Joyce Carol Oates
Die Verfluchten
Roman
Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz
FISCHER E-Books
Schon vor 30 Jahren begann Joyce Carol Oates ›Die Verfluchten‹ zu schreiben. Die bedeutendste amerikanische Autorin zeigt in ihrem Meisterwerk, dass sie die Kunst der Gothic Novel beherrscht. Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (NY) geboren. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. Oates lebt in Princeton, New Jersey, wo sie Literatur unterrichtet.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
›Accursed‹ published by arrangement with Ecco,
an imprint of HarperCollins Publishers, LLC, New York
© 2013 The Ontario Review, Inc.
Illustration © 2013, Laura Maestro
Für die deutschsprachige Ausgabe
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Umschlagabbildung: Giovanni Boldini / Foto: © Christie's Images / The Bridgeman Art Library
Die Arbeit an der vorliegenden Übersetzung wurde vom Deutschen Übersetzerfonds e.V. gefördert.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402982-5
Dieses Tagebuch befindet sich in der Spezialsammlung der Firestone Library und wurde mir zur Einsicht von einem freundlichen Kurator ausgehändigt, der keine Ahnung hatte – denn woher hätte er das auch wissen sollen? –, dass ich allein unter den zahlreichen Forschern, die sich fünf Tonnen Wilsonia zu Gemüte geführt haben, den raffinierten Code zu brechen imstande war.
Um meiner umfangreichen Chronik, die ich aus zahllosen Quellen zusammengestellt habe, eine Form zu geben, werde ich einen zeitlichen Sprung nach vorn machen, wo immer es mir angebracht erscheint. Ich sollte hier auch anmerken, dass Thomas Woodrow Wilson, geboren 1856, schon als junger Mann großen Ehrgeiz entwickelte und bald den Vorteil eines markanter klingenden Namens – Woodrow Wilson – erkannt hatte. Voller Stolz, wenngleich ein wenig aus der Luft gegriffen, machte Woodrow geltend, dass seine Abstammung bis auf einen »Patrick Wodro« zurückreichte, der zusammen mit Wilhelm dem Eroberer den Kanal nach England überquert hatte, und dass noch jeder, der sich bisher in der amerikanischen Politik durchgesetzt hatte, schottisch-englischen Ursprungs war – eine in sich widersprüchliche Ansicht, wie mir scheint.
Grover Cleveland, der zweiundzwanzigste Präsident der Vereinigten Staaten, hatte sich 1897 nach seinem Ausscheiden aus dem Amt nach Princeton in sein Haus Westland Mansion zurückgezogen; nach Rang und körperlicher Statur eine bedeutende Gestalt, lebte Cleveland gerade einmal einen halben Block von Crosswicks Manse entfernt, in der Hodge Road. Da er als Angehöriger des Kuratoriums der Universität eher Andrew West als, wie von diesem befürchtet, Woodrow Wilson unterstützte, war es jedes Mal ein aufsehenerregendes Ereignis, wenn Grover und Frances Cleveland an einer Gesellschaft teilnahmen, und das trotz der ungehobelten Manieren und des jovialen Lachens des Präsidenten, der in seiner zweiten Amtsperiode enttäuscht hatte. Noch schlimmer war, dass Grover Cleveland es zu Beginn seiner politischen Laufbahn als Sheriff von Erie County im Norden von New York in mindestens zwei Fällen vorgezogen hatte, die Bestrafung von verurteilten Männern selbst zu vollstrecken, anstatt dem Henker die ihm zustehenden zehn Dollar zu bezahlen.
Annabel Slades Worte werden dem Leser gewiss genauso Rätsel aufgeben, wie sie anfangs mir Rätsel aufgaben, ich muss jedoch anmerken, dass die junge Frau, meines Wissens jedenfalls, »fremdländische« oder »exotische« Personen, ob Männer oder Frauen, mit eigenen Augen noch nie gesehen hatte; sie hatte jedoch viele Bücher gelesen, die romanhafteren und phantastischeren Inhalts waren als die Lektüren ihres Bruders, namentlich die Romane der Brontë-Schwestern, unter denen Sturmhöhe lange Jahre zu ihren liebsten zählte, sowie Verse von Byron und Shelley; und sie hatte Geschichten über die sagenhafte Kolonie russischer und polnischer Juden gehört – die Alliance Israélite Universelle –, die sich vor einigen Jahren in Woodbine, New Jersey, niedergelassen hatte. (Diese Siedlung war ebenfalls von Fanatikern bedroht worden, die sich in weiße Laken gehüllt hatten, um ihre Identität zu verbergen; mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei diesen anonymen Personen um Nachbarn der Kolonie sowie um Gesetzeshüter. Ein Kreuz wurde verbrannt als Warnzeichen; als diese Warnung nicht fruchtete, steckte man in der folgenden Nacht das Haupthaus der Gemeinschaft in Brand und trieb dessen Bewohner hinaus in die Winterkälte. Über ihr weiteres Schicksal ist mir nichts bekannt, da die Zeitungen der Region über den Vorfall oder die Vorfälle keine Einzelheiten meldeten.)
Zur Basiliskenmetapher: Es verwundert schon, dass ein jungfräuliches Mädchen aus behüteter Familie ein so ungewöhnliches und hässliches Bild bemüht, lebt die zur Spezies Basiliscus gehörende Echse doch in den tropischeren Regionen Amerikas und nicht mitten in New Jersey. Bei der Durchsicht eines Kartons alter modriger Bücher in meinem Arbeitszimmer fiel mir neulich Das Schloss von Kaschmir in die Hand – ein Kinderbuch, erschienen 1884 bei Lippincott Publishers, das einmal Annabel Slade und ihrem Bruder Josiah gehört hatte; die Titelseite war mit beider Namen versehen. (Es war ein besonders glücklicher Zufall, dass ich diesen Bücherkarton zusammen mit anderen wertvollen Stücken bei einer Haushaltsauflösung in Hopewell für nur acht Dollar erwerben konnte!) Den Umschlag des stark abgegriffenen kleinen Bilderbuchs ziert eine (zwar verblasste, aber immer noch rührende) Darstellung eines jungen Ritters auf seinem Ross im Kampf mit einer legendären Basiliskenart oder einem Drachen, der sich durch gefährliche Klauen und Zähne auszeichnet, einen feurigen Atem speit und dessen Augen wie Topase funkeln: in genauer Entsprechung des starren Blicks von Axson Mayte, ist Axson Mayte doch das körperliche Ebenbild des Dämonischen – wovon die arme Annabel zu dieser Zeit freilich nichts ahnen konnte.
Dieses Zitat aus Teddy Roosevelts Brief an seinen Außenminister John Hay war, um ganz genau zu sein, im April 1905 nicht Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung und wurde auch Historikern erst Jahre nach seinem Tod 1919 bekannt.
Die Clevelands sind sieben Jahrzehnte später immer noch ein faszinierendes Paar. Grover Cleveland, 28 Jahre älter als seine Frau, hat sie angeblich zum ersten Mal als Kleinkind gesehen; nach dem Tod ihres Vaters, der zu Clevelands ältesten Freunden gehörte, wurde er der Vormund des elfjährigen Mädchens, dem er keine zehn Jahre später, als Frances am Wells College für Frauen war, einen Heiratsantrag machte. Mit 21 war Frances die jüngste First Lady in der Geschichte und ist es noch bis zum heutigen Tage. Die Clevelands hatten fünf Kinder, deren erstes, die Tochter Ruth, 1904 mit 13 Jahren an einer Kinderkrankheit starb. Da ich in Princeton aufwuchs, sah ich die verwitwete Mrs Cleveland häufig, denn ihr korpulenter Mann überlebte die Schicksalsschläge des Crosswicks-Fluchs nicht, wenngleich er wohl als Unschuldiger dieser Geißel zum Opfer fiel. Meine Mutter war mit Mrs Cleveland gut bekannt, vor und nach ihrer zweiten Ehe, die sie mit 39 mit einem Archäologieprofessor von der Princetoner Universität einging; ich wünschte, behaupten zu können, ich hätte persönlich mit ihr gesprochen, habe aber nur verschwommene Erinnerungen an die Frau, die mit ihrem dunklen Haar und dem dunklen Hautton eine beeindruckende Erscheinung war. Über sie ging das (von Princetoner Kritikerinnen gestreute) Gerücht, sie sei weitläufig mit einem Indianerhäuptling der Choctaw Nation von Oklahoma verwandt!
Der New-Jersey-Teufel, ein fabelhaftes Mischwesen, dessen natürlicher Lebensraum die Pine Barrens im Süden von New Jersey sind, ist ein über zwei Meter großer Raubvogel oder ein Reptil mit langem Hals, sehr langem spitzen Schnabel und scharfen Krallen. Der Legende nach soll er das 13. Kind einer Hexe namens Mother Leeds oder, laut anderen Dokumenten, Mother Spags gewesen sein, die zur Zeit des Revolutionskriegs in den Pine Barrens lebte. (Dass der Name Spags hier abermals auftaucht, ist trotzdem reiner Zufall – eine Misslichkeit, auf die Historiker häufiger stoßen, als der Laie es vermuten würde. Die meisten Zufälle sind indes ohne »Bedeutung«, so auch, was ich fest glaube, hier. Der Jersey-Teufel wurde allein im 20. Jahrhundert über hundertmal gesichtet und ist Gegenstand vieler von Amateuren angestellter Nachforschungen; er hinterlässt in Schnee und Schlamm sehr große Vogelspuren und Kothaufen, von deren üblem Geruch sich sogar schon Hunde, die sich zu weit genähert hatten, übergeben mussten, ja unter konvulsivischem Zucken zusammenbrachen und verendeten. Im Jahre 1909 wurde der Teufel in verschiedenen Gegenden von New Jersey und im Grenzgebiet zwischen Pennsylvania und New Jersey gesichtet; am häufigsten in Camden, wo er Pressemeldungen zufolge eine Gruppe von Kirchgängern in der Ersten Presbyterianischen Kirche und später in einem anderen Viertel von Camden einen privaten Club angriff. (War damit ein Herrenclub gemeint? Oder war »privater Club« ein journalistischer Euphemismus für ein Gasthaus oder eine Schenke?) In Camden sollen Polizisten, als er zum zweiten Mal erschien, auf den Teufel gefeuert haben, der aber entkam, indem er über den Delaware flüchtete, was eine solche Panik in New Jersey auslöste, dass Schulen und Behörden über mehrere Tage offiziell geschlossen wurden, bis sich heraustellte, dass der Jersey-Teufel in die einsamen Sümpfe der Pine Barrens zurückgekehrt war. Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift, im Jahre 1984, lebt der Jersey-Teufel als Legende weiter, wurde aber nicht wieder gesehen, außer von unglaubwürdigen Kindern und Jugendlichen. Für eine ausführliche Darstellung siehe The Jersey Devil von James F. McCloy und Ray Miller, Jr. (Middle Atlantic Press, 1976).
Nach einem verbreiteten Missverständnis sagte Präsident Abraham Lincoln, als er (die zierliche und sehr unprätentiöse) Mrs Stowe kennenlernte: »Das also ist die kleine Frau, die den großen Krieg angefangen hat!« Das erweckt beim Leser den Eindruck, ein Einzelner, in dem Falle eine Romanschriftstellerin, sei imstande, den Gang der Geschichte zum Besseren zu lenken. Da muss der Leser lächeln, wie man vielleicht lächelt, wenn man einen Hund Männchen machen sieht. Es fällt dem Historiker zu, solche Missverständnisse aufzuzeigen und zu korrigieren – im Dienste der Authentizität.
Zu der beliebten Neftel-Behandlung für Nervenkranke gehörte eine aufwendige Galvano-Apparatur, mit der »galvanische Ströme« auf das Rückgrat des Kranken geleitet wurden, was zu therapeutischen Schocks, Spasmen oder regelrechten Krämpfen führte; die Behandlung fußte auf der Theorie, dass das Nervensystem und die Muskulatur des Körpers auf die Übertragung elektrischer Botschaften ansprechen, die bei erkrankten Personen von Grund auf neu ausgerichtet werden mussten. Oft besserte sich der Zustand der Kranken durch die Behandlung, dann aber kam es zu Rückfällen & einer noch stärkeren Ausbildung der Symptome, bis der Kranke sich im Laufe der Zeit bis hin zu einer Lähmung verspannte. Der Leser wird erleichtert vernehmen, dass dieses tragische Schicksal Adelaide McLean Burr erspart blieb.
Winslow Slade hat den Großteil seiner privaten Aufzeichnungen zwar in dem unglücklichen Frühjahr 1906 vernichtet, einige angekohlte Seiten seines Tagebuchs blieben aber erhalten, und daher wissen wir, dass Horace Burr während seiner verschiedenen beklommenen Gespräche mit ihm auch eins der schwierigsten moralischen Probleme des Christentums aufs Tapet brachte: Ob der eheliche Geschlechtsakt unschuldig, die fleischliche Begierde aber Sünde sei, wie es der Kirchenvater Gregor der Große im sechsten Jahrhundert lehrte; oder ob das Böse, wie die Thomisten später befanden, weniger in der Nachgiebigkeit gegen das Fleisch als vielmehr im ligamentum rationis (der Suspendierung der Vernunft) zu suchen sei. Wozu hat Winslow Slade Horace Burr aber geraten, & warum verspürte Horace nach fünfzehnjähriger Ehe überhaupt das Bedürfnis, ihn aufzusuchen?
Ahnt Josiah Slade hier etwas voraus, oder ist er naiv? So gefangen genommen von seiner kostbaren Evolutionstheorie, dass er eine ähnliche Entwicklung von unendlich komplizierteren Vorstellungen in der menschlichen Sphäre voraussetzen zu können meint? Denn der Glaube wird niemals von der Vernunft abgelöst werden, nicht, solange der Homo sapiens besteht.
»Pumpe« – Magenpumpe. Wenn er an besonders heftigen Magenschmerzen litt, brachte Woodrow Wilson seine Magenpumpe zum Einsatz, so lange ein beliebtes Hausmittel (wie das Klistier), bis ein Arzt im Weißen Haus ihm das Instrument im Jahre 1913, kurz nach einer Amtseinführung als 12. Präsident der Vereinigten Staaten, mit Gewalt wegnahm.
Seit ein Arzt aus Georgia ihr gesagt hatte, dass ein Mann bei guter Gesundheit sei, »solange sein Nacken prall ist und fest und kräftig«, hatte Mrs Wilson es sich zur Gewohnheit gemacht, Mr Wilson jeden Abend zur Schlafenszeit den Nacken zu massieren und ihn auf entzündete Pickel, empfindliche Muttermale, Schwellungen und unnatürliche Unebenheiten etc. zu untersuchen. Nie sorgte sich eine Ehefrau mehr um die Gesundheit des Gatten als Ellen Wilson; ich hoffe, ich greife meiner Geschichte nicht zu weit vor, wenn ich hier mitteile, dass Mrs Wilson sich noch im August 1914 auf ihrem Totenbett völlig verausgabte mit bangen Erkundigungen nach der Gesundheit ihres Mannes, da das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten schwer auf seinen Schultern lastete und sich die körperlichen Beschwerden des armen Mannes verschlimmerten wie nie zuvor.
Dr. Wilson spricht von Grover Cleveland, dessen Namen er niemals in den Mund nahm und gegen den er eine so starke Ablehnung hegte, dass er sogar noch bei Clevelands Tod im Jahre 1908 verfügte, auf dem Princetoner Campus dürfe seiner nicht erwähnt und auch die Flagge nicht auf halbmast gezogen werden, wohingegen anderswo in Princeton und fast überall in den Vereinigten Staaten Trauerbeflaggung angeordnet war.
Die Historiker sind tief gespalten: wann begann die »intime Beziehung« zwischen Mrs Peck und Dr. Wilson? War es an diesem Datum, dem 25. April, oder am folgenden Tag, als Dr. Wilson unvermittelt seinen (im Voraus bezahlten) Aufenthalt im Gasthof zur Admiralität abbrach und mehrere Nächte im Haus Sans Souci verbrachte? Mrs Peck und der liebestrunkene Dr. Wilson müssen zahlreiche Briefe gewechselt haben, leider ist meines Wissens jedoch kein einziger davon erhalten geblieben. Skandalöserweise trieb Mrs Peck es, wie man glaubt, zur gleichen Zeit auch mit Samuel Clemens, weniger anstößig, da Mr Clemens Witwer war und es einen Ehemann zu Mrs Peck wohl nicht gab. Von dieser Liaison, das dürfen wir annehmen, hatte Woodrow Wilson keinen Schimmer.
Eine Anmerkung kann hier nicht schaden! Denn Adelaide Burr hatte gewiss Kapitän Scotts Buch The Voyage of the Discovery gelesen, das in Auszügen in dem von Horace Burr bezogenen Atlantic gedruckt wurde, und die kunstfertigen Pinguin-Zeichnungen von Edward A. Wilson, einem der Offiziere der Discovery-Expedition von 1901–04, hatten sie, wie man sieht, bewegt. Für den Historiker wiederum ist es ein glücklicher Fund, wenn er just die Ausgaben des Atlantic mit den Zeichnungen aufstöbert, die sich einst im Besitz von Horace und Adelaide Burr aus dem Haus Maidstone befanden, verkauft auf einer Auktion samt einem großen Karton voller Bücher und Zeitschriften, den ich 1952 für den Betrag von 22 Dollar erwerben konnte!
Upton Sinclair bezieht sich auf den Marsch streikender Kinderarbeiter im Osten von Pennsylvania, kurz vor diesem Gespräch mit seiner Frau von der Arbeiterführerin Mary Harris Jones organisiert. Die Kinder, teils erst neun Jahre alt, infolge ihrer schlechten Arbeitsbedingungen aber schon vielfach an Fingern und Zehen verstümmelt, »marschierten« von Philadelphia nach Oyster Bay, Long Island, zum privaten Wohnhaus von Theodore Roosevelt. Zwar von der Presse als »anarchistischer Übergriff« geschmäht, fand die Not der in Fabriken und Bergwerken schuftenden Kinder durch den Marsch dennoch große Aufmerksamkeit. Ziel des Streiks war der Kampf um eine 55-Stunden-Arbeitswoche. Roosevelt lehnte es ab, »Mother Jones« und die Hunderte von zerlumpten, offensichtlich erschöpften Kindern in seiner Villa in Oyster Bay zu empfangen. Ein Richter aus Pennsylvania urteilte gegen die streikenden Kinder:
»Ihr streikt gegen Gott.«
Die Thornhurst-Wasserkur für Nervenkranke, benannt nach dem berühmten Arzt Silas Thornhurst von der Medizinischen Fakultät in Harvard, war eine von zahlreichen »Wassertherapien« dieser Zeit. Der Patient saß hierbei auf einem Stuhl, dessen Langlebigkeit erwiesen war, und wurde mit Lederriemen festgeschnallt, die zum Schutz vor Verletzungen mit einem wattegepolsterten Überzug versehen waren und um den Kopf, den Leib und die Beine geführt wurden. Danach wurde eine bestimme Menge kalten Wassers aus etwa zwei Metern Höhe aus mehreren Schläuchen oder Wasserrohren auf den Kopf »gespritzt«. Damit der Patient nicht versehentlich ertrank, seine eigene Zunge verschluckte oder sich aufgrund des exzessiven Geschreis eine Stimmbandruptur zuzog, steckte man ihm ein sauberes Tuch oder einen Schwamm in den Mund, und auch sonst ergriff man alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen. Nach einigen Stunden der Behandlung wurde der Patient dann unverzüglich in ein warmes Bett gesteckt, wo er ununterbrochen bis zu zwölf Stunden lang schlafen sollte. Horace Burr sollte 1911, noch immer Insasse von Otterholme, zwar an einem Schlaganfall sterben, nach allgemeiner Ansicht hatte die Thornhurst-Therapie ihn aber von seiner Wahnstörung geheilt und der Patient war in den letzten Jahren seines Lebens laut seiner Krankenakte doch »fügsam, sehr still und friedlich«.
Der Historiker verfolgt nicht die Absicht, seinen Leser im Ungewissen zu lassen, da Geschichte ja Vergangenes ist, und so habe ich keinen Anlass, den Ausgang der Fehde zwischen Wilson und West vor ihm geheimzuhalten: man erkennt ihn daran, dass eine antiquierte Muskete und ein Pulverhorn, die einst Captain Hiram Wyman gehörte, bis zum heutigen Tage eine Wand im Wyman-Haus schmücken, der Residenz des Dekans des Graduiertencolleges. Rückblickend können wir nur staunen, wie das angeregte »Der Schlacht von Princeton, sagten Sie?« des Dekans nicht nur den Triumph der Feinde Woodrow Wilsons in Princeton zur Folge hatte, sondern im Herbst 1912 auch den Triumph Woodrow Wilsons als demokratischer Kandidat für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten und, noch später, das 14-Punkte-Programm, der Völkerbund, das Spionage-Gesetz von 1917 und das Gesetz gegen Aufwiegelung von 1918.
»Der Soldat« dürfte heute längst vergessen sein. Zu seiner Zeit war Hauptmann Lawrence E.G.Oates vom 6. (dem Inniskilling) Dragonerregiment Teilnehmer der fehlgeschlagenen Terra-Nova-Expedition von 1910–1912, die unter dem Kommando von Robert Falcon Scott stand und bei einem Schneesturm am Südpol im oder um den März 1912 herum ihr schreckliches Ende fand.
Hauptmann Oates hatte zwei Spitznamen, »der Soldat« und »Titus«; relativ wenig weiß man jedoch über seinen jüngeren Bruder Eric und praktisch gar nichts über die Polarexpedition, an der Josiah Slade teilnahm, obwohl ich über Jahre hinweg in Archiven nach Material darüber gesucht habe. Das bringt mich, weniger als Historiker, sondern als neutraler Beobachter, auf die Frage, ob nicht vielleicht ausführende Organe des Widersachers Josiah den Wunsch eingeflüstert haben, so beherzt er selbst auch seiner Vergangenheit entfliehen wollte.
Seine Echtheit lässt sich nach so vielen Jahren zwar nicht mehr feststellen, doch ich habe guten Grund zu der Annahme, dass es sich bei dem Damestein, den ich besitze – er liegt hier vor mir auf dem Schreibtisch, wo ich ihn betrachten und mich von ihm inspirieren lassen kann –, um genau den handelt, den Todd Slade aus dem Reich in den Sümpfen mitgebracht hat. Der Stein ist nach so langer Zeit abgenutzt, die gezackten Ränder sind abgegriffen, die Farbe ist verblasst; man erkennt kaum noch, dass er einmal schwarz war.
Da meine Chronik sich ihrem Ende nähert und ich wesentliche Informationen zusammenfassen muss, merke ich hier nur ungern an, dass Upton Sinclair trotz seines Enthuasismus und seiner fraglos hohen Ideale in der Sensationspresse gewöhnlich als jemand dargestellt wurde, der seine Kommune zu dem ausdrücklichen Zweck gegründet hatte, sich einen Harem aus »amoralischen sozialistischen Frauen« einzurichten. Der tapfere Sinclair trat diesen Lügen hartnäckig entgegen und versuchte ein gewisses Maß an Würde zu wahren; doch am Morgen des 7. März 1907 brannte die Helicon Home Colony nieder, und in der Folge wurde der untröstliche junge Mann (der bei dem Brand Verletzungen erlitten hatte) umso mehr mit grundlosen Gerüchten verleumdet, er und seine Genossen hätten den Brand selbst gelegt, um die Versicherung zu kassieren und ortsansässige Handwerksbetriebe um das Geld zu betrügen, das man ihnen noch schuldete. (Dabei hatten nur wenige Tage zuvor ein Dutzend Maskierte in weißen Kapuzenumhängen auf dem Gelände vor dem Hauptgebäude ein Kreuz verbrannt.) Bei diesem Debakel sollte sich Uptons neuer Freund und Genosse Yaeger Ruggles als große Hilfe erweisen, obwohl er sich weigerte, jemals wieder nach New Jersey zu kommen, da er bei dem Brand ebenfalls verletzt worden war und der gefährliche Vorwurf der »Rassenmischung« ihn betraf, quasi wie ein Brandmal auf seiner Stirn. Upton Sinclair brauchte lange, um sich von der Katastrophe zu erholen, er erholte sich aber und sah mit ungebrochenem Optimismus der für 1908 geplanten Publikation seines nächsten Buchs The Metropolis entgegen, von dem sich alle, die das Manuskript gelesen hatten, die Verwirklichung des sozialistischen Traums in den Vereinigten Staaten versprachen, den Der Dschungel 1906 zwar beschleunigt, aber noch nicht erfüllt hatte.
Das verächtliche Wort Mistharker hatte Teddy Roosevelt geprägt. Es war eine Anspielung auf den Mann mit der Mistharke in John Bunyans Pilgerreise, der »an einer ungesunden Besessenheit von Schmutz leidet«.
In der Kolonie zeigte sich rasch, dass Annabel Slade nicht nur Freude an Buchhaltung hatte, sondern auch das Händchen dafür, das Upton Sinclair fehlte, der weder die Zeit noch die Neigung besaß. Mit der Zeit wurde Annabel die Verantwortung für das gesamte Haushaltsbudget übertragen; dadurch hatte sie häufig Gelegenheit, sich mit Yaeger Ruggles zu besprechen, der sie mit seinen dunklen Augen, seinem »krausem« dunklen, bis auf den Hemdkragen fallenden Haar, seinem oliven Teint und dem »Virginia-Schmelz« seines Akzents schon bei ihrer ersten Begegnung so bezauberte, wie die blonde Annabel Slade den ehemaligen Seminaristen. Was soll man als Historiker davon halten? Steht es ihm zu, ein Missfallen an einer »Rassenmischung« zu bekunden? Oder war Annabel Slades radikaler Schritt ein Vorbote des Traditionsbruchs, der dem stürmischen 20. Jahrhundert und gar dem unvorstellbaren 21. bevorstand? Die ältere Slade-Generation ergab sich gewissermaßen dem Schicksal, als sie davon erfuhr, dass ihre Tochter, eben erst von den Toten zu ihnen zurückgekehrt, abermals »unter den Bann« eines anscheinend unpassenden Mannes mit deutlichem Virginia-Akzent geraten war, mischte sich in die Heiratspläne aber nicht ein.
Dieses Buch ist ein Roman. Die Erwähnung realer Personen, Orte, Ereignisse, Institutionen und Organisation dient einzig dem Zweck, Authentizität zu vermitteln, und ist Teil der Fiktion. Alle sonstigen Figuren, Begebenheiten und Dialoge entstammen der Phantasie der Autorin und dürfen nicht als real aufgefasst werden.
Für meinen Ehemann Charlie Gross, meinen ersten Leser, und für meine lieben Freunde Elaine Pagels und James Cone
Aus einem unbedeutenden kleinen Dorf
sind wir zur Hauptstadt Amerikas geworden.
Ashbel Green über Princeton, New Jersey, 1783
Alle Krankheiten der Christen sind Dämonen zuzuschreiben.
Hl. Augustinus
Ein Ereignis tritt in die Geschichte ein, wenn es aufgezeichnet wird. Aber manchmal gibt es eine Vielzahl sich widersprechender Geschichten, wie es auch eine Vielzahl einander widersprechender Augenzeugenberichte gibt.
In dieser Chronik der mysteriösen, scheinbar zusammenhängenden Ereignisse, die sich etwa zwischen 1900 und 1910 in Princeton und seiner Umgebung zutrugen, wurden die Geschichten zu einer Geschichte und, um der ästhetischen Geschlossenheit willen, ein Zeitraum von zehn Jahren auf ungefähr 14 Monate zwischen 1905 und 1906 verdichtet.
Ein Historiker sollte objektiv sein, das ist mir bekannt – diese Chronik wurde jedoch mit so viel Herzblut geschrieben, begierig, einem neuen Jahrhundert von Lesern darzulegen, was während einer Folge tragischer Ereignisse offenbar wurde, die sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts im Zentrum von New Jersey zutrugen, dass es mir schwerfällt, ruhig zu bleiben, geschweige denn einen gelehrten Ton zu wahren. Sie sind mir schon lange ein Ärgernis, die schäbigen Geschichten, die über diese Ära in Princeton verfasst wurden – Q.T. Hollingers The Unsolved Enigma of the Crosswicks Curse: A Fresh Inquiry (1949) beispielsweise, ein Kompendium von Wahrheiten, Halbwahrheiten und reinen Unwahrheiten, vorgelegt von einem hiesigen Amateurhistoriker in dem Bemühen, die offensichtlichsten Irrtümer früherer Historiker (Tite, Birdseye, Worthing und Croft-Cooke) zu korrigieren; oder der einstige Bestseller The Vampire Murders of Old Princeton (1938) von einem »Anonymus« (hinter dem sich nach allgemeiner Ansicht ein Bewohner des West Ends von Princeton verbirgt), ein berüchtigt kommerzielles Werk, das die äußerlichen »sensationellen« Aspekte des Fluchs hervorhebt und zu den komplexeren, weniger offenkundigen – den psychologischen, moralischen und geistigen etwa – gar nicht vordringt.
Es ist mir peinlich, schon zu Beginn meiner Chronik damit ins Haus zu fallen, was mich persönlich zu diesem anspruchsvollen Vorhaben qualifiziert. Daher will ich hier nur erwähnen, dass ich, wie verschiedene zentrale Gestalten dieser Chronik, die Princetoner Universität (Abschlussjahrgang von 1927) besucht habe. Ich bin seit langem in Princeton wohnhaft, wurde im Februar 1906 hier geboren und in der Ersten Presbyterianischen Kirche von Princeton getauft; meine Vorfahren sind zwei der ältesten ansässigen Familien, die Strachans und die van Dycks; der Wohnsitz meiner Familie war die strenge Steinvilla im altfranzösisch-normannischen Stil in der Hodge Road Nr. 87, heute im Besitz von Fremden, deren Name auf -stein endet und die, so heißt es, das Innere des Hauses auf grausame Weise entkernt und modernisiert haben. (Verzeihen Sie mir den Einschub! Er ist weniger emotionaler als vielmehr ästhetischer und moralischer Empörung geschuldet, und derlei wird, ich verspreche es, nicht wieder vorkommen.) Ich war in den Jahren nach dem Fluch zwar noch ein kleines Kind, verlebte meine Jugend in Princeton aber in einer Zeit, in der man noch oft voll Staunen und Furcht über die tragischen und rätselhaften Ereignisse sprach und der 1910 erzwungene Rücktritt Woodrow Wilsons vom Amt des Präsidenten der Universität in der Gemeinde nach wie vor mit Bedauern und Schadenfreude kommentiert wurde.
Durch diese und andere Verbindungen hatte ich Zugang zu einigen Dokumenten, die anderen Historikern nicht zur Verfügung standen, etwa das schockierende, in einer Geheimschrift abgefasste Tagebuch der kranken Mrs Adelaide McLean Burr und die (ebenfalls ziemlich schockierenden) persönlichen Briefe von Woodrow Wilson an seine geliebte Frau Ellen oder die Halluzinationen und Wahnvorstellungen der von dem Fluch betroffenen Enkelkinder von Winslow Slade. (Todd Slade, den ich nur von ferne kannte, war einer meiner älteren Kommilitonen an der Princeton Academy.) Außerdem konnte ich Einblick in viele weitere persönliche Dokumente – Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen – nehmen, die Außenstehenden nicht zur Verfügung standen. Ich hatte außerdem das Privileg, die Manuskripte und Spezialsammlungen der Firestone-Bibliothek an der Princetoner Universität einzusehen. (Ich kann mich zwar nicht rühmen, die legendären fünf Tonnen Forschungsmaterial durchgeackert zu haben, die Woodrow Wilsons erster Biograph Ray Stannard Baker gelesen hat, aber mindestens eine Tonne habe auch ich genau geprüft.) Ich hoffe, es klingt nicht überheblich, wenn ich behaupte, dass von allen heute Lebenden niemand mehr Informationen über den privaten wie den öffentlichen Aspekt des Fluchs besitzt als ich.
Der Leser, wahrscheinlich ein Kind dieses Jahrhunderts, sei davor gewarnt, allzu streng über die Gestalten einer vergangenen Ära zu urteilen. Es wäre naiv, zu glauben, wir an ihrer Stelle hätten uns dem Angriff des Fluchs energischer entgegengestemmt oder hätten der Versuchung zu verzweifeln besser widerstanden. Für uns, die wir sieben Jahrzehnte nach dem Fluch oder dem Schrecken leben, wie er manchmal genannt wurde, ist es nicht schwer, das sich herausbildende Muster zu erkennen, aber stellen Sie sich die Verwirrung, Unruhe und Angst vor, die die Unschuldigen im Verlauf der vierzehn Monate dieser sich zuspitzenden und vollkommen mysteriösen Katastrophe erfasst haben muss! So wenig, wie die ersten Opfer einer schrecklichen Seuche wissen, welches Schicksal sie trifft, in welchem Ausmaß und mit welcher Unpersönlichkeit, konnte die Mehrheit der Opfer des Fluchs ihre Lage erfassen – das heißt, begreifen, dass die zahlreichen Übel, die ironischerweise in dieser idyllischen Umgebung über sie hereinbrachen, einer gemeinsamen Wurzel entstammten.
Man bedenke: Könnten die Bauern in einem Schachspiel begreifen, dass sie bloß Spielfiguren sind und nicht Herren ihres Schicksals, was verliehe ihnen die Macht, sich über das Schachbrett auf eine Höhe zu erheben, aus der Ziel und Zweck des Spiels deutlich werden? Das ist leider wenig wahrscheinlich, für sie wie für uns: Wir können nicht wissen, ob wir handeln oder nur die Auswirkungen des Handelns anderer erleiden, ob wir unsere Züge bei der Partie selbst machen oder ob man mit uns spielt.
M.W. van Dyck II
Eaglestone Manor
Princeton, New Jersey
24. Juni 1984
Es ist ein Nachmittag im Herbst, kurz vor der Dämmerung. Der Himmel im Westen ist ein Spinnennetz aus durchscheinendem Gold. Eine Kutsche – ein Zweispänner – gedämpftes Klappern der Pferdehufe – bringt mich über schmale Landstraßen zwischen hügeligen Feldern, die die schrägen Sonnenstrahlen streifen, zur Ortschaft Princeton, New Jersey. Das Tempo der Pferde, das Schaukeln der Kutsche und des Pferdelenkers – ich sehe sein Gesicht nicht, nur den Rücken, steif, gerade, in einem eng sitzenden Mantel –, das alles erscheint mir wie ein Traum.
Ein Herz, es muss mein eigenes sein, schlägt schneller, fast so, als bebe es im Rhythmus der Erde selbst. Eine Heiterkeit stellt sich ein, die nicht mir selbst entspringt, sondern der ländlichen Umgebung. Wie hoffnungsvoll ich bin! Wie erregt! Mit kindlicher Zuneigung, in die sich Staunen mischt, nehme ich diese vertraute und doch fast vergessene Landschaft auf! Maisfelder, Weizenfelder, Weiden, auf denen Milchvieh grast wie reglose Gestalten in einer Landschaft von Corot … die Rufe der Rotschulterstärlinge und der Stare … der seichte und doch so schnell fließende Stony Brook Creek und die schmale Brücke, über deren Holzbohlen die Pferdehufe und Kutschenräder rumpeln … ein Geruch nach üppiger feuchter Erde, nach Ernte … ich werde durch die Great Road getragen, nähere mich meinem Zuhause, nähere mich dem geheimnisvollen Ursprung meines Lebens. Die Reise, die ich mit so viel Erwartung unternehme, führt mich nicht durch geographische Räume, sondern durch die Zeit – denn das Jahr 1905 ist mein Bestimmungsort.
1905! – das Jahr des Fluchs.
Jetzt, fast zu schnell, gelange ich in die Außenbezirke von Princeton. Es ist eine ländliche Kleinstadt mit nur wenigen tausend Einwohnern, deren Bevölkerung während des Semesters durch die Studenten der Universität anschwillt. Kirchturmspitzen tauchen in kurzer Entfernung auf – denn es gibt viele Gotteshäuser in Princeton. Auf bescheidene bäuerliche Behausungen folgen nun solidere Bauten. Und im weiteren Verlauf der Great Road noch solidere Anwesen.
Wie seltsam, denke ich – es sind keine Menschen zu sehen. Keine anderen Kutschen oder Automobile. Ein Stall, ein langer schmiedeeiserner Zaun in der Elm Road, dahinter die Crosswicks Manse, durch prächtige große Ulmen, Eichen und Immergrün vor zudringlichen Blicken geschützt; hier erstreckt sich eine Weide bis zu dem roten Backsteinbau des Princetoner Theologischen Seminars, wo noch mehr Bäume stehen, die recht hoch scheinen und deren knorrige Wurzeln teils über der Erde liegen. Jetzt, in der Nassau Street, fahre ich durch das schmiedeeiserne Tor, das in die Universität führt – zur legendären Nassau Hall, wo im Jahre 1783 einst der Kontinentalkongress zusammentrat. Und doch ist der Princetoner Campus menschenleer – alles ist verlassen. Wie gern würde ich mich durch die Bayard Lane zur Hodge Road fahren lassen, zum Haus meiner Familie; mein Herz sehnt sich danach, dass wir auf die Auffahrt einbiegen und die Kutsche mich bis vor die Tür an der Seite des Hauses bringt, durch die ich mit einem Ruf wilder Freude – Ich bin da! Bin zu Hause! – eintreten kann. Doch der Kutscher scheint mich nicht zu hören. Vielleicht bin ich aber auch zu schüchtern, ihm zuzurufen, die ihm gegebene Anweisung zu ändern. Wir passieren eine Kirche mit grellweißer Fassade und hohem, schimmernden Kreuz, das in der Sonne blitzt; die Kutsche schlingert, als sei ein Pferd über einen Stein gestolpert; ich schaue auf den Kirchhof, denn jetzt befinden wir uns in der Witherspoon Street, nicht weit vom Negerviertel entfernt, und da kommt er mir, der Gedanke, fährt mir scharf wie ein Messer ins Fleisch: Natürlich, sie sind ja alle tot – deshalb ist jetzt niemand hier. Außer mir.