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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel «The Sorrows of an American» bei Henry Holt and Company, New York.

 

Gertraude Krueger übersetzte die Printseiten 1–223, Uli Aumüller die Seiten 224–Ende. Die Übersetzung sämtlicher Gedichte und Lieder stammt von Helmut Frielinghaus.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2019

Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Sorrows of an American» Copyright © 2008 by Siri Hustvedt

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Hamburg

Coverabbildung Millenium/Look

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00270-8

www.rowohlt.de

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00270-8

Für meine Tochter

Sophie Hustvedt Auster

Wende dich nicht ab.

Schau weiter auf die bandagierte Stelle.

Dort wird das Licht in dich eindringen.

Rumi

Meine Schwester nannte es «das Jahr der Geheimnisse», aber wenn ich jetzt zurückblicke, erkenne ich: Das Wichtige war nicht, was da war, sondern was nicht da war. Eine meiner Patientinnen meinte einmal: «In mir wandern Geister herum, aber sie reden nicht immer. Manchmal haben sie nichts zu sagen.» Sarah blinzelte meist oder hielt die Augen ganz geschlossen, weil sie Angst hatte, das Licht würde sie blind machen. Ich glaube, wir haben alle Geister in uns, und es ist besser, wenn sie reden, als wenn sie es nicht tun. Nachdem mein Vater tot war, konnte ich nicht mehr mit ihm persönlich reden, aber in meinem Kopf unterhielt ich mich weiter mit ihm. Ich sah ihn weiter in meinen Träumen, hörte ihn weiter zu mir sprechen. Und trotzdem wurde mein Leben eine Zeitlang von dem beherrscht, was mein Vater nicht gesagt, was er uns nicht erzählt hatte. Wie sich herausstellte, war er nicht der Einzige, der Geheimnisse hütete. Am sechsten Januar, vier Tage nach der Trauerfeier, fanden Inga und ich den Brief in seinem Arbeitszimmer.

Wir waren mit unserer Mutter in Minnesota geblieben und machten uns an das Sichten seiner Papiere. Wir wussten, dass es biografische Aufzeichnungen gab, die er in seinen letzten Lebensjahren verfasst hatte, sowie eine Schachtel mit Briefen an seine Eltern – viele davon aus seiner Zeit als Soldat im Pazifik während des Zweiten Weltkriegs –, aber es fanden sich auch andere Dinge in dem Zimmer, die wir noch nie gesehen hatten. Das Arbeitszimmer meines Vaters hatte einen ganz besonderen Geruch, der sich ein wenig von dem

An dem Tag, als Inga und ich uns an die Arbeit machten, herrschte trübes Wetter. Durch das große Fenster schaute ich auf die dünne Schneedecke unter einem eisengrauen Himmel. Ich spürte, dass Inga hinter mir stand, hörte ihren Atem. Marit, unsere Mutter, schlief, und meine Nichte Sonia hatte sich irgendwo im Haus mit einem Buch verkrochen. Als ich eine Schublade mit Hängeordnern aufzog, kam mir der jähe Gedanke, dass wir dabei waren, das Gehirn eines Menschen zu plündern, ein ganzes Leben auseinanderzunehmen, und ohne jede Vorwarnung stand das Bild der Leiche vor mir, die ich während meines Medizinstudiums seziert hatte. Sie lag mit klaffender Brusthöhle auf dem Tisch. Roger Abbot, einer meiner Partner im Sektionssaal, hatte die Leiche Zwiddeldum genannt, auch Dum Dum oder einfach nur Dum. «Erik, da kommt eine Ladung von Dums Ventrikeln. Hypertrophie, Mann.» Einen Moment lang stellte ich mir die kollabierte Lunge meines Vaters in seinem Innern vor, dann erinnerte

Lars Davidsens Ablagesystem war ein elaborierter Code aus Buchstaben, Zahlen und Farben, der innerhalb jeder Kategorie eine absteigende Hierarchie bezeichnete. Erste Gedanken kamen vor ersten Textfassungen, erste Textfassungen vor letzter Textfassung und so weiter. In diesen Schubladen steckten nicht nur seine Jahre als Professor und Autor, sondern jeder Artikel, jeder Vortrag von ihm, die umfangreichen Notizen, die er sich gemacht hatte, und auch die Briefe, die er in über sechzig Jahren von Kollegen und Freunden erhalten hatte. Mein Vater hatte jedes Werkzeug katalogisiert, das je in der Garage hing, jede Rechnung für die sechs Gebrauchtwagen, die er im Lauf seines Lebens besaß, jeden Rasenmäher und jedes Haushaltsgerät – eine umfassende Dokumentation einer langen und außergewöhnlich kargen Lebensgeschichte. Wir entdeckten eine Aufstellung für eine geordnete Lagerhaltung auf dem Dachboden: Kinderschlittschuhe, Babysachen, Strickzeug. In einer kleinen Schachtel fand ich ein Schlüsselbund. Daran hing ein Schildchen, auf das mein Vater in seiner kleinen, säuberlichen Handschrift geschrieben hatte: «Unbekannte Schlüssel».

Tagelang zogen wir mit großen schwarzen Müllsäcken durch dieses Zimmer, warfen Hunderte von Weihnachtskarten und Zeugnisheften weg, unzählige Verzeichnisse von Dingen, die es nicht mehr gab. Meine Nichte und meine Mutter machten meist einen Bogen um diesen Raum. Sonia wanderte mit einem Walkman verkabelt im Haus herum, las Wallace Stevens und schlief den komatösen Schlaf, in den die Jugend so leicht

Wenn unsere Mutter nicht ruhte, wanderte sie von einem Zimmer zum anderen, ließ sich treiben wie eine Schlafwandlerin. Ihr fester und doch leichter Gang war nicht schwerer als in alten Zeiten, aber er war langsamer geworden. Sie schaute nach uns, bot uns zu essen an, trat aber nur selten über die Schwelle. Wahrscheinlich erinnerte das Zimmer sie an die letzten Jahre meines Vaters. Das fortschreitende Emphysem ließ seine Welt Stück für Stück schrumpfen. Am Ende konnte er kaum noch gehen und blieb die meiste Zeit in den achtzehn Quadratmetern seines Arbeitszimmers. Bevor er starb, hatte er

Ingas Hände zitterten, als sie die Bündel fand. Diesen Tremor kannte ich schon seit meiner Kindheit, er war nicht durch eine Krankheit bedingt, sondern meine Schwester machte ihr «Nervenkostüm» dafür verantwortlich. Sie wusste nie, wann der nächste Ausbruch kam. Ich hatte sie mit ruhigen Händen öffentliche Vorträge halten sehen, und ich hatte auch gesehen, wie sie die Hände dabei hinter dem Rücken verstecken musste, weil sie so heftig zitterten. Nachdem sie die drei Päckchen mit den Briefen der längst entschwundenen, doch einst begehrten Margaret, June und Lenore herausgenommen hatte, zog sie ein einzelnes Blatt hervor, sah es verwirrt an und reichte es mir wortlos.

Der Brief war vom 27. Juni 1937. Unter dem Datum stand in einer großen Kinderschrift: «Lieber Lars, ich weiß, Du wirst nie ein Sterbenswörtchen darüber sagen, was passiert ist. Wir haben es auf die BIBEL geschworen. Es spielt ja jetzt keine Rolle mehr, wo sie im Himmel ist, und für die anderen hier auf Erden auch nicht. Ich glaube an Dein Versprechen. Lisa.»

«Er wollte, dass wir das finden», sagte Inga. «Sonst hätte er den Brief vernichtet. Ich habe dir die Tagebücher mit den herausgerissenen Seiten gezeigt.» Sie schwieg kurz. «Hast du je von einer Lisa gehört?»

«Nein», sagte ich. «Wir könnten Mamma fragen.»

Nachdem Inga, Sonia und ich elf Pakete mit Dokumenten nach New York City abgeschickt hatten, die meisten davon an meine Adresse in Brooklyn, und wieder in unseren jeweiligen Alltag zurückgekehrt waren, saß ich eines Sonntagnachmittags in meinem Arbeitszimmer und hatte die Aufzeichnungen, die Briefe und ein kleines ledergebundenes Tagebuch meines Vaters vor mir auf dem Schreibtisch. Da fiel mir ein, was Auguste Comte über das Gehirn geschrieben hatte. Er nannte es «eine Vorrichtung, mit der die Toten auf die Lebenden einwirken». Als ich Dums Gehirn zum ersten Mal in der Hand hielt, staunte ich erst über dessen Gewicht und dann darüber, was ich verdrängt hatte – die Ahnung vom Bewusstsein eines einst lebendigen Mannes, eines stämmigen

Vielleicht dreißig Sekunden später schaute ich aus dem Fenster, und da sah ich Miranda und Eglantine zum ersten Mal. Sie gingen mit dem Immobilienmakler über die Straße, und ich wusste sofort, dass das meine künftigen Mieter waren. Die beiden Frauen aus der Gartenwohnung im Erdgeschoss hatten in New Jersey etwas Größeres gefunden, und ich musste die Wohnung neu vermieten. Das Haus schien nach meiner Scheidung gewachsen zu sein. Genie hatte sich ziemlich ausgebreitet, und ihr Spaniel Elmer, ihr Papagei Rufus und Carlysle, ihre Katze, hatten auch Platz gebraucht. Eine Zeitlang gab es auch Fische. Nachdem Genie mich verlassen hatte, nutzte ich die drei Stockwerke für meine Bücher, Tausende von Bänden, von denen ich mich nicht trennen konnte. Meine Exfrau bezeichnete unser Haus immer ärgerlich als ein Bibliothekarium. Ich hatte die kleine Brownstone-Stadtvilla vor meiner Ehe während einer Flaute auf dem Immobilienmarkt als sogenanntes Heimwerker-Schnäppchen erworben und bin noch immer dabei, sie instandzusetzen. Die Leidenschaft für das Arbeiten mit Holz habe ich von meinem Vater geerbt, der mir beigebracht hat, wie man fast alles bauen und reparieren kann. Jahrelang hatte ich mich in einem Teil des Hauses verkrochen und phasenweise an dem Rest gearbeitet. Meine Praxis nimmt mich so in Anspruch, dass mir fast keine Freizeit bleibt, was einer der Gründe für meinen Eintritt in das große Heer von Bewohnern der westlichen Welt war, das den Namen «die Geschiedenen» trägt.

Um dieser Phantasie ein Ende zu setzen, schaute ich mir das Mädchen an. Das spindeldürre kleine Ding trug einen unförmigen purpurroten Mantel, war auf den Rand der Vortreppe geklettert und balancierte jetzt dort herum, ein dünnes Bein vor sich ausgestreckt. Unter dem Mantel trug sie anscheinend so etwas wie ein Tutu, ein rosa Gebilde aus Tüll und Netzgewebe über dicken schwarzen, an den Knien ausgebeulten Strumpfhosen. Doch das Auffälligste an ihr waren die Haare, ein hellbrauner Schopf weicher Locken, die das kleine Köpfchen umrahmten wie ein riesiger Glorienschein. Die Haut der Mutter war dunkler als die des Kindes. Wenn das Mutter und Tochter waren, befand ich, könnte der Vater des Mädchens ein Weißer sein. Ich hielt den Atem an, als ich die Kleine von der Mauer springen sah, doch sie landete

Wenn ich auf unsere Anfänge zurückblicke, staune ich wohl am meisten darüber, wie klein unser Haus war, schrieb mein Vater. Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer im Erdgeschoss beliefen sich auf knapp 45 Quadratmeter. Zwei Dachkammern im ersten Stock, die als Schlafzimmer genutzt wurden, ergaben noch einmal so viel Bodenfläche. Es gab keinerlei Komfort. Unsere sanitären Anlagen bestanden aus einer Außentoilette und einer handbetriebenen Pumpe, jede für sich über 20 Meter vom Haus entfernt. Ein Teekessel sowie ein Behälter neben dem Küchenherd versorgten uns mit heißem Wasser. Im Gegensatz zu besser ausgestatteten Farmen hatten wir keine unterirdische Zisterne zum Speichern von Regenwasser, aber immerhin einen großen Tank aus Metall, der im Sommer den Regen auffing. Im Winter schmolzen wir Schnee. Für das Licht gab es Petroleumlampen. Obwohl in den dreißiger Jahren die Elektrifizierung auch auf dem Land einsetzte, wurden wir erst 1949 «angeschlossen». Es gab keine Heizung. Die Küche wurde von einem holzbefeuerten Herd erwärmt und das Wohnzimmer von einem Heizofen. Wir hatten Vorsatzfenster, ansonsten war das Haus nicht isoliert. Das Feuer im Heizofen durfte nur in der kältesten Zeit über Nacht weiterbrennen. Morgens war das Wasser im Teekessel oft gefroren. Vater stand als Erster auf. Er machte Feuer, sodass die Kälte nicht mehr ganz so schlimm war, wenn wir aus dem Bett krochen. Aber auch so schlotterten wir und drängten uns beim Anziehen um die Öfen. Anfang der dreißiger Jahre ging uns im

Während ich das las, wartete ich ständig auf ein Wort über Lisa, aber sie tauchte nirgends auf. Mein Vater schrieb über die Finessen des Stapelns «eines ehrlichen Klafters Holz», über das Pflügen mit Belle und Maud, den hauseigenen Pferden, über das Säubern der Felder von gefürchteten Unkräutern wie Kanadische Distel und Ackerquecke, über landwirtschaftliche Fertigkeiten wie Eggen, Säen, Quereggen, Getreideanbau und Getreideernte, Heuen, das gemeinschaftliche Dreschen, das Beschicken eines Silos und das Fangen von Taschenratten. Als kleiner Junge hatte mein Vater gegen Bezahlung Taschenratten getötet, und im Nachhinein sah er das Komische an dieser Tätigkeit. Ein Abschnitt begann mit dem Satz: Wer sich nicht für Taschenratten und deren Fang interessiert, sollte diesen Absatz überspringen.

Alle biografischen Aufzeichnungen sind lückenhaft. Es liegt auf der Hand, dass man manche Geschichten nicht erzählen kann, ohne anderen oder sich selbst wehzutun, dass jede Autobiografie Fragen der Perspektive, der Selbsterkenntnis, der Verdrängung und glatten Täuschung aufwirft. Es überraschte mich nicht, dass die geheimnisvolle Lisa, die meinen Vater Geheimhaltung schwören ließ, in diesen Aufzeichnungen fehlte. Ich selbst würde in meiner Geschichte bestimmt auch vieles weglassen. Lars Davidsen war ein rigoros ehrlicher und tieffühlender Mensch, aber es stimmte, was Inga über seine ersten Jahre gesagt hatte. Vieles blieb im Verborgenen. Zwischen Wir hatten von vornherein nicht genug eingelagert und fährt man mit Esche und Ahorn am besten lag eine unerzählte Geschichte.

Meinen Großvater kannte ich zumeist schweigend. Er saß in einem Polstersessel in dem kleinen Wohnzimmer mit dem Holzfeuerofen. Neben dem Sessel stand ein wackeliger Tisch mit einem Aschenbecher darauf. Als Junge war ich von diesem Gegenstand fasziniert, weil ich ihn anstößig fand. Es war eine schwarze Minitoilette mit einer goldenen Brille, das einzige Spülklosett, das meine Großeltern je besitzen sollten. Das Haus roch immer stark nach Moder und im Winter nach verbranntem Holz. Wir gingen selten nach oben, aber ich glaube nicht, dass man es uns je verboten hat. Die enge Treppe führte zu drei winzigen Zimmern, von denen eines meinem Großvater gehörte. Ich weiß nicht mehr, wann es war, aber ich kann nicht älter als acht Jahre gewesen sein. Ich schlich mich die Treppe hinauf und ging in das Zimmer meines Großvaters. Durch das kleine Fenster fiel fahles Licht herein, und ich sah zu, wie die Staubkörnchen in der Sonne tanzten. Mit einer Art dumpfer Ehrfurcht betrachtete ich

Mein Großvater war freundlich zu uns, und ich mochte seine Hände, sogar die rechte, an der drei Finger fehlten, die er 1921 an einer Kreissäge verloren hatte. Er tätschelte mich gern oder legte mir eine Hand auf die Schulter und ließ sie dort, bis er sich wieder seiner Zeitung und dem Spucknapf zuwandte – einer Kaffeebüchse, auf der «Folgers» stand. Seine Eltern waren hier eingewandert und hatten acht Kinder: Anna, Brita, Solveig, Ingeborg, noch eine Ingeborg, David, Ivar (mein Großvater) und Olaf. Anna und Brita blieben am Leben und wurden erwachsen, aber bei meiner Geburt waren sie bereits tot. Solveig starb 1907 an Tuberkulose. Die erste Ingeborg starb am 19. August 1884. Sie wurde sechzehn Monate alt. Unser Vater hat mir erzählt, diese Ingeborg sei kurz nach der Geburt gestorben und so winzig gewesen, dass eine Zigarrenkiste als Sarg diente. Wahrscheinlich hat unser Vater Ingeborgs Tod mit einer anderen Geschichte aus der Gegend durcheinandergebracht. Auch die zweite Ingeborg erkrankte an Tuberkulose und kam ins Sanatorium in Mineral Springs, wurde

Meine Großmutter, ebenfalls Tochter norwegischer Einwanderer, wuchs mit zwei gesunden Brüdern auf und erbte Geld von ihrem Vater. Mit ihrem hitzigen Temperament war sie ganz das Gegenteil von ihrem Mann, und ich war ihr besonderer Liebling. Wir hatten ein bestimmtes Ritual, wenn ich ins Haus kam. Ich stieß die Fliegentür auf, rannte hinein und brüllte: «Oma, mein Schwert!» Auf dieses Stichwort hin holte sie hinter dem Küchenschrank ein Kantholz hervor, an das mein Onkel Fredrik ein kurzes Querstück genagelt hatte. Dann lachte sie immer, ein lautes Gackern, das manchmal in Husten überging. Sie war dick, aber auch kräftig, eine Frau, die schwere Wassereimer schleppte und einen Haufen Äpfel in ihrem aufgespannten Rock tragen konnte, beim Kartoffelschälen das Messer mit wildem Grimm schwang und jedes Lebensmittel zerkochte, das ihr in die Hände fiel. Sie war launisch; an manchen Tagen lächelte sie, schwatzte und erzählte Geschichten, an anderen brütete sie düster vor sich hin, murmelte halblaute Bemerkungen und tat mit kreischender Stimme dubiose Ansichten über Bankiers, reiche Leute und allerlei andere Verbrecher kund. An ihren schlimmsten Tagen sagte sie etwas Schreckliches: Ich hätte Ivar nie heiraten sollen. Mein Vater erstarrte, wenn seine Mutter so wetterte, mein Großvater schwieg, meine Mutter versuchte es mit Humor und gutem Zureden, und Inga, die auf jeden emotionalen Wetterwechsel sensibel reagierte und bei der bloßen Andeutung eines Konflikts schmerzlich das Gesicht verzog,

Trotz der gelegentlichen Ausbrüche meiner Großmutter gefiel es uns «da draußen, wo ich zu Hause bin», wie mein Vater sagte, vor allem im Sommer, wenn die weiten, ebenen Felder mit dem wachsenden Mais bis zum Horizont reichten. Ein rostiger, von Unkraut überwucherter Traktor, ein für alle Zeiten geparkter Ford Modell A, die alte Pumpe und die steinernen Grundmauern einer einstigen Scheune waren feste Bestandteile unserer Spiele. Außer dem Wind, der durch das Gras und die Bäume strich, den Lauten der Vögel und ab und zu einem vorbeifahrenden Auto auf der Straße war wenig zu hören. Es kam mir nie in den Sinn, dass meine Schwester und ich in einer erstarrten Welt herumkletterten, -rannten und uns Geschichten von schiffbrüchigen Waisenkindern ausdachten, doch die Welt meiner Großeltern, jener Einwanderer der zweiten Generation, war irgendwann zum Stillstand gekommen. Jetzt weiß ich, dass dieser Ort eine Narbe über einer alten Wunde ist. Es ist seltsam, dass alte Schmerzen immer zu uns zurückkehren, aber inzwischen halte ich das für eine allgemeingültige Wahrheit. Was einmal war, lässt uns nicht mehr los. Als mein Urgroßvater, Olaf Davidsen, der jüngste von sechs Söhnen, im Frühjahr 1868 von dem winzigen Hof hoch oben auf einem Berg in Voss, Norwegen, fortging, konnte er bereits Englisch und Deutsch und war ausgebildeter Lehrer. Er schrieb Gedichte. Mein Großvater verließ die Schule nach der fünften Klasse.

Das Tagebuch war so ein kleiner Fünfjahresband, wo für

Wer war Harry? Inga sagte auf meine Frage, sie habe keine Ahnung. Ich erklärte mich bereit, Onkel Fredrik zu schreiben und ihn zu fragen. An Tante Lotte konnte man sich nicht mehr wenden. Sie hatte Alzheimer und war in einem Pflegeheim.

Als Erstes sagte Eglantine zu mir: «Guck mal, Mommy, ein Riese.» Ich hatte meinen neuen Mietern die Tür geöffnet, und als ich Miranda nun zum zweiten Mal sah, konnte ich ihr zu meiner Erleichterung die Hand geben, ohne aus der Fassung zu geraten. Sie hatte ungewöhnliche Augen – groß, mandelförmig, haselnussbraun und etwas schräg stehend, als gäbe es einen asiatischen Zweig in der Familie. Vor allem aber faszinierte mich in diesen ersten Sekunden ihr eindringlicher Blick. Dann richtete sie diese ungewöhnlichen Augen auf

Ich sah zu dem Kind hinunter und sagte: «Na ja, ich bin zwar fast so groß wie ein Riese, aber ich bin nicht wie die in den Märchen.» Ich beugte mich vor und lächelte aufmunternd, doch die Kleine lächelte nicht zurück. Sie schaute mich an, ohne zu zwinkern, und kniff dann die Augen zusammen, als müsste sie über meine Bemerkung sehr ernsthaft nachgrübeln. Ihre nachdenkliche Miene machte mich noch befangener ob meiner Körpergröße. Ich bin eins fünfundneunzig. Inga misst eins zweiundachtzig, und mein Vater hatte die eins neunzig nur um Haaresbreite verpasst. Meine Mutter ist mit ihren eins fünfundsiebzig ein Knirps dagegen. Die ganze Familie Davidsen wie auch die Nodelands auf der väterlichen Seite meiner Mutter waren dünn und hochgewachsen. Was bei dieser genetischen Kombination herauskommen würde, war leicht abzusehen. Inga und ich hörten gar nicht auf zu wachsen. Unser Leben lang mussten wir uns Witze über Bohnenstangen, scherzhafte Fragen nach «dem Wetter da oben» und falsche Vermutungen über unsere Hochleistungen im Basketball anhören. Nie wurde ein Sitz in einem Kino, Theater, Flugzeug oder U-Bahn-Zug, eine öffentliche Toilette oder ein Waschbecken, eine Couch oder ein Sessel in einem Foyer oder Wartezimmer, ein Schreibtisch in einer einzigen Bibliothek dieser Welt für einen Menschen wie mich konstruiert. Jahrelang meinte ich in einer Welt zu leben, die ein paar Nummern zu klein für mich ist, nur in meinem eigenen Haus habe ich alle Arbeitsplatten erhöht und große Schränke eingebaut, die «genau richtig» sind, wie Goldlöckchen sagen würde.

Als wir an meinem Küchentisch saßen, spürte ich bei

Wenn Eggy nicht gewesen wäre, hätte ich nichts weiter erfahren. Sie hatte seit unserer Begrüßung nicht mehr gesprochen. Als wir uns setzten, umklammerte sie den Arm ihrer Mutter, vergrub das Gesicht an ihrer Schulter, und dann begann ein Spiel mit der Stuhllehne. Sie hielt sich mit einer Hand an der Lehne fest, beugte sich nach hinten, so weit es ging, und zog sich dann wieder nach vorn. Nach dieser Gymnastikvorstellung hüpfte sie plötzlich davon und tanzte mit ausgestreckten Armen im Zimmer herum, dass die hellbraunen Locken nur so flogen. Sie hopste zu den Bücherregalen und sang: «Buch, bücher, am büchersten, und immer

Ich fragte Miranda: «Kann sie lesen?»

Miranda lächelte zum ersten Mal, und ich sah ihre gleichmäßigen weißen Zähne, die ein ganz klein wenig vorstanden. Der Überbiss ließ mich erschauern, und ich wandte den Blick ab. «Ein bisschen. Sie geht in den Kindergarten und lernt es dort.»

Eggy beugte den Kopf zurück, breitete die Arme aus und begann, auf dem Boden herumzuwirbeln.

«Nicht so wild», sagte Miranda zu ihr. «Beruhige dich.»

«Ich mag aber gerne wild sein!» Sie lachte uns an. Der aufgerissene Mund schien die ganze untere Hälfte ihres kleinen Gesichts einzunehmen und verlieh ihr einen Moment lang ein koboldhaftes Aussehen.

«Ich meine es ernst», sagte Miranda.

Das Mädchen schaute die Mutter an und drehte sich dann weiter, allerdings langsamer. Nachdem sie kurz und rebellisch mit dem Fuß aufgestampft hatte, schüttelte sie die Locken und hüpfte zu mir, wobei sie ihrer Mutter einen leicht grollenden Blick zuwarf. Sie drängte sich ganz nah an mich heran und fragte verschwörerisch: «Willst du ein Geheimnis wissen?»

Ich sah Miranda an.

«Doktor Davidsen möchte das vielleicht nicht hören», sagte Miranda.

«Erik», sagte ich.

Miranda warf mir einen Blick zu, sagte aber nichts.

«Ich würde es gern hören, wenn deine Mutter nichts dagegen hat», versuchte ich es mit einem Kompromiss.

Eggy schaute ihre Mutter böse an. Miranda seufzte und

Ich war mir nicht sicher, ob Eggy glaubte, ihre Mutter könne das nicht hören, aber ich sah, wie Miranda kurz das Gesicht verzog und die Augenlider schloss. Dann sagte ich zu Eggy: «Ich sag’s nicht weiter. Versprochen.»

Die kleine Eglantine lächelte mich kokett an. «Du musst sagen: Ich schwöre und will des Todes sein.»

«Ich schwöre und will des Todes sein», sagte ich.

Das schien sie zu freuen. Sie strahlte mich an, schloss die Augen und atmete laut durch die Nase aus, als wären keine Worte, sondern Gerüche zwischen uns hin- und hergegangen.

Als ich mich wieder Miranda zuwandte, sah ich, dass sie mich scharf beobachtete, als wollte sie mein tiefstes Inneres ergründen. Ich habe eine Schwäche für kluge Frauen, darum lächelte ich ihr zu. Sie lächelte zurück, doch dann stand sie auf und beendete so das Gespräch. Diese abrupte Geste löste in mir eine jähe Begierde aus, ihre Geschichte zu erfahren, alles über diese Frau, ihre fünfjährige Tochter und den geheimnisvollen Vater herauszufinden, den sein Kind in eine Kiste verwiesen hatte.

Zum Abschied sagte ich: «Bitte melden Sie sich, wenn Sie etwas brauchen oder wenn ich vor dem Einzug noch etwas für Sie tun kann.»

Ich sah ihnen nach, wie sie die Treppe hinuntergingen,

Als Witwe und geschiedener Mann fanden Inga und ich eine gemeinsame Ebene in unserer beiderseitigen Einsamkeit. Nachdem Genie mich verlassen hatte, stellte ich fest, dass wir meist Einladungen zu Essen, Partys und Veranstaltungen gefolgt waren, die von ihrer Seite kamen und nicht von meiner. Die Ärzte von der Payne-Whitney-Klinik, wo ich damals arbeitete, und meine Psychoanalytikerkollegen langweilten sie. Auch Inga hatte Freunde verloren; manch einer hatte sich vom Glanz ihres berühmten Mannes angezogen gefühlt und sie als seine charmante Begleiterin akzeptiert, war dann aber

Inga hatte Max während ihres Philosophiestudiums an der Columbia University kennengelernt. Er war zu einer Lesung gekommen, und meine Schwester saß in der ersten Reihe. Inga war eine fünfundzwanzigjährige blonde Schönheit, brillant, von glühendem Eifer besessen und sich ihrer Verführungskraft bewusst. Sie hatte Max Blausteins fünften Roman auf dem Schoß und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit auf jedes Wort. Am Ende der Lesung stellte sie ihm eine lange, komplizierte Frage zur Erzählstruktur, und er bemühte sich redlich, sie zu beantworten. Als sie ihm dann ihr Buch zum Signieren vorlegte, schrieb er auf das Titelblatt: «Ich kapituliere. Gehen Sie nicht fort.» Max war 1981 siebenundvierzig Jahre alt und hatte zwei Ehen hinter sich. Er galt nicht nur als bedeutender Schriftsteller, sondern stand auch im Ruf eines ausschweifenden Verführers junger Frauen und wilden Zechers, der zu viel trank, zu viel rauchte und überhaupt in allem maßlos war, und Inga wusste das. Sie ging nicht fort. Sie blieb. Sie blieb, bis er 1998 mit vierundsechzig Jahren an Magenkrebs starb.

Nur einen Monat nach ihrer Promotion über Kierkegaards Entweder – Oder war Inga schwanger. Obwohl Max aus seinen früheren Ehen keine Kinder hatte und meinte, ihm fehle das «Elterngen», wurde er ein fast lächerlich begeisterter Vater. Er ließ Sonia auf den Knien reiten und sang ihr mit seiner krächzenden, völlig unmelodischen Stimme Lieder vor. Er nahm ihre ersten Laute auf, fotografierte und filmte sie in jedem Stadium des Wachstums, brachte ihr das

Max war am Ende völlig ausgezehrt. Als er, schon nicht mehr bei Bewusstsein, in seinem Krankenhausbett lag, sah sein Kopf aus wie ein Schädelknochen mit einer dünnen Schicht Grau darauf, und der reglos auf der Decke liegende Arm erinnerte mich an einen Zweig. Das Morphium hatte ihn bereits in einen Dämmerzustand versetzt, der den Sterbenden

Erst nach Max’ Tod wurde ich wirklich zu Onkel Erik, dem Helfer in allen Lebenslagen, der bei Referaten zur Seite stand, schnell mal die Töpfe abwusch und Inga und Sonia ganz allgemein Trost und Rat spendete, im Großen wie im Kleinen. Als Ehemann hatte ich versagt, aber ich war ein guter Onkel. Inga musste über Max reden – musste mir von seinem grausamen Tagespensum als Schriftsteller erzählen, das ihn schlapp und erschöpft machte, von seinen nächtlichen Sitzungen mit einer Whiskeyflasche, Camel-Zigaretten und alten Fernsehfilmen, seinem Jähzorn, auf den Reuebekenntnisse und Liebeserklärungen folgten. Sie musste auch über den Krebs sprechen. Wieder und wieder erzählte sie mir von dem Morgen, als Max sich unaufhörlich übergab, und schilderte dann, bleich und zitternd, wie er nach ihr gerufen hatte. «Die Toilette war voller Blut. Die Brille blutbespritzt und das ganze Becken voll, überall Blut, Blut und noch mehr Blut. Er wusste, dass er starb, Erik. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Aber später sagte er zu mir, als er sah, was da aus ihm herauskam, wusste er Bescheid, und er dachte sich: ‹Ich habe viel geleistet. Jetzt kann ich gehen.›»

Ich hatte immer gespürt, dass ihre Ehe leidenschaftlich, aber nicht einfach war. Sie waren beide voneinander abhängig, gefangen in einer langen Liebesgeschichte, die nie zur

Um die Hypothek auf sein Land abzulösen, sägte mein Großvater Schnittholz für einen Mann namens Rune Carlsen zu: Für je zweieinhalb Ster bekam er einen Dollar. Jeder Umzug auf einen neuen Platz brachte viel schwere Arbeit mit sich, aber keinen Lohn. Das Gleiche galt, wenn die Maschine kaputtging, und das kam häufig vor. Die Gerätschaften waren alt. Von vier bis sechs Uhr früh und von abends um sieben bis zum Einbruch der Dunkelheit arbeitete unser Vater auf dem Feld. Der amerikanische Glaubenssatz, dass harte Arbeit Erfolg garantiert, erwies sich in diesem Fall als krasse Lüge. Nachdem das einige Jahre so gegangen war und sich gerade eine Besserung abzeichnete, kam die Zwangsvollstreckung.

Den Verlust dieser vierzig Acres hat mein Vater nie verschmerzt. Dem entgangenen Land trauerte er nicht nach, aber das Bemühen, es zu erhalten, hatte seinen Vater gebrochen. Obwohl er das nie so gesagt hat, glaube ich inzwischen, dass es so war. Eine Depression, schrieb er, bringt nicht nur wirtschaftliches Elend mit sich, nicht nur die Notwendigkeit, mit weniger auszukommen. Das ist vielleicht noch das Geringste. Menschen, die ihren Stolz haben, werden von einem Schicksal getroffen, an dem sie keine Schuld tragen; doch eben weil sie ihren Stolz haben, fühlen sie sich durch und durch als Versager. Geldeintreiber verdienen ihren Lebensunterhalt damit, Menschen, die ihren Stolz haben, zu erniedrigen und zu demütigen. Es ist