasselbe an seinem Schreibtisch anbringen zu lassen, wie ich es in Prag bei meinem Freunde gesehen hatte.
Er ließ sich alles von mir erklären, schmunzelte dabei, und im Augenblick trat der Diener herein und meldete: «Herr Direktor werden von Seiner Durchlaucht dem Herrn Obersthofmeister erwartet.»
Also sagte ich ihm nichts Neues.
Dann hat jeder Direktor einen Helfer, den Theatersekretär.
Der Theatersekretär ist der Pufferstaat, der Prellbock zwischen dem Direktor und seinen Mitgliedern.
Wenn dem Schauspieler oder Sänger irgendeine Unannehmlichkeit von seinem Chef bereitet wurde, so wußte dieser gewöhnlich von nichts und schob alles auf seinen Sekretär.
Theatersekretäre werden selten siebzig Jahre alt, weil sie in der Regel schon mit fünfundvierzig Jahren zerspringen, vor Galle und den steten Aufregungen.
Wenn ein Künstler seinen Direktor töten will, so ist vor allem der Theatersekretär da, über dessen Leiche er zuerst zu schreiten hat und dessen diplomatischer Begabung es obliegt, ob der Direktor weiterleben soll oder nicht.
In einem Ensemble von so vielen Künstlern, in dem wenigstens fünfundneunzig Prozent halb und fünf Prozent ein Achtel wahnsinnig sind, ist es keine Kleinigkeit, es allen recht zu machen.
Ununterbrochene Verbitterungen und Explosionen sind an der Tagesordnung.
Alle diese vulkanischen Ausbrüche treffen zuerst den Sekretär.
Der hat zu schlichten, zu beruhigen und die herabströmende Lava so zu leiten, daß sie, an der Direktionskanzlei vorbei, in einen ungefährlichen Kanal fließt.
Der Sekretär muß ein guter Menschenkenner sein, hauptsächlich der Menschen, die an seinem Theater engagiert sind.
Sie sind ja, im Grunde genommen, alle so harmlos und leicht zu behandeln wie Kinder.
Wenn man sie zu nehmen versteht, fressen sie aus der Hand und tun alles, was man von ihnen verlangt.
Wenn zum Beispiel der Direktor dem Sekretär aufträgt, zu einem Sänger auf die Bühne zu gehen und ihm auszurichten, er habe gesungen wie ein Schwein und gespielt wie ein unbegabter Konservatorist, so wird der feinnervige Sekretär, wie wir ihn an der Oper in Wien hatten, die Sache folgendermaßen machen:
«Servus, Fritz, der Chef läßt dir sagen, er schickt dir seine Grüße, er wollte selber kommen, mußte aber weg, du hast fabelhaft gesungen, es war herrlich!
Die Töne waren so dick wie zehnzöllige Wasserrohre, und namentlich die eine Stelle – was war’s doch nur – paß auf, also diese Stelle – ja, Herrgott – na, ist ja egal, also diese Stelle hat ihm besonders gut gefallen.
Servus, mein Junge, mach es weiter so gut – Hals- und Beinbruch – ich muß heim, mir wird sonst mein Goulasch ranzig!»
Würde er den Befehl des Chefs ausgeführt haben, so hätte er damit einen Aufschrei der Empörung verursacht, der auf das Weitergehen der Vorstellung von üblen Folgen hätte sein können.
So sang der eben Belobte mit großer Freude und dem Bewußtsein, daß er großartig ist, die Vorstellung zu Ende.
Am nächsten Morgen hatte der Direktor in dem Wirrsal seiner gigantischen Sorgen darauf vergessen und alles war in Butter.
Ein Kapitel für sich bildeten die Regisseure, deren ich so viele kennenlernen durfte.
Welche Typen habe ich in meinem Lebensbuche verzeichnet, vom altehrwürdigen Schlage, der sich nur darauf beschränkte, die primitivsten Erläuterungen zu geben, bis zu den ganz Modernen, die große Regiearbeit leisteten und dem Künstler wahre Berater und Helfer waren.
Freilich, früher war das viel leichter.
Bei den alten Opern wurden keine allzugroßen Anforderungen an den Regisseur gestellt, alles war überliefert und der Begabung des Sängers überlassen.
Als ganz junger Anfänger in Brünn hatte ich einen lieben, alten Regisseur, der viele Jahre als Baßbuffo wirkte und nebenbei Regie führte.
Er hatte beim Singen, und naturgemäß auch beim Reden, einen sehr starken Anklang von böhmischem Dialekt.
Mit einem Wort, er böhmakelte.
Er sang zum Beispiel als Heerrufer in Lohengrin: «Härt Grafen, Fraie, Ädle von Brabant, Känig Heindrich kam zur Stadt etz.» Seine Prosa in den Spielopern war auch demgemäß.
Als ich Brünn verlassen sollte, um nach Berlin an die Königliche Oper zu gehen, debütierte ein junger Tenor aus Prag auf Anstellung.
Er sang den Lohengrin als Antrittsrolle.
Wir saßen in unserem Stammlokal, und als der Regisseur nach der Vorstellung kam, wurde er um seine Meinung über den Debütanten gefragt.
«Also die Stimme is ja schän, er schaut gut aus, hat ein ahngenähmes Aißeres, hibsche Figur, nur der Dialekt ist ein wänig stärend – er böhmakelt.»
Als Regisseur war er besonders für junge Anfänger von hohem Wert.
Wir hatten Stradella, ich sang zum ersten Male die Titelrolle.
Bei der Orchesterprobe kam ich in einer Gondel angefahren, hatte eine Mandoline um den Hals, war begleitet von einigen Chorherren, die mit mir den Zweck verfolgten, meiner Liebsten ein Ständchen zu bringen.
Vor meinem Gesangseinsatz ist ein langes Pizzikatovorspiel, das ich zum Spielen – damals zu besonders scharfem Spielen – benutzte.
Ich raste nach vorne, sah zum Balkon der Geliebten hinauf, bedauerte mimisch, daß die Teure noch nicht da ist, stürzte nach hinten zu den andern Venezianern und teilte ihnen mit großen, barocken Armbewegungen das Nichtgesehene mit, was diese ihrerseits auch bedauerten, mir aber – auch mimisch – versicherten, daß sie bestimmt kommen wird.
Es sei eine Frage von Sekunden.
Planlos an den Strängen der Mandoline zupfend, tänzelte ich wieder nach vorne und füllte so das endlose Vorspiel aus.
Auf einmal erscholl die Stimme des Regisseurs aus dem finstern Parkett: «Aber Jesusmarja – Slezatschku, was machens denn da für Sachen, sind Sie wahnsinnig? –
Das sind ja die Laite nicht gewähnt! –
Stellens Ihnen hin und wartens, bis der Einsatz kommt, man wird ja ganz nerväs!»
Zum Glück hatte ich derart viel Überschuß an Spielastik in mir, daß die größten Dämpfer meinem Darstellungsfanatismus keinen Abbruch tun konnten.
Viele Neueinstudierungen, Wiederbelebungen aller möglichen alten Opernwerke sind an mir vorbeigezogen.