Lilly Lindner
Da vorne wartet die Zeit
Roman
Knaur e-books
Lilly Lindner wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit fünfzehn begann sie autobiographische Texte und Romane zu schreiben. In Splitterfasernackt (2011) verarbeitete sie ihre eigene Geschichte – das Buch stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurde von der Presse gefeiert. Zuletzt erschien von ihr der Roman Bevor ich falle (2012).
Die Menschen in der Stadt am Waldrand. Sie leben miteinander, sie leben nebeneinander her, sie sind allein, sie sterben - und doch hängen sie und ihre Schicksale alle zusammen: Der Kriminalpolizist, der einer grausamen Entführungsserie auf der Spur ist, das Mädchen aus gutem Hause mit dem unsagbaren Geheimnis, der weise Forscher der Zeit und die Mutter, die ihre kleine Tochter verliert. Sie alle leben in der Stadt am Waldrand, und sie alle sind mit dem Tod konfrontiert. Und mit der Zeit, die sich in der Unendlichkeit verliert. Da vorne wartet die Zeit ist ein geschickt konstruierter, sprachgewaltiger Roman - von Spiegel-Bestsellerautorin Lilly Lindner.
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ISBN 978-3-426-42055-3
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Für das Abkommen,
mit jedem Augenblick.
In einer Stadt direkt am See verliert sich die Zeit. Hier sind alle Menschen nur lautlose Begleiter der Unendlichkeit. Alles kann vorbei sein. Jetzt sofort. In diesem Augenblick. Aber da es keine Zeit mehr gibt, gibt es auch keine Endzeit. Jeder Tod vergeht vor dem Grauen der Nacht. Und dann, als wäre er gar nicht da gewesen, beginnt ein neuer Tag.
Keiner der Menschen an diesem Ort weiß, dass sie nur dort sind, um Abschied zu nehmen, von ihrem letzten Atemzug. Denn fernab der Zeit, in diesem dichten Nebel am See, treffen sich die Sterbenden, um noch einmal zu leben.
Sie sehen sich an und lächeln. Sie streiten nicht mehr um das letzte Wort, sie lachen nicht mehr übereinander, sie lachen miteinander. Sie bringen die Abläufe der natürlichen Ordnung durcheinander, ohne etwas zu zerstören. Sie verzeichnen Glück, sie durchstreichen Angst, sie verankern Erinnerungen. Und sie haben keine Ahnung davon, dass diese Stadt nichts weiter ist als die unendliche Weite der Illusion.
Die Menschen in der Stadt am See haben keine Grenzen. Sie können einen einzigen Moment immer und immer wieder erleben, solange sie wollen, solange sie brauchen, um zu verstehen. Sie laufen durch das Echo der Zeit, das aus der Ferne zu ihnen hinüberdringt. Sie wissen nicht mehr, wie es sich angefühlt hat, an eine Stunde, an eine Minute oder an eine Sekunde gebunden zu sein; denn sie haben nur diesen einen Moment, der für die Ewigkeit existiert.
Und diese Ewigkeit.
Sie ist ein unsichtbarer Raum.
Mit verhangenen Fenstern.
Die Menschen in der Stadt am See altern nicht. Sie sind umhüllt von einem geheimnisvollen Zauber, der über den Gebieten der flüsternden Zeitlosigkeit verweilt. Und nachdem sie für immer dort angekommen sind, die Toten der Nacht, die Toten des Tages, die Toten der Zeit; nachdem sie erkannt haben, wie dieser Ort heißt und wohin das Grenzgebiet hinter dem sperrangelweit geöffneten Zeitraum führt – nach diesem Augenblick endet letztendlich dieser unendliche Moment.
Die wandernden Gedanken versammeln sich am Ufer des riesigen Sees, sie setzen sich dort nieder, sie streifen vorsichtig über die winzigen Wellen der Wasserkreise. Dann kommt ein Wind auf, er wispert ein ehrfürchtiges Lied.
Und da verschwinden die Gedanken. Lautlos.
In einem Nebel aus funkelndem Licht.
Genau wie all die Menschen.
Aber keine Angst: Ein Flüstern dieser Erinnerung bleibt für immer. Es legt sich über den See am Rande der Stadt und die sanften Nebelschwaden, die direkt über den Wassertänzern dahinziehen, und bestätigt stillschweigend ein unsterbliches Geheimnis.
Dort. In dieser Stadt am See.
Verläuft sich die Zeit.
In einer anderen Stadt, direkt am Waldrand, verrinnt die knapp bemessene Zeit. Hier befindet sich die wirkliche Welt. Uhren ticken, Menschen stehen unter Kirchtürmen und betrachten nachdenklich die alt gewordene Zeit. Sie berechnen Augenblicke und Sichtweiten. Sie verknüpfen Zeitpunkte mit Hilfe von Zeitdiagrammen und Zeitleisten, aber sie leisten sich keine Auszeit. Stattdessen tasten sie, mit suchenden Fingern, den dunklen Schatten der Sonnenuhr hinterher. Sie vereinbaren Termine, zu festgelegten Tagen, sie verabreden Meetings zu entschlossenen Stunden, sie versprechen Hochzeiten zu unumstößlichen Minuten.
Sie holen Luft, oder sie atmen aus.
In jedem Moment.
Den sie dem Leben zuordnen.
Was auch immer hier geschieht, es ist immer gebunden an eine bestimmte Anzahl von schlagenden Sekunden, die wiederum gebunden sind an eine Formation von Minuten, die in einer Gruppierung von Stunden enden, nur um einen Tag zu begründen, und dann einen weiteren und schließlich, Woche für Woche, Monat um Monat, ein ganzes Jahr und immer weiter.
In der Stadt am Waldrand gibt es viele Nachrufe, sie wispern so laut und klagend auf dem Papier der Zeit, dass sie bis hinüber zu der Stadt am See dringen. Doch während dort der neblige Schleier eine Verbindung von beiden Welten erlaubt, kann keiner in der Stadt am Waldrand bis in die Weiten der Stadt am See blicken.
Einstweilen ist es grau und düster in dieser viel zu großen befremdlichen Stadt. Einsamkeit huscht durch die Straßen, Verlorenheit macht sich breit. Aber da hier die Zeit regiert, und da sie reagiert – auf jedes Geschehen, auf jeden Fehler, auf jeden Verlauf –, geht es trotzdem immer vorwärts. Kein Schmerz, der nicht wächst oder sich verringert, keine Angst, die nicht angreift oder sich zurückzieht. Kein Moment, der unverändert im Mittelpunkt steht. Keine Träne, die niemals trocknet, kein Lächeln, das für immer bleibt.
Alles im Wandel, alles im Umbruch.
Alles im Rhythmus der tragenden Zeit.
Die Stadt am Waldrand gründet auf den menschlichen Mechanismen der umständlichen Beständigkeit. Hier wird zum einen gemessen, zum anderen gefühlt. Eine Minute ist eindeutig eine Minute, wird niemals mehr sein oder weniger. Sechzig Sekunden sind eine Minute, werden niemals mehr sein oder weniger. Und doch kann eine Minute sich anfühlen wie die Ewigkeit, und eine Stunde kann verstreichen, als dauerte sie keine Minute. Denn abhängig von Ursache und Wirkung verändert sich das menschliche Empfinden, und somit das Wahrnehmen der Zeit. So kommt es hin und wieder vor, dass ein bestürzter Blick auf eine beschlagene Uhr geworfen wird, weil sie aus irgendeinem Grund nicht richtig zu funktionieren scheint.
Die Stadt am Waldrand ist viel größer als die Stadt am See. Aber sie ist nicht halb so tiefgründig, nicht halb so weit, nicht halb so weise und nicht halb so vollkommen wie die am See. Die Stadt am Waldrand hat unzählige feste Regeln, von denen viele nicht eingehalten werden, weil sie von denselben Menschen, die sie entworfen haben, im gleichen Augenblick wieder verworfen werden. Genau so, wie dieselben Menschen, die sich darum bemühen, diese Stadt vor dem Verfall zu retten, sie ohne nachzudenken zerstören.
Die Stadt am Waldrand wächst an ihren Fehlern, aber die riesigen Wolkenkratzer im Zentrum versperren die Sicht. Die Stadt am Waldrand stürzt ein, weil der Boden erschüttert, bei jedem Sprung, den jemand aus einem Fenster macht. Und doch hat sie ihren Zauber, diese wundervolle Stadt. Denn jeder, der schon einmal die geheime Lichtung im Wald gefunden hat und zwischen den drei mächtigen Bäumen der Zeit verweilen durfte, jeder dieser Menschen weiß: Diese Stadt ist nur ein winziger Ort in einer riesigen Welt, die irgendwo einen Anfang hat und ein Ende, das irgendwo hinführt.
Die Stadt am Waldrand. Früher gab es hier viele kleine Fachwerkhäuser mit hübschen Giebeldächern, umgeben von Büschen und Bäumen und blühenden Sträuchern, doch mittlerweile ist der Wald nichts weiter als ein fast vergessenes Randgebiet. Ab und zu verirrt sich ein Reisender an diesen Ort und fragt, warum ausgerechnet eine Stadt wie diese einen so schönen Namen trägt. Aber diese Frage bleibt unbeantwortet. Die Bewohner zucken nur mit ihren Schultern und schieben es auf die Zeit, die sich verschoben haben muss, irgendwo in diesem Gefüge.
Ja. Die Stadt am Waldrand.
Sie türmt sich bis hoch hinauf in den Himmel, aber wie die Luft zwischen den Wolken tanzt, kann keiner sehen. Und falls es doch irgendwer sieht, das Lichtspiel in der Ferne, das Rauschen in der Nacht, das Fallen der ersten Regentropfen und das Funkeln in jedem Augenblick – dann bewahrt er dieses Geheimnis für sich.
Die Stadt am Waldrand, die Stadt der Zeit. Hier sterben jeden Tag Menschen. Und jeden Tag werden neue geboren. Hier bleibt nichts und niemand für immer. Hier gibt es keinen einzigen Tag ein zweites Mal.
Hier endet alles.
Alles und nichts.
Jenny Emmet, vierzehn Jahre alt, bernsteinfarbene Zauberaugen, lange rötliche Haare, papierweiße Haut. Sie ist auf dem Weg zum Schlosspark, um die Enten zu füttern. Es regnet, aber das stört sie nicht. Ihr hellblaues Kleid ist längst durchnässt und klebt an ihrem zierlichen Körper wie eine zweite Haut. Andere Menschen eilen an ihr vorbei, Regenschirme in den Händen, Kapuzen auf dem Kopf, so dass man sie kaum erkennen kann. Einige von ihnen werfen Jenny windschiefe Blicke zu. Es gehört sich nicht, in einem kurzen Kleid durch den Regen zu spazieren.
Barfuß.
Mitten in der großen Stadt am Waldrand.
Aber Jenny ignoriert die Blicke. Sie ist es gewohnt, angestarrt zu werden. Das ist ihr längst egal. Außerdem mag sie das Gefühl von dem nassen, kühlen Stoff auf ihrer glühenden Haut. Sie streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und denkt einen Moment über das Fieber nach. Es ist unsichtbar, man sieht es ihr nicht an. Ihre Wangen sind weiß, genau wie ihre Stirn und ihre dürren Arme. Sie ist Schneewittchen mit rotem Haar. Denn das Fieber ist ruhig, es lodert nicht heiß wie Feuer; es ist leise knisternd, lautlos flüsternd. Jenny kennt es schon seit Jahren – sie ist aufgewachsen mit diesem unbändigen Flammenmeer. Es wohnt in ihrem Körper, es nagt an ihrer Seele, es frisst ihren Verstand, bis sie müde wird von jedem Gedanken.
Aber Jenny ist stark. Sie hat schon als kleines Kind gelernt zu kämpfen. Und sie weiß, dass sie niemals damit aufhören wird. Denn Jenny liebt das Leben. Aufrichtig und unvoreingenommen. Sie ist nicht leicht zu verletzen, sie ist nicht nachtragend, sie ist nicht aufbrausend oder bösartig im Zorn.
Sie ist alles das, was niemand sieht.
Der nicht erkennt.
Jenny spürt jeden einzelnen Luftzug auf ihrer Haut tanzen. Sie hört das Gras flüstern. Sie sieht das Licht im Himmel seine graublauen Bilder zeichnen, mit weißem Hintergrund oder stürmischen Nachtgewändern. Und auch auf dem Boden sieht Jenny die Regenpfützen, die alles widerspiegeln, was am Himmel steht, die alles auffangen, was vom Himmel fällt; die alles in sich tragen – die Zeit, die Geheimnisse, die fließenden Erinnerungen.
Jenny versteht jeden Satz, den man zu ihr sagt. Auch wenn sie manchmal keine Antwort gibt. Jenny versteht jedes Schweigen, mit dem man ihr gegenübertritt, auch wenn sie manchmal zurückschweigt. Sie gibt keine falschen Versprechungen, sie schenkt keine leeren Hoffnungen, sie lügt nicht, um die Wahrheit zu bestreiten.
Sie ist beständig in ihrem Fortlauf.
Beständig in ihrem Voranlaufen.
Jenny mag Orangen im Winter, Butterbrote im Frühling, Johannisbeeren im Sommer und Schokolade im Herbst. Ihr Körper ist weich und kühl und zart wie der einer Elfe. Wenn man sie berührt, bekommt sie Gänsehaut, weil ihre Empfindlichkeit größer ist als ihr Empfindungsvermögen. Ein Schauder durchströmt ihr Bewusstsein, ein Stromschlag versetzt sie in Trance, und kurz darauf verschwindet sie hinter einer gläsernen Wand, die noch nie ein Mensch durchdrungen hat. Denn wenn es eines gibt auf dieser unerschrockenen Welt, vor dem Jenny Angst hat, dann ist das menschliche Nähe. Sie hat sich noch nie an einen Augenblick gebunden, der einem anderen gehört. Sie hat noch nie in einem Raum verweilt, der nicht ausreichend Platz für ihre Stille gewährt. Und obwohl sie manchmal einsam ist und davondriftet, weg von dem Dasein, das ihr gehört, möchte sie sich nicht verlieben.
Niemals. Das hat sie sich geschworen.
Jedes Jahr aufs Neue.
Mit jedem Lichtrausch.
In jeder Silvesternacht.
Denn Jenny hat Angst davor, irgendjemanden zu nah an sich heranzulassen; so nah, dass er verletzt werden könnte, und sie auch. Dabei ist ihr Herz größer und umfangreicher als jede Zeit, die sie benennen kann.
Jenny Emmet. Sie verlässt die Straße und betritt die Ausläufer des Schlossparks. Die weißen Säulen am Zugangsportal verstecken sich unter Efeuranken und einer zerrissenen, bunten Kindergirlande, die irgendwer dort vergessen haben muss. Hier werden ständig Geburtstage gefeiert, so viele, dass die Zahl der Sterbenden unberechenbar wird.
Jenny klettert auf eine alte Steinmauer, um darauf zu balancieren, so wie sie es als kleines Kind gerne getan hat. Sie streckt ihre Arme aus, tastet nach der Luft und dem darin gefangenen Wind. Sie atmet Kieselsteingeflüster ein und den Geruch von ertrinkenden Dornenhecken. Der Regen rinnt über Jennys Gesicht, über ihren Nacken, den Rücken hinab, über ihre Beine bis hin zu ihren nackten Zehen. Die rauhen Mauersteine fühlen sich fremdartig an, und trotzdem sind sie ihr vertraut.
Als junges Mädchen hat Jenny jeden Tag in dem großen Park am Schloss gespielt. Sie ist über jeden Baumstamm und jede Mauer balanciert, die sie finden konnte, und ihre Mutter hat jedes Mal ihre Hand gehalten, damit sie nicht stürzt oder fällt. Aber Jenny ist nie gefallen. Sie war schon immer gut darin, das Gleichgewicht zu halten, sie hat nie eine unbedachte Bewegung in die falsche Richtung gemacht. Sie hat sich immer vorangekämpft. Der davonhastenden Zeit ihres Lebens hinterher.
Jenny Emmet. Das einzige Wintermädchen im Frühlingspark. Sie steht lächelnd unter einer Trauerweide, ganz in der Nähe vom Schlossteich. Um sie herum freuen sich ein paar Enten und schnappen aufgeregt nach dem zerrupften Brot. Es ist bald verschwunden, denn Jenny hat nur eine kleine Papiertüte mitgebracht. Aber die Enten bleiben trotzdem, sie quaken sich an und lassen sich gemächlich zu Jennys Füßen nieder. Sie mögen dieses stille Mädchen. Sie mögen den unsichtbaren Raum, der sie umgibt. Und sie mögen den Regen – die prasselnden Tropfen, das raschelnde Gras. Ja. Sie mögen diese Tageszeit, zu der keine kleinen Kinder an ihren Federn ziehen und mit Erdklumpen und Ufersteinen nach ihnen werfen. Wenn es nach ihnen ginge, dann könnte dieser Augenblick auf ewig verweilen. Aber auch wenn er vorbeigeht, werden sie zufrieden sein. Denn ein neuer Regen wird kommen. Und auch das Gras wird wieder rascheln.
Zeit kommt. Zeit geht.
Zeit kommt erneut.
So einfach.
Ist dieses Gefüge.
Die Enten laufen davon, weil ein Hund bellt. Jenny blickt ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen sind. In ihrem Kopf wird es Winter, dabei ist es noch lange hin bis zum Herbst, der Sommer hat gerade erst begonnen. Aber Jennys Gedanken zittern. Sie ist müde. So unendlich müde. Seit vielen Jahren schon. Ihre Beine sind schwach, wie die einer alten Frau. Ihre Augen klappen zu, obwohl sie so viel sehen möchte. Ihr Herz holpert durch den Tag, rattert durch die Nacht, weckt sie am Morgen mit einem unruhigen Schlag und versinkt gurgelnd im Verlauf des Nachmittags.
Jenny Emmet.
Mädchen im Regen, Mädchen im Schnee.
Es ist Schönheit, sie zu betrachten. Es ist Glück, sie zu kennen. Es ist Leichtigkeit, ihre Bewegungen nachzuvollziehen. Es ist ein Wunder, dass es sie noch gibt.
Sie steht dort, regungslos im Regen und fühlt das Gras unter ihren Füßen, es kitzelt zwischen ihren Zehen, es ruht sanft unter ihren Fersen und verspricht ihr ein Stück dieser tragenden Beständigkeit.
Sommergewittertosen erklingt aus der Ferne.
Wolkenumbruchwinde zerren an der Zeit.
Ein Lichtnebel umhüllt die Stille.
Was mehr. Könnte dort sein?
Jenny ist mutterseelenallein an diesem Ort, jedenfalls denkt sie das. Aber auf einem Baum, nicht allzu weit von ihr, sitzt ein Junge und hält sich an diesem Augenblick fest. Er sieht Jenny unter der Trauerweide stehen und möchte weinen, obwohl er nicht weiß, warum es ihn traurig macht, dieses wunderschöne Mädchen anzusehen. Gleichzeitig möchte er lächeln, weil der Regen so herrlich auf ihre nackten Schultern fällt, während der Wind mit ihren durchnässten Haaren spielt und die langen Fangarme der Trauerweide sie umtanzen.
Als Jenny aufschaut, treffen ihre Augen den Blick des Jungen. Sie fragt sich, warum er alleine zwischen den dichten Zweigen des Baumes sitzt.
Mitten im Regen.
In der Unbeschreiblichkeit.
Dieser verschwommenen Eindrücke.
Jenny hat den Jungen noch nie zuvor gesehen, aber die Stadt ist groß, es gibt viele Menschen, denen sie noch nie begegnet ist. Und der Junge ist klein und schmächtig, er ist leicht zu übersehen. Er ist zwei oder drei Jahre jünger als Jenny, aber seine Augen sind nicht kindlich. Einen Moment lang möchte sie zu ihm hinübergehen und sich neben ihm auf dem Ast niederlassen. Vielleicht würde es sich gut anfühlen.
Nicht mehr alleine zu sein.
Aber Jenny ist zu müde, um auf den Baum zu klettern. Und außerdem muss sie zurück nach Hause. Ihre Mutter wird gleich von der Arbeit kommen, und sie wird sich Sorgen machen, wenn die jüngste von ihren drei Töchtern bei dem aufkommenden Sturm nicht zu Hause ist.
Jenny wendet ihren Blick von dem Jungen und sieht hinauf zu dem dunklen Himmel. Ihre Gedanken fallen aus dem Zeitrahmen der umrandeten Realität. Sie sieht Winterwolken und Weihnachtslichter; Zimtsterne regnen auf sie herab, Schneeflocken verfangen sich in ihrem Haar, Eiskristalle wachsen auf dem Gras unter ihren Füßen. Die Enten verwandeln sich in Schneehasen und verschwinden in kleinen Iglus am Rande des Schlossparks. Der Teich versinkt unter einem Spiegel aus Eis und toten Fischen. Schneegewänder legen sich über die kahlen Äste, Eiszapfen umzingeln die frostigen Schatten der wintergrauen Nebelschwaden, und die Luft verändert den Klang ihrer lautlosen Sprache. Ja. Der Sommer ist verschwunden; zumindest in Jennys erfrorener Befindlichkeit.
Es ist so kalt auf einmal.
So furchtbar kalt.
»Dort oben«, flüstert Jenny in den windigen Sturm. »Dort oben fällt der Schnee.«
Sie bekommt keine Antwort.
Also schließt sie ihre Augen und weint.
Kurz darauf öffnet sie ihre Augen wieder und lächelt.
Dann dreht sie sich um und rennt davon.
Durch den Park, über die Straßen.
Die Stadt entlang.
Bis nach Hause.
Jenny Emmet. Vierzehn Jahre alt. Das blasseste Mädchen in der Stadt am Waldrand, das zierlichste Wesen auf den Mauern und Baumstämmen im Schlosspark.
Sie hat Krebs im Endstadium.
Sie wird sterben.
Heute.
An diesem Tag.
Martin Grey. Er steht auf einem Fensterbrett im vierundvierzigsten Stock eines Wolkenkratzers und genießt den Ausblick. Er hat keine Höhenangst, und auch der übermütige Wind jagt ihm keinen Schauer über den Rücken. Es ist ein wundervoller Genuss, dort oben zu stehen, weit weg von den überlaufenen Straßen, den hupenden Autos und den bellenden Hunden.
Martin Grey lächelt. Es wäre der schönste Augenblick seines Lebens, wenn nicht auf einmal all diese Menschen gegen seine Bürotür hämmern und hysterisch herumschreien würden.
Was für ein Aufstand.
Nur weil er dort oben steht.
Dabei wollen sie doch alle hoch hinaus, die flatterhaften Menschen mit ihren dürren Armen. Aber vor der Weitsicht verschließen sie ihre Augen. Sie stehen vor einer Wand und suchen einen Vorwand, um auf die andere Seite zu kommen. Sie reden großspurig vom Wandel der Zeit und verwandeln ihre Gedanken noch vor dem ersten Richtungswechsel in eine Einbahnstraße.
Ja. Martin Grey findet die Menschen sehr seltsam. Sie stehlen sich gegenseitig die Zeit, nur um anschließend ihre Uhren miteinander zu vergleichen und die Zeiger bis auf den Sekundenschlag genau zu synchronisieren. Sie brauchen einen Zeitrahmen, sonst wissen sie nicht, wie groß die Leinwand ist, auf der sie ihre Bilder malen sollen. Und wenn sie nicht genau wissen, was sie sollen, dann wollen sie wissen, warum sie nicht wissen, was sie wollen, und wenn es ihnen keiner sagt, dann fragen sie, wofür sie denn bitte schön irgendetwas wollen sollen, wenn sie nicht einmal wissen sollen, warum sie nicht wissen, was sie wollen.
Martin Grey grinst.
Solche Sätze wandern ständig in seinem Kopf umher. Er könnte den ganzen Tag sinnlose Sinnbilder der Menschheit an seine Gehirnwände zeichnen, und sie anschließend anstandslos mit dem Abdeckstift der Zeit auslöschen. Er findet es bemerkenswert, dass Menschen ihr Leben lang sehnsüchtige Blicke auf diejenigen werfen, die auf den Ranglisten der messbaren Werte über ihnen stehen; aber auf ihre Konkurrenten, die sie im Wettlauf um Ruhm und Geld hinter sich gelassen haben, blicken sie selten zurück – von denen wird schließlich erwartet, dass sie ihrerseits nach oben schauen.
Was für ein grandioses Schauspiel.
Jeder Blickwinkel scheint spitz auf sich selbst zuzulaufen, oder möglichst weit von sich weg. Rechtwinklig dem Unrecht entgegen oder gleichschenklig der Ungleichheit des Verantwortungsbewusstseins eines jeden Gewissens hinterher.
Martin Grey lacht darüber.
Es war noch nie anders in der Stadt am Waldrand, und es wird auch niemals anders sein. Menschen tun merkwürdige Dinge zu merkwürdigen Zeiten, und ganz besonders merkwürdig ist dieser Moment. Da trommelt doch tatsächlich der Typ vom Büro rechts neben Martin Grey an die Wand und fleht ihn an, nicht zu springen. Dabei hat der Kerl ihn vorher noch nie angesehen. Er hat ihn niemals gegrüßt, er hat ihm nie zugenickt, und er hat sich nicht einmal bedankt, als Martin Grey ihm letztes Jahr einen Weihnachtsmann auf seinen Schreibtisch gestellt hatte, genau so, wie er es auch im Jahr davor getan hatte, und in dem Jahr davor und in jedem anderen der sieben Jahre auch, in denen Martin Grey nun schon bei Hustle&Winner, der größten Versicherungsgesellschaft in der Stadt am Waldrand, arbeitet.
Martin Grey sind solche kleinen Gesten wie die mit dem Schokoladenweihnachtsmann wichtig. Er will nicht in einem unpersönlichen Gebäudekomplex arbeiten, den ganzen Tag am Telefon hängen, und am Abend nach Hause gehen, ohne wenigstens ein paar seiner Kollegen beim Namen zu kennen. Und so hat Martin Grey also eines schönen Wintertages damit angefangen, in der Weihnachtszeit zweihundertvierzehn Weihnachtsmänner an den Arbeitsplätzen von Hustle&Winner zu verteilen. Und jedes Jahr sind es im Schnitt drei Kollegen mehr, die sich bei ihm dafür bedanken und das Einwickelpapier nach dem Verzehr im Mülleimer und nicht durch einen Wurf aus dem Fenster entsorgen.
Es ist ein ziemlich albernes Umfangen.
Aber umfassend ist es auch.
Und so ist Martin Grey mittlerweile mehr oder weniger dafür bekannt, dass er der merkwürdige Typ mit den Weihnachtsmännern und der höchsten Versicherungsaufschwatzrate ist. Alle mögen ihn. Denn er ist der Einzige, der jeden grüßt, der ihm im Flur begegnet, und er ist der Einzige, der immer gute Laune hat, auch dann noch, wenn keiner zurückgrüßt.
Aber nun steht Martin Grey auf seinem Fensterbrett im vierundvierzigsten Stock des Hochhauses, in dem Hustle&Winner dreieinhalb Büroetagen für sich beansprucht, und keiner weiß, warum.
Martin Grey hingegen weiß nicht, warum sich alle so aufregen. Was denken diese Menschen bloß? Wenn er vorhätte, sich umzubringen, dann würde er doch einfach springen, und nicht lächelnd dort oben stehen und die wunderbare Aussicht genießen. Außerdem wäre es heuchlerisch, Lebensversicherungen zu verkaufen, nur um anschließend mit dem Tod zu fusionieren.
Martin Grey breitet seine Arme aus. Er fühlt sich frei wie ein Seeadler, stark wie ein Bussard, und überhaupt ist er ein Star. Das nervenbetäubende Trommeln gegen seine Bürowand hat er längst ausgeblendet, und auch die sorgenvollen Rufe vor der Tür vernimmt er nur noch aus der Ferne. Unter ihm auf der Straße haben sich einige Menschen versammelt, sie winken zu ihm hoch, gestikulieren, als wollten sie ihn auffordern herunterzukommen. Martin Grey kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, er findet, dass ein Selbstmörder diese Aufforderung durchaus falsch verstehen könnte.
Oder ob sie ihn auffangen wollen?
Ob wildfremde Menschen sich wirklich zusammentun. Um einen weiteren fremden Menschen vor dem Verfall zu retten?
Martin Grey ist sich nicht ganz sicher, worauf er sich verlassen kann und wie viele Meter ihn von einer einschlagenden Antwort trennen. Er hat auch nicht vor, es auszutesten. Stattdessen wendet er seinen Blick von den winzigen Spielfiguren, die dort auf dem grauen Asphaltuntergrund herumzappeln, um sich auf die wesentlicheren Dinge der Welt zu konzentrieren, und das ist seiner Meinung nach so ziemlich alles, was möglichst weit weg von seinen Artgenossen stattfindet.
Martin Grey sieht die Berge. Sie sind so weit entfernt, dass man sie kaum erkennen kann, aber dennoch sind sie so gewaltig und erhaben, dass ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterjagt. Was sich wohl auf der anderen Seite befinden mag? Martin Grey weiß es nicht, denn sein Lebensraum führt von seiner Wohnung zum Büro, zum Supermarkt, zum Schlosspark, zum Kino und hin und wieder auch zum Sportplatz. Weiter ist er noch nie gekommen. Irgendwie hat es ihm bisher immer ausgereicht, dem gängigen Rhythmus der Zeit zu folgen, Schritt für Schritt, seinem vorgeschriebenen Lebenslauf hinterher.
Heute jedoch fühlt Martin Grey ein aufbegehrendes Pochen in seiner Brust, es tut nicht weh, und es beengt ihn auch nicht – aber es rüttelt übermütig an seinen Gedanken. Ja. Martin Grey steht nicht zum Sterben auf dem Fensterbrett. Er steht einfach nur dort, um den Wind des Lebens einzuatmen, dem Sommerhimmel nah zu sein, die Wolken zu zählen und das Licht der Sonne auf seinem Gesicht zu spüren.
Zeit umfängt ihn.
Zeit gibt ihn frei.
Zeit betäubt seinen Verstand.
Zeit weckt seine Geister.
Martin Grey. Sechsunddreißig Jahre alt, ungebunden, auf dem Fenster der Zeit balancierend, bester Freund eines bodenständigen Architekten.
Keiner weiß, was in ihm vorgeht, keiner weiß, warum er so ist, wie er ist. Aber alle sind erleichtert, als er sich noch ein letztes Mal in Richtung Universum streckt und anschließend zufrieden lächelnd von dem Fensterbrett zurück in sein Büro steigt.
Martin Grey. Zeitfänger und Wortakrobat.
Heute wird er aus einer Laune heraus seinen Job kündigen, und morgen schon wird er sich auf eine Reise durch die Welt begeben. Er wird die Stadt am Waldrand verlassen, ohne einen Blick zurück über seine Schulter zu werfen. Er wird davonspazieren, mit nichts weiter als einem Seesack, in dem sich ein Stift und ein leeres Buch befinden. Er wird nur von wenigen Menschen Abschied nehmen, aber er wird alles mitnehmen, was er unterwegs in seine Erinnerungen aufnehmen kann.
Martin Grey. Er wird die Stadt am Waldrand vermissen, denn er ist dort geboren, und er war noch nie zuvor an einem anderen Ort; aber er wird seinen Aufbruch trotzdem niemals bereuen.
Und er wird wiederkehren.
Eines Tages.
Mit einem Buch von unschätzbarem Wert und einem Bewusstsein, geprägt von unbeschreiblichen Erinnerungen. Martin Grey. Er wird anfangen zu erzählen, von den Abenteuern der See und den Geheimnissen der verborgenen Gebiete. Er wird Geschichten erzählen ohne Anfang, und Märchen ohne Ende. Er wird mit seinen anmutigen Worten kaputte Seelen flicken, er wird mit seinen verzauberten Sätzen offene Wunden verbinden.
Martin Grey. Wortfänger der Welten.
Geschichtenerzähler der Stadt am Waldrand.
Er wird die Lücken der Zeit schließen.
Für einen Freund, der alles verliert.
Liana Lake, zweiunddreißig Jahre alt, schulterlange braune Haare, regenblaue Augen. Ihr gehört ein gemütliches kleines Café mit hellgrünen Wänden in der Stadt am Waldrand. Sie ist jeden Tag dort und bietet Frühstück, Kaffee, Kuchen und vier verschiedene Tagesgerichte an. Nur am Mittwoch hat Liana immer frei, an diesem Tag übernimmt ihre Schwester den Laden, damit sie Zeit für ihre Tochter hat.
Lianas Mann ist zurzeit auf Geschäftsreise, das ist nichts Seltenes, er ist Angestellter einer großen Firma, die Radiotransmitter herstellt und weltweit verkauft. Aber er ruft jeden Tag an, um sich zu erkundigen, wie es seiner schwangeren Frau und seiner sechsjährigen Tochter Felicitas geht.