Die Bibel irrt
Die sieben großen Mythen auf dem Prüfstand
Irren ist bekanntlich menschlich, und also irrt die Bibel, denn sie ist von Menschen gemacht. Sie irrt im Sinne des Wortes dann, wenn wir unter heutiger Erkenntnis, mit dem Messbesteck archäologischer, geologischer und anthropologischer Erkenntnis sowie der kumulierten Weisheit der Jahrhunderte, über ein Werk urteilen, das nach Einschätzung aller seriösen Bibelhistoriker zwischen dem 8. und dem 2. Jahrhundert vor Christus entstanden ist, wo es weder Kompass noch Satelliten gab, weder Landkarten, Bibliotheken, Radiokarbon-Methoden noch eine Messskala für Erdbeben. Man würde den orientalischen Kulturkreis missverstehen, legte man an ihn Kriterien historisch-kritischer Geschichtsschreibung der westlichen Moderne an. Im Orient wurde und wird Geschichte bis zum heutigen Tag über Geschichten transportiert – Geschichten, die, um ihre poetische Wirkungskraft zu entfalten, notwendigerweise mit rhetorischen Arabesken und pathetischem Zierrat ornamentiert sind.
Es ist wohlfeil, dem womöglich raffiniertesten Opus magnum der Weltliteratur Ungenauigkeiten und Irrtümer vorzuhalten. Wenn man deren Analyse zur alleinigen Hauptaufgabe einer Bibellektüre machte, würde man ohne weiteres Ziel und Zweck des Buchs der Bücher missverstehen. Bis heute bleibt die Genialität seiner Autoren verblüffend und bleiben ihre philosophische Tiefe, ihre theologische Kraft und Gabe zum Epischen faszinierend. Legionen hochgebildeter Interpreten haben sich seit zweitausend Jahren mit dem Alten Testament beschäftigt und dabei ebenso Grandioses ersonnen wie die Verfasser jener so legendären wie erlesenen Texte, um die es im Folgenden gehen wird. Der Leser darf also weder erwarten noch fürchten, dass sich in diesem Buch mit der akademischen und nichtakademischen Interpretation angelegt oder gar mit professoralem Gestus den Gesten professoraler Erkenntnis widersprochen wird. Vielmehr wird es mit den Professoren und dem Wissen der Theologen, Philosophen, Archäologen, Geologen, Anthropologen und Historiker im Rücken darum gehen, die Frage zu klären, wo die Bibelautoren fehlen, warum sie es ausgerechnet an jener Stelle tun, ob sie gar absichtlich irren, und wenn ja, mit welcher Intention. Es gilt der Satz: Die Abwesenheit von Beweisen ist nicht notwendig der Beweis von Irrtum. Nichts, was in der Bibel zum Abdruck kam, steht ohne Sinn, ohne Absicht und ohne Willen genau dort, wo es zu finden ist.
Es wäre intellektuell unredlich, einem solch wirkmächtigen Stück Literatur den Willen zum Irrtum zu unterstellen, wie man einer literarischen Erzählung an sich nicht unterstellen kann, sie irre sich, weil sie, ist sie gelungen, mit Verdichtungen, Metaphern und doppelten Böden arbeitet. Die Wahrheit einer schön erzählten Geschichte ist sie selbst. Man kann der Vermutung auf Irrtum aber durchaus dort nachgehen, wo die Autoren jener Bildergeschichten nicht mehr an einer Fiktion arbeiten, sondern es mit der Akkuratesse genannter Fakten und einer chronologischen Kohärenz aus ganz bestimmten Gründen nicht ernst genommen haben. Um diese ganz bestimmten Gründe soll es hier gehen. Fehlen schließlich außerbiblische Hinweise auf das geschilderte Geschehen, in ägyptischen Papyri, Stelen oder assyrischen Dokumenten etwa, die, in alttestamentlicher Zeitgenossenschaft, die gleichen Ereignisse wie die Bibel schildern, es aber völlig anders tun, so ist der zart vorgebrachte Verdacht legitim, dass dieselben ideologisch frisiert sein könnten, was, wenn es gezielt geschah, ja kein Irrtum ist, sondern Absicht im Dienste einer zielgerichteten Propaganda.
Im vorliegenden Buch werden die sieben berühmtesten Mythen des Alten Testaments im Spannungsfeld aktueller Diskurse in Archäologie, Theologie und Politik literarisch gedeutet, theologisch analysiert, auf ihren moralischen Kern hin untersucht und mit der Frage abgeklopft, was an den Erzählungen historischer Wahrheit entspricht und was Ideologie ist. Beginnend mit der Suche nach dem Paradies und endend mit der Suche nach der Bundeslade, wird beschrieben, mit welcher literarischen Könnerschaft die Autoren der Bibeltexte in der Tempelschule von Jerusalem Geschichte für Geschichte an einem umfassenden theologischen und gesellschaftspolitischen Gedankengebäude arbeiten. Von oben, ganz oben, dem großen, gar größten denkbaren: dem kosmischen Zugriff über die Erschaffung der Welt, bis hinunter zu den Details im individuellen Duell Davids gegen Goliath bauen die Mythen sukzessive eine immer größere Spannung auf, indem sie sich von Legende zu Legende stärker auf heroische Personen und Persönlichkeiten fokussieren. Die Bilanz der Untersuchung jener Ereignisse, die seit über 2000 Jahren das kulturelle Rückgrat des westlichen Abendlandes bilden, versucht, eingebettet in die leibhaftig-sinnliche, subjektiv-persönliche Anschauung der wahrscheinlichen Originalschauplätze in Ägypten, Jordanien und Israel, mit aller Vorsicht eine Antwort auf die Kernfrage zu geben: Wo und warum irrt die Bibel?
Bis zum heutigen Tag haben die alttestamentlichen Mythen nichts von ihrer sagenhaften Kraft und Faszination eingebüßt. Sie sind das Gründungsdokument des Judentums und die Quelle der christlichen Zivilisation. Doch es gibt Streit, ob und inwieweit die biblischen Erzählungen historischer Wahrheit entsprechen. Hat es Moses’ Auszug aus Ägypten, hat es die Schlacht von Jericho und die Eroberung des von Gott versprochenen Landes unter Josua und David je gegeben? Existierte der Goliath wirklich, sind Sodom und Gomorrha tatsächlich in Feuer und Schwefel untergegangen, und war die Bundeslade je ein realer Gegenstand?
Wenig versöhnlich stehen sich seit über vierzig Jahren zwei Fraktionen gegenüber. Die sogenannten Maximalisten sind biblische Archäologen, die durch ihre Grabungen die Mythen des Alten Testaments bestätigen und verifizieren wollen: Ja, die Bibel hat recht! Ihre Hauptvertreter sind William F. Albright, Frank Moore Cross und auch der deutsche Jurist, Publizist und Journalist Werner Keller mit seinem 1955 erschienenen, in zwanzig Sprachen übersetzten Buch «Die Bibel hat doch recht».
Die sogenannten Minimalisten um die Kopenhagener Schule dagegen behaupten, die Bibel sei nichts weiter als eine gutmontierte Sammlung ausgedachter Geschichten, die auf keinerlei nachprüfbaren Tatsachen beruhten. Israel, so meinen sie, sei ein Konzept, erfunden in der hellenistischen Periode des 3. Jahrhunderts vor Christus – eine auch aktuell politisch relevante Ansicht, auf die im Übrigen mancher Palästinenser im existenziellen Streit mit Israel um den legitimen Besitz des Landes gern zurückgreift. Der Streit zwischen Minimalisten und Maximalisten nimmt seinen Ausgang in der unterschiedlichen Datierung der ausgegrabenen Orte und ihrer Zeugnisse, im Eigentlichen aber ist es ein Streit zwischen Ideologien darüber, ob die Bibel irrt oder nicht.
Die Bibel (lateinisch «biblia»: «die Bücher») ist kein einheitliches Werk, sondern eine Zusammenstellung von Texten verschiedener Autoren – eine Collage, vergleichbar mit der Loseblattsammlung einer Rechtsordnung: Immer wieder kamen Blätter dazu, wurden Berichte neu abgefasst, verändert, umgeschrieben, ausgeschmückt und aktualisiert, indem man die Motive in die jeweilige Gegenwart der Autoren führte. Während man auf alte Sagen und Geschichten zurückgriff, passte man sich bei ihrer literarischen Ausgestaltung stets dem herrschenden Zeitgeist, dem neuesten geografischen Wissen und den kulturellen Moden an.
Die Bibel enthält das Alte und das Neue Testament. Während das Neue Testament die Geschichte Jesu Christi erzählt, berichten die Legenden des umfangreicheren Alten Testaments von dem Aufstieg des Volkes Israel. Das lateinische Wort «testamentum» heißt «Bund» und drückt das Treuebekenntnis der Israeliten zu Gott aus. Jesus hat sein Wirken stets auf das Alte Testament bezogen, insofern ist das Alte Testament die Grundlage des Neuen Testaments. Das Alte Testament, auch als Hebräische Bibel («Tenach») bezeichnet, ist eine Sammlung heiliger Schriften des antiken Judentums. Es kompiliert Sagen, Gesetze, Dichtung, Prophezeiungen und historische Schilderungen und beginnt mit der sogenannten «Tora». (Gesetz), den in ihrer enormen Wirkmächtigkeit kaum überschätzbaren fünf Büchern Mose (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium), die auch mit dem griechischen Wort «Pentateuch» bezeichnet werden. Darauf folgen die dichterischen Bücher der Psalmen, Sprüche und das Buch der Weisheit, schließlich die Bücher der Propheten, die in die früheren (Josua, Richter, Samuel, Könige) und die späteren Propheten (Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Buch der zwölf kleinen Propheten) unterteilt sind. Der offizielle christliche Kanon zählt 39 Bücher zum Alten Testament.
In der Bibelwissenschaft unbestritten ist, dass die Arbeit an den Schriften des Alten Testaments hauptsächlich vom 8. bis 6. Jahrhundert vor Christus in den Schreibstuben des Jerusalemer Tempels stattfand. Wer die Autoren waren, ist nicht bekannt. Namen werden nirgends genannt. In Frage kommen aber nur sehr wenige Personen, die zur damaligen Zeit überhaupt schreiben konnten: Priester, ihre Schüler, Militärbeamte und Chronisten am königlichen Hof. Bibelwissenschaftler schätzen, dass bei 3000 Einwohnern im Jerusalem des 6. Jahrhunderts nicht mehr als 50 Menschen schriftkundig waren. Große Teile der Prophetischen Bücher etwa wurden viel später, im 3. Jahrhundert vor Christus, abgeschlossen, ihre Texte atmen bereits das geistige Aroma der hellenistischen Welt. Endredaktion der Mythen, so nimmt man an, war um 200 vor Christus.
In seiner kompositorischen Raffinesse ist die Bibel als literarisches Werk geradezu genial. Ihre Entstehung korrespondiert mit der plötzlichen Eruption an Kreativität im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts und lässt sich mit den Kulturleistungen der Renaissance im nachchristlichen 16. Jahrhundert vergleichen. Als in Athen der Autor Homer seine Epen schreibt, entstehen auch die großen Erzählungen des Alten Testaments. Der Vergleich mit Homer ist keineswegs abwegig: Die Stadt Troja ist, archäologisch gesichert, um 1200 vor Christus untergegangen, doch Homer lebte und schrieb die Ilias sehr viel später, Ende des 8. Jahrhunderts, die Odyssee im frühen 7. Jahrhundert. Zeitlich betrachtet ist genau derselbe Spagat von 500 Jahren zwischen vermeintlichem Ereignis und Niederschrift festzustellen wie bei den Autoren des Alten Testaments.
Die Hintergründe der Bücher des Alten Testaments sind weitaus komplexer und komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Man kann die Bibel ohne die politischen, sozialen, geografischen Kontexte und die kulturellen und ökonomischen Entwicklungen zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert vor Christus im alten Vorderen Orient nicht ausreichend verstehen. Das Alte Testament ist das Dokument nationaler Identitätssehnsucht und Selbstbehauptung in einer von Angst und Zerfall im Vorderen Orient bestimmten Krisenperiode. Die Exodus-Erzählung zum Beispiel, in ihrer ältesten literarischen Fassung um 670 vor Christus entstanden, verrät sehr wenig über den historischen Kern eines vermeintlichen Auszugs aus Ägypten, sehr viel dagegen über die politische Situation im frühen 7. Jahrhundert vor Christus in Jerusalem. Die Legende ist eine Propagandaschrift des theologischen Aufruhrs gegen die Bedrohung durch die assyrische Weltmacht. Die Truppen des assyrischen Königs Sargon II. hatten 722 vor Christus das nördliche Königreich Israel zerstört und die Bevölkerung deportiert. Eine traumatische Erfahrung: Gottes auserwähltes Volk war in Völkchen zerstreut, die Einheit des Gelobten Landes zerschlagen. Welche Lehre war daraus zu ziehen, und was konnte in einer solch desolaten Situation Hoffnung geben?
Man kann aus allen Erzählungen und Legenden des Alten Testaments zum einen Parolen für den politischen Widerstand gegen die Großmächte der Region, zum anderen Motive zur Errettung und Befreiung des israelitischen Volkes unter kontinuierlicher Aufsicht Gottes herauslesen. Hinter allen Geschichten steht immer auch Realpolitik.
Im Jahr 622 vor Christus, als der Niedergang Assyriens offensichtlich ist, gibt es auf einmal eine Art Vakuum. Ist nicht eben jetzt, in einer unverhofften, schicksalhaften Wende der Geschichte, da das Nordkönigreich zerstört war, die große Chance gegeben, unter dem Dach des Südkönigreichs Juda alle hebräischen Stämme zu einer Nation zu einen? In Jerusalem, der Hauptstadt des wenig entwickelten Juda, macht sich der 26-jährige König Josia mit großer Verve daran, das ehrgeizige Ideal einer nationalen israelitischen Identität zu erschaffen. Josia ist der Gerechteste unter allen. Er entstammt angeblich dem Hause Davids, wird mit acht Jahren König und regiert 30 Jahre lang, von 639 bis 609 vor Christus, in Jerusalem. Die Geschichtsschreiber der Bibel schwärmen in den höchsten Tönen: Nie habe es einen wie ihn zuvor gegeben, und nie würde es einen wie ihn wieder geben. Josia wird in eine Reihe gestellt mit dem heldenhaften David und dem großen Moses. Er ist der letzte Rechtschaffene in einer Zeit der Bedrohungen und des Zerfalls, und er ist der Mittelpunkt aller Hoffnungen und Sehnsüchte des Volkes von Juda auf eine große, eine goldene Zukunft. Zu dieser Zeit herrscht Angst vor ägyptischen Neoimperialisten, die die Wiedergeburt ihres zerfallenen Großreichs anstreben und den levantinischen Korridor nordwärts ziehen. Josia bereitet sich auf den Kampf vor und verordnet eine revolutionäre Kultreform. Er dekretiert das Ende von Götzenglauben und Vielgötterei und befiehlt eine Zentralisierung: ein Gott, ein Tempel, ein Kultort, ein Glaube. Konkurrierende Kulte werden ausgelöscht, Tempelanlagen im ganzen Land geschlossen. Jedes Land und jeder Stamm, die Edomiter, die Moabiter, die Ammoniter, alle verehrten bis dahin ihre eigene Nationalgottheit. Funde aus archäologischen Grabungen legen eine ausgeprägte Volksfrömmigkeit in der Region Kanaan nahe, abzulesen an Graffiti, Inschriften, Segenssprüchen und Amuletten. Polytheismus war zur alttestamentlichen Zeit der Normalfall, und zu 99 Prozent betete man Göttinnen an, Anrufungen der Fruchtbarkeit, symbolisiert in 12 – 15 Zentimeter hohen Figurinen mit großen Brüsten. Deren große Blütezeit war das späte 7. Jahrhundert vor Christus, als so gut wie jeder judäische Haushalt derartige Statuetten besaß.
Im Jahr 622 vor Christus also wird auf einmal alle Frömmigkeit auf einen einzigen, männlichen, den namenlosen Nationalgott des Königreichs Juda fokussiert: auf JHWH, der später «Jahwe» geschrieben und im Mittelalter zu Jehovah wird. Aus Respekt vor seiner Heiligkeit sprechen Juden den Namen ihres Gottes nicht aus und nennen ihn «Adonay», «mein Herr». Im Alten Testament wird JHWH nach Erkenntnis des israelischen Bibelwissenschaftlers Emanuel Tov, Professor für Bibelkunde an der Hebräischen Universität Jerusalem, entweder als geheimnisvolles Wesen auf einem Himmelsthron, als mystisches Wesen oder auch als Engel vorgestellt. Tov kommt zu folgendem Schluss: «Wir Menschen haben unsere Ideen auf Gott übertragen und Gott nach unseren Vorstellungen geschaffen.»
Es scheint sicher, dass ‹Gott› zu Zeiten der alttestamentlichen Ereignisse keine derart große Rolle gespielt hat, wie es Jahrhunderte später und bis in unsere Gegenwart hinein der Fall ist. Es ist also Vorsicht geboten, die Gottesrede aus der Sicht des 21. Jahrhunderts zu analysieren und den Maßstab unseres Wissens und unserer heutigen religiösen und moralischen Verfassung retrospektiv anzulegen. In der Personifizierung durch Gott, ließe sich theologisch schließen, wurde für die vorchristlichen Menschen in Gebeten die Utopie ansprechbar gemacht: «Und Gott sah, dass es gut war.»
In der Folge der Konzentration auf einen Kult und einen Gott sowie einer Reihe von Gesetzen entsteht nach Meinung des so gerühmten wie berüchtigten Historikers und Archäologen Israel Finkelstein von der Universität Tel Aviv eine «pan-israelitische Ideologie». Im Umkreis des Tempels diskutierten Priester und Historiker, wie die Tragödie der Zerstörung des Nordkönigreichs geschehen konnte. Sie kommen überein, die junge Geschichte Israels als Geschichte eines Abfalls von JHWH zu betrachten, und beginnen die Arbeit an theologischer Propaganda, die dem Volk nahegebracht werden soll. Dabei greifen sie zurück auf zum Teil mehrere hundert Jahre alte Texte, sammeln die kostbarsten Traditionen des Volkes Israel und reanimieren mündlich überlieferte Mythen, um ein Lehrbuch zu komponieren und im Umkreis des Jerusalemer Heiligtums öffentliche Lesestunden abzuhalten. Dessen Bildergeschichten illustrierten die Vision einer moralischen Metaphysik, auf die das gesamte Alte Testament abzuzielen scheint. Die verlesenen Parabeln erzählen von der Vergangenheit und formulieren zugleich Träume und Hoffnungen für die Zukunft, sie formulieren Gesten der Rettung und Errettung, und sie warnen die Einwohner des armen Juda vor dem schlimmen Schicksal des besiegten Israel, das auch ihnen zustoßen könnte. Vor diesem Hintergrund entsteht das einflussreiche Buch Josua, das von der Schlacht um Jericho und der Landnahme berichtet. Auf der Basis des territorial gedachten Pan-Israelitismus werden Mythen und Märchen gesammelt, die die Menschen sich seit Jahrhunderten erzählen, um die politische Ideologie einer Einheit der Hebräer territorial zu verankern. Im Gegensatz zu altägyptischen oder mesopotamischen Mythen basieren jene der Bibel auf irdischer Geschichte: Sie erklären, inwiefern und aus welchen Gründen sich der Aufstieg des Volkes Israel in kontinuierlicher Beziehung zu Gott, stellvertretend für die gesamte Welt, über die Zeiten entfaltet hat.
Kurzum: Die Bibel ist Ideologie von A bis Z und wurde mit dem Ziel verfasst, einer bestimmten Gruppe von Menschen im alten Vorderen Orient eine politische, kulturelle, religiöse Selbstbegründung und deren geografische Verortung zu geben. Dass dies in Form des geschriebenen Wortes, eines Buches, geschah, war etwas Neues in der Geschichte des menschlichen Geistes. Etwas Revolutionäres in der kulturellen Evolution der Menschheit.
Die Israeliten sind zur damaligen Zeit ein unbedeutendes Volk in der Levante, dem östlichen Kulturraum des Mittelmeers. Keine so großartige Zivilisation wie die der Ägypter und kein solch machtvolles Kulturvolk wie die Assyrer, von denen es aus früher Zeit bereits wundervolle Schriftstücke gibt. Bei den Israeliten dreht es sich um eine Gesellschaft von vielleicht 100 000 Menschen ohne Kunst und Kultur, die in einem kleinen Gebiet, das sich 80 Kilometer von Nord nach Süd und 50 Kilometer von Ost nach West erstreckt, großteils als Nomaden leben.
Als die Babylonier in Juda einfallen, zerstören sie alle Träume: Im Jahr 587 vor Christus belagern die Truppen des Königs Nebukadnezar II. die judäische Hauptstadt Jerusalem, plündern die Stadt und stecken den Tempel in Brand. Sie setzen einen Statthalter ein und deportieren den König und die Oberschicht von Juda, die Oberpriester, Handwerker, Schreiber und Kommandanten, nach Babylon, an die Gestade von Euphrat und Tigris. Eine Katastrophe. Ein Trauma. Eine Zäsur. Als die ersten Priester und Gelehrten nach der Befreiung durch die Perser unter König Kyros II. knapp 50 Jahre später nach Jerusalem zurückkehren, gibt es das Volk Israel nicht mehr, und alle alten Traditionen spielen keine Rolle mehr. Jetzt stehen die Heimkehrer vor der Aufgabe, ein nationales Epos, einen neuen Gründungsmythos ihres Volkes zu entwerfen, einen glanzvollen, fulminanten Anfangspunkt der eigenen Geschichte. Es soll eine Idealwelt erschaffen werden, die dem erlittenen Chaos eine heilsversprechende Ordnung entgegensetzt. Im Gepäck haben sie Mythen, Ideen und Überlieferungen aus dem Kulturraum um Euphrat und Tigris; für die Nähe biblischer Motive zu den mesopotamischen gibt es zahlreiche Beispiele. So ähnelt die Erzählung von der Entstehung von Welt und Menschheit stark den sumerischen Schöpfungsmythen. Und dass im Rahmen der Zehn Gebote der Sabbat eine große Rolle spielt, geht auf ein politisches Programm im Babylonien des 7. vorchristlichen Jahrhunderts zurück, dem zufolge die Menschen, unabhängig vom Gestirnezyklus, zur Ehre ihres Schöpfers am siebten Tag nicht arbeiten sollen. Das «babylonische Exil» von 587 – 539 vor Christus spielt für die Entstehung des Alten Testaments eine entscheidende Rolle. Die Wissenschaft unterscheidet und bewertet die Texte danach, ob sie vor, während oder nach dem Exil verfasst wurden. Je nach dem Zeitpunkt der Niederschrift lassen sich sehr unterschiedliche Motive und ein stark voneinander abweichender Sprach- und Schreibstil erkennen.
Heute sind Dutzende jener Städte, Orte und Plätze, die im Alten Testament erwähnt werden, ausgegraben, freigelegt und als historisch evident identifiziert. Der Gründungsvater der biblischen Archäologie, der Amerikaner William F. Albright, widmete seine Arbeit in den Jahren nach 1922, als er, 31-jährig, Direktor der American School in Jerusalem war, hauptsächlich der Ausgrabung großer Stadthügel im heutigen Israel. Hebräisch heißen sie «Tel», arabisch «Tell», und bestehen per definitionem aus übereinandergelegten Siedlungsschichten, die man, wie beim Häuten einer Zwiebel, Schicht für Schicht abtragen muss. In gewisser Weise entspricht auch die Bibel selbst einem Tel: Ihre Geschichten sind wie übereinandergelegte Interpretationen, deren irgendwann freigelegte Kerne eine Erklärung für die gesellschaftlichen Zustände jener Zeit sind, in der sie verfasst wurden. Sprachwissenschaftler haben die verschiedenen Elemente nachgewiesen, die auf frühere oder spätere Abfassungen hindeuten; es gibt deutliche Unterschiede zwischen dem Hebräisch des 10., des 6. und des 3. Jahrhunderts vor Christus. Je weiter die Berichte in die Eisenzeit vorrücken, desto mehr entsprechen die Texte auch der historisch nachprüfbaren Wahrheit, desto öfter werden die biblischen Figuren auch in außerbiblischen Dokumenten der Assyrer oder Babylonier genannt, und desto mehr scheinen sich die Autoren der Historizität der Ereignisse bewusst gewesen zu sein. Von Anbeginn an muss das Alte Testament als eine Geschichte des Volkes Israel gelesen werden und von Anbeginn an als literarisches Werk zur Identitätssuche dieses «Volkes Gottes». Und dieser große, vielleicht größte bilder- und metaphernreiche Roman aller Zeiten inthronisiert jenen Schöpfer, der bis heute der Gott des Abendlandes im westlichen Kulturkreis ist.
Story oder History – was in der Bibel ist wahr? Neueste archäologische Funde und Interpretationen laden zu einem veränderten, tiefgründigen, unerhörten Blick auf die große Saga vom Bund Gottes mit seinem Volk Israel ein. Die Arbeit der Archäologen – ihre Funde neuer Keramik, ihre Freilegung der Fundamente, ihre Erkenntnisse des kulturellen Hintergrunds der entsprechenden Bibelepochen – wird immer wichtiger und hat starken Einfluss auf theologische Revisionen. Ohne die unabhängige, empirisch arbeitende Disziplin der Archäologie im Hintergrund ist es unmöglich, zu gültigen Aussagen über den Wahrheitsgehalt der Bibel und die Entstehung ihrer Texte zu kommen – so man dies überhaupt möchte.
Stück für Stück präziser, Scherbe für Scherbe kompletter wird jetzt das Bild der Geschichte, Schnitt für Schnitt deutlicher erfasst die zeitgenössische Archäologie soziale und kulturelle Hintergründe im 1. Jahrtausend vor Christus, dokumentiert die Verwüstungen und Zerstörungen der Städte und Dörfer und versucht, die Aussagen der biblischen Erzählungen zu verstehen, indem sie in das reale politische und kulturelle Geschehen der damaligen Zeit rückgebettet werden. Es ist die zarte und diffizile Arbeit am Gerüst unserer Werte, dessen Statik zu kennen im Ringen der Kulturen, Religionen und Ideologien um Deutungsmacht und Gefolgschaft in der globalisierten Gegenwart Tag für Tag mehr zu einem unhintergehbaren Imperativ wird.
1. Das Paradies
Jeder kennt das Paradies, aber niemand weiß, wo es lag oder liegt. Seit jeher suchen Abenteurer, Bibelleser und Wissenschaftler nach dem «Garten von Eden». Er wurde in Ägypten, Südamerika, in der Mongolei, in Mesopotamien und der Türkei vermutet. Neuerdings rückt vor allem der heutige Iran ins Visier: Eine spezielle Bucht im Persischen Golf erfüllt scheinbar alle wissenschaftlichen Voraussetzungen, um das Paradies plausibel zu verorten.
2. Die Sintflut
Seit Jahrtausenden kursieren Geschichten von einer alles vernichtenden Flut in der Welt. Es war eine Naturkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Was die Bibel beschreibt, hat es nach Ansicht von Geologen tatsächlich gegeben. Erst seit kurzem können die Wissenschaftler ihre Annahmen belegen: Die Sintflut wurde nicht durch Gottes Zorn ausgelöst, sondern durch den dramatischen Anstieg der Temperatur und das Schmelzen großer Eismassen am Ende der letzten Eiszeit. Für amerikanische Geologen ist das Schwarze Meer der Ort der Sintflut, ein deutscher Wissenschaftler aber hält dagegen. Er will nachweisen, dass das Ergebnis der biblischen Sintflut der Persische Golf von heute ist.
3. Sodom und Gomorrha
Wenige Städte auf der Welt haben eine solch mythische Berühmtheit erlangt wie Sodom und Gomorrha. Sie galten als verrucht und gingen unter in Feuer und Asche. Dabei ist bis heute nicht sicher, ob sie je existiert haben. Wer sich auf die Suche nach ihnen macht, findet um das Tote Meer herum dennoch vage Hinweise auf die Stätten einer der literarisch grausamsten Bestrafungsaktionen der Menschheitsgeschichte. Am tiefstgelegenen Punkt der Erde riecht es sogar nach Schwefel.
4. Der Exodus – Auszug aus Ägypten
Der Auszug der Israeliten aus Ägypten unter Führung von Moses ist die theologisch und ideologisch zentrale Legende des Alten Testaments. Mit dem Exodus der Sklaven wird Israel zum erwählten Volk Gottes. Alle seriösen Bibelwissenschaftler sind sich einig, dass der legendäre Mythos auf realen Ereignissen beruht. Wer heute die Auszugs-Routen entlangfährt, kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Viele der geografischen Angaben der Bibel stimmen. Mit einer Ausnahme – am Schilfmeer in Ägypten herrscht nicht Ost-, sondern Nordwind.
5. Die Schlacht von Jericho
Die Schlacht um Jericho und die Landnahme Palästinas, die Besiedlung des palästinensischen Kulturlandes durch die israelitischen Stämme, ist die dramatischste und vielleicht folgenreichste Geschichte des Alten Testaments. Doch Archäologen stehen vor einem Dilemma: Die Befunde ihrer Grabungen in Israel stimmen mit der biblischen Schilderung nicht überein. Es gab keinen Posaunenschall vor Jericho.
6. David gegen Goliath
Es klingt immer noch wie ein Märchen: Der kleine Hirte David besiegt den Riesen Goliath mit einer Steinschleuder und entscheidet die legendäre Schlacht zwischen Israel und den Philistern. Bislang gab es keinerlei Hinweise darauf, dass David oder Goliath je existiert hätte. Vor kurzem jedoch haben israelische Archäologen einen sensationellen Fund gemacht. Auf einer Scherbe entzifferten sie den Namen «Goliat». Das Duell könnte tatsächlich stattgefunden haben.
7. Die Bundeslade
Kein Gegenstand der Weltgeschichte hat größeres Interesse hervorgerufen als die vergoldete Lade aus Akazienholz, in der die Zehn Gebote aufbewahrt wurden. Legionen von Archäologen haben die berühmte Bundeslade gesucht, niemand hat sie je gesehen. Womöglich liegt sie in einer Kirche im äthiopischen Aksum. Oder unter dem Tempelberg Jerusalems. Oder in einem Warenlager in Washington. Die Spekulationen reißen nicht ab.