Inhaltsverzeichnis

Hinterlegt vor dem Durchschreiten einer Lichtschranke

Nun ist also Nacht. Vor mir liegt das letzte Heft, es ist blau, tiefblau. Dass die Nacht noch immer aus den Dingen kommt, wundert mich, wie Nebel steigt sie empor. Man könnte ja meinen, es sei umgedreht, dass sie sich herabsenkt, aber so ist es nicht. Wenn man genau hinsieht, merkt man es: Zuerst wird die Erde schwarz und dann der Himmel. Das Licht der Nacht ist rätselhaft, metallen, und so dicht es uns auch einhüllt, es bleibt doch immer sehr weit weg.

 

Es hat sich nicht viel geändert hier, die Temperatur ist unvermindert hoch. Ich habe die Fenster geöffnet, manchmal weht etwas wie Luft herein. Mein Kopf schmerzt. Seltsamerweise ist das etwas völlig anderes als: Ich habe Kopfschmerzen. Es fühlt sich anders an, wie abgetrennt, als gehöre das, was wehtut, gar nicht mir. Ich nehme an, es ist der Druck. Die Grenzwerte sind seit Monaten überschritten, sie erweisen sich als grenzenlos, steigen beinah von Tag zu Tag. Das ist absurd, Werte ohne Grenzen haben keinen Sinn und umgedreht: Grenzen ohne Werte auch nicht. Aber was schreibe ich da, in diesem Experiment kommt es doch nur noch aufs Beobachten an. Niemand legt mehr etwas fest, alles ist offen. Man könnte es für Freiheit halten, aber Freiheit ist etwas anderes.

Allerdings wimmelt es von Menschen. Es wird immer voller. Es findet eine ungeheure Bewegung statt, an der ich nicht teilnehme, die ich aber sehe. Von oben herab.

Das Kind schläft. Ich habe es mit einem Laken zugedeckt. Es liegt im Zimmer nebenan.

Eben kam wieder ein Fassadenkletterer vorbei, es ist absurd, dass sie das immer noch tun. Erschrecken können sie uns damit aber schon lange nicht mehr, Reba sowieso nicht, sie hat keine Angst mehr, vor nichts.

Nur ich zucke manchmal noch zusammen. Allerdings, gelegentlich winke ich sogar, verbissen hangeln sie sich dann weiter hoch, sie sind entsetzlich humorlos.

Ich sortiere immer noch die Akten. Ich habe noch immer sieben große Kisten davon. Wenn ich nicht mit Reba zusammen bin – und meistens ist es so –, sortiere ich oder schreibe.

Ich werde Ordnung hinterlassen.

Ein weibliches Relikt.

Ich hefte die Seiten einzeln ab, streiche jeden Zettel glatt, was ich vorsichtig machen muss, zum Teil sind sie sehr alt. Sie finden ihren Platz, ich sortiere sie jetzt in mein Leben ein. Ich habe mich lange gewehrt.

Manchmal laufe ich auch. Immer um das Hochhaus

Oder ich nehme die Treppen, ich schaffe sie inzwischen siebenmal, und wenn ich auch die Arme trainieren will, dann stemme ich die ein oder andere Feuertür zwischendrin auf, dröhnend fallen sie wieder ins Schloss.

Das mache ich aber nur, wenn Reba schläft, sie soll mich nicht so unruhig sehen. Denn obwohl ich weiß, dass es überflüssig ist, glaube ich doch, ich muss sie stärken, zumindest beruhigen oder Vorbild sein?

 

Draußen zischt wieder ein Körper vorbei, das Seil sirrt. Das ist ihr Wetter. Immer, wenn der Himmel klar ist, springen sie. Ich weiß wirklich nicht, warum sie das noch tun. Sie sind besessen. Erst bohren sie Löcher in die Hauswand, schrauben die Haken fest, werfen ihre Seile aus, ankern, klettern, steigen, und wenn sie oben sind, dann rüsten sie um, legen sich die Beingamaschen an, klinken die Halterungen ein, gehen auf die Rampe und springen wieder hinab. Je näher sie dabei dem Boden kommen, desto besser sind sie. Kaum sind sie unten, fangen sie wieder von vorne an, steigen auf, fallen, steigen auf, fallen – früher habe ich gern den Vögeln zugesehen, den Lerchen auf dem Feld. Aber es waren Vögel.

Zweien hat es schon den Rücken zerquetscht. Sie lagen auf dem Boden wie Gallert. Ich habe sie genau betrachtet. Hinsehen tut gut. Es ist das Einzige, das hilft.

Der Mensch ist schwer.

Reba geht wie ein Engel durch die Welt. Nichts rührt sie. Keiner tut ihr was. Sie schlägt von selbst die Richtung ein, immer weiß sie genau, wohin, und doch sieht es aus, als liefe nur ein Schatten ruhig über den Boden her.

Ich schau ihr jeden Morgen nach. Es dauert lange, bis sie ins Bild kommt, und schnell verschwindet sie. Sie winkt nicht.

Es ist nicht so, als hätte ihr noch keiner ein Leid getan. Aber jetzt nicht mehr.

 

Wieder springt einer. Der Dritte heute. Warum sie sich genau dieses Haus ausgewählt haben, weiß ich auch nicht. Es ist schon lange so, sie haben sogar Meisterschaften ausgerichtet. Es liegt wahrscheinlich am Dach, weil es so groß ist, früher war darauf sogar ein Hubschrauberlandeplatz. Oder an den Wänden. Eine Art Plattenbau, sie können sich zum Klettern im Beton verkeilen. Auf dem Dach hat ein Fernsehsender ihre Sprünge in den Abgrund gedreht.

Zwölf Wochen lang, es wurde uninteressant, weil genau in diesem Zeitraum nichts passierte. Es heißt,

 

Ich werde die Fenster schließen. Die Scheiben sind aus Sicherheitsglas – hier regierte einmal irgendein Chef –, bruchsicher und verspiegelt nach außen.

 

Seltsam ist es, in der Stille auf die Stadt zu sehen. Überall bewegt sich was. In meinen Ohren rauscht es. Ohne Zutritt halte ich es einfach nicht aus. Irgendetwas muss offen sein.

 

Dort unten läuft der Interviewer, ich kann ihn von hier oben aus erkennen: Mikro, Schlaufe, Band. Er trägt ein uraltes Gerät mit sich, diese Dinger sind schwer, damit habe ich auch mal angefangen. Um ihn herum ist ein Ring. Ein Abstandsring. In ihm durchzieht er die Menge, von oben sieht das aus wie ein Pantoffeltier, das sich wabernd fortbewegt. Oder wie das Auge eines Hurrikans? Vergleiche sind schlecht, er weiß das, deshalb stellt er Fragen, es sind immer dieselben:

Wie hat es angefangen?

Wie ist es zur Tat gekommen?

Wann ist es zur Verurteilung gekommen?

Wenn Sie an früher denken, was fällt Ihnen da ein?

 

Dass sie ihre Löcher weiter in die Hauswand bohren, obwohl sie doch bereits gespickt von Halterungen ist, gehört zu den weniger guten Dingen.

Ich werde also laufen.

Ich werde nicht noch einmal nach Reba sehen. Weil ich will, dass sie schläft, weil ich laufen will, wegen dieses Lärms. Und womöglich schläft sie gar nicht. Es ist nämlich wieder Licht bei ihr. Weißes, weißes Licht bei ihr.

Am Tag ist alles anders. Ich arbeite. Ich gehe herum und versuche Essen aufzutreiben, ich koche, wenn es etwas gibt.

Der Tag ist die zweite Schicht. Eine helle Lüge über dem schwarzen Band von Nichts.

Nichts ist mehr so, nichts war so.

Es gibt Öffnungszeiten und Schluss, manchmal jedenfalls, nicht immer, nicht ganz genau. Es gibt Ziele, Aufgaben, Wege. Wenn es auch andere sind als die alten, so sind es doch Wege. Man geht sie.

Manchmal sterben Wörter, »wichtig« ist so eins. Es ist plötzlich nicht mehr da, kein Mensch gebraucht es mehr, dabei war es mal ein Lieblingswort: wichtig. Man kam sich ziemlich wichtig vor oder sogar: Man war es!

Oder etwas war es: wichtig. Es ist geradezu abgeschafft, als Qualität, einfach nicht mehr da.

 

Ich bin dünn geworden. Dünn wie Reba. Wir essen kaum. Was uns nicht schadet. Wir haben Kraft. Ich war noch nie so zäh. Erstaunlich, was man alles in sich finden kann. Auch die Müdigkeit ist weg. Ich bin fortwährend wach. Irgendeine Gnade fehlt, vielleicht ist es sogar gerade die von »wichtig«. »Wichtig« macht den Unterschied, ohne Unterschied kann man nicht entspannen.

Aber wahrscheinlich ist es nur Wasser, das mir fehlt, etwas Kühles, Feuchtes, Weiches, irgendetwas Flüssiges. Oder Haut?

Die vom Interviewer ist jedenfalls völlig zerfurcht. Richtige Löcher hat er im Gesicht. Das müssen die Antworten gewesen sein, mit Akne ist es nicht zu erklären.

Ich traf ihn heute unten, er läuft ständig hier herum.

Entschuldigung, sagte er, darf ich Sie etwas fragen? Sind Sie ein Täter? Wie hat es denn angefangen? …

Immerhin, es fiel mir auf, dass die Leute ihn angucken, ohne Ausdruck zwar, aber das ist doch schon was, wenn sie wenigstens mal gucken.

Vielleicht rüttelt er sie ja wach.

Ich habe auch geguckt, habe diese Löcher gesehen.

Als ich ihn vor vielen Jahren kennen lernte, saß er noch hinter der Glasscheibe und sagte seine Kommentare auf. Rundfunkmann: kein Zischen, kein Ploppen, kein »Magen«. Ja, noch nicht mal das, kein knurrender Magen vor dem Mikrophon. Weil die Kommentare nicht gut waren, sprach er später fast nur noch die Nachrichten, absurde Wettervorhersagen, wie das Wetter in ganz Deutschland wird: 8 bis 17 Grad, und dann noch die Verkehrshinweise. Lange her.

– Kennen Sie mich noch, Herr Meyer? Wir haben doch hier zusammen gearbeitet, hier in diesem Haus,

Aber auf so was reagiert er nicht. Er ist durchgeknallt. Irgendwann. Plaff.

 

Mittags kam Nadja.

Es ist unglaublich: Sie hat jetzt einen Nerz.

Wie eine Idiotin ist sie vor mir hin und her flaniert. Dabei hat sie entsetzlich gestunken. Und es war Mittag, ich konnte die Fenster nicht öffnen!

Sie haben gerade wieder eine Broschüre verteilt, deren Inhalt ich durchaus ernst nehme, wobei ich allerdings auch ohne die Broschüre mittags weder hinausgehen noch die Fenster öffnen würde. Sie ist also überflüssig.

Aber gerade hier in dieser Gegend ein altbewährtes Mittel. Auch früher hat sie uns schon vor der Petrochemie gewarnt, besser gesagt in Schutz genommen. Wusste man doch, was man zu tun hat, wenn ein Unfall geschah: Fenster schließen. Im Haus bleiben, nicht fliehen, da dies die Zufahrtswege für das Rettungspersonal verstopfen könnte. Radio einschalten. Keinen »innerhäuslichen« Sport treiben, wenig bewegen, Panik vermeiden.

Heute ist das einfach. Die Temperatur regelt alles. Niemand, der Fenster hat, öffnet sie am Tag. Und keiner betreibt »innerhäuslichen« Sport, was auch immer das sein sollte, die Morgengymnastik oder die gelegentlichen 10 Minuten auf dem Hometrainer. Nur ich bilde manchmal eine Ausnahme,