Welten auseinander

Julia Franck

Welten auseinander

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Julia Franck

Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ›Der neue Koch‹, danach ›Liebediener‹ (1999), ›Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen‹ (2000) und ›Lagerfeuer‹ (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ›Die Mittagsfrau‹ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien der Roman ›Rücken an Rücken‹ (2011). Julia Francks Roman ›Lagerfeuer‹ wurde 2012/13 für das Kino unter der Regie von Christian Schwochow unter dem Titel ›Westen‹ verfilmt.

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Julia wird in Ostberlin geboren. Sie ist acht, als ihre Mutter sie und die Schwestern in den Westen, erst ins Notaufnahmelager Marienfelde und dann nach Schleswig-Holstein mitnimmt. In dem chaotischen Bauernhaus kann die Dreizehnjährige nicht länger bleiben und zieht aus, nach Westberlin. Neben der Sozialhilfe verdient die Schülerin Geld mit Putzen, sie lernt ihren Vater kennen und verliert ihn unmittelbar, macht ihr Abitur und begegnet Stephan, ihrer großen Liebe. Wenn sie sich erinnert, ist es Gegenwart.

 

»Welten auseinander« ist die bewegende Erzählung einer ungewöhnlichen Jugend voller Brüche und Unsicherheiten; ein schmerzhaft-schönes Buch der Selbstbehauptung, das von Scham und Trauer so genau erzählt wie von Tod und Liebe. Schreiben und Literatur erweisen sich als Instrumente des Bleibens, vorerst.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: KOSMOS - Büro für visuelle Kommunikation

Coverabbildung: Hokusai, Regenpfeifer über den Wellen (Detail)

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403557-4

Oft liegen unsere Geschichten und unsere Sicht auf die Wirklichkeit Welten auseinander. Wir erinnern uns an Ereignisse und unsere nächsten Menschen vollkommen unterschiedlich – so unterschiedlich, wie wir für uns selbst und voneinander träumen. Denken wir an unsere Großmutter, so kannten wir jeder eine andere, selbst wenn wir Söhne desselben Vaters wären und dessen Mutter dieselbe reale Person gewesen wäre. Daher wird sich keine reale Person in einer der Figuren dieses Buches wiedererkennen. Unmöglich. Wir betrachten jeder die Welt aus unserer Perspektive, wir kennen unsere Nächsten auf die uns ganz eigene Art, wir wissen Dinge übereinander, die der andere häufig selbst von sich nicht weiß. Wer weiß schon, wie der andere einen sieht, hört und liest. Wir erkennen Zusammenhänge und verstehen einander, wie der andere es nicht vermag, wir irren dabei und ändern uns. Wir erzählen, wahren zugleich Geheimnisse und hören

war es noch kühl gewesen, der Duft des Flieders liegt über dem Asphalt der Vorbergstraße, Apostel-Paulus-Kirche, Schwäbische Straße, freihändig auf dem Rad, und die weißen Kastanien werfen ihre ersten Blütenblätter ab, ich weiß es bis heute. Unzählige Details dieses Tages haben sich in meine Erinnerung gebrannt. Das Datum sollte ich später in meinen Ring gravieren lassen.

 

Den Ring hatte ich einige Jahre zuvor beim Putzen auf dem Boden gefunden. Er gehörte niemandem. Die Leute, bei denen ich arbeitete, hatten mir gesagt, ich solle ihn behalten. Es war ein einfacher hellgoldener Ring, zu schmal für einen Ehering. Als Stephan mir im ersten Jahr unserer Liebe eines Abends den breiten gelbgoldenen Ehering seiner verstorbenen Großmutter über den Finger schob, damit ich ihn auf unabsehbare Zeit trüge, nahm ich meinen Findling vom Finger und gab ihm diesen im Gegenzug. So trugen wir jeder den Ring des anderen mit seiner jeweiligen Geschichte, wobei diejenige meines Rings noch unbekannt war.

Das gezielte Vergessen ist uns nicht möglich. Unseren Körpern so wenig wie unseren Seelen. Was wir nicht verstehen, fesselt uns. Auf dem Rücken liegen wir im Sand, das Rauschen des Meeres im Ohr und auf der Haut, in

Er war schmal, das kastanienbraune Haar schimmerte in Wellen, ein knabenhafter Junge mit einer tiefen und warmen Stimme. Seine Haut war gezeichnet, auf dem Bauch trug er mehrere Narben, zwei von fast zwanzig Zentimetern Länge und kleinere. Es hatte vor unserer gemeinsamen Zeit eine Notoperation geben müssen. Er kannte Schmerz und Narkose.

Zu seinem neunzehnten Geburtstag schenkte ich Stephan Faulkners Wilde Palmen mit der Widmung: Aus

 

Stephan hatte mich am Vormittag des sonnigen Maitages angerufen, er wollte mich später treffen, unbedingt. Er schraubte an seinem neuen Fahrrad – als Linkshänder wollte er die Bremsen von Vorder- und Hinterrad vertauschen. Ich weiß noch, wo ich während dieses Gesprächs in meiner Wohnung in der Schöneberger Hauptstraße stand. Sobald das Telefon klingelte, musste ich das Fenster schließen, weil der von unten dröhnende Verkehr zu laut war. Wie mein Blick auf die Bücher fiel, ein altes hölzernes Postregal mit hohen Fächern, in dem ich die halbe Bibliothek meines Vaters mit Baudelaire und Stendhal, Sartre und Camus untergebracht hatte, daneben standen die Ordner mit Sozialhilfeanträgen, Halbwaisenrentenanträgen, Kleideranträgen, der Sterbeurkunde meines Vaters, meinem Antrag auf Wiederaufnahme in das Schulsystem nach den fast zwei Jahren meiner Abwesenheit 87/88, Praktikumsbescheinigungen, Steuerkarten und Honorarblätter aus dem Restaurant, in dem ich zwei, drei Jahre gekellnert hatte, mein Abizeugnis, die ersten Artikel für den Tagesspiegel. Das Regal gehörte zum Inventar der Wohnung und wie Waschmaschine, Schleuder und Kühlschrank dem Hauptmieter, der vier Jahre zuvor mein Liebhaber und damals doppelt so alt gewesen war wie ich. Auf der Mondkarte über der Matratze stand ein Streifen Sonnenlicht. Es war ein Wendeplakat, an jenem 12. Mai 1992 hing die Rückseite des Mondes aus. Die Matratze hatte ich mitgebracht, ebenso den alten

Zu der Zeit stand ich am Anfang eines Jurastudiums und malte mir aus, eines Tages Anwältin für Greenpeace oder Amnesty International zu werden. Mit der kleinen alten Minox, die mir ein Freund geschenkt hatte,

Fotografieren war teuer, die Filme, das Papier, die Chemikalien. Die Negative ließ ich meist im Laden entwickeln, die Abzüge machte ich von Hand in einer provisorisch aufgebauten Dunkelkammer im fensterlosen winzigen Bad. Auch den alten Vergrößerer hatte mir der Hauptmieter in seiner Wohnung zurückgelassen. Er stand oben auf dem Postregal und ragte wie ein Gerippe unter die vier Meter dreißig hohe Decke. Ich sagte Stephan, dass ich am Abend noch in die Uni wolle. Mein Studium sollte an diesem Tag warten können, zur Vorlesung würde ich es bestimmt noch schaffen. Ich wusste von Stephans Schwanken, seinen Zweifeln und Unwägbarkeiten der letzten Monate, wenn auch nicht alles. Zwei Tage zuvor noch hatten wir bei unserer Begegnung in seiner frisch bezogenen, ersten eigenen Wohnung Stunden gesprochen. Die Sonne blendete ihn. Es ging ihm nicht gut, er wollte seine Eltern nicht enttäuschen, mich nicht, seine Freunde nicht, er brauchte Zeit und Raum für seine

Über mein Herzrasen der letzten Monate sprach ich mit niemandem. Es kam als Attacke. Es überfiel mich unvorhersehbar, nachts, wenn ich einschlafen wollte, und auch einmal im Lokal am Ende eines langen Arbeitsabends. Etwas nach Mitternacht, ich kellnerte, die letzten Gäste zahlten, der Chef saß mit seinem dicken Portemonnaie am Tisch, zählte Scheine und Münzen, machte die Abrechnung, und ich sah die unzähligen leeren Gläser auf meinem Tresen stehen, mit ihrem getrockneten Bierschaum und fettigen Fingerabdrücken am Bauch, einige mit Lippenstift am Rand. Denke flüchtig an die Klausur, die wenige Stunden später, gleich morgens in der ersten

Erst als zwanzig Jahre später meine Großmutter Inge gestorben war, fand sich in ihrem Sekretär ein kurzer Lebensbericht ihrer Schwester Gisela. Darin schildert sie,

Als wir mit unseren Abiturzeugnissen in der U-Bahn zum letzten Mal von der Schule stadteinwärts fuhren, fragte mich die angehende Tierärztin als Erstes nach meiner Biologienote. Hier konnte ich sie beruhigen, unsere Noten unterschieden sich nicht. Sie wollte es nicht glauben, sie löcherte und befragte mich nach einzelnen Fächern und genauen Punkten, weil wir außer dem Leistungskurs kaum Kurse gemeinsam gehabt hatten. Mein Mund war trocken, mir war heiß, ich stammelte. Sie hatte einfach nicht kommen sehen, dass ausgerechnet ich ein besseres Abitur machen sollte. Ich spürte ihre Überraschung, ihre Enttäuschung und ihren Neid. Sie erzählte den anderen, wie viel sie in den vergangenen Monaten gelernt habe, und wollte von jedem wissen, ob er auch so viel gelernt hätte. Ich hob die Schultern, ich wollte in Grund und Boden versinken. Sollte ich sie anlügen und behaupten, ich hätte viel gelernt? Ihre Eltern und ihr Freund seien stolz. Das beruhigte mich etwas. Sie konnte sich freuen. Ich dagegen konnte mich nicht freuen. Ich

Ich vergrößerte den Abstand zwischen meinem Ohr und dem Hörer. Wem gehörte diese Stimme, die mir, die ich schon über sieben Jahre ohne sie lebte, von ihren Entspannungstechniken erzählte? Die vollkommen überraschende Vertraulichkeit der Frau, die mich einst geboren hatte, erschien mir falsch. Wer war ich, dass sie mich nach Monaten, Hunderte von Kilometern entfernt anrief und meinen Gesprächsabschied mit dieser Information quittierte? Zum Glück übermittelte das Telefon niemandem mein Erröten. Mir fiel keine Erwiderung ein. Ich verabschiedete mich einsilbig. In diesem Sommer rief ich niemanden aus meiner Familie oder sonst irgendeinen Menschen an, um mitzuteilen, dass ich mein Abitur bestanden hatte. Mit meinem Abitur war ich allein.

Ich erinnere mich an die weichen Knie, als ich am Tag der mündlichen Abiturprüfung die Treppen hinauf in den Prüfungsraum musste. Schweißkalte Hände, die Beine gehorchten kaum, zu schwer kam mir mein Körper vor. Jeder Prüfling war zu seiner eigenen Zeit bestellt, zum Glück war ich allein am Fuß der Treppe. Ich musste das blaugestrichene Geländer mit beiden Händen umfassen, und eine Hand vor die andere setzend, mich mit den Armen ziehend, also in gewisser Hinsicht auf allen vieren, den Körper die drei Treppen hinauf hangeln. Ich hatte die ganze Nacht noch gelesen, einfach keine einzige Stunde geschlafen. Es ging um Kunstgeschichte, die Entwicklung der Zentralperspektive. Ich war begeistert von dem Thema, aber ich würde nur zwanzig Minuten

Mehr als die Scham über das Einser-Abitur erwirkte in den folgenden Monaten das bislang unbekannte Gefühl der vollkommenen Freiheit eine tiefe Anspannung in mir. Die Freiheit, alles studieren zu können und alles erleben zu dürfen, was ich wollte, erschien als Bedrohung. Zugleich empfand ich eine ungeheure Verantwortung. Ich wollte etwas studieren, das dem unverhofften Abitur und seinen Möglichkeiten entsprach. Die Schönheit von Mikroorganismen, Zellen, DNA, das Wunder Leben. Für Medizin hätte ich mich unmittelbar zum Medizinertest anmelden müssen, also entschied ich mich zunächst für Rechtswissenschaften. Gegen die Panikattacken halfen weder Baldrian noch Psychoanalyse, kein Autogenes Training und nicht, dass ich Stephan davon erzählte. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich in den Jahren zuvor die eine und andere Droge genommen hatte. Möglicherweise waren die Panikattacken nichts als Echos? Das Echo meines Körpers, seiner Abenteuer. Es war mir fast gleichgültig, wenn Freunde sich durch mein Lächeln

Stephans Krise aber, über die er allenfalls in Andeutungen mit mir sprechen konnte, war dem Anschein nach weder von einem Gefühl der plötzlichen Freiheit und der schweren Last einer inneren Verantwortung noch von fehlender Liebe, Gunst oder Erwartungen seiner Freunde und Familie ausgelöst. Seine eigene Position empfand er eher gegenteilig, saturiert, nicht prekär. Die Eltern hatten ihm vor wenigen Wochen seine erste eigene Wohnung gemietet, mit schönen Möbeln eingerichtet, den Umzug für ihn organisiert. Auf seinem Ausweis stand noch ihre Adresse. Er hatte in seinem ganzen Leben noch keinen einzigen Job suchen müssen. Während ich seit Jahren in Privathaushalten und einem Kindergarten putzen ging und kellnerte, kam bei ihm zu Hause jede Woche eine Putzfrau, die auch aufräumte. Anlässlich besonderer Gelegenheiten ging seine Familie in den besten Restaurants der Stadt essen. Seine Welt betrachtete er mehr aus der Perspektive eines Bret Easton Ellis. Er wollte Schriftsteller werden. Gewisse Schritte würde er allein tun

Wenige Monate später am Maiensonntag wollte ich ihn nicht bedrängen, wollte keine Geständnisse seiner Geheimnisse einfordern, da er mir unter Tränen sagte, er könne darüber nicht mit mir sprechen. Ich wollte ihm Respekt und Vertrauen zeigen. So schlug ich vor, dass wir

Am nächsten Vormittag rief er an. Ich muss dich sehen, heute, bitte. Das hatte Stephan mir an jenem Dienstag am Telefon gesagt. Was willst du, ich. Dich, das war seine Antwort. Er klang angespannt, ob fröhlich, mutig, ängstlich, konnte ich seiner Stimme nicht entnehmen. Gut. Ja, ich werde da sein, antwortete ich. Wir einigten uns auf vier Uhr nachmittags im Café Hardenberg, gegenüber der TU. Er hatte ein knappes Jahr zuvor mit Germanistik angefangen. Wegen Norbert Miller studierte er an der TU, während ich Rechtswissenschaften an der FU studierte.

Tauschten wir Kleider? Studierte ich das, was unsere Nächsten von ihm erwarteten, und er das, was ich ihm allein lassen wollte? Wir hatten uns vier Jahre zuvor kennengelernt und zusammen das Abitur gemacht. Beide waren wir in Berlin geboren, er in West und ich in Ost. Unsere Welten und Familien konnten kaum unterschiedlicher sein. Er kam aus einer traditionellen Familie, Mutter, Vater, zwei Kinder. Die Eltern waren kluge und gebildete Menschen, beide Richter. Sie kamen ihrerseits aus ordentlichen und wohlhabenden Verhältnissen, aufgeklärtes Bildungsbürgertum, deutsche Protestanten. Ostern und Weihnachten gingen sie in die Kirche, der eine etwas lieber als der andere. Politisch waren seine Eltern nie einer Meinung, sie wählten entschlossen gegensätzlich. Sie hatten Humor und waren jeder auf seine Weise sehr warmherzig. Stephans familiäre Herkunft, obwohl

Dagegen kam ich aus dem Chaos, Ost, Nord, West, als Nomadin, Flüchtige und fast Waise daher. In ihren Augen mochte ich eine Vagabundin sein, ein Hippiekind, ein herrenloses Geschöpf. Sie wussten, dass ihr Sohn mich liebte, und öffneten mir ihre Tür. Selbst zum Weihnachtsfest hießen sie mich willkommen. Ich erinnere mich, dass ich im besten Blumengeschäft des Viertels einen großen Strauß gelber Rosen kaufte. Mitten im Winter. Sonst wäre ich allein zu Hause geblieben, wie zum letzten Weihnachten. Ihre Wohnung lag fast am Lietzensee, in Charlottenburg. Oft waren Stephan und ich dort spazieren gegangen, wenn ich ihn besuchte.

Als wir das Abitur bestanden hatten, er, wie seine Mutter liebevoll zwinkernd sagte, mit dem geringstnötigen Aufwand, luden seine Eltern uns erleichtert zum Essen in ein gutes Restaurant ein. Dass Stephan sich in der mündlichen Prüfung null Punkte geleistet hatte, aus Wut und Stolz, da der Lehrer ihm eine unvorhersehbare Aufgabe gestellt hatte, fand sein Vater richtig. Schulterklopfen. Man dürfe sich nicht alles gefallen lassen. Um diese Zeit wohnte Stephan seit Monaten mehr oder weniger bei mir in der Schöneberger Hauptstraße, wir verbrachten nahezu jede Nacht beieinander. Seine Eltern waren froh, wenn sie ihn hin und wieder sahen. Sonntags besuchte er sie mit seltenen Ausnahmen zum Essen. Es war

hatte ich als Kind mit der Mutter und drei Schwestern von Oktober 1978 bis Sommer 1979 fast neun Monate im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde gelebt. Das Bundesland Schleswig-Holstein nahm uns als Sozialfall auf, und unsere Mutter fand in einem zersiedelten Dorf am Nord-Ostsee-Kanal ein altes Bauernhaus aus Backsteinen mit Reetdach, einer großen Tenne als fast lichtlosem zentralen Raum und einem unendlich erscheinenden, zaunlosen Garten, an den sich Koppeln bis hinunter zum Kanal anschlossen. Hier wollte Anna aussteigen und ankommen. Mit Unterstützung der Sozialhilfe wollte sie mit ihren Töchtern ein Leben in Freiheit finden.

Niemand im Westen kannte sie, es gab Schauspielerinnen wie Sand am Meer. Bei der Arbeitsvermittlung im Notaufnahmelager hatte man ihr offen gesagt, dass niemand hier im Westen auf sie wartete. Für eine fünfunddreißigjährige Schauspielerin, alleinstehend, mit vier Kindern von verschiedenen Männern, bestand, nachdem sie die letzten Jahre nicht mehr gespielt hatte, keinerlei Aussicht auf ein Engagement. Zu der Zeit um den ersten Ausreiseantrag hatte sie am Potsdamer Hans-Otto-Theater aufgehört und wollte Bühnenbild studieren. In den Jahren der wiederholten Vorladungen und Zurückweisungen ihres Ausreiseantrags waren ihr Arbeiten als

Wir hielten verschiedene Tiere. Schaf, Ziege, Schwein, Gans, Kaninchen, Hund und Katze. Zuerst nur weibliche, außer dem Hund meiner Zwillingsschwester. Keins sollte allein bleiben, alle sollten sich vermehren. Unter den knorrigen Obstbäumen legten wir ein Hügelbeet und ein Frühbeet an. Wir kochten Marmelade, pressten Saft aus Holunderbeeren, buken Brot aus dem von eigener Hand gemahlenen Korn, molken die Ziegen und machten den Käse selbst. Nur die Lämmchen und Ferkel, die bald geboren werden sollten, wollten wir Kinder so wenig wie die Brennnesselsuppe unserer Mutter essen. Im Sommer pflückten wir Sauerampfer, Schafgarbe und Löwenzahn von den Wiesen, wer brauchte schon wässrigen Kopfsalat aus dem Supermarkt. Niemand kochte bei uns nach Rezepten aus Büchern, wir kochten so, wie wir es uns selbst beibrachten. Die Apfelkuchen und Haferkekse, die Weihnachtsplätzchen und Blaubeertorten improvisierten wir. In der Frühe standen wir allein auf, machten uns Tee, und im Winter schippten wir Kinder noch vor Morgengrauen den Schnee und die Eisschollen vom Gehweg vor dem Haus. In die fünf Kilometer entfernte

Da war ein Junge, Schelsky, der uns am Fährberg manchmal auflauerte. Im Stehen traten wir den Berg hinauf. Unsere Räder hatten keine Gangschaltung und waren schwer. Er stellte sein Rad quer über den Weg. Kaum bremsten wir vor ihm, kippten seitlich vom Rad, riss er an unseren Lenkern, dass die Räder zu Boden krachten, er beschimpfte uns und spuckte uns ins Gesicht. Mehrmals. Er spuckte, so viel er konnte, während er erst die eine und dann die andere festgehalten und uns zu den liegenden Rädern geschubst hatte. Nie zuvor hatte mir jemand ins Gesicht gespuckt. Es gab keinen Anlass, er mochte uns einfach nicht. Er war drei Jahre älter und einen Kopf größer. Wir hätten ihn gern vergessen. Etwas von dem Geruch bleibt haften, man riecht es noch Tage und Jahre später.

Aus ihrer Orientierungslosigkeit im Flüchtlingslager

Eine Kindergärtnerin der regionalen Waldorfschule hatte sich schon im Frühling bereit erklärt, die Zwillinge bei sich aufzunehmen. So kamen wir etwas früher aus dem Lager raus und wohnten bei den Leuten. Die Fremden waren wir. Eindringlinge. Es waren Wochen, in denen wir alles falsch machten. Wir kannten ihre Tischgebete nicht, vergaßen immerzu das Händewaschen und Haarekämmen, kauten mit offenem Mund, rückten unsere Wechselwäsche zum Waschen nicht raus und sprachen in fremdem Dialekt. Wir kannten keine Höflichkeit, keinen Knicks und keinen Augenaufschlag. Wir logen, als uns ein Glas runtergefallen war, und kehrten heimlich, aber nicht ausreichend gründlich die Scherben zusammen, wir stahlen einen Keks vom Teller auf dem Tisch, wir flüsterten und verließen unaufgefordert das uns zugewiesene Zimmer. Bald schlichen wir auf Zehenspitzen durch das Haus. Walle, walle, lernten wir den ersten Waldorfwitz: Wolle? Fragt der Mann mit leichtem Lächeln und berührt mit den Fingerspitzen den Pulloverärmel seiner Angebeteten. Morgens nahm sie uns mit in die Waldorfschule, wo wir als Johanna und Susanne angemeldet waren. Nur wenige Wochen mussten wir bei dieser Frau bleiben.

Wenn wir gekocht und den Abwasch erledigt hatten, im Garten geholfen, das Holz gehackt und geschichtet war, verschwanden wir Zwillinge zum Baden im Dörpsee und auf den weiten Koppeln hinter dem Haus zum Spielen. Ehe eines Tages das Weideland verkauft werden und die Siedlung Fährblick mit Einfamilienhäusern dort entstehen sollte, waren die Koppeln nur selten von Stacheldraht umspannt, Reihen von Buchen, Knick genannt, dienten als Windschutz und Begrenzung. Der Eigentümer hatte die Koppeln an Bauern verpachtet, die darauf Kühe und ausgediente Pferde weiden ließen. Die bestimmt zwanzig, wenn nicht fünfundzwanzig Pferde und Ponys waren alt oder krank. Wir besuchten sie, fütterten sie mit Hirtentäschel und Löwenzahn, brachten ihnen im Spätsommer einen ersten kleinen Apfel mit und beobachteten sie. Wir gaben ihnen Namen und überlegten, welche zu klein und schwach waren, um auf ihnen zu reiten. Solange wir denken konnten, waren wir Indianer. Nie spielten wir Cowboy und Indianer, Cowboys waren doof, die brauchte keiner. Wir waren Indianer. Eines unserer Pferde war kahl, das andere hatte einen konkaven Rücken. Seine Wirbelsäule hing durch, als hätte es sein Leben lang Zementsäcke tragen müssen und als könnte sein Bauch demnächst auf dem Boden schleifen. Ein anderes

Meine Zwillingsschwester war als Dreijährige in der Ostsee einmal kopfüber ins flache Wasser gekippt und beinahe ertrunken. Sie soll als Kind hin und wieder Anfälle gehabt haben, Blauwerden und kurze Ohnmacht. Ich erinnere mich daran nicht, aber unsere Mutter erzählte manchmal davon. Eine Spätfolge ihres Sauerstoffmangels während unserer zu frühen Geburt. Auch ihr Gleichgewichtssinn reifte wohl später. Nach dem Winter, in dem ich in der Schwimmhalle Wildau schwimmen gelernt hatte, übte ich vor dem Haus unserer Großmutter in Rahnsdorf Rad fahren. Ich war ja schon fünf. Man hatte mir den Sattel von Inges Klapprad so tief wie nur möglich gestellt. Plötzlich konnte ich es. Je schneller ich trat, desto leichter ließ sich das Gleichgewicht halten. Damals kam nur selten ein Auto auf der Straße vorbei.

Wurde ich bestraft? Überraschend standen zu Ostern in Rahnsdorf drei nagelneue Räder. Meine Zwillingsschwester bekam ein glänzend lackiertes, froschgrünes großes Kinderfahrrad mit Klingel geschenkt, an das Stützräder geschraubt waren. Meine ältere Schwester erhielt ein blaues mit größerem Rahmen wie eine Erwachsene, mit Klingel, Licht und hübschem Netz als Speichenschutz, meine Mutter das gleiche in Rot. Neben den neuen stand das alte Kinderrad meiner älteren Schwester, es sei jetzt meins. Es hatte weder Klingel noch Licht, aber es fuhr gut und ohne Stützräder. Immerhin konnte ich darauf schnell und langsam und sogar im Slalom fahren. Wohin ich wollte. Nur sollte ich es nicht zeigen.