Der Tänzer
Roman
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Dies ist ein Roman. Mit Ausnahme einiger Personen des öffentlichen Lebens, die ihre wirklichen Namen tragen, sind alle hier geschilderten Personen, Namen und Ereignisse frei erfunden.
Für Allison.
Für Riva Hocherman.
Und für Ben Kiely.
Mit tiefem Dank für eure Inspiration und euren Zuspruch.
Was wir, oder zumindest ich, überzeugt als Erinnerung ausgeben – womit wir einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meinen, die einem Fixierbad ausgesetzt und so vor dem Vergessen bewahrt wurden –, ist in Wirklichkeit eine Form des Geschichtenerzählens, die sich unaufhörlich in unserem Geist vollzieht und sich oft noch während des Erzählens verändert. Zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen stehen auf dem Spiel, als dass das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte, und möglicherweise ist es das Werk des Geschichtenerzählers, die Dinge so umzuordnen, dass sie sich diesem Zweck fügen. Wie dem auch sei, wenn wir über die Vergangenheit reden, lügen wir mit jedem Atemzug.
WILLIAM MAXWELL: Also dann bis morgen
Was in seiner ersten Saison in Paris auf die Bühne geworfen wurde:
zehn mit einem Gummiband umwickelte Hundertfrancscheine;
ein Päckchen russischer Tee;
ein Manifest der Front de Libération National, einer Bewegung der algerischen Nationalisten, in dem gegen die Ausgangssperre für Muslime protestiert wurde, die nach der Explosion einiger Autobomben in Paris verhängt worden war;
Narzissen, die aus den Gärten des Louvre gestohlen worden waren, sodass die Gärtner Überstunden machen und die Beete bis sieben Uhr abends bewachen mussten, damit sie nicht weiter geplündert wurden;
weiße Lilien, an deren Stengel Centime-Münzen geklebt waren, sodass sie, derart beschwert, bis auf die Bühne flogen;
so viele andere Blumen, dass der Bühnenarbeiter Henri Long, der nach der Vorstellung die Bühne zu fegen hatte, aus ihnen Sträuße band, die er an den folgenden Abenden vor dem Bühneneingang an Verehrer verkaufte;
ein Nerzmantel, der am zwölften Abend durch die Luft flog, sodass die Zuschauer in den ersten Reihen einen Augenblick lang glaubten, über ihren Köpfen sei ein fliegendes Tier;
achtzehn Damenslips – ein Phänomen, das es in diesem Theater noch nie gegeben hatte; die meisten waren diskret mit Bändern umwickelt, doch mindestens zwei waren in aller Eile ausgezogen worden, und einen davon hob er nach dem letzten Vorhang auf und roch, zum Entzücken der Bühnenarbeiter, mit großer Gebärde daran;
ein Porträt des Kosmonauten Juri Gagarin mit der Unterschrift: Flieg, Rudi, flieg!;
einige mit Pfeffer gefüllte Papierbomben;
eine wertvolle Münze aus der Zarenzeit, die ein Emigrant hinaufwarf und die in ein Stück Papier gewickelt war, auf dem stand, dass er, wenn er sich seinen nüchternen Verstand bewahre, so gut sein werde wie Nijinski, wenn nicht besser;
Dutzende erotischer Polaroidfotos, auf deren Rückseite die Namen und Telefonnummern der Frauen standen;
Zettel, auf denen stand: Vous êtes un traître de la Révolution;
Glasscherben, geworfen von protestierenden Kommunisten; die Vorstellung musste für zwanzig Minuten unterbrochen werden, damit die Scherben entfernt werden konnten, und der Vorfall erregte solchen Unmut, dass die Pariser Sektion der Partei wegen des negativen Echos in der Öffentlichkeit eine Sondersitzung anberaumte;
Todesdrohungen;
Hotelschlüssel;
Liebesbriefe;
und am fünfzehnten Abend eine langstielige, vergoldete Rose.