Der Lange Krieg: Bezwinger der Meere

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Poseidon's Spear» bei Orion Books Ltd., London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Poseidon's Spear» Copyright © 2012 by Christian Cameron

Redaktion Rainer Delfs

Karte Copyright © Peter Palm, Berlin

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Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung CollaborationJS/Trevillion Images; Stephen Mulcahey/arcangel

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN 978-3-644-40643-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-40643-8

Sappho

Die Serie «Der Lange Krieg» spielt historisch gesehen zu Beginn der sogenannten Klassischen Ära, die in den Geschichtsbüchern oft mit der Schlacht von Marathon (490 v. Chr.) einsetzt. Einige, wenn nicht gar die meisten der berühmten Helden jener Epoche tauchen als Figuren in der Serie «Der Lange Krieg» auf – und das ist kein Zufall. Athen zur Zeit der Perserkriege ist in vielerlei Hinsicht genauso mystisch wie Tolkiens Gondor, und allein eine vorläufige Auflistung der Künstler, Dichter und Krieger dieser Epoche liest sich wie ein Who’s who der westlichen Zivilisation. Der Autor führt die Figuren in den Roman auch nicht zufällig zusammen – waren doch jene Leute fast ausnahmslos Aristokraten, Männer (und Frauen), die einander sehr wohl kannten und die sowohl Gegner als auch Freunde in der Not gewesen sein könnten. Bei den mit * gekennzeichneten Namen handelt es sich um historische Personen – auch der Held Arimnestos ist belegt –, und für den Leser oder Geschichtsinteressierten bieten die Einträge bei Wikipedia oder bei der Web-Edition der Encyclopædia Britannica einen Überblick über ihr Leben und Wirken. Wer es als Leser genauer wissen möchte, dem empfehle ich die Lektüre von Plutarch und Herodot – beiden antiken Autoren verdanke ich viel.

Womöglich war es sogar Arimnestos von Platäa, der Herodot von den Ereignissen der Perserkriege berichtete. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, dass Herodot – ein Schreiber aus Halikarnassos – mehrmals in Erscheinung tritt …

Ajax – ein Pais und Laufjunge des Arimnestos.

Alexandros – wird zu einem Anführer der Epibatai.

*Alkaios von Lesbos – ca. 630 bis ca. 580 v. Chr.; griechischer Lyriker, gehörte neben Sappho zu den wichtigsten Vertretern der äolisch-lyrischen Dichtkunst.

Anarchos – einflussreicher «Schutzherr» in Syrakus.

Anaxsikles – ein junger, aufstrebender Schmied aus Syrakus.

Archilogos – ein Epheser, Sohn des Dichters Hipponax; ein typischer ionischer Aristokrat, der die persische Kultur ebenso liebte wie die griechische. Er dient seiner Stadt und legt sich nicht fest, wenn es um die Sache «Griechenlands» geht; darüber hinaus findet er die Herrschaft des Großkönigs gerechter und «demokratischer» als die Herrschaft eines griechischen Tyrannen.

*Arimnestos – Sohn des Chalkeotechnes und der Euthalia.

*Aristeides von Athen – Sohn des Lysimachos, lebte ca. 550 bis 467 v. Chr.; einflussreicher athenischer Staatsmann, bekam später den Beinamen «der Gerechte». Vielleicht am bekanntesten als militärischer Strategos (vgl. unten) in der Schlacht von Marathon. Stand für gewöhnlich aufseiten der aristokratischen Partei.

*Artaphernes – Bruder des Großkönigs Dareios I. von Persien und Satrap von Sardis. Ein persischer Statthalter des Achämenidenreichs (persischen Großreichs) mit weitreichenden Verbindungen.

Behon – ein Kelte aus Albion; Fischer und ehemaliger Sklave.

Brasidas – ein Krieger aus Sparta.

Briseis – Tochter des Hipponax, Schwester des Archilogos.

Collam – ein gallisch-keltischer Adliger aus dem Zentralmassiv am Oberlauf der Seine.

*Dano von Kroton – Tochter des Philosophen und Mathematikers Pythagoras.

*Dareios I. – lat. Darius (549 bis 486 v. Chr.; oft Dareios der Große), Großkönig des persischen Achämenidenreichs; Bruder des Artaphernes.

*Datis – Feldherr der Perser; Neffe des Großkönigs Dareios.

Daud – ein Kelte; Gefährte von Arimnestos.

Demetrios – ehemaliger Sklave aus Sizilien; Gefährte von Arimnestos.

*Dionysios von Phokaia – Pirat; Befehlshaber der Flotte während des Ionischen Aufstands vor Lade.

Dionysios – Meisterschmied aus Massalia.

Doola – ein ehemaliger Sklave aus Numidien.

Epidavros – ein illyrischer Adliger; Onkel von Neoptolymos.

Euphoria – die frühere Frau von Arimnestos.

Gaius – ein Etrusker; Gefährte von Arimnestos.

Geaeta – eine Tänzerin, ursprünglich aus Griechenland.

*Gelon – (ca. 540 bis 478 v. Chr.); Tyrann von Syrakus.

Giannis – ein ehemaliger Hirte, später ein Gefährte von Arimnestos.

Gwan – ein junger Senone; Dolmetscher.

Harpagos – Vetter des Stephanos von Chios; Steuermann.

Hasdrubal – Schiffsführer einer phönizischen Trireme; Sklavenhändler.

Hektor – Händler, Bruder des Demetrios.

*Heraklit (Herakleitos) von Ephesos – ca. 520 bis 460 v. Chr. (bzw. ca. 535 bis 475 v. Chr.); einer der bedeutendsten vorsokratischen Philosophen aus dem ionischen Ephesos. Heraklit stammt aus vornehmer, aristokratischer Familie; er zog die Philosophie der politischen Macht vor; bekannt für seine Aussagen über die Zeit, vgl. die sog. «Flussfragmente», etwa: «Man kann nicht zweimal

Hermogenes – ehemaliger Sklave von Arimnestos, seither sein Gefährte.

Herodikles – ein ehemaliger Sklave aus Äolien.

*Hipponax – ca. 540 bis 498 v. Chr.; griechischer Dichter und Satiriker aus Ephesos; Hipponax gilt als Wegbereiter der epischen Parodie. Auf ihn geht vermutlich die Sentenz zurück: «Es gibt nur zwei Tage, an denen du Freude an deiner Frau hast, am Hochzeitstag und an ihrem Begräbnis.»

*Homer – berühmter Dichter, Lebensdaten vermutlich zweite Hälfte 8. Jahrhundert und/oder erste Hälfte 7. Jahrhundert v. Chr. (somit Zeitgenosse Hesiods), es ist ungewiss, ob es Homer überhaupt gab (vgl. Homerische Frage; womöglich schrieben mehrere Dichter unter dem Namen «Homer»); Homers Name wird mit den klassischen Epen Ilias und Odyssee in einem Atemzug genannt: Beide Epen bilden die Grundlagen der Vorstellung von Heldentum und aristokratischem Kodex innerhalb der griechischen Gesellschaft – und das gilt, so könnte man sagen, bis auf den heutigen Tag.

Idomeneus – ein Gefährte von Arimnestos, Priester und Hüter des Schreins.

Julia – die Mutter von Lydia.

Ka – ein Bogenschütze aus Nubien.

Kalchas – ein ehemaliger Krieger und früherer Lehrer von Arimnestos.

Kyros – ein persischer Krieger.

Leukas – Seemann aus Albion; später Segelmeister auf der Lydia; Kelte aus der Sippe der Dumnonier.

Lydia – Tochter des Bronzeschmieds Nikephoros aus Syrakus.

Megakles – ein ehemaliger Fischer; später Steuermann.

*Miltiades – d. Jüngere (ca. 550 bis 489 v. Chr.); Feldherr und Politiker, Tyrann der sog. thrakischen Chersones; Miltiades nahm 514/3 v. Chr. am Feldzug des pers. Großkönigs Dareios I. gegen die Skythen teil; sein Sohn Kimon stieg in der athenischen Politik zu einem führenden Politiker auf. Miltiades kehrte nach dem Ionischen Aufstand zurück nach Athen; hatte großen Anteil beim Sieg über die Perser in der Schlacht von Marathon (er war laut Herodot «Strategos»); Miltiades scheint eine schillernde Persönlichkeit gewesen zu sein, so war er u.a. Pirat und Kriegsherr, gilt darüber hinaus aber auch als Unterstützer der athenischen Demokratie.

Neoptolymos – ein illyrischer Adliger; später Gefährte des Arimnestos.

Nikephoros – Bronzeschmied aus Syrakus; Vater der Lydia.

Nordicca – eine keltische Königin aus Albion.

Paramanos – ein Nubier, Steuermann und Gefährte von Arimnestos.

Penelope – oder Pen; Schwester des Arimnestos.

*Phrynichos – griechischer Tragiker aus Athen (gest. um 470 v. Chr.), gilt als Vorläufer des Aischylos; schrieb u.a. die Tragödie «Die Einnahme von Milet».

Polymarchos – ehemaliger Sklave; inzwischen Schwertmeister in Syrakus.

*Sappho – griechische Dichterin von der Insel Lesbos, geboren um

Seckla – ein ehemaliger numidischer Sklave; Gefährte des Arimnestos.

Simon – Vetter des Arimnestos, Sohn des Simonalkes, des Oberhaupts eines Zweiges der platäischen Korvax-Sippe.

Sittonax – keltischer Gefährte des Arimnestos.

Tara – Keltin; Schwester des Tertikles; heiratet Arimnestos.

Tertikles – ein Stammesführer eines keltischen Siedlungsverbandes bei Oiasso; Bruder von Tara.

*Thales von Milet – ca. 624/23 bis ca. 548/44 v. Chr.; vorsokratischer Naturphilosoph, Geometer und Astronom, dessen Schriften noch in Arimnestos’ Zeit zugänglich waren. Thales bediente sich der Geometrie, um Probleme zu lösen, so z.B. die Frage nach der Höhenberechnung der Pyramiden in Ägypten oder die Frage, wie weit ein Schiff von der Küste entfernt ist. Thales unternahm wenigstens eine Reise nach Ägypten. Er gilt heute als der Begründer der westlichen Mathematik (vgl. «Satz des Thales»).

*Themistokles – (524 bis 459 v. Chr.); Staatsmann und Feldherr. Wegbereiter der attischen Demokratie, Archon und Strategos.

Vasileos – Schiffsbauer und Steuermann.

Aha, sind wir also wieder hier versammelt.

Gestern Abend habe ich euch von Marathon erzählt – wahrlich ein unvergleichlicher Tag für einen Krieger! Jenen Tag haben alle Männer, die zugegen waren, ob bedeutend oder unbedeutend, in Erinnerung behalten. Doch selbst Marathon – der große Sieg Athens und Platäas gegen die Macht Persiens – setzte dem Langen Krieg kein Ende.

Tatsache ist, Thygater, ein ehrenwerter und aufrechter Mann könnte behaupten, dass die Schlacht von Marathon den Langen Krieg überhaupt erst ausgelöst hat. Vor Marathon gab es den fehlgeschlagenen Ionischen Aufstand, und damals hätte jeder, der bei Verstand war, gesagt, dass die griechische Seite unterlegen war, dass die Griechen verloren hatten. Im fernen Sardis – oder in Persepolis, der Hauptstadt des persischen Großreichs – wussten einige Leute gar nicht, dass es Athen überhaupt gab. Dort hatte man womöglich nie etwas von Sparta gehört, und ich möchte wetten, dass kein Perser, keiner dieser mit Goldschmuck behangenen Bastarde, je etwas von Platäa gehört hatte.

Ich hingegen kam in Platäa zur Welt, und mein Vater brachte mir das Schmiedehandwerk bei. Doch mein Lehrer Kalchas sah den Mann des Blutes in mir und bildete mich im Schatten des Grabmals des Leitos zum Krieger aus. Aber ich will nichts unterschlagen – denn schon mein Pater war ein ausgezeichneter Krieger und wurde zum Polemarch unserer Stadt ernannt. Er führte uns in den Krieg gegen Sparta und Korinth, in «der Woche der drei Schlachten», wie die Ereignisse später genannt wurden. Mein Vater kämpfte wie ein Löwe und starb – ermordet von seinem Vetter Simonalkes. Der

Simonalkes verkaufte mich in die Sklaverei. Ich war verwundet über den Leichnam meines Vaters gesunken, und Simon schleifte mich vom Schlachtfeld und verschacherte mich. Warum tötete er mich nicht? Womöglich wäre das für ihn besser gewesen, aber wie so oft leiten bösartige Menschen ihren eigenen Untergang durch ihr eigenes Handeln ein. So wirken die Götter in der Welt der Menschen.

In Ionien wuchs ich zum Mann heran, wurde Sklave des Hipponax und dessen Sohn Archilogos. Und um ehrlich zu sein, ich liebte diese Menschen und bereute es nur selten, fortan als Sklave leben zu müssen. Aber Archilogos hatte eine Schwester, Briseis, und für mich war sie wie Helena, die zu neuem Leben erwacht war. Damals war sie erst dreizehn oder vierzehn, dennoch wetteiferten die Männer um ihre Gunst – erwachsene Männer.

Ich liebte Briseis und liebe sie auch heute noch.

Nicht dass mir diese Liebe viel Freude bereitet hätte.

Ich wurde wie ein Aristokrat erzogen, durfte an der Seite meines jungen Herrn an den Unterrichtsstunden teilnehmen – auf diese Weise kam ich in den Genuss der Weisheit des Heraklit, den bis auf den heutigen Tag viele wie einen Gott verehren.

Als ich siebzehn Jahre alt war, brachen Ereignisse über das Haus meines Herrn herein, die alles veränderten – es kam zu Verrat, Ehebruch und Bürgerkrieg. Diese Geschichten habe ich euch schon erzählt. Aber letzten Endes scherten die Ionier – also die Griechen aus Asia und von den Inseln entlang der Küste – aus dem Bündnis mit Persien aus und zogen in den Krieg. Hipponax ließ mich frei, ich blieb Archilogos’ Freund und Kampfgefährte. Doch in meiner Hybris schlief ich mit Briseis und wurde daraufhin aus dem Haus verbannt. Fortan musste ich mich durchschlagen und meinen Weg in der Welt finden.

So marschierte ich neben anderen Kriegern und kämpfte mich auf meinem ersten Feldzug durch, vom Sieg bei Sardis zur schweren Niederlage auf den Ebenen vor Ephesos, der Stadt meiner Sklavenzeit. Und dann floh ich mit den Athenern. Auf Kreta diente ich als Söldner und kreuzte mit meinem eigenen Schiff vor Amathus, wo ich am ersten großen Seegefecht des Ionischen Aufstands teilnahm. Auf See waren wir siegreich, doch an Land verloren wir erneut, und ich setzte mich mit einem gekaperten Schiff und einer miesen Mannschaft ab.

Schließlich fand ich ein neues Zuhause bei Miltiades, dem Herrn aus Athen, und führte fortan ein Leben als Pirat. Seien wir ehrlich, Freunde, wir brachten Menschen um und raubten Schiffe aus, und somit waren wir nichts als gemeine Piraten, ganz gleich, was manche vielleicht aus der Rückschau behaupten.

Aber es war letzten Endes Miltiades, der den Ionischen Aufstand am Leben erhielt, wie ich euch bereits erzählt habe. Wir kämpften und kämpften und waren eines Tages imstande, die Meder aus jenen Gebieten auf der Chersones-Halbinsel zu vertreiben, die sie zuvor besetzt hatten. Von da an wurde die Chersones unser Stützpunkt, von dem aus wir dem Feind zusetzten – zumindest so lange, bis die Perser größere Truppen schickten und uns von der Halbinsel vertrieben.

Derweil tat ich das, was Miltiades mir auftrug: Ich tötete, raubte und sorgte dafür, dass mein Name weithin bekannt wurde.

Nach einem Jahr voller Kampf mussten wir erneut Niederlagen einstecken. Doch dann erwischten wir ein persisches Geschwader vor der thrakischen Küste, fernab von den Häfen und Küstenstädten der Perser, und schlugen sie vernichtend – und in jenem Gefecht brachte ich Briseis’ Nichtsnutz von einem Gemahl um. Auch diese Geschichte habe ich euch lang und breit erzählt.

Ich hatte mich geirrt. Denn sie ging in den Osten, um dort jemanden zu ehelichen, der älter, weiser und sehr viel einflussreicher war als ich.

Also kehrte ich zurück nach Platäa. Dort führte ich den Hof meines Vaters und gab mir Mühe, ein guter Bronzeschmied zu sein.

Doch eines Tages kam ein Mann am Grabmal des Helden auf den Hängen des Kithairon ums Leben – ich begab mich nach Athen, um die Angelegenheit zu regeln, und schon bald war ich wieder auf See, tötete Menschen und kaperte Schiffe. Es ist schwer, all dies in ein oder zwei Sätzen zu erklären, Thygater. Aber das war es, was ich in jenen Tagen tat. Ich kämpfte wieder einmal gegen die Perser. Ich diente unter Miltiades – brachte auf dem Seeweg Getreidelieferungen nach Milet, die einst größte Stadt Ioniens, die von den Persern belagert wurde. Es gelang uns, die ärgste Not der Belagerten zu lindern. Dann stellten die Griechen aus den östlichen Landen eine riesige Flotte zusammen, und gemeinsam machten wir uns auf den Weg, Milet zu retten.

Doch wir versagten.

Vor Lade kämpften wir auf See, doch dann wechselten die Männer aus Samos die Seiten, sodass viele meiner engeren Freunde starben. Milet fiel, und im Nachhall dieser Niederlage wurde ganz Ionien erobert. Von da an waren die Griechen aus dem Osten keine freien Männer mehr. Auf einigen Inseln wurden alle Männer getötet, die Frauen in die Sklaverei verkauft.

Seltsam, Thygater, denn ich liebte die Perser, ihren Sinn für Wahrheit, ihre vorbildliche Lebensweise. Es waren gute Menschen, denen Ehre alles bedeutete, doch der Krieg brachte die schlimmsten Seiten zum Vorschein. Ich kann es nicht anders ausdrücken, aber die Perser benahmen sich wie Tiere – wie Menschen es leider allzu oft im Krieg tun.

So kam es, dass ich wieder die Schmiede in Platäa betrat. Tatsächlich wurde aus mir ein ansehnlicher Bronzeschmied.

Aber ich hatte nun einmal berühmte Freunde und war weit über die Grenzen unserer Polis bekannt. Als Miltiades in Athen des Verrats bezichtigt wurde, gelang es mir, ihn von all den Vorwürfen reinzuwaschen – wenn ihr möchtet, gebe ich diese Episode erneut zum Besten, gegen einen Obolus.

Unmittelbar nach den Ereignissen in Athen machte sich meine Schwester daran, mir eine passende Ehefrau zu suchen. Sie war wunderschön. Zweifelt ihr etwa daran? Ja, sie war schön wie Helena, und hätte ich nicht Miltiades gerettet …

Wie dem auch sei, ich nahm Euphoria zur Frau.

Und einen Sommer später, als unser Kind unter ihrem Herzen heranwuchs, führte ich die Phalanx aus Platäa über die Berge nach Attika, um Athen beizustehen. Diesmal, als die Perser uns die Schlacht aufzwangen, hatten wir keine Verräter in unseren Reihen und wurden nicht für zu leicht befunden. Nein, diesmal standen uns die Götter bei. Diesmal standen uns nicht nur Apollon und Zeus, sondern auch Ares und Athene bei, sodass es uns gelang, die Perser bei Marathon zu schlagen.

Diese Geschichte habe ich euch ja gestern Abend erzählt.

Und als ich dann nach Hause kam, teilte man mir mit, dass meine schöne Euphoria im Kindbett gestorben war. Das neugeborene Kind – ich bekam es nie zu Gesicht – lag bei einer Sklavin in den Windeln. Doch ich ging davon aus, dass es tot war. Meine Schwester macht sich immer noch Vorwürfe, dass sie mich nicht auf das Kind aufmerksam gemacht hat. Ich habe ihr das nie vorgehalten. Aber wenn ihr meine Erzählung verstehen wollt, müsst ihr begreifen, dass ich fest davon ausging, mein Kind sei tot …

Dann nahm ich mir ein Pferd und ritt davon.

Das hätte das Ende sein können. Aber es war natürlich ein neuer Anfang, denn so verfahren die Götter mit uns Menschen.

Ich will euch das begreiflich machen. Nach Marathon war nichts mehr, wie es war. Niemand war derselbe wie zuvor. Das Leben hatte seine Süße verloren. Tatsächlich hatten die meisten von uns das Gefühl, dass unsere größten Taten und Tage hinter uns lagen. Wir glaubten, für uns gäbe es nicht mehr viel zu tun. Und vergesst nicht, ich hatte Frau und Kind verloren. Ich hatte nichts mehr, für das es sich zu leben gelohnt hätte. Für mich gab es kein Leben mehr, zu dem ich hätte zurückkehren können.

Sizilien

 

ὁρῶ πρὸς ἀκταῖς ναὸς Ἑλλάδος σκάφος

κώπης τ᾽ ἄνακτας σὺν στρατηλάτῃ τινὶ

στείχοντας ἐς τόδ᾽ ἄντρον: ἀμφὶ δ᾽ αὐχέσιν

τεύχη φέρονται κενά, βορᾶς κεχρημένοι,

κρωσσούς θ᾽ ὑδρηλούς. ὦ ταλαίπωροι ξένοι:

90τίνες ποτ᾽ εἰσίν; οὐκ ἴσασι δεσπότην

Πολύφημον οἷός ἐστιν ἄξενόν τε γῆν

τήνδ᾽ ἐμβεβῶτες καὶ Κυκλωπίαν γνάθον

τὴν ἀνδροβρῶτα δυστυχῶς ἀφιγμένοι.

ἀλλ᾽ ἥσυχοι γίγνεσθ᾽, ἵν᾽ ἐκπυθώμεθα

πόθεν πάρεισι Σικελὸν Αἰτναῖον πάγον.

Ein Schiff von Hellas seh’ ich in der Bucht

Des Vorgebirgs vor Anker, und die Helden

Annahen mit dem Führer zu der Höhle.

Die leeren Schläuch’ und Krüge auf dem Nacken

Nah’n sie um frische Quellenflut zu schöpfen.

O arme, unglücksel’ge Fremdlinge!

Die nicht den rohen Polyfemos kennen

Und sein, den Gästen unwirtbares Haus,

Zu dem sie jetzt emporgestiegen sind.

Doch schweigt, damit wir das Geschlecht erforschen,

Woher sie landend nahen Ätnas Höhen.

EURIPIDES, KYKLOPS, ERSTE SZENE

Ich stand vollkommen neben mir, hatte den Kopf verloren.

Ich ritt in südlicher Richtung davon, vorbei am Grabmal des Helden, und der Hufschlag war so laut, dass Idomeneus aus seiner Behausung eilte, einen Jagdspeer in der Hand. Aber ich wollte nicht in der Nähe meines Freundes sein, suchte keinen Trost bei meinem blutdurstigen, oftmals irrsinnigen Gefährten. Nein, ich sprengte an ihm vorbei, hinauf in die Berge.

Ich nahm die Flanke des Kithairon bis zu dem Altar meiner Sippe. Also bis zu jener Kultstätte aus altem Stein, wo die Mitglieder der Korvax-Sippe seit jeher dem heiligen Berg Opfer darbrachten, seitdem der Held Leitos nach Troja aufgebrochen war, aber auch schon vorher.

Ich hatte nichts bei mir, was ich hätte opfern können, und Regen hatte eingesetzt. Es regnete und regnete, und ich stand an dem Altar der Asche und sah zu, wie der Regen die zerfurchte Steinplatte reinwusch, sah zu, wie das Wasser hügelabwärts floss. Und mein Leben war wie die Asche – so nutzlos, dass es nur noch weggespült werden konnte. Blitze zuckten über den Himmel, Blitzstöße des Zeus gingen auf die Erde hernieder, und ich stand neben dem Altar und betete, Zeus möge mich holen – was für eine hehre Art, den Gott der Götter anzurufen! Ich stand aufrecht, und bei jedem grellen Blitz glaubte ich, dass es mit mir vorbei wäre.

Doch die Blitze trafen mich nicht, das Gewitter zog allmählich ab. Eigenartig – ich hatte beschlossen, mich selbst zu töten, und erkannte dann, dass ich weder Schwert noch Jagdspeer zur Hand hatte. In der Rückschau kommt es mir fast schon komisch vor.

Ich war erschöpft – eine Woche zuvor hatte ich bei Marathon

Das Kithairon-Gebirge hat keinen markanten Felsvorsprung, von dem aus man sich leicht in den Tod stürzen kann. Ja, aus der Rückschau hat die ganze Angelegenheit etwas von einer schwarzen, düsteren Komödie – Arimnestos, der große Held, will sich wie Ajax selbst das Leben nehmen, ist dafür aber viel zu müde und ausgelaugt.

Ehe die Dunkelheit hereinbrach, verließ ich den Gipfel wieder und hielt mich in westlicher Richtung. Eine Weile blieb ich auf dem Höhenzug, der zur See zeigt, mit der Absicht – nein, ich verfolgte keine klare Absicht. Ich denke, in meiner Verzweiflung hatte ich vor, mich von dem erstbesten Vorsprung in die Tiefe zu stürzen. Vielleicht hatte ich auch gar nichts im Sinn.

Mögest du nie so erschöpft und so von allen Göttern verlassen sein, dass du nur noch Vergessen suchst, Thygater. Mögen deine Tage von Licht erfüllt sein, auf dass du nie jene Düsternis erfährst, in der man sich nichts anderes ersehnt als die Erlösung von all seinen seelischen Qualen. Aber so niedergeschlagen fühlte ich mich.

So ging ich weiter und weiter, während es um mich herum immer dunkler wurde. Irgendwann fiel ich zu Boden und schlief ein, oder besser: Die Welt um mich herum schwand aus meiner Wahrnehmung.

 

Am Morgen wachte ich auf, in der Kälte, im Regen, in Nebelschwaden, die keine klaren Konturen mehr erkennen ließen – und ich

So streifte ich weiter ziellos durch den Wald, verließ nach und nach die Höhenzüge in östlicher und südlicher Richtung. Irgendwann muss ich wieder vor Erschöpfung eingeschlafen sein.

Auch am dritten Tag rappelte ich mich auf, ohne Nahrung, ohne Wasser, in der Kälte, die nichts als Regen brachte. Ich weinte, und der Regen spülte meine Tränen über die Erde. Ich betete, und der Himmel antwortete mir. Dann fiel mir ein, dass ich am Abend vor Marathon von Briseis geträumt hatte und nicht von Euphoria, und da ahnte ich in meinem Herzen, dass ich meine Frau mit diesem Treuebruch in den Tod getrieben hatte.

Ich war nur noch ein Tier, das dazu imstande war, andere Tiere zu töten, und ich sah mich nicht länger als Mensch, der des Lebens würdig war: Ich hatte den Tod verdient.

Es mag euch undenkbar vorkommen, Freunde, dass einer der Sieger von Marathon nur eine Woche nach dem größten Triumph in der Geschichte der Menschheit derart verzweifelt war, aber wer Krieger kennt, der weiß, dass sich nach dem Blutrausch und dem Töten Abscheu, Ekel und eine unbeschreibliche Leere einstellen. Es stimmt, bei Marathon waren wir über uns hinausgewachsen, hatten schier Übermenschliches vollbracht. Aber der Preis war hoch gewesen.

Denn nach und nach tauchten die Gesichter der Männer vor mir auf, die ich getötet hatte – nicht nur bei Marathon, nein, vor meinem geistigen Auge erstand jener erste Helot, den ich einst bei Oinoe mit einem Speerwurf ins Reich der Schatten befördert hatte.

Jener hübsche Junge kam mir in Erinnerung, den ich auf dem Schlachtfeld bei Ephesos getötet hatte, weil ich ihn von seinen fürchterlichen Qualen erlösen wollte.

Auf Kreta hatte ich eine Frau verlassen, die von mir schwanger war – auch sie fiel mir nun wieder ein.

Natürlich sah ich ständig Euphoria vor mir, und nun bereute ich, wie oft wir uns gestritten hatten. Vermutlich hatte ich meine schöne Frau viel zu selten in Ehren gehalten.

Immer weiter ging ich den Berg hinunter, auf der Suche nach einem Felsvorsprung, einer Klippe … Schließlich fand ich eine Stelle.

 

Der Regen hörte auf, als ich die höchste Stelle einer Klippe erreichte. In der Tiefe konnte ich nichts erkennen – alles war in Nebel gehüllt. Doch die Sonne war im Begriff, durch die Wolkendecke zu brechen. Und während ich dastand, brach ein einzelner Strahl von Helios’ Kraft durch eine kleine Lücke und beleuchtete den Boden vor meinen Füßen. Allmählich lösten sich die Nebelschwaden in der Tiefe auf.

Nun gut.

Apollon wies mir den Weg. Er war eigentlich nie mein Freund gewesen, jener Gott, und ich hätte seinen Ruf missachten können, aber was ich wollte, war Auslöschung.

Ich sprach ein Gebet. Ich sagte ihren Namen laut.

Ich sprang …

Und landete im Wasser.

Die Götter lachen bestimmt über uns Menschen!

Ich war ins Meer gesprungen. Der Sturz war lang, und ich schlug übel auf. Der Aufprall presste mir die Luft aus den Lungen, und dann wurde ich endgültig zur Zielscheibe des göttlichen Spotts,

Ich handelte wider meinen eigenen Wunsch, als ich zu schwimmen begann.

Ich befand mich nur wenige Pferdelängen von einer felsigen Küste entfernt – in tiefem Wasser, denn sonst wäre ich auf Felsen zerschellt –, aber nirgends gab es eine Stelle, um ungehindert an Land zu gelangen.

Oh, ich bin mir sicher, dass die Götter gelacht haben. Denn mit einem Mal durchpulste mich das Verlangen zu leben, und so ruderte ich kraftvoll mit beiden Armen, doch ich wusste nicht, wohin, da um mich herum nur schroffe Felsen aus dem Meer ragten. Und die See brandete heftig gegen diese Felsen – drei Tage Regen hatten die Wasser anschwellen lassen.

Ich drehte den Kopf zu allen Seiten, sah den Nebel, der über der See hing, und begann zu schwimmen.

Der Wechsel von der Selbstmordabsicht zum Überlebenskampf vollzog sich so schnell, dass ich die Entscheidung nie hinterfragte. Ich bewegte einfach nur meine Arme – ich war immer schon kräftig gewesen, hatte indes vier Tage ohne Nahrung ausgehalten und war obendrein geschwächt von den unbeschreiblichen Mühen bei Marathon.

Ich ahnte, dass ich nicht lange durchhalten würde. Trotzdem schwamm ich, schnappte nach Luft und schwamm weiter, und schließlich – ich konnte es selbst kaum glauben, dass ich nicht schon längst tot war – umrundete ich eine Felsklippe und erblickte einen Sandstrand in der nächsten Bucht. Dort brannte ein kleines Feuer in Ufernähe.

Das letzte Stück ließ ich mich treiben und schleppte mich mit letzter Kraft den Strand hinauf. Mit den Beinen lag ich noch im Wasser, meine Ellbogen wurden umspült von Seetang.

Plötzlich spürte ich kräftige Hände und Arme, die mich ganz an Land zogen. Männer schleiften mich weiter den Strand hinauf. Ihre Sprache klang fremd in meinen Ohren. Als sie mich auf den Rücken drehten, sah ich in ernste, bärtige Gesichter – die Hautfarbe dieser Fremden erinnerte an altes, nachgedunkeltes Holz, ihre Kinnbärte waren schwarz.

Ich stammelte Dankesworte und sank in tiefe Bewusstlosigkeit, was vermutlich gut für mich war.

 

Als ich wieder zu mir kam, befanden wir uns auf See, und ich war an eine Ruderbank gekettet.

Vergesst nicht, ich war schon einmal Sklave gewesen. Doch dies war schlimmer. Viel, viel schlimmer, aber ich überlebte, eben weil ich wusste, wie es sich anfühlte, Sklave zu sein. Ich kannte all die kleinen Demütigungen, ich wusste, wo Gefahren lauerten, wusste, welche Strafen drohten.

Bald erkannte ich, dass man mich knapp über dem Kielraum einer Trireme angekettet hatte – als Thalamit. Diese Männer rudern im Bauch eines Schiffes auf der untersten Ebene. Luft bekam ich nur durch die Öffnung, durch die der Ruderriemen geschoben wurde. Lederne Taschen sollten diese Öffnungen im Rumpf gegen Seewasser abdichten, doch natürlich schwappte dauernd Wasser hinein, das sich tief unten in der Bilge verlief.

Wann immer sich die Männer in der schräg über mir angeordneten Ruderbank erleichterten, fiel die Scheiße und Pisse auf mich.

Ich lag still da, solange es ging, wusste ich doch, dass man mich zum Pullen zwingen würde, sobald man merkte, dass ich mich regte. Aber irgendwann kann selbst der geduldigste Kerl keine Scheiße und Pisse mehr im Haar oder im Bart ertragen. Kaum hatte ich einen Arm bewegt, als der Rudermeister über mir auftauchte. Er verpasste mir mehrere Schläge mit einem Stock, wobei er zufrieden grinste. Dann drückte er mir den Riemen in die Hände. Allerdings nicht sofort, da er das lange Ruder erst mittschiffs holen musste.

Offenbar konnte er nur ein klein wenig Griechisch, und in meiner Mattigkeit verstand ich kaum ein Wort, doch dann beugte sich einer der Männer schräg über mir zu mir herab.

«Der ist ein Totschläger, Junge», raunte er mir zu. «Tu, was er sagt, sonst spießt er dich auf.»

Ich war noch so benommen, dass ich glaubte, der Mann spreche über mich und nicht zu mir. Ja, ich dachte wirklich, dass er dem Rudermeister erklärte, ich sei der gefürchtete Menschenschlächter. Ha!

Der Stolz fällt als Erstes von einem ab, wenn man Sklave ist.

Der Rudermeister grinste mich an, zog ein Messer und drückte mir die aufblitzende Klinge zwischen die Beine. Sein Grinsen wurde raubtierartig.

«Sagt ihm, ich weiß, wie man pullt!», rief ich verzweifelt. Mir blieb keine Wahl, ich musste klein beigeben.

Der Rudermeister lachte. Und schlug mich.

Vermutlich wartet ihr jetzt darauf, dass ich euch erzähle, wie ich all meinen Mut zusammennahm, von der Bank aufsprang und all meine Widersacher erschlug, was, Freunde?

Nun, ihr wart nie Sklaven. Keiner von euch.

Ich aß. Ich wollte nicht mehr sterben. Oder besser, ich wollte nur deshalb am Leben bleiben, um den widerwärtigen Rudermeister erschlagen zu können. Denn ich hasste ihn schon jetzt abgrundtief. Ja, mein Hass auf ihn war wie eine schwärende Wunde in meinem Innern. Aber ich war ein Sklave, und er lachte mir ins Gesicht. Außerdem war er groß und sehr kräftig – er hatte Muskeln wie ein Athlet, der sich bei der Pankration misst. Und es machte ihm Freude, anderen Schmerz zuzufügen – uns, den Sklaven. Darüber hinaus genoss er es sichtlich, nicht nur seine unmittelbaren Untergebenen, sondern auch die Männer an den Rudern und die Deckmannschaft mit Beleidigungen zu überziehen.

Ich wurde geschunden wie ein Ackergaul. In der ersten Woche pullte ich in den Tiefen des Schiffes, und Salzwasser und Exkremente spülten um meine Fußknöchel. Bei dem Gestank wollte man im Grunde keinen Handschlag mehr tun. Aber obwohl ich ausgelaugt und verletzt war, war ich im Vergleich zu anderen Männern durchaus kräftig. Die Rudermannschaft auf dieser Trireme hatte schon bessere Tage gesehen. Nach etlichen Stunden am Riemen – ich vermochte nicht zu sagen, wann und wo wir anlegten – durfte ich zu den obersten Ruderern, den Thraniten. Ich, der ich einst mein eigenes Schiff befehligte, das Ruder beherrschte und Segel setzen konnte. Und natürlich kämpfen.

Aber an Deck zu pullen war auch keine Verbesserung, abgesehen davon, dass die Seeluft frischer war. Denn oben hatte mich der böswillige Rudermeister ständig im Blick, und nicht nur er, sondern auch seine sechs Helfershelfer, die der Rudermeister einsetzte, um seine Autorität zu untermauern. Auf diesem Schiff gab es keine Epibatai – vielleicht waren die sechs Handlanger auch gleichzeitig Krieger – ein launischer, mürrischer Haufen. Jedenfalls

Das habe ich öfters erlebt: Das Verhalten des Anführers färbt auf seine Gefolgsleute ab. Hasdrubal – der Schiffseigner mit der Hakennase – war ein Phönizier aus Karthago. Er war hochgewachsen, kräftig gebaut und ein hinterhältiger Schläger. Nie gab er direkte Befehle – stattdessen quatschte er unnötig herum und manipulierte die Mannschaft, obwohl er mit klaren Ansagen mehr Erfolg gehabt hätte. Dann wiederum spielte er sich zu einem kleinen Tyrannen auf, obwohl er mit ein paar gut gewählten Worten schneller sein Ziel erreicht hätte.

In gewisser Weise sah er gut aus, stämmig wie er war, und nie war ich einem Mann begegnet, der seinen langen, gezwirbelten Bart so fein stutzte und mit duftenden Ölen einrieb wie Hasdrubal. Jedenfalls war mir auf See noch kein Mann begegnet, der so viel Wert auf seine Barttracht legte. Von Männern aus Theben war mir das durchaus bekannt.

Aber genau diese Unfähigkeit, klare, unmissverständliche Befehle zu geben, wirkte sich auf die anderen Befehlshaber aus. Der Rudermeister war ein Tyrann, der andere gern quälte, der Segelmeister war ein Schwächling, der insgesamt zu viel trank und bei jeder Gelegenheit vor dem Rudermeister kuschte, sich aber gleichzeitig für diese Schwäche hasste. Dann gab es da noch die beiden Kerle an den Rudern – zwei Karthager, die ihr Handwerk offenbar erst noch lernen mussten. Es waren junge, schweigsame Burschen, die jedoch bereits so missmutig und verbittert wirkten wie alte Männer. Für euch vielleicht schwer vorstellbar, aber ich wechselte nie ein Wort mit diesen beiden Bastarden, zumal zwischen meiner Bank und dem Ruder eine Vertiefung im Deck verlief. Aber ich war davon überzeugt, dass die beiden Rudergänger im Grunde ganz ordentliche Kerle waren, die nur versuchten, unter dem brutalen Regiment eines Schlägers und eines Irrsinnigen zu überleben.

Es sollte noch einige Tage dauern, ehe ich sein Missfallen zu spüren bekam. Heute weiß ich, dass wir irgendwo vor der Küste Dalmatiens waren und nach Norden ruderten. Den Gesprächen an Deck hatte ich entnommen – Sklaven war es verboten zu sprechen, es sei denn, man forderte sie dazu auf –, dass wir eine Ladung athenischer Häute, Töpferwaren und zypriotisches Kupfer an Bord hatten. Offenbar sollten wir auf unserem Kurs so lange in Sichtweite der Küste bleiben, bis wir jemanden trafen, der uns Eisenerz und Zinn verkaufte.

Ich pullte. Ist man in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, ist man imstande, über eine lange Strecke zu rudern, während man mit den Gedanken ganz woanders ist. Trotz meiner Verzweiflung, trotz der Mühsal und der Wunden vom Kampf war ich kräftig genug, den Riemen durchs Wasser zu ziehen – über Tage, ohne dass ich Schmerzen litt. In Gedanken jedoch war ich in düsteren Gefilden, sinnierte ich doch über mein Leben nach. Mein Leben mit Briseis. Mein Leben mit Euphoria. Mein Leben als Held, und mein Leben als Bronzeschmied. Ich verzweifelte nicht – es müssen schon mehr als drei Tage vergehen, ehe die Verzweiflung mich packt. Alles in allem hing ich düsteren Gedanken nach, und der Umstand, plötzlich wieder Sklave zu sein, tat sein Übriges.

Mit dem Stock bekam ich einen heftigen Schlag auf die Schulter.

«Du bist nicht im Takt!», brüllte der Rudermeister, und seine Speichelfetzen spritzten auf mein linkes Ohr.

«Doch, verflucht!», entgegnete ich, ohne über meine Worte

Der nächste Schlag galt meinem Kopf. Ich versuchte, einen Schrei zu unterdrücken, und sackte halb über meinen Riemen. Doch der Bastard schlug mich wieder und wieder, fünf- oder sechsmal auf den Kopf und Nacken. Mein Nasenbein war gebrochen, Blut schoss mir aus der Nase.

«Schweig, Abschaum!», brüllte er mich an. «Wag es nicht mal zu schreien!»

Ich gab ein Grunzen von mir.

Er verpasste mir noch einen Hieb. Und es war ein Stock aus Eichenholz, das kann ich euch sagen.

Irgendeinen Laut muss ich von mir gegeben haben. Vielleicht auch nicht.

«Schweig!», säuselte er plötzlich an meinem Ohr, mit der Stimme eines Mannes, der seine Geliebte umwirbt – im nächsten Moment schlug er erneut zu.

Mein Ruderriemen verhakte sich kurzzeitig mit dem Riemen meines Vordermanns, ich kam aus dem Takt, der Riemen zuckte aus dem Wasser und prallte gegen meine Brust. Rippen knackten. Ich stöhnte auf.

Wieder ein Schlag. «Schweig, Sklave!»

Verzweifelt versuchte ich, den Riemen unter Kontrolle zu bekommen. Tränen liefen mir über die Wangen, vermischten sich mit Blut.

Doch der Bastard lachte nur. «Du solltest lernen, wer du bist. Du bist ein Sack voller Schmerz, und ich lasse den Schmerz raus, wenn ich will. Es findet sich immer ein Grund. Bis du stirbst und mich verfluchst.» Breitbeinig stellte er sich vor mich, sodass er in meiner Sichtachse stand. «Ich bin Dagon, Herr des Schmerzes.» Er stieß ein bellendes Lachen aus.

In diesem Moment kam der Trierarch über Deck. Seine Stimme

«Du hältst die Schlagzahl nicht», sagte er herausfordernd und verpasste mir einen Schlag auf die linke Schulter. Darin war er Meister. Er schlug so hart zu, dass der Schmerz kaum auszuhalten war – doch er brach mir keinen Knochen.

Ich schätze, dass ich gewimmert habe.

Dagon lachte dreckig. «Schweig!», bellte er und schlug mich wieder.

Der Trierarch lachte nun ebenfalls. «Neue Sklaven taugen nichts, wie?»

Der Rudermeister gab mit seinem Stock einen Takt auf den Deckplanken vor. «Er hält den Rhythmus nicht», sagte er. Was gelogen war.

«Du lügst», spie ich ihm entgegen.

Beim nächsten Schlag verlor ich das Bewusstsein.

 

Als ich wieder zu mir kam, hockte ich auf der hintersten Bank der Thalamiten – bei den Niedrigsten der Niedrigen, und da die meisten Triremen mit dem Heck ein wenig tiefer im Wasser liegen, wurde die ganze Scheiße und Pisse in der Bilge nach hinten gespült, sodass ich bis über die Fußknöchel im Unrat steckte. Kaum dass ich stöhnte und erzitterte, kippte einer der Helfershelfer des Sklavenschinders einen Eimer Salzwasser über mich und drückte mir dann einen Ruderriemen in die Hände. Aufgrund des gebogenen Rumpfs am Heck der Trireme waren die Riemen an achtern kürzer und schwieriger zu handhaben. Das Rudern auf diesen Bänken war immer eine Strafmaßnahme, selbst damals auf meinem eigenen Schiff.

Ich musste mich übergeben, auf meine eigenen Beine natürlich. Doch ich begann, den Riemen durchs Wasser zu ziehen.

 

Er bekam seine fünf Oboloi.

Danach war ich krank – Apollon hatte einen seiner Pfeile auf mich abgeschossen. Die Scheiße lief mir aus dem Leib, hinein ins ranzige Wasser. Ich kotzte, immer und immer wieder.

Aber ich ruderte weiter.

Die Sonne brannte aufs Schiff. Männer über mir starben. Ich war nicht das einzige Opfer – tatsächlich hatten sich Krankheiten an Bord ausgebreitet, sodass jeden zweiten oder dritten Tag Leute verreckten. Einige Zeit später – ich konnte nicht mehr einschätzen, wie viele Tage vergangen waren – legten wir erneut an. Wir waren irgendwo an der illyrischen Küste. Diesmal durfte selbst ich an Land. Wir aßen Schweinefleisch – natürlich bekamen die Sklaven nur die Abfälle, aber selbst die schmeckten nach all den Qualen köstlich. Und wir aßen alles restlos auf.

An diesem Abend begriff ich, dass wir in Illyrien waren. Einige Adlige der Gegend kamen zu unserem Schiff, und ich brachte genug Kraft auf, um das Geschehen zu verfolgen. Es waren zwei Herren und zwei Frauen auf Pferden, die hinunter zum Strand ritten.

Sie bedeuteten Hasdrubal mit einer Geste, dass sie in friedlicher Absicht kamen, und stiegen von ihren Pferden. Der Trierarch bot ihnen Brot, Salz und Wein an.

Die beiden Frauen waren jung und hübsch, aber keineswegs

Die Männer sahen weitaus älter aus. Sie waren hochgewachsen, trugen Bärte und unterstrichen ihre besondere Stellung mit Goldschmuck. Die vier waren indes nicht allein gekommen. In gebührendem Abstand folgten ihnen Bedienstete mit Eseln und Maultieren. Die Tiere waren mit Zinn beladen, ich sah einige Barren davon.

Die Illyrer sind ein merkwürdiges Volk – es gibt dort nur Herren und Sklaven, und die Herren liegen die ganze Zeit über miteinander im Krieg. Sie sehen aus wie Griechen, einige sprechen auch Griechisch – sie verehren auch viele unserer Götter. Ja, viele dort kennen sogar die Ilias und die Odyssee. Aber es sind keine Griechen. Manchmal denke ich, dass sie doch aus griechischen Landen stammen, sich aber nie an die Herrschaft des Gesetzes gewöhnen konnten.

Aber an jenem Abend war ich weit entfernt von derart vernunftbestimmten Gedanken oder philosophischen Betrachtungen.

Ich war zu weit von den Leuten entfernt und konnte daher der Unterhaltung nicht folgen, aber die edle Kleidung mit den goldenen Fibeln, das verzierte Zaumzeug der Pferde und viele andere Details verrieten mir, wo wir im Augenblick waren.

Nun, solange es Leben gibt, gibt es auch Hoffnung, so sagt man ja wohl. Illyrer sind die übelsten Piraten im Entos thalassa, und plötzlich fiel mir ein, dass uns womöglich irgendein Pirat überfallen würde, wenn Hasdrubal weiter dem Verlauf der Küste folgte. Und die Götter wussten, dass wir in einem Seegefecht unterlegen gewesen wären – zwei Drittel der Besatzung bestand aus kranken Sklaven, und die paar Männer, die kampfbereit waren, waren feige Handlanger.