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Lesefieber

Als sie dann selbst lesen konnten, lasen meine Töchter manisch bis zügellos – von den Büchern zu Fernsehserien wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wendy«-Heften über »Gone With The Wind« bis zu den »Buddenbrooks«, gelegentlich sogar, wenn auch stirnrunzelnd und kopfschüttelnd, Bücher, die ihr Vater geschrieben hatte. Aber die

Wäre zu Pubertätszeiten meiner Töchter Leonardo DiCaprio als Apachenschönling angetreten, hätten vermutlich auch sie sich mit solcher Inbrunst in die dunkelgrünen Schwarten versenkt wie der etwa zwölfjährige Junge, der in Hannover mit seiner Mutter zugestiegen war und mir nun im ICE-Abteil gegenübersaß. Er hatte einen »Harry-Potter«-Band aus seinem schreiend roten Plastikrucksack gezogen, mit fieberhafter Unersättlichkeit zu lesen begonnen und sich von nichts und niemandem ablenken lassen – nicht von der draußen wintertrüb vorbeiziehenden Welt, nicht vom Angebot der durch die Zuggänge scheppernden Minibar, schon gar nicht vom Schaffner, der die Fahrkarten kontrollierte. Und selbst als seine Mutter ihm einen Apfel hinhielt, blickte er kaum auf, sondern griff traumwandlerisch abwesend danach, biss hinein und verschlang, nun kauend, weiter sein Buch. Er fuhr nicht von Hannover nach Bremen oder Oldenburg oder Norddeich Mole, sondern von einem Kapitel zum nächsten. Dazwischen lag der öde Gleichtakt der Schwellen und Schienen, den die Hochspannungsleitungen aufteilten, die Leere einer Welt, die ihn am Zielbahnhof wieder in Empfang nehmen würde. Inzwischen führte er ein Leben auf Fortsetzung, indem er den Abenteuern seiner Helden sein eigenes Dasein beimischte, ohne es zu bemerken.

Damals, in meiner Kindheit in den Fünfzigerjahren, die Stadtbibliothek

Und das, was auf dem Index stand, der Schmutz und Schund, also Tarzan, Akim, Sigurd und wie die Helden der schmalformatigen Comicserien alle heißen mochten, war in der Brücke nicht zu haben. Es gab jedoch einen Ort, an dem solche Schätze im Überfluss vorhanden waren; diese Leseschatzinsel lag in einer Wohnung in der Westerstraße. Ein Schulkamerad hatte das sagenhafte Glück eines Vaters, der sowohl Comichefte sammelte als auch alle, aber auch wirklich alle Bände Karl Mays besaß. Unsere Lektüre gab sich dort der grellen Kolportage so hemmungslos hin wie der Junge vor mir im Zug. Als ob man sich im Buch verbrannte. Die Seiten als Scheite, entflammt durch Lesende. Gibt es womöglich einen Zusammenhang zwischen Schmökern

Mein Vater rauchte – das heißt also: schmökte – zu dieser Zeit Senoussi-Zigaretten, auf deren orange grundierten Packungen Araber in wildromantischen, bunt gestreiften Burnussen abgebildet waren, sodass ich ein klares Bild davon gewann, wie ich mir Hadschi Halef und die anderen Orientalen vorzustellen hatte. Illustrationen zu den Wildwestgeschichten gab es als Sammelbilder in den Wilken-Tee-Packungen, die meine Mutter kaufte. Unten, im Parterre des Schmökerhauses in der Westerstraße, befand sich ein Wäscherei- und Heißmangelbetrieb, aus dessen Räumen Dampfschwaden nach oben in unsere Leseräusche drangen. Deshalb werden die Abenteuer Kara Ben Nemsis und Old Shatterhands in meiner Erinnerung stets von einem Aroma durchtränkt bleiben, das sich aus Waschlauge und Hoffmanns Universal Stärke, Teeblättern und dem scharfen Rauch von Senoussi-Zigaretten zusammensetzt.

Und

Eine bio-bibliografische Langnotiz

1.

Manchmal werde ich gefragt, welches der Bücher, die ich geschrieben habe, mir selbst am besten gefalle, mir am liebsten sei. Ich weiß darauf eigentlich keine Antwort; wahrscheinlich geht es mir da wie einem Vater mehrerer Kinder, der die Frage, welcher seiner Sprösslinge ihm denn der oder die liebste sei, nicht beantworten kann, ohne den anderen Unrecht zu tun – selbst wenn bei genauem Nachdenken und retrospektiv bedacht eins der Kinder, eins der Bücher vielleicht besser als ein anderes geraten sein mag.

Besonders am Herzen liegt einem Schriftsteller jedoch immer das zuletzt erschienene, das neueste Buch, zu dem er noch wenig Distanz hat, und dann natürlich immer auch das Erstgeborene, mit dem alles anfing. In meinem Fall war das die Novelle »Moos«, mit der ich als Schriftsteller debütierte, genauer gesagt: als Verfasser von Romanen und Erzählungen, als Belletrist also. Ich hatte zuvor nämlich durchaus schon geschrieben und publiziert, aber dabei handelte es sich um literaturwissenschaftliche, essayistische und journalistische Arbeiten, die zu einer Zeit entstanden, als ich noch gar nicht wusste, vielleicht noch nicht einmal hoffte, dass ich einmal Schriftsteller werden würde.

2.

Am entschiedensten erinnere ich mich an den Wunsch, ja geradezu Entschluss, eines Tages Maurer zu werden. Als in meinem Elternhaus zu Umbau- oder Renovierungsarbeiten einmal ein Trupp Maurer zur Sache ging, war ich derart begeistert, dass ich tagelang nicht von ihrer Seite wich und meine Mutter mir das Essen im Henkelmann aufwärmen musste. Was mich an dieser Arbeit so sehr faszinierte, weiß ich heute nicht mehr, aber, wer weiß, vielleicht ähnelt das geduldige Stein-auf-Stein-Setzen in gewisser Hinsicht meiner heutigen Tätigkeit, in der ich Wort an Wort

Dichter, Schriftsteller, Autor – oder wie immer man so einen merkwürdigen Beruf auch nennen mag – wollte ich jedenfalls durchaus nicht werden. Und dennoch verfasste ich als Elf- oder Zwölfjähriger meine ersten Gedichte. Und das kam so: Im Lateinunterricht hatten wir Fabeln des Äsop zu übersetzen, und mein Lateinlehrer, der ein leicht schrulliger, aber pädagogisch begabter Mann war, gab uns als Hausaufgabe auf, die entsprechende Fabel in Reime zu fassen. Ich hatte keine Ahnung, wie man Reime findet oder macht, aber mein Vater, ansonsten ein eher sachlich-unpoetischer Charakter, half mir dabei. Diese Vater-Sohn-Koproduktion begann mit den unsterblichen Zeilen:

Äsop, der konnte prima dichten,

erzählt uns meistens Tiergeschichten,

aus denen wir, sind sie gelesen,

stets ein Stück schlauer sind gewesen.

Das Versepos fand den Beifall meines Lateinlehrers, und ich musste von nun an immer wieder Übersetzungen aus dem Lateinischen in Versen liefern, was zwar meine mangelhaften Grammatikkenntnisse nicht verbesserte, aber ganz zweifellos eine mir bis dahin unbewusste poetische Ader schwellen ließ. Ab sofort dichtete ich ohne Hilfe meines Vaters weiter und rettete mich dank dieser Verse bis zur zehnten Klasse auf eine Vier in Latein – bis sich nichts mehr recht zusammenreimen wollte und ich mit zwei Fünfen, in Mathematik und, man kann es sich denken, in Latein sitzen blieb.

Dichter

Dichter werden wollte ich immer noch nicht, sondern, wir schreiben die späten Sechzigerjahre, eher Rockstar, da mir das seinerzeit als die Erfolg versprechendste Methode vorkam, mit meiner Liebeslyrik, die ich inzwischen auch zu selbst vertonten Weisen auf der Gitarre von mir gab, bei den Mädchen offene Ohren und Einlass zu finden. Auf dem Weg zum Rockstar verfasste ich reichlich radikalexistenzielle Songs in der hoffnungsfrohen Nachfolge meines Idols Leonard Cohen, von denen einer a-mollig, schwermütig so anhub:

Wenn die Sonne versinkt

und der Mond einst ertrinkt,

und die Schatten in dir werden Stein …

Tja, was dann? »Und die Schatten in dir werden Stein?« Wird man dann nicht doch lieber Maurer?

Oder

3.

Inzwischen war mir klar geworden, dass meine Zukunft der Germanistik gehörte, genauer: der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, in welcher Disziplin ich mit der Niederschrift einer Doktorarbeit begann. Als Thema hätte ich gern das Verhältnis von Rauscherfahrungen und literarischer

Ich begann also – aber ich kam nicht weit: Was immer ich zu Papier brachte, erschien mir leblos, langweilig, ohne jede Aussagekraft. Konnte man überhaupt Literatur, selbst so eindeutig populäre Literatur wie die Feuchtwangers, in wissenschaftliche Begrifflichkeit fassen? Mauerte man nicht das, was »das Literarische« war, in diesen Termini eher ein? Konnte man überhaupt »schön« und »richtig« voneinander trennen? Literatur war doch potenziertes Leben, Wissenschaft aber radiziertes. Wissenschaft lebte aus der Abstraktion, aus der Überwindung lebendiger Erfahrungsfülle durch Begrifflichkeit, während Literatur genau diese Erfahrungsfülle sprachlich darstellte. War Literaturwissenschaft am Ende nur die systematische Vertreibung des Literarischen aus der Literatur? Und wo blieb bei dieser Arbeit das Ich desjenigen, der sie schrieb, wo seine Lebendigkeit, seine Zweifel?

Ich

Die Dissertation war damit immer noch ungeschrieben, aber die hemmungslose Fabuliererei hatte mich offenbar so gelockert, dass ich die Arbeit nun angehen konnte. In forscher Missachtung sämtlicher Methodendiskussionen und anderer Literaturverderber, die ich mir im Laufe des Studiums hatte aneignen müssen, machte ich mich ans Werk. Und siehe da: Es ging. Es ging sogar gut, das Schreiben machte mir Spaß. Auch dieses Manuskript wurde lang und länger – und mir wurde bang und bänger, dachte ich daran, dass es bald Wissenschaftlern, denen Selbstzweifel fremd waren oder die sich ihre Selbstzweifel jedenfalls nicht anmerken ließen, zur Begutachtung unter die Augen kommen würde.

Ich hatte Glück. Mein Doktorvater, sein Name sei an dieser Stelle achtungsvoll genannt, Karl-Robert Mandelkow, ein bedeutender Goethe-Forscher, war ein liberaler Mann, der wohl Wert auf Genauigkeit legte, der aber auch wusste, dass ein gut und temperamentvoll formuliertes Fehlurteil der

Ganz unrecht hatte der Mann damit nicht. Zwar handelte es sich um eine wissenschaftliche Arbeit, doch war sie von einem angehenden Schriftsteller verfasst worden, der hier, ohne recht zu wissen, was er da tat und ließ, eigene ästhetische Haltungen und Verfahren erprobte und antizipierte. Da Professor Müller mit seiner Einrede nicht durchdrang, war ich nun promovierter Literaturwissenschaftler. Wegen des notorischen Stellenmangels an den Hochschulen war aber ein entsprechender Job nirgends in Sicht.

4.

Zu dieser Zeit war es, dass ich zum ersten Mal ernsthaft daran dachte, Autor zu werden, Publizist, Schriftsteller, Dichter gar. Denn das Schreiben der Dissertation hatte mir Spaß

Ich hielt mich einige Jahre als Texter in einer Werbeagentur über Wasser und versuchte nebenbei, mit dem Ernst zu machen, was ich während der Arbeit an der Dissertation als Mangel erfahren und zugleich gelernt hatte: Ich schrieb, ich erzählte, allerdings Langweiliges, denn was da zu Papier drängte, war nichts anderes als ein recht unmittelbarer Reflex auf mein Problem. Ich schrieb nämlich einen Roman über einen Literaturwissenschaftler, der zwischen Literatur und Wissenschaft aufgerieben wird, weil er der Wissenschaft misstraut und der Literatur noch nicht gewachsen ist. Die Sache war, bei genauem Hinsehen, peinlichste Betroffenheitsliteratur und zugleich hüftsteife Germanistenprosa. Immerhin und glücklicherweise war meine Fähigkeit zur Selbstkritik so weit entwickelt, dass ich die Sache entschlossen in den Papierkorb wandern ließ. Tagsüber erarbeitete ich unterdessen in der mich recht großzügig nährenden Werbeagentur sprachspielerische Preziosen wie diese: »Mach doch keinen Heckmeck, sonst schleck ich dich vom Fleck weg«, und abends und an den Wochenenden schrieb ich Essays, deren Form als Changieren zwischen Akten jäher Imagination und rationaler Durchdringung meiner Situation entsprach. Ja, kein Zweifel, ich wollte jetzt, wenn schon nicht Dichter, so doch Schriftsteller werden, und irgendwie war ich auch auf dem Weg dazu.

Im Sommer 1982 saß ich eines sonnigen Spätsommernachmittags

So begann ich noch am gleichen Abend mit einem Text, von dem ich vorerst nur wusste, dass er von Moosen handeln würde und wohl auch »Moos« heißen musste – nur dass ich von der Botanik des Mooses überhaupt keine Ahnung hatte. Ich recherchierte entsprechende Fachliteratur in Bibliotheken, und die Reibung zwischen der Trockenheit dieser Fachterminologie und der milden Vision, die mich an dem besonnten, moosigen Strand überkommen hatte, wurde zum Kraftfeld und zugleich Thema des Textes. Die Novelle »Moos« erzählt von einem alten Botaniker, dem gegen Ende seines Lebens die wissenschaftliche Terminologie und Nomenklatur fragwürdig und unbrauchbar wird, weil sie alles erklärt, aber nichts versteht. Und so kommt der Alte zum Schluss, ohne es recht zu wissen, ohne es recht zu wollen, zu einer neuen, fremden und doch vertrauten Sprache – zur Sprache der Literatur. Das Ende dieses fiktiven Alten war mein literarischer Anfang.

Der Text ist nicht sehr lang, aber ich brauchte ein Jahr, um ihn fertigzustellen. Anders als meine Dissertation, anders

Das Buch wurde ein sogenannter Kritikererfolg – das heißt, es bekam durchweg positive Rezensionen, verkaufte sich aber nur sehr mäßig. Der komplette Titel der Erstausgabe lautete übrigens: »Moos. Die nachgelassenen Blätter des Botanikers Lukas Ohlburg. Herausgegeben von Klaus Modick.« Dieser Titelzusatz war seinerzeit eine Idee des Verlegers gewesen, gegen die ich mich vergeblich wehrte. Mir kam das zu indirekt vor, vielleicht auch zu pompös. Es stimmt zwar, dass der Text mit einer Herausgeberfiktion arbeitet, aber ich kann glaubhaft versichern, dass ich mir das ganze Buch selbst ausgedacht und es auch selbst geschrieben habe, nicht nur das Vorwort des angeblichen Herausgebers. Dieser Zusatz hat zu dem kuriosen Missverständnis geführt, dass ausgerechnet mein Debüt in manchen Bibliotheken nicht unter meinem Namen katalogisiert wurde, sondern unter »Ohlburg, Lukas; Nachlassedition,

5.

Wichtiger als der Umgang mit derlei berufsnotorischer Autoreneitelkeit war die Frage, ob und wie ich als Schriftsteller überleben konnte, ohne zum armen Poeten zu werden – ob ich nicht nur vom Leben schreiben, sondern auch vom Schreiben würde leben können. In der Werbeagentur, der ich mit bedenkenlosem Größenwahn den Rücken kehrte, hatte ich relativ viel Geld verdient. Und da ich einen bescheiden-studentischen Lebensstil pflegte, hatte ich mir dank Ed von Schleck und Unox-Suppen nach Gutshausart ein finanzielles Polster zugelegt, mit dem ich etwa zwei Jahre ohne Einkommen auskommen konnte. Wenn es mir in diesen zwei Jahren, so mein Vorsatz, nicht gelingen sollte, mich auf dem literarischen Markt zu etablieren, würde ich zu den Unoxtöpfen der Werbung zurückkehren oder womöglich noch mein Zweites Staatsexamen absolvieren, um als Studienrat zu kärrnern und meine Eltern zu erfreuen, denen meine Existenz als Werbetexter nur windig vorgekommen war, meine Zukunft als Dichter aber unsolide, spinnert und aussichtslos erschien.

Nach einem Debüt muss das ominöse, angeblich besonders wichtige und angeblich besonders schwer gelingende, zweite Werk her. Ich begann mit Recherchen für einen umfangreichen Roman, dessen Arbeitstitel »Samoa Grau« hieß und aus dem später »Das Grau der Karolinen« wurde. Das

Da sich das zweite Buch jedoch nicht von selbst schreiben würde, griff ich auf jenes Manuskript zurück, das ich zu der Zeit verfasst hatte, während der ich eigentlich meine Dissertation hätte verfassen sollen. Ich arbeitete den Text um, indem ich aus der im Kern naiv-autobiografischen Reise- und Liebesgeschichte die ironische Geschichte einer Kopfreise machte, einer Fiktion in der Fiktion. Und das machte mir nicht nur Spaß, sondern erwies sich als Volltreffer. Unter dem Titel »Ins Blaue« wurde der Roman nicht nur freundlich rezensiert, sondern verkaufte sich auch überraschend gut, wurde später als Taschenbuch zu einem sogenannten Longseller, wurde auch vom ZDF zu einem so grottenschlechten Fernsehfilm verwurstet, dass ich die bei jeder Wiederholung eingehenden Filmtantiemen als Schmerzensgeld empfand. Das Buch machte sogar die Karriere, der sein Autor ausgewichen war, gelangte es doch auf die Lehrpläne einiger Gymnasien.

6.

Das wäre der Rede nicht weiter wert und könnte unter der Rubrik »Umstritten« abgeheftet werden, hätten die kritischen Reaktionen seinerzeit nicht eine Besonderheit gehabt, in der sich Fürsprecher und Verreißer bemerkenswert einig waren. Diese Besonderheit hieß: Postmoderne. Lobten die einen das Buch gerade wegen seiner angeblich postmodernen Qualitäten, lamentierten die anderen über den angeblich spielerischen Unernst der Postmoderne. Einig wussten sich fast alle Kritiker lediglich darin, dass »Das Grau der Karolinen« eben ein Werk der Postmoderne sei. Nur der Autor wusste mal wieder von nichts. Bis mir die einschlägigen Rezensionen unter die Augen kamen, hatte ich von Postmoderne nur ganz vage etwas gehört oder gelesen, hielt das für einen Stil- oder Epochenbegriff der Architektur und hatte nicht die leiseste Ahnung, dass es auch postmoderne Literatur geben sollte, ganz zu schweigen davon, dass ich selbst derartige Literatur produzierte.

Im

Wenn ich es recht verstand, war die Postmoderne aber etwas unendlich viel Komplizierteres, so kompliziert, dass ich es eigentlich gar nicht begriff, obwohl ich ein intellektuell durchaus belastbarer Mensch bin. Doch brachte mich die Beschäftigung mit diesen theoretischen Schaumschlägereien auf die Idee für ein neues Buch, das 1988 unter dem Titel »Weg war weg« erschien und die Gattungsbezeichnung »Romanverschnitt« trägt. Es handelt davon, wie einem ehrgeizigen Schriftsteller das Manuskript seines überaus ambitionierten, entschieden bis peinlich postmodernen Romans abhanden kommt. Während der Suche nach dem verschollenen Opus Magnum macht der Schriftsteller nun aber desillusionierende Erfahrungen mit dem wirklichen Leben,

Wichtiger als das Werk, weil das Werk bedingend, ist das Leben ohnehin. Meine ersten Bücher erwiesen sich zwar nicht als Ladenhüter, aber es waren auch keine Bestseller. Da ich inzwischen verheiratet war, zwei Kinder hatte und eine vierköpfige Familie durchbringen musste, reichten die Honorare aus den Buchverkäufen zum Überleben nicht aus. Da traf es sich gut, dass dem damaligen Literaturredakteur der »Zeit« mein Roman »Ins Blaue« so gut gefallen hatte, dass er mich zur Mitarbeit an seinem Blatt einlud. Ich schrieb nun regelmäßig Rezensionen und Kritiken und bekam auch eine eigene Kolumne. Damit wurde ich zu einem Schriftsteller, der sich nebenbei als Literaturkritiker betätigte, und da »Die Zeit« recht angemessene Honorare zahlte, kam ich halbwegs über die Runden.

Mit dieser Doppelrolle war ich eine Weile sehr einverstanden und zufrieden, bis ich eines Tages bei einer Lesung aus »Weg war weg« mit den Worten vorgestellt wurde, ich sei ein Literaturkritiker, der nebenbei Romane schreibe. In der Wahrnehmung der literarischen Öffentlichkeit hatte sich das Verhältnis umgekehrt, was mein Selbstverständnis nachhaltig erschütterte. Wie es zu dieser Verkehrung kommen konnte, verstand ich sehr wohl: Als Kritiker der »Zeit« hatte ich ein größeres Publikum, als ich es als Autor meiner eigenen Werke hatte. Dichter hatte ich zwar nicht werden wollen – und war es dennoch geworden. So weit, so gut. Aber dass sich der Dichter nun zum Kritiker verpuppen sollte, erschien mir als schnöder Triumph des Sekundären. Der

Wer Autor ist und sich auch als Kritiker auf den Markt wagt, dem wird über kurz oder lang von den Berufskritikern das um die Ohren gehauen, was er selbst irgendwo als Kritiker geäußert hat – als ob die von einem Schriftsteller verfasste Literaturkritik automatisch dessen ästhetisches Credo sein könne oder solle. Konkret sah das dann so aus: Ich hatte einen Roman des Autors X negativ besprochen, was der den Autor X verehrende Kritiker Y übel vermerkte, um meinen nächsten Roman unter der Fragestellung zu verreißen: Kann er es besser als X? Womit ich in einem Aufwasch sowohl als Schriftsteller als auch als Kritiker blamiert werden sollte. Der Schuster bekam Prügel, weil er nicht bei seinen verordneten Leisten geblieben war.

Ich machte immer deutlicher die Erfahrung, dass regelmäßig betriebene Literaturkritik jenes undankbare Geschäft ist, das Charles Simmons in seiner Literaturbetriebssatire »Belles Lettres« auf diesen knappen Begriff gebracht hat: Kritik ist »eine Methode, alte Freundschaften zu ruinieren oder sich neue Feinde zu schaffen«. Und so ließ ich es bleiben. Fast. Zwar schrieb ich auch später noch gelegentlich

Was mir in Folge an Rezensionshonoraren entging, machte ich dadurch wett, dass ich Übersetzungen aus dem Englischen anfertigte, was ich heute immer noch tue, zum Beispiel den eben zitierten Charles Simmons. Machart und Feinstruktur eines fremden Textes lernt man als Übersetzer besser kennen als durch bloße Lektüre, und da lässt sich so mancher Honigtropfen fürs eigene Werk saugen.

7.

Anfang der 1990er-Jahre schrieb ich mit den beiden Romanen »Die Schrift vom Speicher« und »Das Licht in den Steinen« sowie den fünfzig Sonetten »Der Schatten den die Hand« wirft drei thematisch und sprachlich eng miteinander korrespondierende Bücher, die ich stets als eine Art Trilogie empfunden habe – leider erwies sie sich als Trilogie der Unverkäuflichkeit. Es waren handlungsarme, fast monologische, introvertierte, nicht unbedingt leicht lesbare Bücher, die mir zwar viel Kritikerlob einbrachten, die Bestenliste des SWF zierten – auf dem Markt jedoch gründlich durchfielen und mich finanziell praktisch ruinierten. »Die Schrift vom Speicher« hat bis heute etwa 2000 Stück verkauft, »Das Licht in den Steinen« 1600 und »Der Schatten den die Hand wirft« knapp 800 (was jedoch, wie ich von Lyrikern höre, für Lyrik fast schon als Bestseller gilt).

Indem ich diese erschütternden Zahlen nenne, gehe ich naiverweise

Mit meiner Trilogie der Unverkäuflichkeit stand ich jedenfalls vor der Alternative, entweder den Bettel hinzuschmeißen, zurück in die Werbung zu gehen oder doch noch Studienrat zu werden, um nach Feierabend und in den Ferien weiter derartige Kunststücke zu produzieren, oder aber

Ich vollzog jedenfalls die Rückkehr von der schwer lesbaren, vermutlich auch überambitionierten Preziose zu einer eher plot-orientierten, unpeinlich-unterhaltsamen Erzählliteratur, die meinem Erzähltemperament gemäß war. In einer Diskussionsrunde wurde ich einmal gefragt, ob das, was ich schreibe, mehr U oder mehr E sei, eher Unterhaltung oder eher Seriös-Ernsthaftes. Das ist eine in Deutschland ungemein beliebte, literaturfremde Kategorisierung, die meistens von Leuten vorgenommen wird, die weder von U noch von E die leiseste Ahnung haben. »Weder … noch«, antwortete ich. »Ich mache Ü!« Diese Kurskorrektur zum Ü, dem ich bis heute treu geblieben bin, sagt vielleicht auch etwas darüber aus, wie das sogenannte Familienglück nicht nur die materielle Existenz von Autoren bestimmt, sondern auch deren Schreibweisen und Stil beeinflussen kann. Jene drei Bücher waren meine Sorgenkinder.

Wenn ich darüber rede, dass meinem Werk Rücksichtnahmen auf meine familiäre Situation eingeprägt sind wie Wasserzeichen in Geldscheine, will ich nicht davon schweigen, dass Familienleben und besonders die Erfahrungen, die ich mit Kindern gemacht habe, mir Stoffe und Inspiration geliefert haben und ein wichtiges Motiv meines Werks wurden. Die Romane »Der Mann im Mast«, »Vierundzwanzig Türen« und »September Song« speisen sich zumindest teilweise aus solchen Erfahrungen, und mit dem »Vatertagebuch«, einem Journal des Jahres 2004, habe ich schließlich den Versuch gemacht, diese Thematik ohne Fiktionalisierung anzugehen, mit offenem Visier.

Für literarische Agenten bin ich längst zu einem hochinteressanten Autor geworden, und zwar deshalb, weil ich keinen Agenten habe. Agenten wollen von den Autoren immer nur das Beste – nämlich 15 % Anteil an den Honoraren und Tantiemen. Mit dem »Kaufmann im Dichter« habe ich aber im Lauf meiner Karriere so nachdrücklich Bekanntschaft gemacht, dass ich mir auch ohne Agenten eine halbwegs gesunde Mischkalkulation zusammenbastele, die mich auf bescheidenem Niveau nährt. Zu den Buchtantiemen kommen die Übersetzungshonorare; ich schreibe gelegentlich Artikel in Zeitungen und Zeitschriften und Beiträge für den Rundfunk; dank meines akademischen Hintergrunds werden mir manchmal Gastdozenturen angetragen. Hilfreich sind und waren auch Stipendien und

8.

Ohne die Geduld und Unterstützung meiner Frau wäre das alles unmöglich gewesen. In seinem autobiografischen Buch »On Writing« hat Stephen King angemerkt: »Immer, wenn ich einen Debütroman sehe, der einer Ehefrau oder einem Ehemann gewidmet ist, muss ich lächeln und denke: Da weiß also jemand Bescheid. Schreiben ist ein einsames Geschäft. Wenn man dabei aber jemanden zur Seite hat, der an einen glaubt, erleichtert das die Sache entscheidend. Diese Person muss gar keine großen Reden schwingen. Vertrauen reicht normalerweise schon.« In meinem Falle heißt diese Person Jamie, der mein Debüt »Moos« gewidmet ist.

Als wir uns 1980 auf Kreta kennenlernten, ist sie einmal an dem Cafétisch vorbeigekommen, an dem ich gerade saß und etwas notierte. Sie ist stehen geblieben und hat gesagt: »Hi, what are you doing there?« Und ich hab sie angesehen und ebenso wahrheitsgemäß wie bescheuert geantwortet: »I’m writing a poem.« Später hat sie mir gestanden, dass sie

Zur Entstehung der Romane »Ins Blaue« und »Das Grau der Karolinen«

Ich kenne keine Künstler.

Ich kenne nur Leute, die hart arbeiten.

Jacques Brel

26.2.1983 (Hamburg)

Als Kind habe ich eine gewisse Lust am Lügen empfunden. Ist dem die Lust verwandt, etwas zu erzählen?

12.4.1983

Im Gespräch mit M. J. F. und M. H. über Wirkungsgeschichte und Rezeptionsästhetik ging mir auf, wie unbefriedigend diese Methoden bleiben müssen. Nicht nur, dass sie den Forscher oder Historiker von eigener Interpretationsarbeit suspendieren, indem sie ihn zum bloßen Sichten, Sammeln und Sortieren dessen einladen, was zuvor über die betreffenden Werke geschrieben wurde (also Wirkungsgeschichte als Krisenmanagment einer orientierungslosen Literaturwissenschaft,

Nun hat diese These durchaus manches für sich, versteht man sie wie Benjamin: »Das Schöne ist seinem geschichtlichen Dasein nach ein Appell, zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. Das Ergriffenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer das Sterben nannten. Der Schein im Schönen besteht für diese Bestimmung darin, dass der identische Gegenstand, um den die Bewunderung wirbt, in dem Werke nicht zu finden ist. Sie erntet ein, was frühere Geschlechter in ihm bewundert haben. Es ist ein Goethewort, das hier der Weisheit letzten Schluss lautbar macht: ›Alles, was eine große Wirkung getan hat, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden.‹«