Thomas Schäfer

Wie aus Leiden wieder Liebe wird

Mann und Frau aus Sicht des Familien-Stellens

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Thomas Schäfer

Thomas Schäfer, geb. 1960, arbeitet seit vielen Jahren als Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Psychotherapie und Familienaufstellungen. Alle seine Bücher sind bei MensSana erschienen.

Über dieses Buch

Thomas Schäfer wendet sich mit diesem Buch zentralen Fragen der Beziehung zwischen Mann und Frau zu und zeigt, wo die seelischen Ursachen von Paarkonflikten liegen. Was hilft weiter bei ständigen Streitereien oder wenn es im Bett nicht mehr richtig klappt?

Wie können Patchwork-Familien funktionieren?

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2009 Knaur Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Lay

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: mauritius images; imagebroker/Günter Lenz

ISBN 978-3-426-41856-7

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Fußnoten

1

Thomas Schäfer: Was die Seele krank macht und was sie heilt – Die psychotherapeutische Arbeit Bert Hellingers, München 1998 und 2000.

2

Ich verwende die großen, schweren Holzfiguren, die meine Kollegin Helga Mack-Hamprecht entwickelt hat (»Strukties«). Früher habe ich in der Einzelarbeit mit Papierscheiben gearbeitet.

3

Robert Bly: Eisenhans – Ein Buch über Männer, München 1993, S. 136 f.

4

In solchen Situationen hat es sich bewährt, die Reihe der männlichen Ahnen dazuzustellen. Oft kann der Mann dann doch noch seinen Vater nehmen. In Erwins Aufstellung bot sich dies jedoch nicht an.

5

Bert Hellinger: Liebesgeschichten zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern und der Welt, München 2006, S. 231.

6

Neben dem körperlichen Orgasmus gibt es bei beiden Geschlechtern auch psychische Orgasmen!

7

Ausführlicheres zu diesem Thema findet sich in meinem Buch Was die Seele krank macht und was sie heilt, a.a.O., S. 116 ff.

8

Vgl. das Kapitel »Tinnitus« in Thomas Schäfer: Was den Körper krank macht – Wege zur Gesundheit durch Systemische Aufstellungen, München 2006.

9

Zur Zeit dieser Aufstellung hatte es sich der Seminarleiter zur Gewohnheit gemacht, jeden Teilnehmer nach seinem bedeutendsten Kindheitsmärchen zu fragen. Gleich, ob man sie geliebt oder gehasst hat, lassen diese Märchen oft einen tiefen Blick auf das verborgene Familienskript werfen. Das ist auch Thema meines Buchs Wenn Dornröschen nicht mehr aufwacht – Bekannte Märchen aus Sicht von Bert Hellingers Familienaufstellungen, München 2001.

10

Das ist zwar ein völlig unübliches Vorgehen im Familien-Stellen, aber in bestimmten Situationen hat es sich bewährt. Die Angst, dass die Aufstellung durch diese Maßnahme Kraft verliert, ist unbegründet.

11

Leider wird sogar in Traumatherapie-Ausbildungen nicht auf diese Zusammenhänge hingewiesen.

12

Hellinger: Liebesgeschichten …, a.a.O., S. 231.

13

Auf Jeans Geschichte bin ich ebenfalls eingegangen in Was den Körper krank macht, a.a.O., S. 155 ff.

14

Zahlreiche Menschen haben gute Erfahrungen mit dem lauten Lesen von Bert Hellingers »Dank am Morgen des Lebens« gemacht, der hilft, die eigenen Eltern zu nehmen (siehe beispielsweise Schäfer: Was die Seele krank macht und was sie heilt, a.a.O., S. 81 ff.).

15

Oft ist es sinnvoll, dem Partner den Hergang einer Aufstellung zu berichten, vor allem wenn man gemeinsame Kinder mit ihm hat. In Bezug auf die Herkunftsfamilie jedoch hat es sich bewährt, nicht mit den Eltern über Aufstellungen zu reden. Die Gefahr, »zum Therapeuten der Eltern zu werden«, ist zu groß.

16

Die Warzenbehandlung mit Hypnose ist beschrieben in meinem Buch Was den Körper krank macht, a.a.O., S. 59 ff.

17

Siehe zum Beispiel den afrikanischen Todesfluch, den ich beschrieben habe in meinem Buch Wenn Liebe allein den Kindern nicht hilft – Heilende Wege in Bert Hellingers Psychotherapie, München 2004, S. 155 ff.

18

Eine Fülle von solchen Beispielen findet sich in meinem Buch Wenn Liebe allein den Kindern nicht hilft, a.a.O.

19

Ingrid Dreeken und Walter Schneider (Hg.): Die schönsten Sagen der Neuen Welt, München 1972.

20

Überarbeitet übernommen aus Schäfer: Was den Körper krank macht, a.a.O., S. 141 f.

21

Zum Thema Tiere siehe Schäfer: Was den Körper krank macht, a.a.O., S. 193 ff.

22

Entnommen aus Schäfer: Was den Körper krank macht, a.a.O., S.64ff.

23

Kerstins weiterer Heilungsprozess wird hier nicht dargestellt. Vgl. Schäfer: Wenn Liebe allein den Kindern nicht hilft, a.a.O., S. 119 ff.

24

Vgl. auch das Kapitel »Adoption« in Schäfer: Wenn Liebe allein den Kindern nicht hilft, a.a.O., S. 54 ff.

25

Vgl. Bert Hellinger: Die Quelle braucht nicht nach dem Weg zu fragen – Ein Nachlesebuch, Heidelberg 2001, S. 162.

26

Allgemein auf das Thema »Märchen und Familienskript« bin ich eingegangen in meinem Buch Wenn Dornröschen nicht mehr aufwacht, a.a.O. Hier findet sich auch die ausführlichere Darstellung von Jonathans Geschichte (S. 230242).

27

Der Abdruck der Briefe erfolgte mit Jonathans Zustimmung zum ersten Mal in Schäfer: Wenn Dornröschen nicht mehr aufwacht, a.a.O., S. 33 ff.

28

Vgl. die Reihe von psychosomatischen Beispielen in Schäfer: Was den Körper krank macht, a.a.O., Kapitel 15: »Stellvertretendes Leiden in Paarbeziehungen«.

29

Es sollen hier keine Missverständnisse entstehen: Verantwortungsvoll eingesetzt, ist die Kinesiologie eine wertvolle Methode.

30

Aus August von Löwis of Menar (Hg.): Finnische und Estnische Märchen, München 1962.

31

Christian Thiel: »Morgengruß, Abendtraum – Am Anfang funktioniert man nur – Wie eine Frau den Suizid ihres Mannes zu bewältigen versucht«, Süddeutsche Zeitung vom 30. Juni 2001.

32

Meinem Kollegen Albrecht Mahr kommt das Verdienst zu, als Erster diesen Zusammenhang aufgedeckt zu haben.

33

Um solche schädlichen Glaubenssätze aufzulösen, müssen sie ausgesprochen werden, damit der Klient sieht, wie verrückt sie sind.

Dank

Allen Paaren und allen Frauen und Männern, die zur Paarberatung zu mir gekommen sind, möchte ich für das entgegengebrachte Vertrauen danken. Zu ihrem Schutz wurden Namen, Orte und unwesentliche Einzelheiten im Text verändert.

Ein Buch über Mann und Frau kann man nicht schreiben, ohne tiefe eigene Erfahrungen gemacht zu haben. In Liebe und Dankbarkeit fühle ich mich den Frauen verbunden, die ein Stück meines Lebenswegs geteilt haben. Zehn Jahre davon begleitete mich meine verstorbene Frau Elisabeth, mit der ich zwei Kinder habe. Auch meiner jetzigen Ehefrau Christine danke ich für ihre Liebe und ihr Verständnis. Darüber hinaus haben ihre Änderungen den Text noch eingängiger gemacht.

Gedankt sei schließlich meinem Freund und Kollegen Wolfgang Kasper, der wie immer kritische fachliche Rückmeldungen zum Manuskript gegeben hat, und auch Norbert Linz, der mir Hinweise zur Titelfindung gab.

Schließlich danke ich Bert Hellinger für alles, was ich bei ihm in den letzten fünfzehn Jahren lernen durfte.

Inhalt

Zur Einführung 9

 

Über systemische Aufstellungen

und »Bewegungen der Seele« 16

 

Wie wird eine Frau eine Frau

und ein Mann ein Mann? 21

 

Ebenbürtigkeit und gemeinsames Wachstum 33

 

Sexualität 46

Das Geheimnis der Sexualität 46

Acht wertvolle Hinweise für eine erfüllte Sexualität 50

Angst vor Nähe und Sexualität 53

Sexuelle Probleme 56

Homosexualität 70

 

Treue und Untreue 77

Seitensprünge 77

Dreiecksbeziehungen 98

 

Wut auf den Partner 105

 

Eltern und Schwiegereltern 121

 

Frühere Partner und wie sie weiterwirken 134

Kinder und Partnerschaft 143

Die Bedeutung von Kindern 143

Gewollte und ungewollte Kinderlosigkeit 147

Abtreibung 160

Behinderte Kinder 173

Künstliche Befruchtung und Sterilisation 179

 

Patchworkfamilien 185

Adoptionen aus »sozialen« Gründen in Patchworkfamilien 195

 

Schicksalsschläge in der Partnerschaft 198

Krankheiten und verstorbene Kinder 198

Eine Behinderung des Partners 207

 

Schweres aus der Familie belastet die Beziehung 210

 

Wenn man dem Partner Probleme »stiehlt« 221

 

Wie man sich richtig trennt 236

 

Scheidung und Kinder 253

 

Der Tod des Partners 257

 

Andere Belastungen für die Partnerschaft 269

 

Anhang 281

Literatur 281

Adressen 283

Zur Einführung

Niemand kann uns so viel Glück und Ekstase schenken, aber auch so viel Leid und Schmerz zufügen wie eine geliebte Frau oder ein geliebter Mann. In keiner anderen menschlichen Beziehung öffnen wir unser Herz so tief für die Liebe und damit auch für das Leid wie in der Partnerschaft.

Wenn Liebe gelingt, hilft sie uns, durch den anderen eine seelische Einheit zu erfahren, wie wir sie zuletzt im Mutterschoß erlebt haben. Nach dem Rausch des ersten Liebesglücks erkennen wir jedoch recht bald, dass die Erfahrung des anderen uns helfen soll, die Ganzheit in uns selbst zu finden und nicht in der Symbiose. So widersprüchlich es klingt: Indem wir uns liebevoll abgrenzen und auch die eigenen Bedürfnisse achten, werden wir selbst seelisch stärker und anziehender für den Partner. Symbiotische Beziehungen dagegen verharren auf der Mutter-Kind-Ebene und verhindern seelisches Wachstum.

Keine anderen zwei Dinge beschleunigen die seelische Entwicklung des Menschen so stark wie Partnerschaft und Elternschaft. Beides hält uns dauernd einen Spiegel vor und zwingt uns, oft durch Schmerz, auf dem Weg voranzugehen. Dort, wo schier unüberbrückbare Hindernisse auftauchen, braucht es zuweilen eine Hilfestellung. Davon erzählt dieses Buch. Der Schwerpunkt liegt hier auf den familiensystemischen Hintergründen von Paarproblemen.

Scheinbar oberflächliche Alltagsprobleme eines Paares lassen sich gerade deshalb oft nicht in einer Gesprächs-Paartherapie oder Verhaltenstherapie lösen, weil der ständige Streitpunkt, beispielsweise »mangelnde Mithilfe im Haushalt« oder die schmutzigen Schuhe, die »er« immer auszuziehen vergisst, fast immer für etwas anderes stehen. Wegen schmutziger Schuhe löst man letztlich keine Ehe. Neue Verhaltensabsprachen für Paare oder neue Zeitpläne sind zwar nützlich, aber sie helfen nichts, wenn zum Beispiel die Ehefrau ihrer bei der Geburt verstorbenen Zwillingsschwester in den Tod nachfolgen will. Solche tieferen Hintergründe aufzudecken und immer das Familiensystem als Ganzes in den Blick zu nehmen, ist die Aufgabe der systemischen Paartherapie.

Wo ein Paar innerlich steht, merkt man oft schon nach wenigen Minuten: Haben sie miteinander Körperkontakt? Berühren sie sich manchmal an den Händen? Schauen sie sich an – und auf welche Weise? Welche Innigkeit kommt im Blick zum Ausdruck? Fließt hier noch Liebe? Unterbricht einer den anderen im Sprechen? Traut sich einer von beiden nicht, seine Meinung zu sagen, weil der andere zu sehr im Vordergrund steht? Wie begrüßt sich ein Paar, wie verabschiedet es sich? Wie viel Zeit nehmen sie sich dafür und wie viel Zeit für Zärtlichkeit? Kommt das Berufliche immer an erster Stelle? Wie viel Routine hat sich zwischen den beiden schon eingeschlichen? Liebe will im Alltag gepflegt werden und nicht wie ein Baum sich selbst überlassen bleiben!

Manchmal begrüße ich ein Paar an der Praxistür und bin mit einer unsichtbaren Mauer konfrontiert, die die beiden mit hereinbringen. Indem man sich in der Seele einem Paar voll öffnet, kann man zuweilen körperlich wahrnehmen, wo es momentan steht.

Bert Hellinger hat einen schönen Satz formuliert, den Paare sich in solch schwierigen Situationen sagen können: »Ich liebe dich, und ich liebe das, was mich und dich führt.« Wenn man sich dem ganz aussetzt, was einen selbst führt und was den anderen führt, erkennt man manchmal in kürzester Zeit, dass die Beziehung vorbei ist oder dass man erst am Anfang steht und mit Freude auf die noch zu bewältigenden Probleme schauen kann, die vor einem liegen.

 

Es gibt Menschen, die genau wahrnehmen, was sie führt und was die eigene Seele ihnen sagt, die aber dennoch nicht danach handeln. Eine ältere Dame erzählte: »Noch bevor wir damals am Traualtar standen, wusste ich ganz tief in meinem Inneren, dass ich diesen Mann nicht heiraten darf, weil wir überhaupt nicht zusammenpassen. Alles, was ich befürchtet hatte, ist später eingetreten.«

»Und warum haben Sie sich dann nicht bald von ihm getrennt?«, fragte ich.

»Das wollte ich weder meinem Mann antun noch meinen Eltern, noch meinen Schwiegereltern …«

Ich bat die Frau, vor den Spiegel im Besprechungszimmer zu treten, hineinzusehen und laut zu sagen: »Ich habe auch eine Fürsorgepflicht für mich selbst.«

Sie blickte sich an, öffnete den Mund, um zu sprechen, doch es kamen ihr nur Tränen aus den Augen … all die ungeweinten Zähren ihrer Seele, um die sie sich nicht ausreichend gekümmert hatte.

Als sie wieder auf dem Stuhl saß, erzählte sie, wie schwer sie es mit ihrem herrischen Mann habe, aber dass es jetzt zu spät für eine Trennung sei. In ihrem Alter »macht man so etwas nicht mehr«. Ich erklärte ihr, dass jeder für alle Handlungen und Nichthandlungen die volle Verantwortung übernehmen müsse. So brauche man sich hinterher nicht zu beklagen.

Wieder vor dem Spiegel, konnte die Frau dann in überzeugender Weise sagen: »Ich zahle den Preis für meine schwierige Ehe gern. Ich bleibe bis zum Schluss. Ich stehe dazu.« Das ist der Weg vom »Man« zum »Ich«: Was »man« macht oder nicht, ist vor der Seele belanglos; es zählt, wie sich das Ich dazu in bewusster Auseinandersetzung stellt.

Diese Frau hatte den »abfahrenden Zug« verpasst. Jetzt steht sie zu ihren eigenen Fehlern und beginnt, die Ursachen ihrer Probleme auch bei ihrem eigenen Nichthandeln und ihrer Bequemlichkeit zu suchen und nicht immer nur anderen die Schuld zu geben. Wer stets Dritte für seine eigenen Schwierigkeiten verantwortlich macht, der geht den billigen Weg. Vielleicht hilft dieses Buch dem einen oder anderen, deutlich zu spüren, was die eigene Seele erwartet.

 

Das Mann-Frau-Verhältnis ist auch die Beziehung zwischen einem fortwährenden gegenseitigen Geben und Nehmen. Wenn es hier zu Einseitigkeiten kommt, gerät das Paar bald in eine Schieflage. Verstehen es die beiden, regelmäßig in das Schatzkästlein der Liebe etwas hineinzutun? Die kleinen Zärtlichkeiten im Alltag prägen unsichtbare »Goldstücke der Liebe«, welche das Kästchen immer gut füllen. Mit solch einem prallen Kapital kann man auch Krisen durchstehen. Es gibt aber Paare, die sich, ohne dass sie es bemerken, in einer ständigen Abwärtsspirale befinden. Die Streitereien im Alltag werden immer heftiger, die Wortwechsel entgleisen nach und nach in Beschimpfungen übelster Art, und in den kurzen Phasen der Versöhnung wird keine wirkliche »Auffüllung der Schatzkiste« vorgenommen, sondern die beiden gehen schnell wieder in den Alltagstrott über.

Das vom Gesetzgeber verwendete Wort von der »Zerrüttung der Ehe« bringt dies recht treffend zum Ausdruck. Aber ab einem bestimmten Ausmaß von seelischer Verletzung und einem längeren Zeitraum der Zerrüttung kann auch der beste Paartherapeut nichts Helfendes mehr anstoßen. Die Schatzkiste ist leer: Unten am Boden hat sich mit der Zeit ein Loch gebildet – es ist nicht mehr möglich, »Liebestaler« anzuhäufen, denn das Paar hat die ihm zur Verfügung stehende Zeit nicht genutzt. Der gute Wille kommt am Ende für manche zu spät. Doch glücklicherweise trifft man zuweilen auf Paare, die auch im Alter noch immer aus dem Vollen zu schöpfen vermögen, weil sie im Alltag nie damit aufgehört haben, einander Achtung und Liebe zum Ausdruck zu bringen.

Jede Beziehung ist in einen Zeitrhythmus eingebunden. Wenn sich Mann und Frau nicht nach und nach auf ein immer größer werdendes Geben und Nehmen einlassen, stirbt etwas in der Partnerschaft. Wir haben eben nicht unendlich viel Zeit, um unsere Vision zu verwirklichen. Unsichtbar, aber doch spürbar, gibt es für alle Schritte in der Paarbeziehung – zum Beispiel das Zusammenziehen, eine Heirat oder die Entscheidung für Kinder – einen begrenzten Zeitrahmen. Wer über fünfzehn Jahre hinweg der Freundin die Eheschließung verweigert oder nein zu Kindern sagt, der sagt letztlich nein zum anderen. Die Beziehung gelangt dann in die Abwärtsspirale. Oft kann man ganz genau spüren, wann solche anstehenden Entwicklungsschritte verweigert werden und welche Folgen das hat.

Diese Fortschritte haben mit der teilweisen Aufgabe von Eigenem zu tun. Partnerschaften können gelingen, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, Eigenes aufzugeben für den anderen: Inwieweit bin ich willens, ein Opfer zu bringen, auch wenn dies schmerzhaft für mich wird?

Ebenfalls zur Paarbeziehung gehört die Bereitschaft, auf die »Rückseite der Probleme« zu schauen: Viele der Geschichten des Buchs zeigen eindringlich, warum wir ausgerechnet diesen einen Partner ausgewählt haben, unter dem wir scheinbar so sehr zu leiden haben, und warum wir gerade ihn brauchen. Jede Partnerschaft will uns hinweisen auf unvernarbte seelische Wunden, die wir noch aus der Herkunftsfamilie in uns tragen. Erst wenn wir bereit sind, die Paarbeziehung als Schlüssel zur Heilung all unserer zurückliegenden familiären Verletzungen zu nutzen, beginnt aus einem »unmöglichen« Partner ein wundervoller Mann oder eine wundervolle Frau zu werden, denn er bzw. sie braucht uns nun keinen Spiegel mehr vorzuhalten.

 

Viel Raum in diesem Buch nimmt die Sexualität ein. Auch Paarübungen zur Vertiefung der sinnlichen Erfahrung findet der Leser. Zur seelischen Intimität zwischen Mann und Frau führt jedoch nicht nur die Sexualität, wie viele glauben, sondern darüber hinaus die Bereitschaft, sich gegenseitig zu dienen. Wenn Mann und Frau spüren, dass der andere bereit ist, auf vieles zu verzichten, dann öffnen sich die Herzen immer tiefer. Was ehrt den anderen mehr als das Versprechen, meine Bedürfnisse einem Größeren unterzuordnen und eigene Interessen aufzugeben? Das Geheimnis der gelungen Paarbeziehung liegt in der Bereitschaft zum Opfer für das Gemeinsame und in der Fähigkeit, sich in Vertrauen dem Partner hinzugeben.

Menschen können sich sexuell begegnen, doch ihr Herz bleibt verschlossen. Betrachtet man die Paarbeziehung aus einem spirituellen Blickwinkel, dann soll sich das Liebesleben mit der gegenseitigen Opferbereitschaft verbinden. Die Gründung eines Hausstands, die gemeinsame Erziehung der Kinder, finanzielle Krisen, Krankheit eines Kindes oder eines Partners: Alles wird leicht, wenn man bereit ist, für das gemeinsame Ziel Eigenes aufzugeben und in die Beziehung einzubringen. In diese Richtung geht, was sich Mann und Frau bei der Eheschließung sagen, wenn sie sich geloben, dass sie zueinanderstehen »in guten wie in schlechten Zeiten«. Der Appell an Geduld und Rücksichtnahme scheint nicht mehr zum heutigen Zeitgeist zu passen. Doch die Paarbeziehung untersteht seelischen Gesetzen, die sich nicht um Zeitgeist und Modernität kümmern.

Eine andere wichtige Voraussetzung für die Liebe zwischen Mann und Frau ist die Selbstliebe. Wie soll ich einen anderen Menschen in der Tiefe achten und lieben, wenn ich dies nicht für die eigene Person vermag? Auch davon erzählt dieses Buch. So ist jede therapeutische Arbeit, die man für sich selbst tut, immer auch ein Dienst an unseren Beziehungen.

Über systemische Aufstellungen und »Bewegungen der Seele«

Einem Buch wie diesem müsste eigentlich ein umfangreiches Kapitel über die systemische Arbeit Bert Hellingers vorangestellt werden. Angesichts der weiten Verbreitung der von ihm entwickelten Methode des Familien-Stellens kann hier aber auf eine ausführliche Darstellung verzichtet werden. Als einführende Lektüre sei auf mein Buch Was die Seele krank macht und was sie heilt[1] verwiesen. An dieser Stelle sollen nur die wesentlichen Aspekte zur Vorgehensweise aufgezeigt werden.

Zwar lassen sich Aufstellungen auch mithilfe von Papierscheiben und Holzfiguren[2] in der Einzeltherapie durchführen, doch die wesentlich kraftvollere Möglichkeit ist das Aufstellen in der Gemeinschaft. Nachdem der Ratsuchende vor dem therapeutischen Begleiter und der Gruppe kurz sein Anliegen geschildert hat, entscheidet der Therapeut, auf welche Weise das Ganze durchgeführt werden kann. Nicht immer wird die vollständige Familie aufgestellt. Falls einzelne ihrer Mitglieder infrage kommen, wählt der Betreffende sowohl für seine Verwandten als auch für sich selbst Stellvertreter aus der Gruppe aus und stellt sie nach seinem inneren Bild auf.

Anschließend setzt er sich. Immer wieder zeigt sich dann, dass völlig Fremde genau darstellen können, wie sich das jeweilige Familienmitglied in der Tiefe fühlt. Was häufig sichtbar wird, ist die bislang verborgene seelische Dynamik hinter einer Krankheit, einem Paarproblem oder einer psychischen Störung.

Nachdem der Seminarleiter durch verschiedene Schritte eine Lösung gefunden hat, kann der Ratsuchende sich oft auch selbst an seine Position stellen. Am Schluss ist es für ihn zuweilen notwendig, bestimmten Personen noch etwas Wichtiges mitzuteilen.

Sofern es nicht ausdrücklich anders gesagt wird, ist im Text mit Bezeichnungen wie »Partner«, »Ehefrau« oder dem Namen des Aufstellenden immer der betreffende Stellvertreter gemeint. Wenn ein Ratsuchender selbst in die Aufstellung tritt und damit seinen eigenen Platz einnimmt, wird besonders darauf hingewiesen.

 

Das Familien-Stellen hat sich in jüngerer Zeit weiterentwickelt zu den »Bewegungen der Seele« und den »Bewegungen des Geistes«. Wer innerlich gesammelt in Kontakt mit der Person geht, die er darstellt, kommt in eine sehr langsame, aber dennoch intensive Bewegung. Wenn der Therapeut diesen Bewegungen der Stellvertreter Raum gibt, kann er zeitweise auf Interventionen verzichten, auch auf sprachliche. Dennoch muss auch der Therapeut gesammelt bleiben, um an kritischen Punkten der Aufstellung eingreifen zu können.

Aus den Bewegungen der Stellvertreter ergeben sich Lösungen, die oft überraschend und für niemanden vorhersehbar sind. Auch in einigen Aufstellungen, die in diesem Buch dargestellt sind, überließen sich die Stellvertreter stumm gänzlich ihren von innen kommenden Bewegungen.

Die »klassischen« Familienaufstellungen haben aber nach wie vor ihre Berechtigung. Denn wenn man beispielsweise eine so genannte Patchworkfamilie mit Halbgeschwistern, Stiefeltern und dergleichen aufstellt, besteht oft so viel Verwirrung, dass zur Strukturierung bestimmte Dinge ausgesprochen werden müssen. Hier liegt der Vorteil der Familienaufstellungen. Doch insbesondere wenn es um Täter und Opfer in einer Familie geht, sind die »Bewegungen der Seele« sehr wirksam, weil Familienaufstellungen das Geschehen in seiner ganzen Tiefe nur teilweise erfassen; die »Bewegungen der Seele« aber gehen über die Ordnungen der Familie weit hinaus und deuten hin auf unser Eingebundensein in das größere Ganze der Welt. Dazu gehört auch, dass die Klassifizierung in »Gut« und »Böse« in einem anderen Licht betrachtet werden muss, genauso wie die Unterscheidung zwischen Schuld und Unschuld, die im Hinblick auf das persönliche Gewissen wichtig ist. Jeder Einzelne ist nicht nur in seine Familie eingebunden, sondern auch in größere Gruppen, deren Schicksal uns mitbestimmt. Was in diesen letzten Bereichen des Seins gilt, liegt jenseits von traditionellen Wertvorstellungen.

 

Neben den Familienaufstellungen in der Gruppe und den »Bewegungen der Seele«, die ebenfalls in der Gemeinschaft stattfinden, arbeite ich in der Einzeltherapie auch mit Papierscheiben und den bereits genannten Holzfiguren. Diese Figuren sind für die Geschlechter unterschiedlich geschnitzt und mit Auskerbungen für die Blickrichtung versehen. Sowohl der Ratsuchende als auch der therapeutische Begleiter stellen sich nacheinander über die Figuren. Auf diese Weise lässt sich körperlich wahrnehmen, wie sich das Familienmitglied in der Seele fühlt. Wie schon erwähnt, hat diese Form des Familien-Stellens nicht dieselbe Intensität wie die in einer Gruppe, doch lässt sich auch auf solche Weise Heilsames erfahren. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass man sämtliche Vorannahmen aufgibt und sich innerlich sammelt. Mit der angemessenen Aufmerksamkeit kann man dann sehr schnell eine körperliche Wahrnehmung erleben, die wichtige Hinweise für den weiteren therapeutischen Weg gibt.

 

Die Leser meiner Bücher haben in der Vergangenheit immer wieder gefragt, ob es sich bei den Teilnehmern meiner Seminare um Menschen handle, die schon jahrelange »therapeutische Vorarbeit« geleistet hätten. Wie ließe sich sonst erklären, dass die Aufstellungen so erstaunlich positive Wirkungen zeitigten, wurde oft vermutet.

Viele sind verwundert, wenn ich diese Fragen mit Nein beantworte. Die meisten Teilnehmer meiner Gruppen hatten keine längere Psychotherapie hinter sich, und nicht wenige hatten noch nie eine solche in Anspruch genommen.

 

Bei zahlreichen Aufstellungen in diesem Buch wird anschließend dargestellt, wie es im Leben des ratsuchenden Paares weiterging. Dies ist aber nicht bei allen Fällen so, weil sich nicht jeder später noch einmal meldet. Um den seelischen Prozess nicht zu unterbrechen, denn Aufstellungen wirken oft über Jahre, würde ich nie aus Neugier oder »wissenschaftlichem Überprüfungsdrang« nachfragen.

Nicht selten erhalte ich aber Rückmeldungen durch »Zufall« oder erst Jahre später, wenn sich die Betreffenden wegen eines ganz anderen Themas bei mir melden, zum Beispiel wegen einer beruflichen oder gesundheitlichen Frage.

 

Es sei hier auch noch ein Hinweis über den Umgang mit Aufstellungsbildern gegeben. Allen, die zu mir kommen, rate ich, das Bild in der Zeit nach dem Seminar nicht mit dem Kopf verstehen zu wollen. Es handelt sich ja ohnehin nicht um eine »reale« Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern um ein »Bild der Seele«. Dieses Seelenbild benötigt Ruhe, damit es sich in der Stille entfalten kann. In keinem Fall stellt es eine Handlungsanweisung dar, man solle nun auch direkt beispielsweise einen Partner verlassen oder sich zu einem anderen bekennen. Erst wenn man nach einer längeren Zeit im Herzen eine Übereinstimmung mit dem Aufstellungsbild spürt, darf man sich in seinen Lebensentscheidungen davon leiten lassen. Es erübrigt sich wohl der Hinweis, dass es unter Umständen fatal sein kann, wider besseres Wissen, gutgläubig bzw. ohne eigene Prüfung dem Wort oder dem Rat eines Therapeuten zu folgen, gleich, nach welcher Methode er auch vorgehen mag.

Wie wird eine Frau eine Frau und ein Mann ein Mann?

Ein Mädchen wird erst zur Frau, wenn sie sich einen Mann nimmt; und Umgekehrtes gilt für den Jungen. Wollen sie sich gegenseitig als Mann und Frau, wird sich die Beziehung völlig anders entwickeln, als wenn sie sich aus anderen Gründen aneinander bänden, etwa wegen der finanziellen Versorgung, aus Bequemlichkeit, Statusgründen, wegen der Konfession oder »nur« weil man den anderen zum zukünftigen Vater oder zur Mutter seiner Kinder haben will. In der Regel rächt es sich, wenn zweitrangige Gründe zur Bindung führen und der bzw. die Partner(in) nicht als Mann oder Frau gemeint ist.

Ich erinnere mich beispielsweise an einen Mann, bei dem ebenfalls »andere« Gründe für eine Heirat vorlagen: Er war an die vierzig und lebte immer noch allein. Mit einer Frau, die er schließlich kennenlernte, verband ihn ein gutes Verständnis, aber eben nicht mehr und nicht weniger. Als seine Eltern und seine Freunde ihm immer wieder in den Ohren lagen, er solle diese Frau doch nun endlich heiraten, gab er schließlich nach. In jener Ehe war nun von Anfang an der Wurm drin. Nach zehn quälenden Jahren schließlich verließ der Mann die Frau wieder und reichte die Scheidung ein.

Die richtige Paarbindung gelingt einem Mann in der Regel erst, wenn er seinem Vater im Herzen so zustimmen kann, wie dieser ist. Für die Frau gilt hinsichtlich der Mutter dasselbe. Wenn sie einem Mann begegnet, der seinen Vater noch nicht genommen hat, dann sieht sie (unbewusst) keinen richtigen Mann in ihm. Denn das Männliche erhält der Mann von seinem Vater; wenn er ihn ablehnt, lehnt er das Männliche in sich selbst ab.

Der amerikanische Schriftsteller Robert Bly schreibt, dass laut einer völkerpsychologischen Untersuchung ein Junge in den USA um 1940 nur eines tun musste, um ein »Mann« zu werden: den Vater ablehnen. Die Söhne stellten sich die Väter als einfältige Trottel vor, über die man sich lustig machen darf. Was dabei herauskommt, kann man sich denken: Machos! In der gleichen Studie zeigte sich, dass amerikanische Väter in der Tat erwarten, von ihren Söhnen abgelehnt zu werden. Für Bly steht fest, dass den jungen Männern heute die väterliche Kraft fehlt. Die Art, wie er sich das Nehmen dieser Kraft vorstellt, hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem, was man in Familienaufstellungen erlebt: »Der Vater gibt, und der Körper des Sohnes – nicht sein Geist – empfängt diese Nahrung, auf einer Ebene, die tief im Unbewussten liegt … Allmählich erfasst er das Lied, das die Zellen des erwachsenen Mannes singen.«[3] Allerdings ist dieses Nehmen der väterlichen Kraft wohl nicht, wie Bly meint, auf das Körperliche beschränkt.

Welche Folgen das Fehlen des väterlichen und männlichen Safts hat, beschreibt Bly in seinem Buch auf anschauliche Weise: Die jungen Männer hungern ihr ganzes Leben nach dem Vater, ohne es zu merken. Es fehlt ihnen etwas Entscheidendes. Auch die Seele reagiert darauf. Ein typisches Beispiel für das Gesagte ist die Geschichte von Ralf.

»Ich will endlich ein Mann werden«: Ralf

Ralf, ein Mann an die vierzig, wirkt in seinem Verhalten wie ein schüchterner verweiblichter Jugendlicher. Erst vor kurzem ist er aus dem Haus seiner Mutter ausgezogen. Der Vater lebt schon seit zehn Jahren nicht mehr. Seine Mutter hasst er, und den Vater bezeichnet er als »Schwächling«, der keinem ein Vorbild sein konnte. Doch ganz egal, wie schwach er auch gewesen sein mag, das Männliche kann ein Junge nur von seinem Vater bekommen.

Ralfs Anliegen ist: »Ich will meine Depression los sein, brauche mehr Selbstbewusstsein, und ich will endlich ein Mann werden.« Als er beginnt, mir die negativen Seiten seines Vaters zu schildern, unterbreche ich ihn. Ich bitte ihn, mir aus seiner Kindheit einige positive Erinnerungen mit dem Vater zu schildern. Ralf neigt seinen Kopf und erzählt tatsächlich eine kleine Geschichte, in der er sich mit seinem Vater gut verstanden hatte. Plötzlich fängt er an zu weinen. Es ist ihm sehr peinlich, zu spüren, dass er seinen Vater liebt.

»Das versteh ich nicht«, sagt er. »Ich lehne ihn doch so ab … wie kommt das?«

Statt mit ihm zu diskutieren, will ich ihn mithilfe einer Übung tiefer in die Liebe zum Vater hineinführen, doch er mag nicht. Er wird sogleich wieder aggressiv gegenüber seinem Vater. Auf diese Weise braucht er die Liebe und den Schmerz nicht mehr zu spüren. Den nächsten Termin sagt er ab, und so bleibt ihm die Vaterkraft weiterhin »erspart«.

Übrigens hat Ralf trotz seiner vierzig Jahre noch nie eine Partnerschaft oder eine sexuelle Begegnung mit einer Frau erlebt. Das war auch sein Anliegen mit der Formulierung: »Ich will endlich ein Mann werden.« Je weniger ein Mann die Kraft seines Vaters und seiner Vorväter genommen hat, desto uninteressanter ist er für Frauen. Mit derartigen Männern haben sie nur Mitleid, sie sehen keinen attraktiven (möglichen) Partner in solch einem »Softie«.

Wenn man einen Menschen kennenlernt, kann man sofort spüren, wie viel Kraft ihm zur Verfügung steht. Es gibt Männer und Frauen, die lediglich 60 oder gar nur 25 Prozent ihres Potenzials nutzen. Hat eine Frau ihre Mutter und ein Mann seinen Vater ganz genommen und achten beide ihre Herkunftsfamilien, steht ihnen in der Regel viel Kraft zur Verfügung, und sie wirken damit auch anziehend auf Menschen des anderen Geschlechts.

In vierzehn Jahren Familien-Stellen in Seminaren ist mir aufgefallen, dass die Gruppenteilnehmer instinktiv genau spüren, wer Kraft hat und wer nicht. Menschen, die nur einen kleinen Teil ihres Potenzials nutzen, werden meist nicht in Rollen gewählt – und wenn, dann oft nur als Randfiguren. Diejenigen, die aktiv aufstellen und Stellvertreter für ihre Familienmitglieder auswählen, spüren unbewusst, wem sie eine solche Aufgabe »zumuten« können und wem nicht.

Teilnehmer, deren Aufstellungsanliegen die Partnersuche nach langer Einsamkeit ist, sind nicht selten stark traumatisiert, zum Beispiel durch sexuellen Missbrauch, oder sie lehnen ihre Eltern ab. Die Zurückweisung der Eltern, und erst recht der Hass ihnen gegenüber, schwächt die eigene Kraft. Wie kann ein Apfel auch den Baum verdammen, von dem er stammt? Das ergibt keinen Sinn.

Wer – wie Ralf – selbst nur wenig Kraft in sich trägt und den eigenen Vater bzw. die eigene Mutter nicht hinter sich weiß, der wirkt unattraktiv auf das andere Geschlecht, oder er zieht Partner an, die eine spiegelbildliche Dynamik aufweisen, wie das zum Beispiel bei Erwin der Fall ist.

Heirat aus Mitleid: Erwin

Erwin ist seit einiger Zeit verheiratet. Seine Frau ist im dritten Monat schwanger, und Erwin überlegt, ob er sie verlassen soll. Als er dies erzählt, geht ein leichtes Raunen durch die Gruppe. Der Seminarleiter fragt danach, ob des Öfteren im Stammbaum der Familie schwangere Frauen verlassen wurden oder ob es schwere Frauenschicksale im Zusammenhang mit Geburten gibt. Erwin verneint.

Er berichtet, dass er Johanna nicht aus Liebe geheiratet habe, sondern weil »es sich halt so ergab und ich ihr damit einen Gefallen getan habe«. Er ist sich zwar theoretisch darüber im Klaren, was es bedeutet, eine Frau in Hoffnung zu verlassen; aber die Art und Weise, wie er spricht, zeigt, dass all das in seinem Herzen noch nicht angekommen ist. Seine Stimme ist dünn – sie wirkt, als schwebe sie über den Dingen.

Erwin stellt Johanna, das noch ungeborene Kind (ein Mädchen) und sich selbst auf. Die Kleine steht neben der Frau und lächelt sie an, während Erwins Stellvertreter aus einiger Distanz zuschaut.

Auf Befragen des Therapeuten sagt die Frau: »Mir ist das egal, was mit ihm (Erwin) ist, Hauptsache, ich habe ein Kind.« Sie spricht es auf eine sehr kalte Weise.

Sowohl der Vater als auch die Mutter des Kindes sind sich nicht bewusst, was eine Familie ist, was es bedeutet, als Frau und Mann zusammenzukommen und ein Kind in die Welt zu setzen. Beide haben eine Mentalität des Unverbindlichen; und die Frau sieht im Nachwuchs nur eine Art Statussymbol, etwas, was sie »haben will«.

Der Seminarleiter sagt zu Erwin: »Das ist hier wie im Fernsehen – diese Seifenopern, in denen die Frau annonciert, dass sie einen willigen Samenspender sucht, und der Mann kein Interesse an einer Bindung hat. Ihr habt euch gesucht und gefunden.«

Erwin schaut an die Decke des Raums und hält die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Die Aufstellung scheint ihn nicht zu interessieren.

»Wenn dich das alles langweilt, kann ich auch abbrechen«, sagt der Seminarleiter.

»Nein«, antwortet Erwin trocken und nimmt seine Arme, die seine seelische Mauer anzeigen, wieder vom Kopf zurück. Der Therapeut geht in sich und entscheidet, Erwins Eltern dazuzustellen.

Der Vater dreht den Kopf zur Seite, als der Sohn ihn anschaut, und fasst sich an den Bauch, als ob ihm übel würde. Es ist offensichtlich, dass Erwin seinen Vater verachtet hat. Erwins Stellvertreter macht nun die tiefstmögliche Verneigung vor dem Vater, währenddessen dieser tief durchatmet, als ob er schon seit langem darauf gewartet habe.

Der Seminarleiter fragt den Vater, wie es ihm gehe. Er antwortet: »Lösungen gehen hier nur über mich! Diese Verbeugung war immerhin ein Anfang, aber es braucht noch viel Zeit.«[4]

Die noch ungeborene Tochter schüttelt den Kopf: »Ich misstraue beiden Eltern. Sie haben nichts begriffen … Wenn ihr euch seelisch nicht bewegt, bin ich zutiefst getroffen.«

Der Seminarleiter schaut unterdessen immer wieder auf Erwin, der vom Stuhl aus zusieht. Dieser hat wieder die Arme hinter dem Kopf verschränkt und auch die Beine übereinandergeschlagen.

Die Aufstellung wird hier beendet. »Ich denke, du hast genug Impulse für dich erhalten«, sagt der Seminarleiter zu Erwin. »Die grundlegende Frage hat nicht mit ›Gehen oder bleiben?‹ zu tun, sondern damit, ob du als Mensch in deine Lebenskraft gehst oder nicht. Glaubst du, die Dinge werden sich bei der nächsten Partnerin grundlegend anders darstellen?«

Erwin schweigt.

Am nächsten Tag des Seminars gibt es zu Beginn eine Feedbackrunde. Erwins Gesicht ist über Nacht weicher geworden, auch sein Blick wirkt mehr gesammelt als am Vortag. Offensichtlich haben die Aufstellungsbilder einen Weg an seinem kritischen Denken vorbei ins Herz gefunden.

Er berichtet: »Ich fühle deutlich, dass in mir etwas positiv verändert ist, auch wenn ich es nicht genau benennen kann; aber das ist vielleicht auch gar nicht so wichtig …«

»Genau«, antwortet der Seminarleiter, »man muss nicht alles analysieren und verstehen. Überantworte die Bilder von gestern deinem Herzen und wart ab, wie es in dir wirkt.«

Sehnsucht nach einer Paarbeziehung: Vincent

Vincent ist Mitte vierzig und noch nie in seinem Leben einer Frau nähergekommen. Er hat den Mut, dies in der Begrüßungsrunde der Gruppe klar zu äußern.

Der Seminarleiter sagt ihm: »Danke für deinen Mut! Du bist mit viel Ernst bei der Sache. Bestimmt wird sich etwas zeigen, was dir auf deinem Weg weiterhilft.«