Liu Xiaobo
Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass
Ausgewählte Schriften und Gedichte
Herausgegeben von Tienchi Martin-Liao und Liu Xia
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und Karin Betz
FISCHER E-Books
Mit einem Vorwort von Vaclav Havel
Liu Xiaobo, geboren 1955, wuchs in Changchun in der Volksrepublik China auf. Die Zeit der Kulturrevolution verbrachte er in der Inneren Mongolei. Nach seinem Studium der Literatur wurde er 1988 von der Pädagogischen Universität Peking promoviert. Liu war unter anderem als Gastprofessor an den Universitäten Oslo und Columbia und an der University of Hawaii tätig.
Liu beteiligte sich an den Studentenprotesten von 1989, die am 4. Juni 1989 blutig niedergeschlagen wurden. Es folgten mehrere Jahre im Gefängnis und in Umerziehungslagern. Seine Arbeiten konnte Liu nur im Ausland veröffentlichen. Seit 2003 war er Präsident des Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrums.
Im Dezember 2008 wurde Liu wegen der »Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt« verhaftet. Im Dezember 2009 verurteilte ihn die chinesische Justiz zu elf Jahren Haft.
Im Dezember 2010 wurde Liu Xiaobo der Friedensnobelpreis verliehen. Kurz zuvor erhielt er den Hermann-Kesten-Preis des deutschen PEN-Zentrums. Im Juli 2017 erlag er inhaftiert seiner schweren Krebserkrankung.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Coverabbildung: Stanley Joseph / Getty Images
Die Teile China und die Welt und Dokumentarische Texte sind übersetzt von Karin Betz, alle anderen Texte sind übersetzt von Hans Peter Hoffmann.
Alle Rechte an dieser Auswahl: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
© 2011 Liu Xiaobo und S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400998-8
Jiang Jingguo oder, in taiwanischer Umschrift, Chiang Ching-guo (1910–1988), Sohn Chiang Kai-sheks, wurde drei Jahre nach dem Tod seines Vaters Präsident der Republik China, in welcher Funktion er die Demokratisierung Taiwans einleitete.
Die Grundlagen der »dreifachen Vertretung« wurden von Jiang Zemin entwickelt. Nach dieser Theorie vertritt die KPCH in drei grundlegenden Fragen das chinesische Volk: 1. bei der Entwicklung der fortschrittlichen Produktivkräfte Chinas 2. bei der Entwicklung einer fortschrittlichen Kultur Chinas 3. bei den grundlegenden Interessen der überwältigenden Mehrheit des chinesischen Volkes.
Der »Neue Sanminzhuyi« oder auch »Wahre Sanminzhuyi« stammt vom 29. Januar 1940, als ein gleichnamiger Artikel von Mao Zedong in der ersten Nummer der Zeitschrift »Zhongguo wenhua« (Chinesische Kultur) erschien. Er besteht in einer Umdeutung der »Lehre der drei Volksprinzipien« Sun Yat-sens: des Nationalismus, der Demokratie und des Wohlstands. Als wahre, revolutionäre drei Volksprinzipien gelten ihm die Verbindung mit Russland, die Verbindung mit dem Kommunismus und die Unterstützung der Bauern.
Bei diesem »Zwischenfall« handelte es sich um eine Massenorgie von 400 japanischen Männern mit 500 chinesischen Prostituierten in einem Hotel in der VR China, der die chinesische Öffentlichkeit zum einen wegen der Monstrosität der Veranstaltung aufbrachte, aber vor allem wegen des Datums, an dem sie stattfand: zwei Tage vor dem 72. Jahrestag des Einmarsches der japanischen Truppen im Nordosten Chinas im Jahr 1931, was als bewusste Provokation und Demütigung verstanden wurde.
Bei diesem Zwischenfall waren ein japanischer Lehrer und drei japanische Auslandsstudenten bei einem Tanzabend an der Xibei-Universität mit falschen Penissen und Bhs aufgetreten und hatten unter wilden Verrenkungen gerufen: »So seht ihr wirklich aus, ihr Chinesen, ihr dreckigen Schweine!«
Die »Katzentheorie« bezieht sich auf den berühmten, als Zeichen von Deng Xiaopings Pragmatismus verstandenen Ausspruch: »Ganz gleich, ob die Katze weiß ist oder schwarz, Hauptsache, sie fängt Mäuse«. Ein Ausspruch, der im Übrigen auf den legistischen Philosophen Han Feizi (ca. 280–233 v.u.Z.) zurückgeht und damit Deng Xiaoping weniger in einen, wie oft geäußert, konfuzianischen als in einen legistischen Kontext stellt.
Die »Rechtsschutzbewegung« wurde von einer dezentralen Gruppe von Rechtsanwälten, Juristen und Intellektuellen in den 90er Jahren ins Leben gerufen, die versucht, die bürgerlichen Rechte in der VR China zu schützen.
Bewegung vom 5. April, auch »Tiananmen-Zwischenfall« (nicht zu verwechseln mit der Bewegung vom 4. Juni 1989) nahm ihren Anfang am 4. März in Nanking, breitete sich schnell auf das ganze Land aus und erreichte ihren Höhepunkt am 4. und 5. April auf dem Tiananmen in Beijing bei den Trauerkundgebungen für den verstorbenen Staatsratspräsidenten Zhou Enlai, die zu einer Demonstration für mehr Demokratie gerieten.
Der Artikel stammt aus der Feder von Fu Mingyuan, einem Philosophieprofessor der Universität Nanking, ein Artikel, mit dem u.a. Deng Xiaoping die Politik Hua Guofengs, der die Nachfolge von Mao Zedong und Zhou Enlai angetreten hatte, attackierte.
Siehe »Das Testament, das Lin Zhao mit ihrem Leben geschrieben hat, ist heute die einzige Stimme der Freiheit in China« in diesem Buch, S. 207.
Yu Luoke (1942–1970) stammte aus Beijing und wurde am 5. März 1970 wegen eines Artikels mit dem Titel »Über die Herkunft« hingerichtet. Ein weiterer Grund: Er soll angeblich Handgranaten gehortet haben, um ein Attentat auf Mao Zedong zu verüben.
Der Terminus »Ungleiche Verträge« bezieht sich auf eine ganze Reihe von Abkommen, die China zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg mit den westlichen Mächten und Japan, Korea etc. geschlossen hat.
John Leighton Stuart (1876–1962) war der erste Präsident der Yanjing-Universität und später Botschafter der USA in China.
Der Drei-Linien-Aufbau von 1964 sah einen Aufbau von Wissenschaft und Technik, Industrie und Verkehr in 13 Provinzen und Selbstverwaltungsgebieten in der Mitte und dem Westen Chinas vor.
Theorie der drei Welten, angeblich von Mao Zedong selbst entwickelt, unterteilte die Welt in drei »Welten«, die erste mit den Supermächten USA und UdSSR, die zweite der Länder Europas und der dritten Welt, den Entwicklungsländern.
Die »dicke dunkle Theorie« geht auf Li Zongwu (1879–1944) zurück und wurde 1911 publiziert. Er war ein Spezialist für politische Intrige und schrieb: »Wenn du deine Absichten vor anderen verbirgst, dann ist das ›dick‹. Wenn du anderen deinen Willen aufzwingst, dann ist das ›dunkel‹.« Mit dieser »Theorie« werden die skrupellosen und hinterhältigen Methoden beschrieben, mittels derer man sich an der Macht halten kann. In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts berichteten Zeitungen vom Festland, Mao Zedong habe diese »Theorie« studiert.
Joseph Needham (1900–1995), englischer Gelehrter und Sinologe, berühmt geworden durch das vielbändige Monumentalwerk: »Science and Civilization in China«.
Dieses Buch über Militärstrategie wurde 1999 von zwei Obersten der Volksbefreiungsarmee geschrieben. Es geht darin vor allem um die Frage, wie eine Nation wie China eine technologisch überlegene Macht (wie die USA) besiegen kann.
Das enclosure movement, deren erste Anfänge in das 15. Jhd. zurückreichen, bezeichnet die Auflösung der Allmenderechte in der englischen Landwirtschaft, bei der vorher gemeinschaftlich genutztes Land von privater Seite eingefriedet (»enclosures«) und intensiver genutzt wurde. Dadurch wurde die Kommerzialisierung der britischen Landwirtschaft vorangetrieben.
»Flusselegie«, chinesisch heshang, ist eine sechsteilige historische TV-Dokumentation von 1988, in der die Dekadenz der chinesischen Kultur kritisiert und dazu aufgefordert wird, vom Westen und von Japan zu lernen.
Zahlen gegenüber dem Original (1 Billion USD) aktualisiert. Stand: Oktober 2010.
Hu Angang, Jahrgang 1953, ist Professor für Wirtschaft an der Qinghua-Universität in Beijing.
Lin Yifu oder Justin Lin ist chinesischer Wirtschaftswissenschaftler und Vizepräsident der Weltbank.
In seiner Novelle »Die wahre Geschichte des Ah Q« von 1922 zeichnet der Autor Lu Xun das Psychogramm eines Menschen, der sich selbst dann, wenn er zutiefst gedemütigt wird, immer noch für großartig hält, als Sinnbild einer chinesischen Gesellschaft, die trotz ihrer sozialen Gebrechen an ihrer alten Größe festhält, ohne sich den Herausforderungen der Moderne zu stellen.
Der klassische chinesische Begriff tianxia, wörtlich »unter dem Himmel«, bedeutet sowohl China als auch die ganze Welt.
Der Protestmarsch zum 1. Juli ist eine alljährlich seit dem 1. Juli 1987, dem Tag der Rückgabe der Kronkolonie und der Etablierung der Sonderverwaltungszone Hongkong, stattfindende Demonstration, zu der die Hongkonger Menschenrechtsliga aufruft. Der Protest wurde verstärkt durch den 2003 in die Verfassung integrierten Artikel 23, ein Sicherheitsgesetz, das u.a. die Verfolgung von auf dem Festland verbotenen Organisationen auch in Hongkong erlaubt.
Wang Lixiong, geboren 1953, ist ein chinesischer Schriftsteller und Tibet-Forscher.
uch Tschiang Chingkuo oder Jiang Jingguo (1910–1988), ältester Sohn Chiang Kai-sheks und sein Nachfolger als Präsident Taiwans.
Zhuangzi, »Herbstfluten«, Kap. 1, Übersetzung von H.P.H,
Das Qingming- oder Lichtfest ist ein Totengedenkfest zu Frühlingsanfang, das in Grundzügen und auch einigen Bräuchen (Besuch der Friedhöfe, Kerzen auf den Gräbern) dem katholischen Allerheiligen nicht unähnlich ist.
Guo Moruo (1892–1978), chinesischer Schriftsteller und Politiker. Feng Youlan (1895–1990), einer der bedeutendsten chinesischen Philosophen und Philosophiehistoriker des 20. Jahrhunderts.
Louis Cha (geb. 1924), Pseudonym Jin Yong, ist ein sehr erfolgreicher und in viele Sprachen übersetzter Autor chinesischer Ritterromane.
Qiong Yao (geb. 1938 in Sichuan) ist das Pseudonym einer taiwanischen Autorin von oft verfilmten Liebesromanen.
Der Triebbegriff taucht bei Freud erst 1905 in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« auf.
Diese Jugendlichen wurden während der Kulturrevolution auf das Land verschickt, um von den Bauern zu lernen.
Wang Guangmei (1921–2006) war die Frau von Liu Shaoqi, des ehemaligen chinesischen Staatspräsidenten und Mitglied des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses der VR China.
»Die Brücken am Fluss« ist ein Filmdrama aus dem Jahr 1995. Regisseur, Produzent und männlicher Hauptdarsteller ist Clint Eastwood, die weibliche Hauptrolle spielt Meryl Streep. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Robert James Waller aus dem Jahr 1992.
Bai Juyi (772–846), sehr populärer Tang-Dichter.
Wang Shuo (geb. 1958), zeitgenössischer Schriftsteller und Dramatiker.
Hu Ge (geb. 1974), Musiker und Videokünstler.
Diese Anspielung bezieht sich auf das Spiel zwischen Italien und Australien bei der Fußball-WM in Deutschland am 26. Juni 2006, wo der chinesische Kommentator Huang Jianxiang in den letzten entscheidenden Minuten des Spiels seiner Sympathie für Italien durch antiaustralische Ausfälle Luft machte.
Fräulein Hibiskus, bürgerlich Shi Hengxia (1977), erlangte 2005 eine komisch-peinliche Berühmtheit durch die Pinup-Fotos, die sie in Verkennung ihrer Wirkung ins Internet stellte.
Eine Aktion, die im Jahre 213 v.u.Z. unter dem Ersten Kaiser stattfand und Hunderte von Gelehrten das Leben gekostet haben soll.
Yu Dan (geb. 1965), Associate Professor an der Beijing Normal University, sie hat klassisches Chinesisch und Medientechnik studiert.
Zhu Xi (1130–1200), bedeutendster neokonfuzianischer Philosoph.
Das Projekt des goldenen Schilds (Golden Shield Projekt) oder Chinas Great Firewall ist ein Projekt zur Zensur und Kontrolle des Internets, das 1998 ins Leben gerufen wurde und 2003 zu arbeiten begann.
»Sturmhöhe« (Originaltitel: Wuthering Heights) ist ein Roman der englischen Schriftstellerin Emily Brontë (1818–1848). Der 1847 unter dem Pseudonym Ellis Bell veröffentlichte Roman wurde vom viktorianischen Publikum weitgehend abgelehnt, heute gilt er als ein Klassiker der britischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts. Er wurde in viele Sprachen übersetzt, allein 10-mal ins Deutsche, und immer wieder verfilmt.
Zitat aus einem Gedicht des ungarischen Freiheitsdichters Sandor Petöfi (1823–1849). Die deutsche Übersetzung stammt von Ladislaus von Neugebauer.
Der UN-Zivilpakt ICCPR trat am 23. März 1976 in Kraft und wurde seither von 167 Staaten ratifiziert. Von China wurde der Pakt zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert.
Liu Xiaobo bezieht sich auf ein Zitat von Voltaire, den er aber nicht ausdrücklich beim Namen nennt: »Sie sind anderer Meinung als ich, und ich werde Ihr Recht dazu bis in den Tod verteidigen.«
Es ist gute 30 Jahre her, dass sich eine Gruppe von 242 privaten Bürgern, die wegen der Bürgerrechte in der Tschechoslowakei besorgt war, zusammenfand, um ein Manifest zu unterzeichnen, das als Charta 77 bekannt geworden ist. Dieses Dokument rief die Kommunistische Partei dazu auf, die Menschenrechte zu respektieren, und brachte klar zum Ausdruck, dass wir nicht länger in Angst vor staatlichen Repressionen leben wollten. In unserer nicht sehr homogenen Gruppe fanden ehemalige Kommunisten, Katholiken, Protestanten, Arbeiter, liberale Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller zusammen, um mit einer Stimme zu sprechen. Unsere Unzufriedenheit mit einem Regime, das nahezu täglich Gehorsamsbeweise verlangte, einte uns. Nach der Veröffentlichung der Charta 77 tat die Regierung ihr Möglichstes, um uns auseinanderzubringen. Wir wurden inhaftiert, vier von uns gingen schließlich für mehrere Jahre ins Gefängnis. Die Überwachung wurde verstärkt, unsere Wohnungen und Büros wurden durchsucht, und ein Bombardement von Presseangriffen versuchte, uns und unsere Bewegung durch Verleumdungen übelster Art zu diskreditieren. Doch die Attacken stärkten nur unseren Zusammenhalt. Die Charta 77 erinnerte zudem viele unserer Mitbürger, die im Stillen vor sich hin litten, dass sie nicht allein waren. Damals war ein Großteil der Ideen, die sich in der Charta 77 fanden, in der Tschechoslowakei weitverbreitet. Eine Woge von ähnlichen demokratischen Reformen ergoss sich 1989 über ganz Osteuropa.
Im Dezember 2008 stellte eine Gruppe von chinesischen Aktivisten, Anwälten, Intellektuellen, Akademikern, pensionierten Beamten, Arbeitern und Bauern unter dem Titel Charta 08 ihr eigenes Manifest vor, in dem sie für eine rechtsstaatliche Regierung, Achtung der Menschenrechte und andere demokratische Reformen eintrat. Trotz aller Bemühungen der Regierungsbeamten, die Charta 08 von den chinesischen Computerbildschirmen fernzuhalten, hat sie durch das Internet doch ein landesweites Publikum erreicht, und die Zahl der Unterzeichner stieg auf über 10 000.
Wie in der Tschechoslowakei in den 70er Jahren kam die Reaktion der chinesischen Regierung rasch und brutal. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Unterzeichnern wurden zu Verhören vorgeladen. Eine Handvoll von anerkannten Rädelsführern wurden verhaftet. Berufliche Beförderungen wurden ausgesetzt, Forschungsstipendien und Ausreiseanträge abgelehnt. Zeitungen und Verlage wurden angewiesen, jeden, der die Charta 08 unterzeichnet hatte, auf eine schwarze Liste zu setzen. Der prominente Schriftsteller und Dissident Liu Xiaobo, einer der Hauptverfasser der Charta, wurde verhaftet und im Dezember 2009 zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.
Doch auch wenn man Liu Xiaobo in Ketten legen konnte, mit seinen Ideen war das nicht möglich. Die Charta 08 hat die Vision von einem anderen China formuliert und damit die offizielle Linie herausgefordert, der zufolge sämtliche Reformentscheidungen ausschließlich Sache des Staates sind. Sie hat die jüngeren Chinesen ermutigt, politisch aktiv zu werden, und plädierte kühn für die Herrschaft des Gesetzes und eine verfassungsgemäße Mehrparteiendemokratie. Und sie hat eine Reihe von Gesprächen und Essays über die Frage ausgelöst, wie man zu diesem Ziel gelangen kann.
Das Wichtigste war vielleicht, dass die Charta 08, wie in der Tschechoslowakei der 70er Jahre, zwischen den verschiedenen Gruppen Kontakte aufgebaut hat, die vorher nicht bestanden. Vor der Charta 08 »mussten wir in Isolation und Einsamkeit leben«, schrieb einer der Unterzeichner, »wir waren nicht gut darin, unsere persönlichen Erfahrungen gegenüber denjenigen, die uns umgaben, zum Ausdruck zu bringen«.
Liu Xiaobo und die Charta 08 richten sich an ein politisches Milieu, das sich sehr von dem in der Tschechoslowakei der 70er Jahre unterscheidet. In seinem Bestreben nach wirtschaftlichem Wachstum schien China einige Dinge anzunehmen, die weit entfernt waren vom traditionellen Kommunismus. Vor allem für die jungen, städtischen, gut ausgebildeten Weißkragen mochte China wie ein postkommunistisches Land wirken. Und doch hat die Kommunistische Partei Chinas Grundsätze, die sie nicht aufgeben kann. Als Speerspitze bei der Abfassung der Charta 08 hat Liu Xiaobo den unumstößlichsten dieser Grundsätze verletzt: auf keinen Fall das Machtmonopol der Kommunistischen Partei in Frage zu stellen und auf keinen Fall zu suggerieren, dass Chinas Probleme – einschließlich der weitverbreiteten Korruption, der Arbeiterunruhen und der ungezügelten Umweltzerstörung – etwas zu tun haben könnten mit dem Mangel an Fortschritt auf dem Gebiet politischer Reformen. Und dafür, dass er diese Verbindung in einer allzu öffentlichen Weise hergestellt hatte, wird Liu mehr als ein Jahrzehnt im Gefängnis verbringen.
Gekürzte Fassung des Artikels »A Nobel Prize for a Chinese Dissident« (2010) von Václav Havel, Dana Němcová und Václav Malý
Einführung von Tienchi Martin-Liao
Liu Xiaobo ist neben dem vom nationalsozialistischen Regime verfolgten Carl von Ossietzky in der hundertjährigen Geschichte des Nobelkomitees der Zweite, dem der Friedensnobelpreis zugesprochen wurde, während er im Gefängnis saß. Da seine Familienangehörigen nicht die Erlaubnis erhielten, aus der VR China auszureisen, um den Preis an seiner statt entgegenzunehmen, konnte die Friedensnobelpreismedaille und die Urkunde bei der feierlichen Preisverleihung in Oslo am 10. Dezember 2010 nur auf einen leeren Stuhl gelegt werden. Die versammelten Menschen dort und in weiten Teilen der Welt waren natürlich neugierig auf diesen Dissidenten und Schriftsteller, mit Recht, denn er hat sich lange Jahre gewaltlos für den Schutz der universalen Menschenrechte und der grundlegenden Bürgerrechte eingesetzt. Er hat mit anderen zusammen nach dem Vorbild der »Charta 77« die »Charta 08« entworfen – ein moderates und vernünftiges Dokument, das die Prinzipien gesellschaftlicher Reformen für ein erneuertes China vorstellt, das ihn aber unter der Anklage »umstürzlerischer Umtriebe« im Dezember 2008 ins Gefängnis brachte. Ein Jahr später wurde er zu elf Jahren Haft verurteilt; bis heute wird er im Gefängnis von Jinzhou, Provinz Liaoning, festgehalten. Liu Xiaobo ist der repräsentativste Fall von »Verfolgung des Wortes« im gegenwärtigen China. Außerdem ist er unter all den Intellektuellen, die in den vergangenen beiden Jahrhunderten auf der Suche nach einem Weg in die Moderne waren, einer, der die Last der Verantwortung dabei bewusst auf sich nahm und dafür den höchsten Preis bezahlen muss.
Das Werk Liu Xiaobos türmt sich mannshoch, in den über 30 Jahren seiner schriftstellerischen Karriere hat er mehrere Hundert Artikel geschrieben, elf Bücher herausgebracht, darunter, zusammen mit seiner Frau, auch eine Sammlung von Gedichten. Die Inhalte sind sehr breit gestreut, es geht um kritische Kommentare zur Literatur, Geschichte, Philosophie und Gesellschaft aus einer zwischen der chinesischen und der westlichen Kultur vergleichenden Perspektive. In der inhaltlichen und formalen Reichhaltigkeit seines Werkes kommt ihm wohl keiner der zeitgenössischen Intellektuellen gleich. Im vorliegenden Buch sind Aufsätze Liu Xiaobos zu verschiedensten Themen versammelt, wobei die Zeitkritik und die politischen Kommentare der letzten Jahre den Schwerpunkt bilden und das zentrale Thema widerspiegeln, das sein Denken bestimmt: den dornigen Weg Chinas in die Moderne, vom Kaiserreich bis zum modernen Verfassungs- und Rechtsstaat.
Als guter Freund Liu Xiaobos war der Politologe Hu Ping bei der Zusammenstellung dieses Teiles der Texte eine unverzichtbare Hilfe. Ihm sei an dieser Stelle gedankt. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man Liu Xiaobos Frau, die Dichterin und Fotografin Liu Xia, als seine literarische Muse und Inspirationsquelle für sein poetisches Schaffen bezeichnet, denn Liu Xiaobos Gedichte kreisen, von den zahlreichen Gedichten abgesehen, in denen er des Tiananmen-Massakers vom 4. Juni 1989 gedenkt, größtenteils um seine Zeiten im Gefängnis, und sie sind alle Liu Xia gewidmet. Die hier vorgestellten Gedichte hat Liu Xia persönlich ausgewählt.
Liu Xiaobo gilt als »Ketzer« unter den modernen chinesischen Intellektuellen, er ist ein kühler Beobachter und Berater des schmerzhaften Weges der »zweiten Modernisierung«, auf den sich China am Übergang der beiden Jahrhunderte gemacht hat. Sein Frühwerk zeigt deutlich den Einfluss der klassischen westlichen Philosophie und der Aufklärung. Als unkonventioneller und energischer junger Schulabgänger war er nicht nur von Marx, sondern auch von Nietzsche und Hegel fasziniert. Dieser unbekannte »Ausreißer« im chinesischen Literaturbetrieb – er wurde oft als dark horse bezeichnet – hat die Öde, die die Kulturrevolution auf kulturellem Gebiet hinterlassen hat, und die beispiellose Katastrophe, die der Maoismus als herrschende Ideologie von Beginn an für die chinesische Gesellschaft bedeutete, als existentielle Herausforderung erfahren. Er ist aber auch mit der traditionellen chinesischen Kultur gnadenlos ins Gericht gegangen – kurz, er hat viele Dogmatiker unter seinen damaligen Kollegen zutiefst entsetzt.
Am 25. Juni 1988 war in dem Sitzungsaal mit den großen Säulen der Beijinger Normal University ein Auditorium von einigen Hundert Menschen versammelt, darunter junge Studenten und Professoren mittleren und fortgeschrittenen Alters, auch ein paar Parteikader mögen darunter gewesen sein, als Liu Xiaobo seine Dissertation verteidigte. Das kann man als ein geistiges Fest bezeichnen, das für die Hauptstadt Beijing bahnbrechend war. Neun hochangesehene Professoren, darunter eine Zeitlang im Fokus der Öffentlichkeit stehende Männer wie Wang Yuanhua, Xie Mian, Jiang Peikun und Gao Ertai, verständigten sich auf folgenden von Professor Tong Qingbin vorgetragenen Text:
»Die Doktorarbeit von Liu Xiaobo ›Ästhetik und Freiheit‹ zeigt unter einem relativ weit gefassten Blickwinkel, in dem sich philosophische, anthropologische, psychologische und soziologische Aspekte verbinden, die Beziehungen zwischen Ästhetik und menschlicher Freiheit. Die Arbeit ist reich an kreativem Forschergeist. Der Verfasser hat die Theorien seiner Vorgänger in sein unabhängiges Denken gut aufgenommen und durchgearbeitet. Die Dissertation zeigt bei einer Reihe von Fragen, wie die der psychischen Mechanismen und der transzendenten Essenz von Ästhetik, sehr viel Originalität, Ideenreichtum und einen relativ starken Zeitbezug. Die Beweisführung der Arbeit ist tiefgehend, kraftvoll, hat Leidenschaft und Poesie, und ihr Stil ist von einzigartigem Charme. Bei einigen Fragen, wie der nach dem Verhältnis von ästhetischem Subjekt und Objekt, von Gefühl und Vernunft und von Transzendenz und Begrenzung ist die Arbeit allerdings einseitig und fanatisch, hier wäre eine Verbesserung und weitere Reflexion angebracht. Die Arbeit erfüllt die Promotionsanforderungen. Die Antworten, die Liu Xiaobo der Promotionskommission gegeben hat, waren zufriedenstellend. Die neun Mitglieder der Kommission befürworten einstimmig, Herrn Liu Xiaobo den Titel eines Doktors der Literatur zu verleihen.«
Die Arbeit war unter dem Namen der »Ästhetik« der Aufschrei zur seelischen Befreiung eines jungen Menschen, der eingeengt in einer gänzlich deprimierten und deformierten Gesellschaft lebte. Die älteren Intellektuellen haben das sehr wohl verstanden und sie zeigten Sympathie dafür – was könnte bewegender sein als solch eine Szene?
Nachdem er durch das traumatische Erlebnis des 4. Juni 1989 und die Feuertaufe mehrfacher Gefängnisaufenthalte gegangen war, hat Liu Xiaobo nicht mehr in dieser Form aufgeschrien, er hat mit der Nüchternheit des Beobachters zwanzig Jahre Reformpolitik erlebt und verfolgt, sein Hauptaugenmerk lag auf der Transformation der chinesischen Gesellschaft in ein pluralistisches, vielgestaltiges, uneinheitliches und widersprüchliches – ja missgestaltetes Gebilde. Seine Gedanken und Empfindungen durchliefen einen Prozess der Klärung und gereifteren Reflexion. Liu Xiaobo erkannte, wie wichtig Kants Konzeption der »Aufklärung« und »Vernunftkritik« für eine chinesische Gesellschaft wäre, die in einem geistigen Chaos gefangen ist. Er schöpfte dabei nicht nur aus Ideen westlicher Philosophen und Wissenschaftler wie Kant, Foucault und Isaiah Berlin, er erforschte und rezipierte auch die praktische anglo-amerikanische und europäische Politik z.B. von Abraham Lincoln, Martin Luther King, Václav Havel, Theorien des Liberalismus und der Wirtschaftswissenschaft wie z.B. von F. A. v. Hayek, und nicht zuletzt hinterließen auch christliche Elemente westlicher ethischer und politisch-philosophischer Traditionen tiefe Spuren bei seiner geistigen Neuorientierung.
In den letzten Jahren hat China einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg erlebt, doch der politische Konservatismus und Rückschritt hat Liu Xiaobo zu quälen begonnen. Er hat darauf hingewiesen, dass »gerade die oberflächliche Blüte der chinesischen Reformen« in die falsche Richtung gehe, denn »das Ziel der Reformen ist nicht die Befreiung des Menschen und der Wohlstand des Volkes, sondern nationaler Aufschwung und Stärkung des Staates; der Weg der Reformen ist nicht der einer Rechtsbewegung, an deren vorderster Spitze die Zivilgesellschaft kämpft, sondern eine Verherrlichungsbewegung auf der Suche nach einem neuen Retter und Erlöser. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist daher eine Totalisierung aller Bereiche der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Im Rücken dieses sogenannten Wirtschaftswunders steht das ›Wunder‹ eines Verfalls des politischen Systems, zunehmender gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, eines moralischen Niedergangs, eines Verschwendens von Ressourcen für die Zukunft – alles kaum beherrschbare Folgen, deren wirtschaftliche und menschenrechtliche Kosten extrem hoch sind, mehr noch, deren gesamtgesellschaftliche Kosten sehr schwer abzuschätzen sind.« (»Die Hintergründe des chinesischen Wirtschaftswunders«, S. 139).
Im Vorwort zu seinem Buch »Die Zukunft der Freiheit in China ist die Zivilgesellschaft« (Weilai ziyou zhongguo zai minjian, Washington 2005) führt er aus, dass die Modernisierung Chinas »auf einem Irrweg ist«: Zuerst habe man in der Reformbewegung Ende der Qing-Dynastie geglaubt, »dass unser institutionelles Regelwerk schlecht sei, in der 4. Mai-Bewegung, dass unser politisches System schlecht sei, und dann, dass unsere Kultur minderwertig sei, mit dem Resultat, dass man sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht für das Modell des anglo-amerikanischen Liberalismus entschied, sondern für den Despotismus der Sowjetunion – was sich schließlich zu einer ungeheuren menschenrechtlichen Katastrophe auswuchs«.
Wohin geht Chinas Weg heute? Liu Xiaobo zeigt überaus deutlich, dass die Zukunft und Hoffnung Chinas in der spontanen Entwicklung und Verbindung der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Kräfte liegt. Anders gesagt, durch die Entwicklung der Kräfte der Zivilgesellschaft und der Vergrößerung ihres Spielraums wird ein Wandel in Richtung einer politischen Demokratisierung angestoßen oder gar erzwungen, aus der ein freier, demokratischer Verfassungsstaat entsteht, der für den Weltfrieden und die Menschenrechte seinen Beitrag leisten kann. Schon vor einer ganzen Reihe von Jahren hat Liu Xiaobo eine Aufwertung der Bürgerrechte und damit eine Abwertung der Rechte der Obrigkeit sowie das kontinuierliche Wachstum aller möglichen Organisationen der Zivilgesellschaft beobachtet – eine Dynamik, die für die bürgerliche Gesellschaft in China bereits »ein Stück Himmel« eröffnete. Immer neue Arbeiterstreiks und Arbeiterdemonstrationen sowie Aktionen der Rechtsschutzbewegung der Zivilgesellschaft finden statt, und eine grundlegende kommunale Selbstverwaltung in den ländlichen Gebieten ist entstanden, was dazu führt, dass die Macht der Partei immer mehr schrumpft.
Auch wenn die immer schwungvollere Entwicklung des Internets und damit das erwachte Freiheitsbewusstsein der einfachen Bevölkerung von offizieller Seite boykottiert, gefiltert, blockiert und unterdrückt wird, so kann diese spontane, wehrhafte und authentische zivilgesellschaftliche Kraft jetzt nicht mehr aufgehalten werden. Eben diese Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung in China sollen in den für dieses Buch ausgewählten politischen Essays deutlich zum Ausdruck kommen. Der Leser wird feststellen, dass Liu Xiaobo kein Prophet ist, aber ein genauer Beobachter und Analytiker.
Für den Schriftsteller und Lyriker Liu Xiaobo war der 4. Juni 1989 ein Wendepunkt in seinem Leben. Er war einer der »Vier Edlen vom Tiananmen« und einer der wichtigsten Teilnehmer der damaligen Bewegung. In »Monolog eines Überlebenden des Weltuntergangs« (Mori xingcunzhe de dubai, Taibei 1992) unterzieht Liu Xiaobo seine eigene Rolle und sein eigenes Verhalten einer strengen selbstkritischen Reflexion. Das Ausmaß seiner Offenheit ist erschütternd, eine solche »Beichte« ist in der chinesischen Literatur eine ausgesprochene Seltenheit. Er verschmerzt bis heute nur schwer die Selbstverleugnung im schriftlichen »Schuldeingeständnis« für nichtbegangene »Verbrechen«, das ihm nach dem Hungerstreik im Gefängnis – wie üblich – abgepresst wurde.
Obwohl er der Widerstandsbewegung von 1989 kritisch gegenübersteht, besteht doch kein Zweifel, dass er sie grundsätzlich bejaht und sich emotional mit ihr identifiziert. Der Albtraum des 4. Juni war für sein späteres Leben, Fühlen, Denken und Schreiben ein gewaltiger Schlag. Liu Xiaobo hat die Unterstützung der »Mütter vom Tiananmen« und das Andenken an die Tiananmen-Bewegung zu einem wichtigen Bestandteil seines Schreibens gemacht. Als Liu Xia ihm die Nachricht überbrachte, dass er den Friedensnobelpreis verliehen bekommt, war der erste Satz, den er unter Tränen hervorbrachte: »Es ist für die Toten vom 4. Juni.«
Liu Xiaobo ist ein Teilnehmer an gesellschaftlichen Bewegungen, bei dem Wort und Tat eine Einheit bilden. Immer wenn in den vergangenen Monaten und Jahren die Machthaber die Rechte eines Einzelnen oder einer schwächeren Gruppe verletzten, wie bei Sun Zhigang, Yang Jia, Deng Yujiao, bei den »Vier Edlen der neuen Jugend«, bei Praktizierenden der Falun Gong, bei den Dorfbewohnern von Taishicun und im Fall der Kindersklaverei (s. S. 113), hat er nicht nur zur Feder gegriffen und enthüllende und kritische Artikel geschrieben, er hat auch vielfach offene Briefe herausgegeben und Unterschriftenaktionen initiiert, sich für Gerechtigkeit eingesetzt und die Opfer unterstützt. Auch was die Tibet-Frage und die Frage der ethnischen Minderheiten angeht, hält er konsequent am Maßstab von Rechtlichkeit und Vernunft fest.
In einem Artikel mit dem Titel »Der Beitrag der Republikaner zur Wahl Obamas zum Präsidenten« (s. S. 185) äußert er sogar die Auffassung, »der ausgezeichnete internationale Ruf und die hohe Autorität des Dalai Lama bei den Tibetern« rühre auch daher, dass immer mehr Han-Chinesen den buddhistischen Glauben annähmen: »Wenn das Regime der chinesischen Kommunisten genug politische Weisheit besitzt und die Han-Chinesen genug Toleranz, dann werden sie den Dalai Lama bitten, Staatspräsident zu werden und damit der ›Tibet-Frage‹ die Schärfe nehmen.« Eine solche Toleranz, Offenheit und Weitsicht ist bei chinesischen Intellektuellen selten und erklärt auch, warum Liu Xiaobo Pazifist ist. Sein Glaube an Gewaltlosigkeit basiert auf weiser Erkenntnis und auf einer Güte und Duldsamkeit, die fast schon religiöse Züge trägt.
Eine solche philosophische Geisteshaltung ist für Liu Xiaobo aber nicht nur ein privates Bekenntnis, sondern Bedingung der Möglichkeiten einer Befreiung von ideologischen Zwängen auf der Suche nach einer moralischen Erneuerung der chinesischen Politik. Damit stellt er durchaus eine über China hinaus repräsentative Figur dar, im Verständnis von Ordnung als erlebnismäßige Spannung von Macht und Geist, die es auf friedliche Weise gesellschaftlich auszubalancieren gilt.
Liu Xiaobo wird im Jahr 2020 entlassen werden, dann ist er 65 Jahre alt. In seiner Karriere als Schriftsteller scheinen das elf verlorene Jahre zu sein. Aber nach meinem Verständnis wird Liu Xiaobo nichts bereuen und mit innerer Ruhe und Gelassenheit diese lange Zeit hinter sich bringen. Wie sagte Sokrates, bevor er im Gefängnis den Schierlingsbecher trank: »Ich werde gehen, ihr werdet bleiben, ich weiß nicht, was besser ist.« Liu Xiaobo darf im Gefängnis nicht schreiben, aber er kann nachdenken. Seine Gedanken sind wie das berühmte himmlische Pferd, das durch die Luft reitet, sie sind frei, und er kann täglich seiner geliebten Liu Xia nahe sein. Er kann zum Sternenhimmel schauen, und nach zehn Jahren werden wir ihn wiedersehen, als Heiligen, als Buddha oder einfach als Liu Xiaobo, wie er immer gern sein möchte, ohne sich selbst verleugnen zu müssen – ist das nicht auch ein Glück?
Tienchi Martin-Liao, Köln, den 22. Januar 2011
Nachtrag am 8. 4. 2011
Seit der »Jasmin-Revolution« in der arabischen Welt kommen täglich Hiobsbotschaften aus China, über 100 Autoren, Anwälte, Journalisten sind verhaftet, weil die Machthaber in Beijing eine ähnliche Bürgerbewegung fürchten. Die Verhaftung des international renommierten Künstlers Ai Weiwei zeigt die desolate Menschenrechtssituation in China. Liu Xiaobo hat in seiner letzen Stellungnahme »Ich habe keine Feinde« vom Dezember 2009 geschrieben: »Ich hoffe sehr, dass ich das letzte Opfer der literarischen Inquisition in diesem Land sein werde und dass von nun an niemals mehr ein Mensch für seine Worte verurteilt werden wird.« Leider ist Liu Xiaobos Wunsch nicht in Erfüllung gegangen. Der Kampf für ein freies und besseres China wird jedoch weiter fortgesetzt, ganz in seinem Sinne.