Die Eisbahn

Roberto Bolaño

Die Eisbahn

Roman

Roman

Aus dem Spanischen von Christian Hansen

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Roberto Bolaño

Roberto Bolaño wurde 1953 in Santiago de Chile geboren, lebte in seiner Jugend lange in Mexiko-Stadt und siedelte später mit seiner Familie nach Spanien um. Dort starb er 2003, im vergeblichen Warten auf eine Lebertransplantation, als er gerade an seinem Meisterwerk »2666‹«arbeitete.

Zuletzt erschienen erstmals auf Deutsch bei S. Fischer die Romane »Der Geist der Science-Fiction« (2018) und »Monsieur Pain« (2019).

 

Christian Hansen, 1962 in Köln geboren, lebt in Berlin und Madrid. Er übersetzt u.a. Werke von Roberto Bolaño, José Pablo Feinmann, Juan Goytisolo, Amin Maalouf, Alan Pauls, Sergio Pitol, Guillermo Rosales und Vizconde de Lascano Tegui.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Nuria ist Eiskunstläuferin. An ihrer leuchtenden Schönheit perlen alle Adjektive ab. Jedenfalls denken das drei Männer, die alles für sie geben. Als sie aus der Nationalmannschaft ausgeschlossen wird, veruntreut einer von ihnen Geld. In einer baufälligen Villa legt er davon eine Eislaufbahn an, nur für sie. Der zweite beobachtet das argwöhnisch, der dritte verzehrt sich vor Eifersucht. Am Ende liegt eine Leiche auf dem Eis. Wer von dreien weiß alles?

»Die Eisbahn« ist der erste veröffentlichte Roman von Roberto Bolaño, die Ankündigung seines Meisterwerks »Die wilden Detektive«. Geschrieben hat ihn Bolaño heimlich als Nachtwächter auf einem Campingplatz an der Costa Brava. Wie eine Figur im Roman war er ein Dichter aus Mexiko, der auf die düsteren Erzählungen in seinem Innern lauschte.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel

»La pista de hielo« bei Editorial Anagrama, Barcelona.

 

Premio de Narrativa ›Ciudad de Alcalá de Henares 1992‹

Copyright © 1998, Roberto Bolaño

All rights reserved.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Hissmann, Heilmann, Hamburg

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490992-9

Fußnoten

Unión General de Trabajadores, spanische sozialistische Gewerkschaft.

Comisiones Obreras oder offiziell Confederación Sindical de Comisiones Obreras, spanische kommunistische Gewerkschaft. [A.d.Ü]

Mario Santiago

Das erste Mal traf ich ihn in der Calle Bucareli

Das erste Mal traf ich ihn in der Calle Bucareli in Mexiko, also in meiner Jugend, in der verschwommenen und ungewissen Zone, die den eisernen Dichtern gehörte, in einer Nacht unter dichtem Nebel, der die Autos zum Langsamfahren zwang und die Passanten veranlasste, das für jene mexikanischen Nächte – zumindest so weit ich mich erinnern kann – höchst ungewöhnliche Wetterphänomen mit belustigter Verwunderung zu kommentieren. Noch bevor man ihn mir an der Tür des Cafés La Habana vorstellte, hörte ich seine Stimme, dunkel, wie Samt, das Einzige, was sich über die Jahre nicht verändert hat. Er sagte: Das ist eine Nacht, wie für Jack gemacht. Womit er auf Jack the Ripper anspielte, aber der Klang seiner Stimme rief Länder ohne Recht und Gesetz ins Gedächtnis, in denen alles geschehen konnte. Wir waren allesamt jung, jugendliche Draufgänger allerdings, und Dichter und amüsierten uns prächtig. Der Unbekannte hieß Gaspar Heredia, Gasparín für Freunde und willkürliche Feinde. Ich erinnere mich noch an den Nebel unter den Drehtüren und an die Anzüglichkeiten, die hin und her flogen. Die Gesichter und Lichter waren kaum auszumachen, und die in jene Stola gehüllten Leute wirkten energiegeladen und unbedarft, bruchstückhaft und unschuldig, wie wir es ja

Nach Z kam ich im Laufe des Frühlings

Nach Z kam ich im Laufe des Frühlings, in einer Nacht im Mai, von Barcelona aus. Ich hatte kaum noch Geld, machte mir deswegen aber keine Sorgen, denn in Z erwartete mich Arbeit. Remo Morán, den ich seit vielen Jahren nicht gesehen hatte, über den ich aber ständig informiert war, außer in der Zeit, wo keiner etwas von ihm wusste, hatte mir auf Vermittlung einer gemeinsamen Freundin eine Saisonarbeit von Mai bis September angeboten. Ich muss dazu sagen, dass ich ihn nicht um Arbeit gebeten hatte, dass ich weder damals noch zu einem früheren Zeitpunkt versucht habe, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und dass ich nie vorhatte, nach Z zu ziehen. Es stimmt, dass wir einmal Freunde waren, aber das ist lange her, und ich bin keiner, der um Almosen bettelt. Bislang hatte ich in einer Wohnung im Barrio Chino gewohnt, die ich mir mit drei anderen Typen teilte, und es lief für mich nicht so schlecht, wie man vielleicht meinen könnte. Mein rechtlicher Status in Spanien war, von den ersten Monaten abgesehen, gelinde gesagt, verzweifelt: Ich habe keine Aufenthaltsgenehmigung, habe keine Arbeitserlaubnis und lebe in einer Art unbefristetem Fegefeuer, während ich darauf warte, eines schönen Tages das nötige Geld zusammenzuhaben, um von hier zu verschwinden oder einen Anwalt bezahlen zu

Bis vor ein paar Jahren war ich ein sprichwörtlich friedliebender Mensch

Bis vor ein paar Jahren war ich ein sprichwörtlich friedliebender Mensch; das können meine Angehörigen, meine Freunde, meine Untergebenen und all jene bezeugen, die Gelegenheit hatten, mich etwas näher kennenzulernen. Alle würden sagen, ich sei der Letzte, von dem man erwarten würde, dass er sich in ein Verbrechen verstrickt sehen könnte. Ich führe ein geordnetes, geradezu strenges Leben. Ich rauche wenig, trinke wenig, gehe höchst selten abends aus. Meine berufliche Ausdauer ist allgemein bekannt: Wenn nötig arbeite ich bis zu sechzehn Stunden am Tag, ohne dass meine Leistungsfähigkeit nachließe. Mit zweiundzwanzig hatte ich mein Psychologie-Diplom in der Tasche und darf ohne falsche Bescheidenheit sagen, dass ich einer der besten meines Jahrgangs war. Gegenwärtig absolviere ich ein Jura-Studium, das ich schon längst hätte abschließen müssen, ich weiß, aber mir war es lieber, die Sache ruhig angehen zu lassen. Ich habe es nicht eilig. Tatsächlich musste ich oft denken, dass es vielleicht ein Fehler war, sich für Jura zu immatrikulieren, hatte ich das wirklich nötig? Ein Studium, das mit den Jahren immer ätzender wurde? Was nicht heißt, dass ich aufgeben werde. Ich gebe nie auf. Manchmal bin ich langsam, manchmal schnell, halb Schildkröte, halb Achill, aber aufgeben?

Es stimmt, im Mai habe ich Gaspar Heredia einen Job verschafft

Es stimmt, im Mai habe ich Gaspar Heredia einen Job verschafft, Gasparín für seine Freunde, Mexikaner, Dichter, Habenichts. Ohne es mir selbst eingestehen zu wollen, habe ich seine Ankunft doch mit Ungeduld und Spannung erwartet. Als er im Cartago zur Tür hereinkam, hätte ich ihn trotzdem fast nicht wiedererkannt. Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Wir umarmten uns, und schon da war Schluss. Oft habe ich gedacht, hätten wir damals miteinander geredet, hätten wir einen Spaziergang am Strand gemacht und dann zusammen eine Flasche Cognac geleert und geheult oder bis zum frühen Morgen gelacht, wäre alles ganz anders gekommen. Aber nach der Umarmung trat eine eisige Starre in mein Gesicht, und nicht die kleinste freundschaftliche Geste brachte ich mehr zustande. Ich sah ihn mutterseelenallein, klein und hilflos, weit zurückgelehnt auf einem Hocker an der Bar, und tat nichts. Schämte ich mich? Welche Art Monster rief seine plötzliche Anwesenheit in Z auf den Plan? Ich weiß es nicht. Vielleicht glaubte ich, ein Gespenst zu sehen, und Gespenster missfielen mir zutiefst in jenen Tagen. Nein, heute nicht mehr. Im Gegenteil, heute versüßen sie mir meine Abende. Es war nach Mitternacht, als wir das Cartago verließen, und ich unternahm nicht

Er hieß Stella Maris

Er hieß Stella Maris (ein Name, der an eine Pension erinnerte) und war ein Campingplatz ohne übermäßig viele Vorschriften, ohne übermäßig viele Querelen, ohne übermäßig viele Diebstähle. Die Campinggäste waren Arbeiterfamilien aus Barcelona und junge Werktätige aus Frankreich, Holland, Italien, Deutschland. Eine Mischung, die sich gelegentlich als explosiv erwies und es wohl auch tatsächlich geworden wäre, wenn ich nicht von der ersten Nacht an den goldenen Rat befolgt hätte, den mir El Carajillo damals gab und der darin bestand, die Leute sich gegenseitig die Köpfe einschlagen zu lassen. Die Unverblümtheit der Maxime, die bei mir erst Heiterkeit, dann Verblüffung auslöste, verriet keinen Mangel an Respekt gegenüber den Gästen des Stella Maris, sondern entsprang im Gegenteil einer hochgradigen Wertschätzung ihrer Willensfreiheit. El Carajillo war, wie ich bald feststellen konnte, bei den Leuten beliebt, vor allem bei den Spaniern und einigen ausländischen Familien, die Jahr für Jahr den Sommer in Z verbrachten und die ihn auf seinem einzigen ausgedehnten Rundgang regelmäßig in ihre Wohnwagen oder Zelte einluden, wo es für ihn immer ein Schnäpschen, ein Stück Torte oder ein Pornoheftchen gegen die nächtliche Langeweile gab. Nächtliche Langeweile! Ganz unmöglich. Um drei Uhr morgens war der Alte sternhagelvoll und sein Schnarchen bis auf die Straße zu hören. Ungefähr zu dieser

Ich weiß, egal, was ich sage, ich reite mich nur tiefer rein

Ich weiß, egal, was ich sage, ich reite mich nur tiefer rein, aber lasst mich trotzdem reden. Ich bin kein Monster, auch nicht der Zyniker oder der skrupellose Mensch, als den ihr mich in so grellen Farben gemalt habt. Meine physische Erscheinung bringt euch womöglich zum Lachen. Unwichtig. Es gab eine Zeit, da haben die Leute vor mir gezittert. Ich bin dick, nicht größer als eins dreiundsechzig, und ich bin Katalane. Außerdem bin ich Sozialist und glaube an die Zukunft. Oder habe daran geglaubt. Entschuldigt. Ich mache gerade eine nicht so schöne Zeit durch. Ich habe an die Arbeit geglaubt … und an die Gerechtigkeit … und an den Fortschritt. Ich weiß, dass Pilar vor den sozialistischen Bürgermeistern der Provinz damit prahlte, einen Mann wie mich in ihrem Team zu haben. Es spricht viel dafür, dass sie es getan hat, dennoch habe ich mich in der Einsamkeit dieser Tage gefragt, warum trotzdem kein hohes Tier je versucht hat, mich in sein Boot zu holen, weit weg von Z und Pilar und ein Stück näher an Barcelona. Vielleicht hat Pilar nicht laut genug geprahlt. Vielleicht hatten schon alle ihren Mann und brauchten keinen anderen. Meine Macht wuchs und beschränkte sich auf Z. Das ist maßgebend. In Z vollbrachte ich meine guten Werke und das, wofür ich werde bezahlen