Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2018
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ISBN Printausgabe 978-3-7371-0026-7 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-10046-6
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Für Kerstin und Bastian
«… selbst Entbehrungen, wenn sie meiner
harren sollten, sind mir nicht so schrecklich,
wie äußere und innere Unfreiheit. Sich angehören,
ist der einzige begehrenswerthe Lebens-Luxus.»
Teodor Fontane an Wilhelm Hertz,
25. Juli 1876
Der Tag ist grau und kalt. Nieselregen fällt. In seinem Licht schwebt der Pulverdampf der ersten Silvesterböller. Auf hohen Buchen, die zwischen der feuchten Luft und dem blauen Dunst aufragen, sitzen Raben. Tief unter den Ästen, auf denen die Vögel hocken, drängen sich Autos über eine Kreuzung. An deren Rand steht ein Gebilde aus Bronze und Granit. Märkische Findlinge halten es in erhabener Höhe. Es überragt vorbeieilende Fußgänger – kleiner sollen sie sich fühlen vor der Figur, die an einen Menschen erinnert. Vor den Steinen blühen die Reste einer herbstlichen Blumenrabatte. Eine flache Barriere aus geschmiedetem Stahl umrahmt dieses kleine gärtnerische Ensemble, an dem der Frost schon genagt hat. An den Flanken der Anlage stehen Parkbänke. Sie sind leer. Am Tag vor Silvester ist kein Wetter, um sich an einer Kreuzung auf Bänke zu setzen. Wozu sollte man hier auch sitzen, unter der auf Steinen thronenden Bronzefigur?
Das Gebilde aus tonnenschwerer Bronze, Granit und Feldsteinen soll uns den Dichter Theodor Fontane nahebringen. Mag sein, dass wir ihm mit Ehrfurcht entgegentreten sollen. Mag sein, dass wir uns klein fühlen sollen vor dem Werk eines Poeten. Mag sein, dass wir staunen sollen: Bis hierher ist der Schriftsteller gewandert. Wieder und wieder. Doch woher kam er? Wo eigentlich liegt Neuruppin, die Kleinstadt mit seinen dreißigtausend Einwohnern? Irgendwo im Osten Deutschlands. Nördlich von Berlin, aber noch nicht in Mecklenburg. Wer weiß schon, wie man dorthin gelangt. Und warum sollte man?
Das Denkmal stammt aus der Kaiserzeit der Deutschen. Aus jenen Jahren, die das zwanzigste Jahrhundert einläuten. Errichtet 1907, also vor dem Ersten Weltkrieg. Vor dem Sterben der Millionen. Noch bevor die roten und braunen Mächte um die Vorherrschaft in der Welt streiten. Noch bevor die Worte Schoah und Holocaust Wirklichkeit werden, noch bevor Namen wie Hitler oder Stalin die Deutschen betäuben sollten. Auschwitz ist 1907 eine nahezu unbekannte Stadt im Norden der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn und damit Teil einer europäischen Großmacht. Habsburg – mächtiger als Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen, versinkt 1918 im Mahlstrom der Zeit.
Doch was hat Fontane mit all diesem zerstörerischen Chaos zu tun? Er ist in die Zeit vor diesem Wahnsinn verwickelt, ist in dessen Vorzeit hineingeboren. Er war dabei, als die Deutschen 1871 ihre Nation gründeten. Den Streit um die Nationalhymne erlebte er als Zeitzeuge. Die Entscheidung fiel auf «Heil dir im Siegerkranz». Das Lied der Deutschen mit seinem später zu streitbarem Ruhm gelangten Vers «Deutschland, Deutschland über alles» erschien dem deutschen Kaiser zu republikanisch, zu modern. Dieses Tauziehen umgab Theodor Fontane hautnah als Journalisten und Schriftsteller. Ihn selbst betraf die damalige Zerrissenheit der Deutschen auf der Suche nach einer Ahnung vom Vaterland. Noch war die deutsche Nation nichts anderes als ein Traum von Einigkeit und Recht und Freiheit.
Zeitig bemühte Fontane sich um eine Nähe zu Hoffmann von Fallersleben, der die nationale Sehnsucht zwischen Nordsee und Alpen sowie Ostpreußen und dem Rhein in Verse verwandelte. Von der «Hymne der Deutschen», 1841 erstmals gedruckt und in Hamburg öffentlich gesungen, war Fontane begeistert. Doch Fallersleben «erntete» für seinen Text seine Entlassung als Professor an der Breslauer Universität und verlor anschließend als politisch Verfemter seine preußische Staatsbürgerschaft. Fontane nennt Fallersleben 1842 in einem seiner frühen Gedichte im Stil von Friedrich Schiller einen «Sonnenaar», einen kühnen Sonnenadler. Diese Verse sind die Replik auf ein kleines Fest in Berlin zu Ehren des von der preußischen Geheimpolizei bespitzelten Lyrikers. Auch Fontane geriet so in den Verdacht, Träger umstürzlerischer Gedanken zu sein. Bis zu seinem Lebensende misstraute man in deutschen Regierungskreisen dem, der da in Bronze auf einer Granitbank an einer Straße vor Neuruppin selbstversunken sitzt. Dabei hat Fontane so viel von der wahren Größe Preußens erzählt, von der Poesie des Adels und den erst auf den zweiten Blick sichtbaren Wundern der Mark.
Die Einheit Deutschlands ist die große Sehnsucht des jungen Fontane. Doch Frankreich duldet diese Bewegung im Nachbarland nicht. Eine weitere europäische Großmacht soll unter der Führung Preußens in Europa nicht entstehen. Da fühlt sich der Nachfahre französischer Glaubensflüchtlinge, denn so einer ist Fontane, hin und her gerissen wie so viele andere Deutsche. Unter ihnen bricht eine Debatte aus: Soll Preußen gegen Frankreich in den Krieg ziehen, um so seine staatliche Einigung zu erzwingen? Es wird der letzte Krieg sein, für den Fontane als Fürsprecher eintritt. Über diesen und die anderen Kriege seiner Zeit hat er geschrieben, ist als Kriegsberichterstatter unterwegs gewesen, hat nur durch Zufall überlebt. Ein französisches Militärgericht wollte seine Hinrichtung befehlen. In dem gefangen genommenen Journalisten aus Preußen sah man einen Spion. Lebensrettende Hilfe leistete Otto von Bismarck und nutzte dazu alle ihm zur Verfügung stehenden diplomatischen Kanäle. Der spätere Reichskanzler und der Dichter sind sich nie persönlich begegnet. Voller Achtung und in tiefem Groll haben beide voneinander gesprochen. Fontane gab mancher seiner literarischen Figuren Züge des Reichsgründers und debattierte so dessen zutiefst widersprüchliches Wesen. Verehrung und Groll stehen dicht beieinander.
Das Denkmal in Neuruppin. Die Bronze aus der Kaiserzeit prägte maßgeblich das populäre Bild Theodor Fontanes
Was wissen wir, seine Leser, von dieser verwirrenden Biographie? Von seinem Verzweifeln, von seiner Sehnsucht nach dem Leben, von seiner Schreibsucht, von seiner immer wieder enttäuschten Hoffnung, als Dichter der Deutschen gesehen zu werden? Goethe hat er gelesen wie kaum ein anderer, doch er tat es heimlich. Er empfand sich als zu klein, als zu ungebildet, um sich mit dem Dichtergenie zu messen. Und wie ein Kind unter der Bettdecke heimlich mit der Taschenlampe liest, so näherte sich Fontane ganz im Verborgenen dem deutschen Genius. Aber erst im Alter gibt er dies zu: in einem Gedicht. Darin verhüllt sich der Apothekerlehrling Theodor Fontane als Verkäufer eines Lebensmittelgeschäfts in Berlin-Marzahn und nennt sich «Fritz Katzfuß». Dieser bekennt sich unmissverständlich zu Goethe und formuliert ohne Ironie: «Du mein Ideal, mein Vorbild.» Kraft und Leben habe er aus dessen Büchern bezogen und auch Selbstsicherheit. Etwas eitel glaubt Fontane sogar, dem Weimarer Dichter äußerlich ähnlich zu sein: «All genau dasselbe, / Nur andres Haar und – keine Sommersprossen.» Eitel war Fontane. Sehr sogar. Sein die Oberlippe überragender Schnauzbart hatte seinen zunehmend zahnlosen Mund zu verbergen. Er wollte als schöner Mann gesehen werden. Egozentrik sagte man ihm nach, auch erotische Schwächen.
An der rechten Seite des Fontane-Denkmals ist eine Inschrift angebracht. Sie besteht aus vier Wörtern: «Dem Dichter der Mark». Und schon beginnen die Missverständnisse. Als Dichter einer Landschaft oder Region verstand Fontane sich nie. Als Preuße sicherlich. Vor allem aber als ein Deutscher mit französischem Namen. Die Welt grübelt heute noch immer, in welcher politischen Ecke sie diesen deutschsprachigen Autor und sein Werk ansiedeln kann. Fontane, ein blinder Preußenverehrer? Fontane, ein Reaktionär? Fontane, ein Feminist? Wer auf eindeutige Antworten hofft, wird enttäuscht werden. Hunderte Germanisten auf allen Kontinenten sind ihm auf der Spur. Eine rein deutsche Angelegenheit ist diese literarische Erkundung schon lange nicht mehr.
Berührende Romane über ungewöhnliche Frauen hat Theodor Fontane geschrieben. Sie sind übersetzt in die großen Sprachen der Welt. Doch es herrscht viel Ratlosigkeit. Was soll man denken über jemanden, der im Deutschland des Nationalsozialismus, in der Sowjetunion und in den USA gleichermaßen verehrt wurde und wird? Dessen Werk in großen Teilen inzwischen in chinesischer Sprache vorliegt? Fontane erzählt in seinem Roman «Effi Briest» von einem Chinesen, der als Diener eines Kapitäns in dem fiktiven Ostseebad Kessin an Land ging und dort auf mysteriöse Weise nach einer Hochzeit verstarb. Doch der Chinese wird nicht auf einem christlichen Friedhof, sondern zwischen den Dünen bestattet. Seitdem spukt er angeblich in Kessin und bevölkert auch Effis Albträume. Ein Grund, den Roman in die chinesische Sprache zu übertragen, ist das sicher nicht. Es ist Fontanes zeitloser Blick auf die Zusammenhänge der Welt und das Leben der Menschen, der in allen Sprachen der Welt auf neugierige Leser trifft.
Der Fontane-Kult begann nach dem Tod des Dichters 1898. Diese Zeit sich vorzustellen fällt schwer. Alles, was uns heute an technischen Hilfsmitteln zur Verfügung steht, müssen wir uns wegdenken. Die großen und schillernd leuchtenden Filmpaläste, das Radio oder das Fernsehen – all diese medialen Selbstverständlichkeiten der Moderne sind noch nicht erfunden. Der Verkauf gedruckter Zeitungen beginnt gerade erst zu boomen. Die ersten Telefonleitungen werden verlegt. Befindlichkeiten tauschen Verwandte und Freunde noch per Postkarte oder Brief aus. Wer fehlerfrei zu schreiben vermag, gilt als gebildet und ist in der Lage, soziale Grenzen zu überwinden. Wer über Geld verfügt, reist mit dem Zug durch Deutschland oder Europa. Für viele ein unerreichbarer Traum: eine Schiffsreise nach Amerika. Die «Titanic» wird seinerzeit konstruiert und 1912 als das größte Schiff der damaligen Welt an einem Eisberg zerschellen.
Theodor Fontane hat sein Leben schreibend und reisend verbracht. Die dabei zurückgelegten Meilen hat noch niemand gezählt. Es sind Tausende. Er schrieb mit der Hand. Zehntausende Briefe sandte er in alle Himmelsrichtungen, mitunter mehrere an einem Tag. Manche sind in dem großen Vertrauen geschrieben, der Empfänger möge für sich behalten, was ihm an Nachdenklichem übermittelt wird. Andere verfasst er mit der Hoffnung, dass sie von Hand zu Hand weitergereicht und gelesen werden. Viele der Adressaten sind uns heute unbekannt, die Geschichte hat sie aus dem Auge verloren. Was wir da lesen, war nicht für uns bestimmt. Oft richtet er sich an seine Frau Emilie. Als diese sich über mangelnde «Liebesacclamationen» in den Briefen ihres «geliebten Mannes» beklagt, antwortet er kühl: Der ganze Verkehr im Leben laufe «entweder auf ein reines schändliches Komödienspiel, oder da, wo im Ganzen genommen Ehrlichkeit herrscht, auf Compromisse, Waffenstillstände, stillschweigende gegenseitige Abmachungen hinaus».
Emilie Fontane fühlt sich als Ehefrau oft im Schatten ihres Mannes. Wieder und wieder schreibt sie seine Texte ab, redigiert, macht Vorschläge, äußert sich in Gesprächen. Oft geht er darüber hinweg, überarbeitet seine Texte erneut. Nun muss das von Strichen durchzogene Manuskript noch einmal abgeschrieben werden. So ergeht es Emilie Fontane ein Leben lang. Krisen schütteln die Ehe der beiden, auch schon die Zeit der fünfjährigen Verlobung. Zwei uneheliche Kinder zeugt der Dichter während der Verlobungsjahre «nebenbei» in Dresden. Es wird eines der großen Geheimnisse der Fontanes.
Emilie sehnt sich nach Geborgenheit, er nach Erfolg als Autor. Eine achtundvierzigjährige Ehe der beiden und Tausende von Briefen gehören zur Bilanz ihrer Beziehung. Sie schreibt über die schweren Gewitter über ihren Häuptern und das Gefühl, getäuscht zu werden. Wann immer sie an ihm zweifelt, fehlt Hoffnung. Er kann so zärtlich und so hart antworten. Dieser Briefwechsel erzählt, wie sehr in der Ehe alles auf das Leben eines Menschen ausgerichtet ist: den Autor Theodor Fontane. Ihre Wohnung ist stets ein literarisches Büro, und alle Familienangehörigen stehen im Rang von Mitarbeitern.
Wir sind so kühn, die nicht für uns bestimmten, aber in einer dreibändigen Ausgabe in Berlin herausgegebenen Briefe dieser komplizierten Liebe in unsere Suche nach Theodor Fontane einzubeziehen. Auch wenn ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser postalischen Verständigung über das alltägliche Leben, die Familie und den Beruf des Mannes verlorengegangen ist, so offenbaren uns diese Texte viel. Wir haben uns zu hüten vor Besserwisserei und Urteilen, die den Umständen von damals nicht gerecht werden. Wir – die Ahnungslosen. Ein echtes Verständnis für das neunzehnte Jahrhundert besitzen wir nicht. Uns fehlt eine Übereinkunft über jene Welt, aus der wir in der Gegenwart angekommen sind. Sie kennt kein Frauenwahlrecht, ja noch nicht einmal die juristische Selbständigkeit der Frau. Ihr von der Gesellschaft vorgeschriebener Beruf ist, Gattin eines Mannes zu sein. Ledige Mütter und ihre Kinder hatten außer Diskriminierung in diesem Gefüge nichts zu erwarten. Fontane gehört zu den ersten deutschsprachigen Autoren, die diesen Widerspruch sehen und gegen ihn anschreiben. Seine Motive dazu sind vielfältig und im Einzelnen gebunden an persönliche Erfahrungen und Beobachtungen. Auffällig ist die dabei erzählte Polarisierung: Der Leser begegnet in Fontanes Romanen unbeirrbaren Frauen und sehr zögerlichen Männern. Der dadurch ausgelöste Geschlechterdiskurs traf in seinem Kern das Selbstverständnis des deutschen Kaiserreiches. Praktisch war sein 1894 erschienener Roman «Effi Briest» ein Attentat auf die das Kaiserreich zusammenhaltende Moral.
Fontanes gesamter Briefwechsel ist verwoben in das kommunikative Labyrinth einer literarischen Welt, dessen einst berühmte Namen wir nicht mehr kennen. Sie machten damals die gesamte literarische Szene Deutschlands nach 1871 bis zum Tod Fontanes im Jahr 1898 aus. In den erhalten gebliebenen Briefen ist unübersehbar: Sie protokollieren das Ende einer Zeit und die Umwertung aller «alten» Werte. Der Wegfall der innerdeutschen Grenzen verändert die Bevölkerungsstruktur in den Großstädten. Industrielle Zentren wie das Ruhrgebiet oder die Montanindustrie Sachsens zogen Hunderttausende von Arbeitskräften und ihre Familien an. Polnische und russische Saisonkräfte werden in der Landwirtschaft selbstverständlich. Dichter und Denker gelten in diesem sich wandelnden Gefüge als «Nebenbevölkerung» oder gar als «Nestbeschmutzer», wenn sie den Bedarf an politischen Veränderungen artikulieren und auch markieren.
Fontanes Briefwechsel macht vieles davon für uns heute einsehbar und öffentlich. Fünfzig Jahre lang korrespondierte der Neuruppiner zum Beispiel mit dem damals sehr berühmten Paul Heyse, Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1910. Heyse gehört zu den Jugendfreunden Fontanes. Man kannte sich aus Berlin. Heyse ging nach München, und so gab es allen Grund, schriftlich die Nähe und Vertrautheit fortzusetzen. Heute ist Paul Heyse, damals ein deutschlandweit viel gelesener Autor, außerhalb von München nahezu vergessen. Heyse galt als jemand, der Wege zu einer formvollendeten Poesie suchte. Wie Fontane setzte er ganz und gar auf eine Literatur, die von der Sprache lebt. Der Ton zwischen den beiden blieb in all den Jahrzehnten stets freundschaftlich und vertraut. Beide erzählen lebhaft aus ihrem Alltag, beschreiben innere Konflikte während der literarischen Arbeit und die durch Kritik und Politik erfahrenen Demütigungen. Heyse hilft auf Empfehlung Fontanes in Not und Bedrängnis geratenen Kollegen, beschafft Geld aus den «Töpfen» von Stiftungen und verfasst Empfehlungsschreiben. Fontane verheimlicht Heyse nicht, dass ihn Depressionen befallen und der Haussegen bei ihm ab und an schief hängt. Heyse gesteht dem Berliner Freund, dass seine literarischen Figuren zunehmend blass wirken, und bittet um Hilfe bei Recherchen. Erstaunlich ist: Die Freundschaft «überlebt» sogar Fontanes öffentliche Kritik an Heyses Theaterstücken. So ist dieser Briefwechsel Fontanes eine Beschreibung des literarischen Innenlebens im deutschen Kaiserreich. Erstaunlich sind Ähnlichkeiten zwischen damals beschriebenen und gegenwärtigen Prozessen: Heute wie auch damals verlieren die Deutschen Illusionen über die Zukunft. Szenarien über bevorstehende politische Umbrüche bestimmen die Debatte. Fortschrittsglaube trifft auf Endzeitstimmung. So debattieren Fontane und Heyse die Entlassung Bismarcks und spüren, dass mit Wilhelm II. ein Deutscher Kaiser wird, der wenig Verständnis hat für eine moderne konstitutionelle Monarchie. Eine Gefahr, da sind sich beide einig, liege in der Luft: Das Deutsche Reich könne implodieren. Dann aber auch streiten die beiden, weil Fontane selbstgefällige Züge an Heyse entdeckt. Doch sie verbindet zugleich eine Leidenschaft: Italiens alte Kulturlandschaft. Nahezu unbemerkt werden beide zu Vordenkern für ein gemeinsames Europa. Das alles und noch so vieles mehr gehört zu Theodor Fontane.
Wollen wir wissen, wie es dazu kam, dass Theodor Fontane seine Bücher schrieb, so ist der wiederholte Blick in dessen Korrespondenz unerlässlich. Was mag den Autor veranlasst haben, dem Ritterschaftsrat von Briest in seinem Roman «Effi Briest» die Worte in den Mund zu legen: «Das ist ein weites Feld»? Dieser Satz ist den Deutschen zu einem «geflügelten Wort» geworden. Ganze Schülergenerationen hatten darüber Aufsätze abzuliefern. Der Satz birgt eine schwierige Botschaft Fontanes: Wir können nicht alles bedenken, sosehr wir uns auch bemühen. Wir scheitern daran, unsere eigenen Verwicklungen zu durchschauen. Und trotzdem verlässt uns die Sehnsucht nicht, das Unbekannte wenigstens zu erahnen.
Wir könnten vieles über Theodor Fontane mit mehr Gewissheit formulieren, wäre nicht so ein großer Teil seiner Korrespondenz verlorengegangen. Die Kriege und die Wirren der Zeiten haben diese Blätter verschluckt. Mitunter stoßen Archivare hier und da auf ein verschollenes Dokument aus der Feder Fontanes. Auf Auktionen erzielen diese Blätter Preise von über einhunderttausend Euro. Liebhaber reisen um die ganze Welt, wenn der Verdacht besteht, ein unbekannter Brief Fontanes sei aufgetaucht. Die Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten überblicken längst nur noch Experten. Es sind Tausende. Der Grund für dieses Interesse ist gewiss nicht die Neugier auf geographische Besonderheiten der Mark Brandenburg. Ein Chinese hat es sicher schwer, den kleinen märkischen See Stechlin auf einer Landkarte zu entdecken. Was ist er denn schon? Ein nicht sichtbarer Wassertropfen auf der Weltkarte. Aber auch in ihren Nachworten erklären die chinesischen Germanisten den deutschen Autor zu einem Teil der Weltliteratur.
Von der großen Welt in der kleinen Mark erzählt Fontane in seinen Romanen. So liebevoll er das tut, so selbstverliebt sich die Märker darin spiegeln und sonnen: Von der Aufschrift «Dem Dichter der Mark» am Denkmal vor den Stadttoren Neuruppins müssen wir uns verabschieden. Die Widmung führt auf Pfade, die zu verlassen nicht nur längst überfällig ist – Fontane selbst ist von diesem Bannspruch, von der mit seinem Namen betriebenen Heimattümelei zu erlösen. Vielleicht fällt dieser Abschied leichter, wenn die Märker ihren Fontane noch einmal und dann bis zum Ende lesen. Für den Band «Spreeland» will er 1881 ein Schlusswort verfassen. Die gesamte Provinz will er darin noch einmal Revue passieren lassen. Aus dem Tagebuch Fontanes können wir entnehmen, dass er ab dem 1. November darin liest. Drei Tage später liegt er krank im Bett, rafft sich auf und beschließt, etwas zu notieren, was ihn seit längerem bedrückt. Er meint, den Märkern noch nicht deutlich signalisiert zu haben, was er von ihnen hält. Am 13. November gibt er den fertigen Text in die Post und signiert mit dem Datum des darauffolgenden Tages diese Sätze:
Die Märker haben viele Tugenden, wenn auch nicht voll so viele, wie sie sich einbilden, was durchaus gesagt werden muss, da jeder Märker ziemlich ernsthaft glaubt, dass Gott in ihm und seinesgleichen etwas ganz Besonderes geschaffen habe. So schlimm ist es nun nicht. Die Märker sind gesunden Geistes und unbestechlichen Gefühls, nüchtern, charaktervoll und anstellig, anstellig auch in Kunst, Wissenschaft und Religion, aber sie sind ohne rechte Begeisterungsfähigkeit und vor allem ohne rechte Liebenswürdigkeit.
Und wen das nicht davon überzeugt, dass Theodor Fontane die selbstverliebten Märker kaum ausstehen konnte, der kann noch etwas über deren Art erfahren, mit ihren Mitmenschen umzugehen:
Im Übrigen sind sie neidisch, schabernackisch und engherzig und haben in hervorragender Weise den ridikülen Zug, alles, was sie besitzen oder leisten, für etwas ganz Ungeheures anzusehen. Ja, es sind tüchtige, aber eingeengte Leute. Wenn sie einem eine Tasse Kaffee präsentieren, so rechnen sie sich’s an, nicht dem, der den Mut hat, diesen Kaffee zu trinken, und gab es gar noch eine geschmierte Semmel dazu, so wird es als ein ‹Mahl› angesehen, das Anspruch darauf hat, in die Stadt- und Dorfchronik eingezeichnet zu werden.
Fontane hat ein ungewöhnliches Leben gewagt, der Traum von einer Existenz als freier Schriftsteller trieb ihn um. Aus Festanstellungen (wonach sehnen sich die Deutschen für gewöhnlich mehr?) ist er geflüchtet, weil er sich in ihnen als Gefangener eines bürokratischen Apparates fühlte. Ihm war «die Freiheit Nachtigall, den andern Leuten das Gehalt». Im Alter von dreißig Jahren fasst er den Entschluss, sich diesem Wagnis auszusetzen. In ironischem Ton signalisiert er per Post Paul Heyse im November 1859: «Ich bin ein völlig freier Schriftsteller, was gleich nach ‹reisender Schauspieler› kommt.»
Seine Familie will er vom Schreiben ernähren. Dabei ist er gewarnt: Heinrich Heine, immerhin sein Zeitgenosse, wäre ohne die wohltätige Unterstützung seines Onkels schon in der Jugend verhungert. Fontane verehrte Heine. Überall in Fontanes Nachlass finden sich Spuren dieser respektvollen Zuneigung. Bereits in den frühen Gedichten Fontanes klingt die Heine-Lektüre durch. In den Altersbriefen ebenso. Die im Nachlass vorgefundenen Gedichtbände von Heinrich Heine enthalten eine Reihe handschriftlicher Notizen. Fontane faszinierte Heines Leichtigkeit, komplizierte Zusammenhänge poetisch zu fassen: «Die Sterne sind klug, sie halten mit Fug / Von unserer Erde sich ferne; / Am Himmelszelt, als Lichter der Welt, / Stehn ewig sicher die Sterne.»
Als der Märker 1856 erstmals Paris besucht und sich so gar nicht mit der Stadt anfreunden kann, besucht er Heinrich Heines Grab auf dem Cimetière de Montmartre. Es war die Verehrung für einen in Preußen verbotenen radikalen Dichter, es war die Achtung vor einem Juden, der die christliche Taufe bitter bereute und kommunistischen Ideen von Karl Marx leidenschaftlich nahestand. So einfach ist es nicht, dem Weltdenken Theodor Fontanes gerecht zu werden. Sein stilles Sinnieren über Preußen hatte etwas Prophetisches. Für die Auferstehung Deutschlands, so Fontane, müsse Preußen das größte Opfer aufbringen: Es müsse zuvor sterben. Den falschen Patriotismus der Deutschen, jenen, der das Wertesystem aushöhlt, hat er kommen sehen. Daraus entstehen bei ihm Menschen, die nichts anderes darstellen als «traurige Figuren», «sie tuen liberal; sind aber die unreifsten Menschen von der Welt».
In der Zeit, bis Fontane in der literarischen Szene auftaucht, gibt es keinen wirklichen Beleg, dass ein Schriftsteller ohne Mäzen leben könnte. Karl Marx in London partizipiert von dem Profit, den der millionenschwere Unternehmer und Freund Friedrich Engels als großer Fabrikant und begnadeter Spekulant zu erzielen vermag. Fontane ist dagegen bettelarm und dennoch so größenwahnsinnig, von sich zu sagen: Ich schaffe das. Er wiederholt sich diesen Satz so lange, bis er ihn selbst glaubt und von seinem Talent überzeugt ist. Und selbst nach herben Enttäuschungen und deprimierenden Rückschlägen gibt er nicht auf. Risikoreich und ohne doppelten Boden schreibt sich der Autor voran. In die Feuilletons der Zeitungen drängelt er sich. Ein Netzwerk mit unzähligen Kontakten baut er auf. Unter dem Strich muss er wieder und wieder resümieren: Außer Spesen nicht viel gewesen. Eigentlich, würde heute ein Wirtschaftsprüfer urteilen, hätte Fontane seine Chancenlosigkeit sehen und aufgeben müssen. Bisher hat er von seinem Lohn als Apothekergehilfe gelebt. Nun setzt er sich, leichtsinnig und von Träumen beseelt, an die Schreibtische seines Lebens und schreibt und schreibt; die Familie als Verpflichtung im Hintergrund.
An welchen Theodor Fontane soll uns das Denkmal aus Bronze, Granit und Findlingen am Stadteingang von Neuruppin verweisen? An einen waghalsigen Autor? An einen, der an sich glaubt, als andere es nicht tun? Eine Hand der bronzenen Figur hält ein Notizbuch bereit, die andere lässig einen Stift. Nur unterwegs benutzte Fontane Stifte. Der Autor Fontane schrieb mit einer Feder. Der bronzene Fontane könnte, signalisiert die metallene Hand, jeden Augenblick das Notizbuch aufschlagen und darin weiterschreiben. Einen Finger des Dichters fügt der Bildhauer zwischen die Deckel dieses Büchleins, wahrscheinlich genau an jene Stelle, an der Fontane das Notieren zuletzt abgebrochen hat. Das sieht zwar nett aus, doch verschleiert es den qualvollen Arbeitsprozess. Fontanes Manuskripte offenbaren uns diese Mühe. Durchgestrichenes wird überschrieben und dann erneut korrigiert. Zufrieden war Fontane mit seiner Arbeit selten. Stets sah er, was noch möglich wäre.
Die «Wanderungen» Fontanes müssen wir endlich als ein unvollendetes Werk verstehen. Er ist damit nicht fertig geworden. Von Auflage zu Auflage nahm er Änderungen vor. Die Rückbesinnung auf die Entstehung des Lebens in einer Landschaft, die in ihr gelebte Kultur ist Fontanes Form, das Potenzial einer Landschaft zu umreißen. Dabei ändert er Blickwinkel und Einschätzungen, schreibt um. Die Bezeichnung «work in progress» wird erst einhundert Jahre später für eine solche Arbeitsweise benutzt. Fontane war seiner Zeit weit voraus. Das wollten damals, als der nette Mann in Bronze vor Neuruppin aufgerichtet wurde, wenige Märker wissen.
Der Wanderer Fontane wird uns anempfohlen. Aber eine Enttäuschung muss vorweggenommen werden: Fontane ist mehr mit der Kutsche gefahren, als dass er lief. Meist zwang die knappe Zeit zur Eile. Auch der beschauliche Blick der Neuruppiner Bronzestatue in die Landschaft ist eher eine Wunschvorstellung des Bildhauers als die Wirklichkeit des Autors Fontane. Mag sein, es hat ab und an beschauliche Augenblicke gegeben. Meistens zum Essen in den Gasthöfen. Ansonsten hetzte er von Ort zu Ort, war heute hier und morgen dort und dann schon wieder ganz woanders. Oder er schrieb. Dann reiste er in Gedanken noch einmal die Wege ab, durchschritt Kirchenräume und Schlösser.
Fontanes einziges Hilfsmittel ist sein Notizbuch. Meist nutzt er die frühen Morgenstunden, um in seiner Unterkunft zu notieren, was er am Tag zuvor gesehen und gehört hat. Es ist niemand um ihn, dem er diktieren könnte. Kein bei seinen Recherchen entdecktes Dokument kann er – außer durch das Abschreiben – kopieren. Ein Fotoapparat steht ihm nicht zur Verfügung. Solche Apparate sind zwar erfunden, aber nur durch Spezialisten zu bedienen und für den Einsatz auf Reisen noch völlig ungeeignet.
In ihren Nachrufen auf Theodor Fontane wagen Journalisten 1898 einen Bezug zur klassischen deutschen Literatur. Sie nennen Fontane einen «Goethe der Mark Brandenburg». Dieser hilflose Vergleich klingt schwülstig und ist wenig durchdacht. Er hätte, um als Provokation erkannt zu werden, kühner formuliert werden müssen. Etwa: «Mit Fontane ist ein würdiger Nachfolger Goethes gestorben.» Dann hätte es wenigstens einen Aufschrei und eine Debatte über Sinn und Unsinn dieser These gegeben. So gab es sie nicht, aber auch das hatte niemand bemerkt. Auf einen Goethe der Mark war in Deutschland zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts niemand neugierig. Wie auch niemand auf einen Goethe des Schwarzwalds oder der Eifel neugierig gewesen wäre. Die brandenburgische Mark war in Deutschland so unbekannt wie etwa die bayerische Hallertau in Preußen. Die Landschaft war zu klein und zu sandig, um wahrgenommen zu werden.
Ein anderer Gedanke hätte in den Nachrufen auf den Dichter vielleicht für Aufsehen gesorgt: Neuruppin – ein literarischer Pilgerort wie Weimar! Doch in Neuruppin konnten sich weder die Erben Fontanes noch die Stadtväter zu einer solchen Vision aufraffen. Sie liebten ihren Theodor und wollten nach dessen Tod nur eines wirklich: Ruhm. Und vom Glanz dieses Ruhms sollte möglichst viel auf die Erben und die Stadt Neuruppin abfärben.
Gemessen an Goethe, war Theodor Fontane an seinem Lebensende in Deutschland noch unbekannt. Seine Romane erreichten als Fortsetzungsgeschichten zwar ein massenhaftes Publikum, waren aber als gebundene Ausgaben schwer verkäuflich. Die lediglich in kleinen Auflagen gedruckten Bücher verließen nur allmählich die Buchläden und fanden von der Kritik kaum Beachtung. Fontanes Anhänger versuchten nach seinem Tod vehement, daran etwas zu ändern, nicht zuletzt durch die Errichtung eines überlebensgroßen Denkmals für Theodor Fontane vor den Stadttoren Neuruppins.
Das gesamte Sujet dieser Neuruppiner Anlage ist eine Anleihe aus dem weitgefächerten Arsenal des Goethekults. Damals wurden Denkmale für ihn in Serie produziert. In Wien etwa sitzt der Weimarer Dichter als Bronzefigur auf einer Bank aus Granit. Dieses Bildnis entstand im Jahr 1900.
Im Unterschied zu dem bronzenen Fontane von 1907, der in seinen Ausmaßen dem großen Mann der deutschen Literatur ebenbürtig erscheint, fehlt dem Wiener Goethe der Stift in der Hand. Der Berliner Bildhauer Max Wiese sorgte auch sonst dafür, sich eifrig von seinem Wiener Kollegen Edmund Hellmer abzugrenzen. Während Goethe etwas gelangweilt und erhaben auf Wien schaut, inszenierte Max Wiese seinen Fontane als jemanden, der mit der Welt noch nicht fertig ist. Er hält in Neuruppin Ausschau nach dem Unbekannten – ein Gestus, der zu den «Wanderungen durch die Mark Brandenburg» passt.
8. Juni 1907: Mit staatstragendem Pathos enthüllte Brandenburgs Provinzialregierung das Bildnis vom «Dichter der Mark»
Diese «Wanderungen» sind ein Dialog Fontanes mit sich selbst. Wieder und wieder begibt er sich auf Spurensuche, überprüft die Ergebnisse seiner Recherchen, ändert seinen Blickwinkel auf Ereignisse und Stoffe. Den gesamten Nachlass durchziehen Spuren dieser Arbeitsweise. Auch wenn uns der bronzene Fontane vor Neuruppin mit viel Gelassenheit und Selbstvertrauen anblickt – zu solch einer Haltung gegenüber seinen Texten gelangt der Autor nur selten. Das Denkmal zeigt uns nichts von seinen Selbstzweifeln. Und spätestens hier beginnen wir zu ahnen: Diese Bronze hat uns über Jahrzehnte verblendet.
Theodor Fontane, der dort so aufrecht und selbstbewusst auf einer edel geformten Parkbank sitzt, als befände er sich in einem Schlosspark, scheint keine Zweifel an sich selbst zu kennen. Sein rechtes Bein hat er lässig über das linke geschlagen, um den Hals ist eine Fliege gebunden. Die sitzt exakt, wie soeben vor einem Spiegel ausgerichtet. Der Dichter schaut vor sich hin. Uns wird suggeriert: Fontane wartet auf eine Idee, die ihm aus der Natur zufliegen wird, weil er geduldig wartet. Der Hut liegt neben ihm auf der Bank, der Schal ist über die Lehne geworfen, der Gehstock daran gelehnt, als hätte Fontane wie ein Flaneur gelebt, sei von einem romantischen Ort in der Natur zum nächsten geeilt, hätte sich jeweils eine passende Bank gesucht, sich darauf niedergelassen, die Einfälle erwartet, sie notiert und so Buch für Buch geschrieben. Doch Fontanes Leben sah anders aus. Ganz anders. Weder gemütlich noch nett.
Je älter Fontane wurde, desto mehr schrieb er. Kleinbürgerliche Bequemlichkeit war nicht sein Ideal. Im Alter von sechzig Jahren, wenn andere sich genüsslich zurücklehnen und beschauen, was ihr Leben war, begann Fontane sein Arbeitspensum nicht nur zu verdoppeln, sondern zu verdreifachen. Mit fünfundsiebzig nimmt er Anlauf wie ein Zwanzigjähriger, will einen neuen Roman schreiben, «einen ganz famosen Roman, der von allem abweicht, was ich bisher geschrieben habe, und der überhaupt von allem Dagewesenen abweicht».
Zugleich sorgt er sich mehr als je zuvor, ob sein Schreiben die gesuchte Intention auch präzise wiedergibt. Er korrigiert Entwürfe so lange, bis er glaubt, treffend benannt zu haben, was er sieht und empfindet. Die Mitte seines achten Lebensjahrzehnts hat er überschritten, als er die Arbeit am Roman «Der Stechlin» aufnimmt. Darin erzählt er von der Grafschaft Stechlin, vom gleichnamigen Schloss, von dem alten Grafen Dubslav von Stechlin und dem vor seinem Schloss liegenden See. Der See ist der eigentliche Held, weil von ihm alles ausgeht. Fontane benennt einen märkischen See als Mitte der Welt.
Emilie Fontane, die Ehefrau, die den gleichen Vornamen trägt wie Theodors Mutter, hält von der langen Suche ihres Mannes nach den richtigen Sätzen wenig. Warum wird ihr Mann nicht fertig mit seinem Buch? Sie muss wieder und wieder abschreiben, was Theodor in ihre Schönschrift hineinkritzelt, durchstreicht und ergänzt und dann erneut verändert. Wir müssen uns von dem erhabenen Gestus der Bronzefigur verabschieden. Dieses Bildnis hilft uns nicht, jenen Mann zu finden, dessen Bücher bis zum heutigen Tag gelesen werden. Dieses «Denkmal» hat uns jahrzehntelang auf falsche Fährten geführt. Es hat die Sinne getäuscht und das Nachdenken verwirrt.
In der Nähe des bronzenen Fontane knallen Böller. Da fliegen die über dem Denkmal in den Baumkronen sitzenden Raben schreiend auf und segeln hinüber zum Ruppiner See, über große Plätze und rot bedachte Häuser, über kahle Linden und Gärten, über Gartenlauben und die rechtwinklig angelegten Straßenzüge der Stadt Neuruppin. Diesen Häusern, Straßen und Plätzen sieht man an, dass sie auf einem Reißbrett entworfen und für den paradierenden Alltag einer Armee ausgerichtet wurden. Wie aus einem Guss erscheint die städtische Anlage. Eine preußische Garnisonsstadt. Aber nicht einfach eine große und ummauerte Kaserne. Neuruppin ist anders. Ein wenig Park, ein wenig Paradeplatz, ein wenig Flaniermeile, ein wenig Idylle am Seeufer – aus diesen Elementen ist Neuruppin komponiert. Wie es zu dieser Mischung kam, ist heute schwer nachvollziehbar. Architekten haben offenbar ihre Sehnsucht in den Plänen für diese Stadt versteckt. Die Auftraggeber bewilligen diese Pläne. Ob sie wussten, dass in ihnen etwas Besonderes schlummert? Dann wurde gebaut. Das ehemalige Münster der Dominikaner am See stand bereits seit dem dreizehnten Jahrhundert. Nicht mit den zwei Türmen, die wir heute sehen, sondern lediglich mit einem Dachreiter. Die Raben umkreisen rufend das backsteinrote Gotteshaus am Seeufer, ehe sie mit dem grauen Licht über dem Wasser verschwimmen.
Zurück bleibt das leise Schmatzen des Sees an seinem Ufer. Sein Rhythmus wechselt. Hin und wieder geht er über in Stille, als wäre die Welt ohne Atem. Dann gluckst der See wieder und kehrt in seinen Gesang zurück. Ein Reiher hebt sich von einem schwarzen Pfahl der Anlegestelle. Mit hauchendem Flügelschlag zieht er davon. Schwäne recken die Hälse und schwimmen vom Schilf weg ins offene Wasser. Dort gleitet mit leisem Tuckern von Süden her einsam ein Kahn auf der silbergrauen Fläche. Der Fischer kommt. Hinter ihm hebt sich dunkel der Wald. Wie eine Wand. Undurchschaubar. Über den Kronen der Bäume schimmert matt das Licht des Horizonts. Plötzlich zieht ein leiser Wind auf. Er treibt feinen Regen über den See. Zwischen dem Wasserstaub schwebt Schneegriesel.
Der Fischer macht am Steg fest, ein Hund entspringt dem Kahn und rennt bellend den am Ufer hüpfenden Raben entgegen, die mühelos entkommen. Sie kennen das nun folgende Ritual: Der Fischer schlachtet seinen Fang und wirft die Innereien in den See. Die Raben greifen sich den ihnen zugedachten Anteil, fliegen in einem Bogen am Münster vorbei und segeln zu den Wipfeln der Buchen zurück. Flügelschlagend bremsen sie dort ab und lassen sich auf die Zweige fallen. Die Baumspitzen wippen nach. Eine, oder sind es zwei, Federn segeln zur Erde hinab und fallen zwischen das braune Laub des Jahres.
Seit 1688 ist Neuruppin eine Garnisonsstadt. Paradierende Soldaten und Kasernen gehörten zur Kindheit Fontanes
Wieder knallt es. Wieder schwingen sich Raben in die Luft. Einige aber bleiben auf ihren Ästen hocken, ohne aufzuschrecken. Mag sein, sie sind Nachfahren der sagenhaften Raben Hugin und Munin. Deren Sinne können, das ist literarisch überliefert, Erinnerungen bewahren und erkennen, was um sie herum geschieht. Fontane hat von diesen Raben erzählt und ihnen nachgespürt. Sie gehören zum Wagen des Odin. Odin, jener Gott der nordischen Mythologie, der ein Auge dem Wesen Mimir opfert. Mimir hütet die Quelle der Weisheit unter dem legendären Weltenbaum, der den gesamten Kosmos verkörpert. Für das Wissen aus dieser Quelle ist Odin bereit, sein eigenes Augenlicht zu halbieren. Odin erhält eine Gegenleistung für sein Opfer: Die weit in die Welt hinaus fliegenden Raben Hugin und Munin setzen sich nach ihrer Rückkehr auf seine Schulter und flüstern ihm zu, was tatsächlich in der Welt geschieht. So gelangt Odin zur Weisheit über den tatsächlichen Gang der Welt. Nach nichts anderem sehnte sich Theodor Fontane. In der schwedischen Ausgabe der «Edda» von 1866 begegnen wir einem Bild: Odin als einäugiger Wanderer. Auf seiner Schulter sitzt ein Rabe.
Von den Bäumen, auf denen die Raben hocken oder immer wieder aufsteigen, ist es nicht weit zu jenem Haus, in dem am Tag vor Silvester des Jahres 1819 ein kleiner Junge von seiner vor Schmerzen schreienden Mutter aus dem Leib gepresst wird. Die Ohren des Jungen können nicht hören, was um ihn herum geschieht. Er wird später nichts erinnern von diesem Augenblick, den seine Mutter befürchtet, nicht zu überleben. Schwer und dramatisch ist diese Geburt. Aber sosehr er auch später in sich sucht: Weder ein Bild noch einen Ton, noch eine Erinnerung davon kann er in sich entdecken.
Jahre später wächst in ihm ein Gedanke: Du bist mitten in einem Geschehen und bleibst doch ahnungslos von dem, was sich um dich herum ereignet. Du siehst etwas und stehst davor wie ein Blinder. So wird der 1819 geborene Theodor Fontane als erwachsener Mann wieder und wieder denken. Zu seinem Alltag wird die Erfahrung gehören, dass es unklug sein kann, seine Einsichten öffentlich zu machen. Er wird unter Menschen leben, die mehrheitlich meinen: Was sie sehen, wissen sie auch. Und er wird eines Tages den Satz notieren: «Man sieht nur das, was man weiß.» Es ist nicht der einzige Satz, mit dem er seine Umgebung verstört. Er ist sich darüber im Klaren und kratzt ihn mit der Schreibfeder auf das Papier.
So präsent das bronzene Denkmal für Theodor Fontane den ehemaligen Wall von Neuruppin überragt – in der selbsternannten «Fontanestadt» sind Spuren des Dichters so einfach nicht auszumachen. Am «Fontanehaus» in der heutigen Karl-Marx-Straße mit der Hausnummer 84, dem authentischen Ort der Geburt des Dichters, ist selbst der aufmerksame Tourist schneller vorbeigelaufen, als er ahnt. Die «Löwen-Apotheke» der Fontanes zu entdecken verlangt mehr als nur Umsicht: Man muss das Haus erst einmal finden. Dabei steht es mitten in der Stadt und ist aus der Sicht der Neuruppiner nicht zu übersehen. Die Neuruppiner wundern sich kopfschüttelnd darüber, wie man als Tourist daran vorbeilaufen könne.
Dabei ist es «eigentlich» ganz einfach. Vom Denkmal aus der Hauptstraße Richtung Zentrum folgen und nicht erwarten, von Hinweisschildern gelotst zu werden. Wer zu Fuß unterwegs ist: besser die linke Straßenseite benutzen. Nur von dieser aus kann der Neugierige die Buchstaben «Fontanehaus» an der Fassade über dem Eingang zur Apotheke entdecken, die noch heute betrieben wird. Die Lettern sind über dem Schriftzug «Löwen-Apotheke» so angebracht, dass sie von Passanten kaum auszumachen sind. Sollen wir Fontane in der Fontanestadt Neuruppin übersehen?
Dieser literarische Ort ist für den Neugierigen eine Herausforderung. Wer vor Fontanes Geburtshaus steht, könnte enttäuscht sein: Poetisch wirkt das Haus nicht. Kein romantisches Flair, kein Baum in der Nähe, auf dem eine Amsel singen könnte. Kein Rotdorn, wie er so oft in der Mark vor den Häusern aufgereiht wurde. Vor dem Haus stehen eine nachempfundene Gaslaterne, ein Fahrradständer und hin und wieder auch eine große Pflanzschale. Pflastersteine füllen die gesamte Straßenbreite. Autoreifen lärmen darauf vorbei. Zu Fontanes Zeiten rasselten hier die mit Eisenbändern beschlagenen Wagenräder. Die vor die Wagen gespannten Pferde klapperten auf ihren eisenbeschlagenen Hufen Richtung Marktplatz. Heute sind es die Kleintransporter mit ihren blechernen Hängern.
Das Fontanehaus steht in einer Geschäftsstraße. Ein Gericht, eine Versicherungsagentur, eine Anwaltskanzlei, ein Bäcker, ein Café, ein Optiker und die Geschäftsstelle einer Krankenkasse gehören heute zu seinem Umfeld, es geht städtisch zu. Der Klang des Lebens kriecht an der Hauswand empor und schlüpft bis heute durch gardinenverhangene Fenster hinter die Fassade. Damals dringt er in Theodors Kinderohren. Obwohl 1819 nur wenige Kilometer entfernt Hähne krähen, Schweine grunzen und auf glühendes Eisen in einer Dorfschmiede auf dem Amboss geschlagen wird – als kleines Kind nimmt Fontane es kaum wahr. Städtisches Getöne ist für den Jungen selbstverständlich. Mit ihm wächst er auf. Die Geräuschwelt der Stadt erlebt er als die Musik seines kindlichen Lebens. Er wird sie in seinem späteren Wohnort Berlin hören, in Leipzig und in Dresden und außerhalb der deutschen Länder. Paris wird ihn nicht so sehr beeindrucken wie London. Was er dort hört, wird ihn veranlassen, darüber zu schreiben. Den Aufbruch in die moderne technisierte Welt erlebt er staunend. Tempo und Technik faszinieren ihn. Das Menschengewimmel in der Millionenmetropole ebenso. Sie ist von Glücksuchern durchsetzt und von Menschen, die versuchen, dem Elend zu entfliehen.
Aus den Fenstern der Neuruppiner Wohnung hat der kleine Junge Theodor Fontane gelernt, in das Leben einer Stadt hineinzuschauen. Zu deuten, was er sieht, ist sein Spiel. Er erlebt, wie das geschäftliche Treiben einer Kleinstadt beginnt, wie das ländliche Leben für einige Stunden in der Stadt und auf dem Markt verweilt. Schweine und Rinder werden zu den Metzgern getrieben. Dieser Tross der kleinen Händler, die alles in bares Geld verwandeln, was auf dem Acker und im Stall heranwächst.
So nah Fontane an diesem ländlichen Leben ist, so viel der so oft als Dichter der Mark bezeichnete Autor darüber auch schreiben wird – seine Sympathie gehört dieser Art Dasein nicht. Schilderungen ländlicher Idylle bei Fontane als eine Abneigung gegenüber den Großstädten zu interpretieren ist gewagt. Er verklärt das ländliche Leben nicht. Er sieht in den großen Städten auch nicht Geschwüre der Menschheit. Geräusche der Stadt sind tief in ihm verwurzelt. Die Exotik des Fremden fasziniert ihn, er bestaunt das Unfassbare und das Unbekannte, das unter den Fenstern seiner Kindheit vorbeizieht. «Das zählt ja zu den Vorzügen der großen Stadt. Es gibt immer hundert Dinge, worüber sich plaudern läßt», notiert er.
Das Haus in Neuruppin, in dem Theodor Fontane 1819 geboren wurde. Bis heute ist darin eine Apotheke untergebracht
Plaudern wird bei Fontane später immer auch bedeuten: schreiben. Seine literarischen Figuren lässt er in Dialogen die Vorzüge und die Nachteile des städtischen Lebens hin und her wälzen, in Briefen mit seiner Ehefrau reflektiert er Sinn und Nichtsinn des über die Straßen trudelnden Lebens. Er wird nicht zu einem endgültigen Urteil kommen. Ihn plagt der Zwang, sich in der Stadt vom Trubel zurückziehen zu müssen, weil dieser ihm die Kraft und die Luft zum Schreiben nimmt. Er hat Angst, dass gleichzeitige Eindrücke in ihrer Fülle einander auslöschen, dass sie das Empfinden verflachen, dass die Schnelligkeit des Lebens zugleich eine höhere Produktivität des Einzelnen behindert. Das städtische Leben rausche mit ihm davon und raube jedes Gefühl für das Vergehen von Zeit, schreibt er. Spät in seinem Leben taucht in seinen Berlin-Romanen dann versteckt ein Thema auf: «Die große Stadt hat nicht Zeit zum Denken, und was noch schlimmer ist, sie hat auch nicht Zeit zum Glück.»
Über die Abwesenheit von Glück im Leben von Menschen in den großen Städten zu erzählen – daran wagt sich Fontane immer wieder heran. Er dreht und wendet das Thema und resümiert es mehrfach. Dabei gelangt er immer zu ähnlichen Schlüssen: Die Stadt ist ein Ort, um sich zu verbergen, um bei Bedarf unsichtbar zu sein. Städtische Welt markiert er als ein Dasein, das Räume anbietet, sich in Illusionen einzunisten. Die dabei gespürte Spannung zwischen Wirklichkeit und Illusion treibt Fontanes Neugier. Darum schickt er seine Figuren immer wieder in das städtische Gewimmel. Seine Glücksucher lässt er in diese Unüberschaubarkeit – oft blind oder geblendet von dem aufregenden Schein dieser Welt – wandernd hineinlaufen. Der kindliche Blick aus dem Fenster in der heutigen Neuruppiner Karl-Marx-Straße 84 ist jene Erfahrung, durch die er von diesem Treiben erstmals etwas ahnt. Die auf den Markt ziehende Hoffnung auf ein gutes Geschäft, auf einen guten Tag.
1823, als der kleine Theodor Fontane, so aus dem Fenster träumend, auf das kleinstädtische Treiben in Neuruppin blickt, schreibt Joseph von Eichendorff ein Gedicht. Es signalisiert, wie es um das Leben und Träumen der Wanderer, der Taugenichtse bestellt ist. Fontane ist keine vier Jahre alt, als Eichendorff diesem Gedicht seinen Titel gibt: «Der frohe Wandersmann».
Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt;
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.
Wanderer – weite Welt – Wunder: Das ist das imaginäre Dreiergespann, dem Fontane sich früh in seinem Leben ausgesetzt fühlt. Vielleicht hat er die damals populären Gedichte von Eichendorff bereits als Kind gehört – vielleicht auch nicht. Mit zwanzig, da ist sich die Forschung inzwischen einig, liest er Eichendorff. Fontane ist keine vierzig Jahre alt, als er sich äußert, wie tief ihn der Erfinder des «Taugenichts» berührt. Anlass ist der Tod Eichendorffs im Jahr 1857. Dieser Text zeigt nicht nur, wie verbunden sich Fontane dem schlesischen Dichter fühlt. Er setzt uns in Kenntnis von seiner Empfindungswelt, von den «dünnen» Stellen seiner Seele. Der «Taugenichts», der habe es ihm angetan. Diese liebenswürdige Type sei doch so etwas wie die Verkörperung des deutschen Gemüts. Aber nicht nur des Gemüts eines konkreten Standes, sondern des Gemüts der deutschen Nation. Dann mündet die Liebeserklärung des belesenen Fontane in einem Bekenntnis: «Kein andres Volk hat solch Buch.»