»Wenn Frauen und Männer in Deutschland gerne mehr Kinder hätten, als sie tatsächlich bekommen, dann müssen wir vor allem ganz direkt fragen, was sie daran hindert und wie die Hindernisse möglichst beiseitegeräumt werden können.«
Der damalige Bundespräsident Horst Köhler im Jahr 2005 auf der Konferenz »Demografischer Wandel«
»Sind das gezähmte Wildschweine?« – »Nein, das sind ungezähmte Hausschweine.«
Asterix auf Korsika
Auf den Fotos, die im ersten Monat nach der Geburt unseres Sohnes entstanden sind, sehen meine Frau und ich aus wie Krieger, die eine Schlacht überlebt haben. Erschöpft und glücklich.
Nicht erschöpft und glücklich, wie man sich nach einem Beachvolleyballturnier fühlt. Nein, wir haben Narben abbekommen, wir haben Ängste ausgestanden, unser Körper und unser Geist sind nicht mehr dieselben.
Wenn wir nun mit unserem Baby, das im Laufe der Entstehung dieses Buchs langsam ein Kleinkind wurde, spazieren gehen, dann lächeln uns andere Eltern mit kleinen Kindern verstohlen zu, und wir signalisieren ihnen zurück, dass wir Bescheid wissen. Wir sind Mitglieder im Fight Club, wir erkennen einander an unseren Augenringen, an unseren Dehnungsstreifen und beknackten Haaren. Wir lächeln einander an, weil nur wir wissen, wie gut es ist, Mitglied zu sein.
Ich habe von vielen Müttern und Vätern gehört, dass sie kurz nach der Geburt ihres Kindes ein missionarischer Eifer überkommen hat. »Wir müssen es allen sagen, wir müssen ihnen sagen, wie gut es ist!« Aber sie missionieren dann doch nicht.
Ich werde es in diesem Buch schon ein bisschen tun. Ich will niemanden überzeugen, der sich gegen Kinder entschieden hat, schon gar nicht will ich, dass sich jemand schlecht fühlt, der keine Kinder bekommen kann. Ich richte mich an Menschen wie mich selbst, die eigentlich schon immer Kinder wollten, aber es aus den verschiedensten Gründen verbummeln.
Bis es zu spät ist oder wie in meinem Fall beinahe zu spät.
Das scheint dann wie individuelles Versagen, aber warum trifft dieses Versagen ausgerechnet in Deutschland so besonders viele?
Die aktuelle Debatte um das sogenannte Social Freezing enthält viele Facetten dieser Problematik. Und eigentlich in jedem denkbaren Szenario sind die Frauen schuld. Entweder frieren sie ihre Eizellen ein, dann sind sie kalt, berechnend und einem Machbarkeitswahn anheimgefallen. Oder sie bleiben ungewollt kinderlos, dann stellt sich die Frage: Ja, warum haben sie denn nicht vorgesorgt? Oder sie bekommen gar, horribile dictu, ihre Kinder, bevor die Karriere richtig durchgestartet ist. Na, dann haben sie selbstverständlich die freie Entscheidung getroffen, nie so viel Geld verdienen zu wollen wie ein Mann.
Und natürlich wird durch das Angebot einiger Firmen an ihre weiblichen Angestellten, die Kosten für das Einfrieren von Eizellen zu übernehmen, die Vorstellung verstärkt, Aufschieben sei das Rationale. Was soll sich die Gesellschaft ändern, wenn man doch Einfrieren kann?
So sehr also eine technische Erweiterung der Optionen zu begrüßen ist, so sehr wird auch hier ein gesellschaftliches Problem privatisiert. Denn genau das ist geschehen in Deutschland, in der westlichen Welt: Wenn man sich vermehren will, ist man damit allein.
Es wird hier nicht um einen Dienst an der Gesellschaft gehen, der Kinderkriegen angeblich ist, es wird keine Unterteilung geben in egoistische Kinderlose und altruistische Kinderreiche, weil beide Zuschreibungen völliger Blödsinn sind. Und auch um die zukünftige Demografie des Landes werde ich einen Bogen machen. Von eher rechter Seite kommt das Geraune vom Aussterben der Deutschen, vom Raum ohne Volk, von linker Seite der Hinweis, man könne Unterbevölkerung durch Einwanderung ausgleichen. Das sind oft gehörte Debatten, die Hellseher führen sollen.
In diesem Buch geht es um das Menschenrecht, Kinder zu bekommen.
Diesen Gedanken formulierte die Chinesin Chen Dan, eine Dozentin an der Universität Peking. In der Süddeutschen Zeitung fragte sie, ob es nicht das grundlegendste aller Menschenrechte sei, ein Kind zu bekommen, wenn man es wolle.
Chen Dan richtete sich mit dieser Frage gegen die chinesische Ein-Kind-Politik. Familien, die in China mehr als ein Kind haben, bekommen kein Kindergeld mehr, müssen möglicherweise ihre Wohnungen verlassen, in besonders rückständigen Regionen kommt es sogar zu erzwungenen Abtreibungen. In China, das aktiv und massiv die Vermehrung seiner Bevölkerung zu verhindern versucht, bekommt eine Frau im Schnitt 1,55 Kinder. (Weil diese Politik gar zu unmenschlich ist, selbst für einen totalitären Einparteienstaat, tut sich nun etwas: Die chinesische Führung erwägt, zukünftig zwei Kinder zu gestatten.) In Deutschland, das angeblich alles tut, damit wieder mehr Kinder geboren werden, liegt der Schnitt bei 1,3.
Arnold Vaatz, seit 2002 Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Bereiche Aufbau Ost, wirtschaftliche Entwicklung und Menschenrechte, sagte 2006 im Deutschlandfunk auf die etwas provokante Frage, ob denn die Erfüllung des Traums von einem Bullerbü’schen Kinderparadies tatsächlich ein Menschenrecht sei: »Man kann es mit dem Terminus technicus Menschenrecht bezeichnen, aber es ist eigentlich das Natürlichste auf der Welt. Es ist eigentlich ein konstitutives Element des Lebens überhaupt.« Und dann setzte der Politiker hinzu: »Wo diese Sehnsucht zurückgeht oder nicht befriedigt wird, dort ist die Gesellschaft bedroht.«
Deutschland, wo ein Politiker so ganz anders redet, als ein chinesischer Politiker es wohl tun würde, wo die Sehnsucht nach Geborgenheit in einer Familie sogar als Naturrecht gewertet wird, steht mit seinen 1,3 Kindern im World Factbook der CIA aktuell auf Platz 218 von 224 Ländern, was die Fortpflanzung angeht. Nur in Südkorea, Japan, Singapur, Saint-Pierre und Miquelon, Hongkong und Monaco wurden 2013 auf tausend Menschen weniger Kinder geboren. Nach Monaco ziehen alte Millionäre, um Steuern zu sparen, von Saint-Pierre und Miquelon, einem winzigen französischen Überseegebiet vor der kanadischen Küste, ziehen die Menschen weg, weil sie vom Fischfang nicht mehr leben können. Aber was ist mit Deutschland los?
Über 90 Prozent aller Deutschen wünschen sich Kinder, bis zu einem Drittel von ihnen wird keine bekommen. Kerstin Ruckdeschel und Jürgen Dorbritz vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung gehen 2007 in ihrem Aufsatz »Kinderlosigkeit in Deutschland – Ein europäischer Sonderweg?« davon aus, »dass die nach 1965 geborenen Frauen zu deutlich mehr als 25 Prozent, wenn nicht sogar zu 30 Prozent kinderlos bleiben werden«. Das Statistische Bundesamt sah 2010 »keine empirischen Ansatzpunkte, die auf eine Trendwende in der Entwicklung der Kinderlosigkeit hindeuten«. Im Vergleich zu älteren Frauenjahrgängen sei der Anteil der Frauen ohne Kind in den jüngeren »sehr hoch«.
Warum so viele ihr Menschenrecht nicht umsetzen können und wie man vielleicht doch zu seinem Recht gelangen kann, darum geht es in diesem Buch.
Um die deutsche Kein-Kind-Politik, einen unwilligen Staat, also Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung, Politiker, von denen nur Lippenbekenntnisse kommen, eine passive Gesellschaft, die sich nichts mehr zutraut, um viele kleine Dinge, die verhindern, dass wir bekommen, was wir wollen. Und um das eine große Ding, das vielen fehlt: die Liebe.
Es wird darum gehen, denen, die Kinder wollen, aber glauben, es sei noch nicht der richtige Zeitpunkt, einen Schubs zu geben. Der Fight Club freut sich über neue Mitglieder.
In den Geschichtsbüchern gibt es noch diese Bilder von Wohnungen ganz normaler deutscher Großstadtmenschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Acht, neun Kinder, zwei Zimmer, und die Großeltern sind auch noch dabei. Die Menschen hausen eher, als dass sie wohnen, alles sieht nach Cholera und Kakerlaken aus. Über das dritte Kind freute man sich noch, heißt es in einem Text, der noch hundert Jahre früher, also um 1800 herum, entstand – ab dann begann das Leid. Der Vater sehe alle weiteren Kinder als »feindliche Geschöpfe an, die ihm und seiner vorhandenen Familie das Brot vor dem Munde wegnehmen«. Und auch »das zärtlichste Mutterherz« werde »für das fünfte Kind gleichgültig, jedem sechsten wünscht es schon laut den Tod«.
Weil die Kindersterblichkeit so hoch war, wurden Heiratslizenzen in den deutschen Kleinstaaten des 19. Jahrhunderts nur ausgestellt, wenn die Heiratswilligen nachwiesen, dass sie eine Familie ernähren konnten. Wer etwa kein Haus besaß, durfte nicht heiraten. Das Resultat waren bis zu 50 Prozent uneheliche Kinder, eine Quote, die erst heute wieder in den neuen Bundesländern erreicht wird. Gegen die Kinderflut war man machtlos. Obwohl Wissenschaftler langsam herausfanden, wie Verhütungsmittel funktionieren könnten, wurde dieses Wissen nicht weiterverbreitet. Aufklärung stand unter Strafe. In den Kliniken wurden keine Abtreibungen vorgenommen; wem Gott zürnte, dem schenkte er Kindersegen.
Heute hat sich die Situation umgekehrt. Bis zu einem Drittel aller Deutschen, jenes, das Kinder will, aber nicht (mehr) haben kann, erlebt eine private Katastrophe: Auf Kinderwunschforen im Netz tauschen sich verzweifelte Paare aus, die Schwierigkeiten haben, ein Kind zu zeugen. Kinderlosigkeit gegen den eigenen Willen, das sagen Studien, macht noch unglücklicher als der Tod naher Angehöriger. »Psychologen«, so die Familientherapeutin Petra Thorn im Gespräch mit der Zeit, »vergleichen die Erkenntnis, keine eigenen Kinder bekommen zu können, mit anderen schweren Schicksalsschlägen wie dem Tod eines Partners oder eines Kindes.« Diese Tatsache sollte man im Kopf behalten: Ein Kind nicht bekommen zu können wird empfunden wie der Tod eines Kindes.
Freundschaften zerbrechen am Babyneid (das britische Boulevardblatt Daily Mail nennt dieses Phänomen sogar »die neue soziale Kluft«: dort die, die es geschafft haben, Kinder zu bekommen, dort die Kinderlosen), ein dicker Bauch kann die ungewollt Kinderlosen in tiefste Depression führen. Menschen, die empfängnistechnisch austherapiert sind, brauchen etwa fünf Jahre, ehe sie sich erholt haben von ihrem Unglück. Querschnittsgelähmte sind meist schon ein Jahr nach ihrem Unfall wieder so zufrieden wie zuvor.
Soziale Infertilität, also die Unfähigkeit, Kinder zu bekommen, obwohl man gesund ist, ist anders als medizinische. Die Demütigungen sind andere, der Angriff auf das Selbstwertgefühl ein anderer. Aber im Ergebnis ist es doch ähnlich. Die Schriftstellerin Clara Ott schrieb zum Muttertag 2014 auf Facebook: »Muttertag. Während beziehungsunfähige Männer fröhlich posten, wie sehr sie ihre Mamis lieben, ist es ein Tag des Innehaltens für alle kinderlosen Singlefrauen über 30 Jahre. Selten wünschten sie sich mehr, dass der Sonntag endlich mit Mord und Totschlag ausklingt und der Alltagstrott wieder von der nagenden Frage ablenkt, ob sie jemals Mama werden und welcher Mann bei Facebook öffentlich gestehen würde, wie sehr er sie liebt.«
Wenn sie keine Kinder bekäme, sähe sie ihr Leben als gescheitert an, sagte mir eine 39-jährige Bekannte, seit drei Jahren Single. Ihre Eizellen seien intakt, aber was habe sie ohne Partner davon? Sie ist eine der Millionen, bei denen es vielleicht nicht mehr reichen wird. Man kann davon ausgehen, dass in Deutschland ziemlich viele Menschen ziemlich unglücklich sind, weil sie Kinder wollten, aber keine bekommen haben.
Gibt es deswegen Proteste? Demonstrationen? Revolution?
Nichts dergleichen. Kinderlose beschweren sich nicht. Und auch jene, die gern mehr Kinder hätten als sie haben, schweigen. Fast scheint es, als wären wir Opfer einer Naturkatastrophe, für die niemand verantwortlich ist. Es wird als Schicksal hingenommen, dass man in Deutschland mit größerer Wahrscheinlichkeit kinderlos bleibt als anderswo auf der Welt.
Was in dem Jahrhundert geschah zwischen Babyflut und Babydürre, ist bekannt: Zunächst sorgte die Einführung der Rentenversicherung dafür, dass Kinder nicht mehr als Altersversorgung benötigt wurden. 1904 wurde die Beschäftigung von Kindern unter zwölf Jahren in gewerblichen Betrieben verboten, sodass Kinder nicht mehr zum Familieneinkommen beitragen konnten. In der Weimarer Republik wurden die Strafen für Abtreibungen herabgesetzt, mit der zunehmenden Säkularisierung kam auch die Sexualaufklärung. Das Leben in den Städten wurde immer teurer, es lohnte sich nun, mehr in wenige Kinder zu investieren. Die Großfamilien verschwanden, statt fünf Kindern hatte man nun zwei. Der Pillenknick in den Sechzigerjahren war im Vergleich zu diesem Wandel nur ein Knickchen.
Die Antibabypille wiederum war ein direktes Ergebnis der Frauenbewegung. Die große amerikanische Frauenrechtlerin Margaret Sanger unterstützte mit gewaltigen Summen die Arbeiten des Physiologen Gregory Pincus, der einer der Väter der Pille war. Sie brachte den letzten entscheidenden Punkt: Kinder waren jetzt endgültig eine bewusste Entscheidung.
Der Philosoph Arthur Schopenhauer hatte vorausgesehen, was das bedeuten würde: »Wenn Kinder in die Welt gebracht würden allein durch einen Akt der reinen Vernunft, würde die menschliche Rasse dann weiterexistieren?« Schopenhauer bezweifelte das.
Schopenhauer hatte für diesen Zweifel allerdings ganz andere Gründe, als wir heute für unsere Entscheidung haben, keine Kinder zu bekommen. Schopenhauer war sogenannter Antinatalist; er lehnte die menschliche Reproduktion ab, sie war für ihn eine Quelle des Leidens.
Doch zunächst einmal muss man Schopenhauer zugestehen, dass sein Gedanke sich als prophetisch erwiesen hat. Bewusstes Kinderkriegen scheint eine Überforderung zu sein. Der amerikanische Futurologe Alvin Toffler ging bereits 1970, also vor 45 Jahren, davon aus, dass sich der damals entwickelnde Prozess der »Familienverkürzung« fortsetzen werde. In »Der Zukunftsschock« beschrieb er, dass die Großfamilien sich nicht transportieren oder verpflanzen haben lassen. »Sie waren immobil. Die industrialisierte Gesellschaft hingegen brauchte Massen von Arbeitern, die bereit und fähig waren, auf der Suche nach Arbeitsplätzen den Wohnsitz zu wechseln und abermals umzuziehen, wann immer es nötig wurde. Deshalb warf die erweiterte Familie allmählich den zu stark behindernden Ballast von Angehörigen ab, und es entstand die ›Kernfamilie‹, eine von überflüssigen Verschachtelungen befreite, mobile Familieneinheit, die nur aus den Eltern und einer kleinen Anzahl Kindern bestand.« Die von Toffler prognostizierte »superindustrielle Gesellschaft«, also unsere Zeit, werde jedoch eine noch größere Mobilität erfordern. »Logischerweise werden viele Leute also in der Zukunft den Prozess der Familienverkürzung fortsetzen, infolgedessen ganz kinderlos bleiben, und dadurch die Familie auf ihre elementaren Bestandteile – Mann und Frau – beschränken. Zwei Menschen, möglicherweise mit einander ergänzenden Karrieren, werden erfolgreicher durch Ausbildungs- und soziale Untiefen, durch Stellenwechsel und geografische Umsiedlungen steuern als die gewöhnliche, mit Kindern überladene Familie.«
Zwei Menschen? Da war Toffler noch recht optimistisch. In Berlin zum Beispiel beträgt der Anteil der Ein-Personen-Haushalte 54 Prozent. Aber ansonsten lag Toffler richtig.
Aber die jungen Deutschen sind keine Schopenhauers, sie lehnen in ihrer ganz großen Mehrheit Babys nicht ab, im Gegenteil. Die Soziologinnen Jutta Allmendinger und Julia Haarbrücker vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin stellten in ihrer 2013 veröffentlichten Studie »Lebensentwürfe heute« fest, dass Frauen und Männer zwar bei allen anderen einen geringen Kinderwunsch vermuten, sich persönlich aber ganz überwiegend Kinder wünschen. 2007, 2009 und 2012 hatten sie 2.000 junge Männer und Frauen befragt.
Jutta Allmendinger erklärte mir, dass sie ihre Zahlen, also die 93 Prozent, die sich Kinder wünschen, für »absolut valide« halte. Der Kinderwunsch sei ganz deutlich gewesen. Politisch müsse man sich nun vor allem fragen, was es heiße, wenn die Leute glauben, es sei gesellschaftlich wenig akzeptabel, Kinder zu bekommen. Im Vorwort zu ihrer Studie schreibt Allmendinger: »Es ist nicht so, dass die jungen Menschen zweifeln oder keine eigene Familie wollen. Das tun die wenigsten. Aber viele, Männer mehr als Frauen, nehmen in der Gesellschaft einen mangelnden Respekt und eine fehlende Offenheit für Familien wahr. Eine Familie macht nicht viel her. Sie verschafft keine Anerkennung, das tut nur ein guter Job, vielleicht noch der Freund oder die Freundin. Kinder zu haben ist dagegen nicht cool. Etwas zu wollen, was andere gering schätzen, und dafür in Bereichen zu verlieren, die einem selbst wichtig und von anderen hoch geachtet sind, fällt schwer. Die jungen Menschen sehen sich zwischen den Stühlen.« Im persönlichen Gespräch mit mir fügte sie hinzu: »Die gesamte deutsche Gesellschaft wird als nicht kinderfreundlich beschrieben.«
Das bestätigt auch eine europaweite Studie des Instituts für Zukunftsfragen von 2013. 11.000 Europäer wurden gefragt, ob sie ihr Land als kinderfreundlich wahrnehmen. In den meisten Ländern war das Ergebnis negativ, nur in Dänemark sahen 90 Prozent der Menschen ihr Land als kinderfreundlich an. Weit abgeschlagen: Deutschland mit 15 Prozent.
Fast alle wollen Kinder, glauben aber, alle anderen seien kinderfeindlich. Gibt es eine selbsterfüllende Prophezeiung? Das Aussterben der Deutschen wird so lange herbeigeschrieben, bis sich niemand mehr zutraut, ein Kind zu bekommen? Wo liegt der Fehler?
»Die im internationalen Vergleich sehr niedrige Geburtenrate in Deutschland erklärt sich zu einem erheblichen Teil aus der hohen Zahl unerfüllter Kinderwünsche«, erklärt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Auch der Politologe und Soziologe Stefan Fuchs, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Demographie, kommt in seiner Doktorarbeit »Mehr Kinder durch weniger Familie?« zu dem Schluss, dass immerhin ein Drittel der niedrigen Geburtenrate durch die sehr hohe ungewollte Kinderlosigkeit in Deutschland bedingt sei, zwei Drittel durch das Fehlen dritter und vierter Kinder. Fast 13 Millionen Deutsche bleiben ungewollt kinderlos oder wünschen sich Kinder, errechnete das Institut für Demoskopie Allensbach. 36 Prozent der Deutschen zwischen 25 und 59.
Warum wollen so viele, tun es aber nicht? Der Philosoph Robert Pfaller gab zu bedenken, dass die Leute in Wahrheit vielleicht gar nicht wollen, sondern nur ein bisschen träumen würden. Und tatsächlich könnte man lange darüber diskutieren, was »Wollen« überhaupt heißen soll.
»Kinderlosigkeit kann nicht generell als bewusste Entscheidung gegen ein Kind interpretiert werden, sondern als Folge des Aufschiebens – als ein Merkmal der Nicht-Entscheidung für Elternschaft.« Zu diesem Ergebnis kommt Rabea Krätschmer-Hahn vom Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung in ihrer Doktorarbeit »Kinderlosigkeit in Deutschland: Zum Verhältnis von Fertilität und Sozialstruktur«. Die gängige Auffassung, so Krätschmer-Hahn, sei jedoch, den »gestiegene(n) Anteil Kinderloser mit gewollter Kinderlosigkeit gleichzusetzen«.
Will also jemand, der Jahr für Jahr sagt, er wolle grundsätzlich, aber jetzt noch nicht, in Wahrheit keine Kinder? Oder will er nicht genug?
Stefan Fuchs erläutert in seiner Doktorarbeit den speziellen Zusammenhang zwischen Realität und Wunsch: Die Wirklichkeit wirke auf den Wunsch zurück. Er zitiert den Demografen Wolfgang Lutz, der von »der Falle der niedrigen Fertilität« spricht. Wenn Menschen »in ihrer Umwelt wenige oder keine Kinder erleben, spielen auch in ihrer eigenen Vorstellung eines wünschenswerten Lebens Kinder eine geringere Rolle«. Die deutschsprachigen Länder waren in den Siebzigerjahren die ersten mit sehr niedrigen Geburtenraten. »Drei Jahrzehnte später waren sie dann auch unter den ersten Ländern, in denen die in Bevölkerungsumfragen ermittelten Ideale zur Familiengröße in den jüngeren Kohorten unter den Generationenersatz fielen.« ERST bekamen die Leute weniger Kinder, DANN wollten sie weniger Kinder. Der Soziologe Erwin Kurt Scheuch zog Fuchs zufolge aus dem veränderten Zeugungsverhalten schon 1978 den Schluss, dass Ehepaare nicht zu Kindern »überredet werden müssten«. Problematisch sei vielmehr das »Zurückbleiben der tatsächlichen Reproduktion gegenüber den eigenen Wunschvorstellungen«.
Wenn alles nach mir ginge, ich mir also eine Welt basteln könnte, dann fände ich fünf Kinder gut. Drei wären unter optimalen Bedingungen möglich, vermutlich wird es eher bei einem bleiben, mit etwas Glück werden es zwei. Auf die Frage, wie viele Kinder ich gerne hätte, würde ich also vermutlich zwei sagen, obwohl ich gern eine Schar hätte. Man passt mehr oder weniger automatisch seine Wünsche den Gegebenheiten an. Robert Pfaller nennt diese Art der vermeintlich freiwilligen Wunschminimierung Beuteverzicht. Wer etwas sowieso nicht bekommen kann, redet sich ein, er habe es gar nicht gewollt.
Trotzdem wollen die wenigsten kein Kind. Sie sagen nicht mehr, dass sie drei oder vier wollen, aber eben auch nicht, dass sie lieber kinderlos bleiben würden. Ich denke daher, dass man die Frage, ob wir wollen oder nicht, letztlich pragmatisch nach dem geäußerten Willen entscheiden muss, wie es auch Allmendinger macht. Ich würde auch von mir selbst sagen, dass ich immer Kinder wollte. Ich habe Jura studiert, weil ich genau wie mein Vater selbstständig sein wollte, um mir meine Zeit frei einteilen zu können, sodass ich sie mit meiner Familie verbringen kann. Ich wollte kein Vater werden, der seine Kinder nur abends und am Wochenende sieht. So sehr wollte ich. Trotzdem hat es bei mir lange gedauert mit dem Vaterwerden.
Warum die Menschen keine Kinder bekommen, obwohl sie welche wollen, ist in vielen Studien erforscht worden. Für den Familienreport 2012 des Familienministeriums fragte das Institut für Demoskopie Allensbach nach den Gründen für Kinderlosigkeit. Die häufigste Antwort war: »Ich habe bisher noch nicht die passende Partnerin/den passenden Partner gefunden« (40 bzw. 46 Prozent). (Die zweite Prozentzahl bezieht sich jeweils auf den Anteil innerhalb der Gruppe der Befragten, die sich ausdrücklich Kinder wünschte.) Ähnlich häufig genannt wurde: »Ich fühle mich noch zu jung dafür« (39 bzw. 49 Prozent). 34 bzw. 36 Prozent der Befragten sagten: »Ich möchte möglichst viele Freiräume haben, genügend Zeit für mich und meine Hobbys haben.« »Ich weiß zurzeit nicht so genau, wie es bei mir in Zukunft weitergehen wird«, nannten 30 bzw. 34 Prozent als Grund. Für ein Viertel der Befragten war die Aussicht, weniger Zeit für Freundinnen und Freunde zu haben, abschreckend. 22 bzw. 24 Prozent fürchteten, »ein Kind wäre eine große finanzielle Belastung«. Ebenso viele (28 Prozent der Kinderlosen mit Kinderwunsch) wollten vor der Schwangerschaft erst heiraten. Und wieder 22 bzw. 26 Prozent glaubten, ihre beruflichen Pläne würden sich nur schwer mit einem Kind vertragen, daher hätten sie »jetzt keine Zeit«. Ihre Wohnsituation wurde von 18 bzw. 21 Prozent der Befragten als nicht gut genug geeignet empfunden. 17 Prozent sorgten sich, »nicht genügend Zeit für das Kind zu haben«. 11 Prozent gingen davon aus, dass es schwer sein werde, die Betreuung des Kindes sicherzustellen. Vergleichsweise selten war der Fall, dass der Kinderwunsch am vorhandenen Partner scheiterte. Nur 5 bzw. 4 Prozent sagten, ihr Partner wolle kein Kind.
Bei der Studie desselben Instituts neun Jahre zuvor hatten noch 47 statt 22 Prozent geantwortet: »Ein Kind wäre eine große finanzielle Belastung.« Und 37 statt 22 Prozent: »Meine beruflichen Pläne vertragen sich nur schlecht mit einem Kind.« Daraus zieht die Regierungsstudie »Geburten und Geburtenverhalten« des Soziologen Hans Bertram den Schluss: »Die finanzielle Belastung durch ein Kind bzw. die beruflichen Pläne stellen immer seltener einen Hinderungsgrund dar.« Es könnte allerdings auch sein, dass die Befragten ihr Problem jetzt einfach anders nennen: »Meistgenannter Hinderungsgrund für die Erfüllung von Kinderwünschen ist nach wie vor die Vorstellung, zu jung für ein Kind zu sein, sowie der Eindruck, noch nicht den richtigen Partner gefunden zu haben.«
Denn was hat man unter anderem zu wenig, wenn man zu jung ist? Geld.
Und was droht, wenn der Partner nicht der richtige ist? Alleinerziehend sein = Armut.
Wann hat man als Regierung seinen Job erledigt? Wenn die Leute glauben, sie müssten nur älter werden und den richtigen (immer perfekteren, sich niemals trennenden) Partner suchen, dann würde das schon irgendwann klappen mit dem Kind. Mit neununddreißigeinhalb.
Die Online-Partnerschaftsvermittlung ElitePartner fragte 2011 in ihrer Singlestudie ebenfalls nach Gründen für Kinderlosigkeit. Hier wurde zwischen Liierten und Singles unterschieden. Liierte nannten als Gründe, dass ihnen ihr Leben ohne Kinder gefalle (19 Prozent), ihnen die Karriere zunächst wichtiger sei (18 Prozent), finanzielle Probleme (17 Prozent), den Wunsch, Freiheiten auszuleben (15 Prozent), und unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten (11 Prozent).
Bei den Singles fehlte bei der überwältigenden Mehrheit der passende Partner. 67 Prozent nannten dies als Grund. Wenn man keinen Partner hat, sind Betreuungseinrichtungen nicht so wichtig.
Die Stiftung für Zukunftsfragen kam 2011 zu ähnlichen Ergebnissen mit anderen Gewichtungen. 60 Prozent der Befragten wollten »lieber frei und unabhängig bleiben«. 58 Prozent fanden: »Kinder kosten zu viel Geld.« 51 Prozent war »Karriere wichtiger als Familiengründung«. 48 Prozent waren der Meinung, »Karriere lässt sich nur schwer mit Familie vereinbaren«. 46 Prozent bemängelten das Fehlen staatlicher und gesellschaftlicher Voraussetzungen und ebenso viele sahen eine unsichere Zukunft auf die eigenen Kinder zukommen. 39 Prozent fehlte der richtige Partner. 23 Prozent fanden, dass nie der richtige Zeitpunkt für Kinder ist. 21 Prozent sahen Kinder nicht als erfüllenden Lebensinhalt. 20 Prozent hatten Angst davor, als Geschiedene alleinerziehend zu sein.
Die großen Themenblöcke sind also fehlende oder nicht passende Partnerschaft, schwierige Vereinbarkeit von Karriere und Kindern (hiermit verbunden die Angst vor den Kosten der Kinder und Zeitmangel), Angst vor dem Verlust der Freiheit, das Gefühl, zu jung zu sein, die Sorge, nicht mehr dazuzugehören, sein altes Leben aufgeben zu müssen.
Diese Gründe überlappen sich natürlich. Bei der Angst vor der Scheidung schwingen sowohl die Probleme mit der Partnerschaft als auch die finanziellen Sorgen mit. Und manche wirken subjektiv (»Ich fühle mich zu jung«), fügen sich aber in ein kulturelles Klima, in dem man problemlos mit 35 noch zu jung sein kann, um mit seiner Freundin zusammenzuziehen, und bedeuten eben letztlich auch: Ich habe noch nicht genug Geld.
Um zu hören, wie Leute in ihren eigenen Worten, also ohne dass sie vorgegebene Antwortmöglichkeiten hätten, die Probleme beschreiben, habe ich unter meinen Facebook-Kontakten gefragt, was sie vom Kinderbekommen abhält oder was sie bräuchten. Was sich festhalten lässt: Hier finden sich ähnliche Punkte wie in den Studien. Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Probleme, den passenden Partner zu finden. Zudem ist zu spüren, dass das Image des Elternseins schwierig mit dem Selbstbild in Einklang zu bringen ist. Und dann natürlich noch vermeintlich ganz und gar individuelle Gründe. Da sieht eine junge Frau einen Film über einen jugendlichen Psychopathen, und das bestärkt sie darin, dass Kinder zu bekommen vielleicht keine so gute Idee sei: »Wie steht’s denn mit dem Verhältnis zu den eigenen Eltern? Die wenigsten, die ich kenne, haben ein Superverhältnis mit beiden Eltern. Und zum Teil kenne ich auch einfach superundankbare Leute, die aus bescheidenen Verhältnissen kommen, deren Eltern sich den Arsch aufgerissen haben, die dann Medizin oder Ähnliches studiert haben und sich für ihre Eltern jetzt schämen … So was willste jetzt in die Welt setzen? Hast du ›We need to talk about Kevin‹ gelesen bzw. gesehen?« (w, 27)
Die Vorstellung, keine Kinder zu bekommen, weil die Gefahr bestünde, der Nachwuchs könnte kein gutes Verhältnis zu den Eltern entwickeln, ist tief im Zeitgeist verankert. Es gibt ein geradezu kindliches Bedürfnis nach Vollkommenheit, nach nicht hinterfragbarer Gelungenheit.
Dazu passt ein Text, den ich im Jahr sechs vor dem Baby, also 2006, geschrieben habe. Er hieß, natürlich: »Kinder? Nicht jetzt.«
Ich hatte Angst, einem Kind nichts mitgeben zu können. Ich kannte mich nur mit Clubs und Caipirinhas aus. (Was so auch nicht stimmte, ich habe es wohl nur wegen der Alliteration geschrieben.) Ich wusste vage, dass die Zeit drängt, aber ich konnte mit der Information nichts anfangen. Es war klar, dass es eine Frage des richtigen Zeitpunkts war, aber wann war der richtige Zeitpunkt? »Höre ich mich bei meinen männlichen Bekannten um, ist diese Frage einfach beantwortet«, schrieb ich 2006. »Der richtige Zeitpunkt ist: Nicht jetzt.«
Ich war also 32, fühlte mich unreif, aber trotzdem war ich dafür: »Ein kleiner Mensch, der sehr, sehr ungebildet auf die Welt kommt, den man prägen kann, dem man dabei zuschauen kann, wie er über den Boden krabbelt, und der einen merken lässt, wie schön es ist, wenn man eben nicht mehr der wichtigste Mensch in seinem Leben ist. Das will ich auch erleben. Die Deutschen vor dem Aussterben retten ist dabei nicht so sehr mein Plan. Aber auf jeden Fall will ich Kinder haben. Nur nicht jetzt.«
Tatsächlich wollte ich schon immer Kinder bekommen. Ich hatte recht alte Eltern und ich glaube, meine Schwestern und ich haben sie jung gehalten. Mein Vater war der einzige Siebzigjährige, der problemlos Elektro von Techno unterscheiden konnte, was ihn keine Sekunde davon abhielt, beides grauenhaft zu finden. Als mein Vater auf der Intensivstation lag, hatte meine älteste Schwester ihr Neugeborenes dabei, und ich hatte das Gefühl, dass für sie das Leben auf viel greifbarere Weise weiterging als für mich.
Noch deutlicher war es dann, als meine Mutter im Sterben lag. Sie hatte zutiefst verinnerlicht, ein Glied in der Kette zu sein, es war ihr eine Gewissheit, dass das Leben nach ihrem Tod weiterging. Nicht ihr eigenes, aber das ihrer Kinder. Sie starb zu Hause, in Frieden, ich würde jetzt gern schreiben »im Kreis ihrer Familie«, aber ich war am Tag zuvor an meinen Studienort zurückgereist. Familie macht die Dinge nicht zwangsläufig zu einem Happy End, aber Familie ist das, was die Dinge überhaupt erst geschehen lässt.
Ich bin also familiär vorbelastet, was das Kinderkriegen angeht, wir waren vier Kinder, es gibt mit meinem Kind jetzt sieben Enkel – und doch hat es so lange gedauert bei mir. Die Gründe? Außer der Reife fehlte es an finanzieller Sicherheit, meine Frau hatte Angst um ihre berufliche Zukunft. Vorher hatte ich eine lange Beziehung, in der ich irgendwann merkte, dass wir besser keine Kinder zusammen bekommen sollten. Ganz normal eben.
Warum wir keine Kinder bekommen, das ist also recht klar. Aber dennoch ist nicht so klar, was dahintersteckt. Warum ist die Vereinbarkeit von Kind und Karriere so kompliziert? Warum verbinden wir Familie mit Unfreiheit? Warum ist es so ein Problem, den passenden Partner zu finden?
Welche dieser Probleme kann der Staat angehen? Wo braucht man einen kulturellen Wandel? Wie kann man selbst etwas ändern?
Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder sagte, um ihre fehlgeschlagene Politik zu rechtfertigen: »Manche bekommen keine Kinder, weil sie nicht den richtigen Partner gefunden haben. Wo soll die Politik da bitte eingreifen?«
Vielleicht kann man ja eine Antwort auf Frau Schröders Frage finden.
Immer später kommt das erste Kind. Immer weniger passen Kinder in die Lebensplanung. Jedes Jahr sind die Frauen zweieinhalb Monate älter, wenn sie zum ersten Mal schwanger werden. Ein Spiel gegen die Zeit. »Noch nicht jetzt« lautet das Mantra, »aber bald«. Bis es zu spät ist. Anders als Schopenhauer glaubte, entscheidet man sich nämlich sehr selten bewusst gegen ein Kind, sondern unbewusst, durch Aufschieben.
Denselben Schluss zog das Statistische Bundesamt im Jahr 2009: »Die Hauptursache für den Rückgang der endgültigen Kinderzahl bei den jüngeren Frauenkohorten liegt im Aufschieben der Familiengründung auf ein höheres Lebensalter der Frau.«
Was viele nicht wissen wollen oder verdrängen: Die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, nimmt bereits ab dem Alter von 25 Jahren stetig ab. Das ist Biologie. Sperma wird ebenfalls nicht besser, auch wenn sich aufgrund einiger prominenter Uraltväter hartnäckig der Irrglaube hält, Männer seien nicht von der biologischen Uhr betroffen. Eine Frau, die unter 25 ist, wird mit einem gleichaltrigen Partner im Schnitt nach viereinhalb Monaten schwanger, mit einem Mann, der über 40 ist, dauert es knapp zwei Jahre. Ein 45-jähriger Mann verursacht außerdem ein doppelt so hohes Fehlgeburtenrisiko wie ein unter 25-jähriger.
Männer bleiben sogar häufiger kinderlos als Frauen. Auch sie schieben auf, bis es zu spät ist. Ich bin so ein später Vater. Meine Frau allerdings ist zehn Jahre jünger als ich. Als wir im Freundeskreis erzählten, dass wir ein Kind wollten, waren die Reaktionen recht verhalten. Ob meine Frau nicht noch viel zu jung sei? Da war sie 27.
Drei von vier Männern und Frauen schätzen einer Untersuchung der amerikanischen Patientenorganisation RESOLVE zufolge die Dauer der fruchtbaren Jahre falsch ein. Man geht davon aus, dass es mit 40 schwierig wird, richtiger wäre, von 35 auszugehen.
Die Bloggerin und Poetry-Slammerin Ninia LaGrande schrieb im Dezember 2013 einen wütenden Artikel darüber, dass ihre Frauenärztin sie darauf hingewiesen hatte, den Kinderwunsch nicht mehr allzu lange aufzuschieben. LaGrande ist 30 und empfand den ärztlichen Rat als Frechheit.
Dabei nimmt – Daten aus Inseminationsstudien zufolge – zwischen 25 und 30 die Empfängnisrate um über 10 Prozentpunkte ab, in den nächsten fünf Jahren noch einmal um 10 Prozent. Über 35-jährige Frauen haben bei Insemination nur noch eine knapp 50-prozentige Aussicht auf Empfängnis – soll die Frauenärztin das tatsächlich verschweigen?
LaGrande überschrieb ihren Blogbeitrag übrigens mit »Babys für die Gesellschaft«. Selbst eine Frauenärztin darf ihre Patientinnen also nicht darauf aufmerksam machen, dass sie sich falsche Vorstellungen von ihrer Fruchtbarkeit machen, ohne in den Verdacht zu geraten, auf Propagandatour fürs Mutterkreuz zu sein.
Jedes fünfte Baby wird mittlerweile von einer Erstgebärenden, die zwischen 35 und 45 Jahre alt ist, geboren. Im Genderreport des Bundesfamilienministeriums heißt es: »Bei dieser Entwicklung handelt es sich vermutlich nicht nur um eine Ausnahmeerscheinung, sondern aufgrund des kontinuierlichen und in den letzten Jahren sogar zunehmenden Trends möglicherweise um den Beginn einer ›Normalisierung‹ später Erstgeburten.« Spät oder nie – das ist die Frage. Denn alle späten Eltern riskieren, gar keine Eltern zu werden. Und wie will man eine große Familie gründen, wenn man erst mit Ende 30 anfängt?
Das ist natürlich kein rein deutsches Problem, die Tendenz zum Aufschieben findet man in allen Industrienationen. So wies etwa Sally Davies, oberste ärztliche Beraterin des englischen Gesundheitsministeriums, Anfang 2014 im Guardian nachdrücklich darauf hin, dass Frauen, die das Babykriegen aufschieben, riskieren, kinderlos zu bleiben. »Wir gehen alle davon aus, wir könnten später noch Kinder bekommen, aber tatsächlich könnten wir dazu nicht mehr in der Lage sein.« Die Kluft zwischen Wollen und Können ist so gigantisch, dass ungewollt Kinderlose inzwischen in andere Länder reisen, um sich die Eizellen fremder Frauen einsetzen zu lassen (was ja auf einen massiven Wunsch hindeutet), aber vorher Jahr um Jahr gewartet haben, weil sie glaubten, nicht eher zu können.
Warum dieses Spiel auf Zeit? Gegen die Zeit?
Die amerikanische Psychologin Jean Twenge bringt den Fakt ins Spiel, dass jedes Jahr, das eine Frau ihre Reproduktion verzögert, 10 Prozent mehr Gehalt bringt. Und auf einer Party erklärte mir eine junge Frau, mit der ich mich über dieses Buch unterhielt, Frauen würden den Fehler machen, auf den Mann zu warten, mit dem sie ihr Leben verbringen wollten. Sie müssten Liebe und Zeugung entkoppeln, sonst wäre es vielleicht irgendwann zu spät. Auch die israelische Soziologin Eva Illouz rät Frauen dazu, ihren Kinderwunsch nicht von Liebe abhängig zu machen. »Wenn ihr Kinder wollt, bekommt sie allein – oder in einer Gemeinschaft mit anderen Frauen, die ebenfalls Kinder wollen. Oder mit Männern, die Kinder wollen, aber nicht eure Partner sind. Es braucht keine traditionelle Familienstruktur, um Kinder aufzuziehen«, sagte sie 2011 dem Spiegel.