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Februar 1912
Die Koffer standen im Flur. Ida Martens zog den Wintermantel an und griff gerade nach ihrer Mütze, als sie hörte, wie sich die Tür des Salons hinter ihr öffnete.
»Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?«, fragte ihre Mutter vorwurfsvoll und klagend zugleich.
Ida drehte sich resigniert um. Sie hatte die Frage oft gehört, zu oft. »Es ist doch kein Abschied für immer. Ich besuche nur eine Freundin in Irland, die ich seit drei Jahren nicht gesehen habe.«
Ein harter Zug erschien auf Luise Martens’ Gesicht. »Nach deiner letzten Reise bekam ich eine andere Tochter zurück. Seit London bist du nicht mehr die, die du warst.«
Vielleicht war ich das nie, dachte Ida. Vielleicht hast du mich nie wirklich gesehen. »Mutter, fang bitte nicht wieder davon an. Mit dem Studium an der Slade School habt ihr mir meinen größten Wunsch erfüllt, dafür werde ich euch immer dankbar sein. Aber ich muss für eine Weile weg aus Hamburg. Es ist an der Zeit, etwas Neues zu sehen.« Sie zögerte. »Es wäre schön, wenn ihr euch mit mir freuen könntet.«
»Das kannst du nicht verlangen, Ida. Eine so weite Reise für eine junge Frau ohne Begleitung, zu Leuten, die du kaum kennst. Überdies bist du in einem Alter, wo andere Dinge –«
Ida hob die Hand, um ihre Mutter zum Schweigen zu bringen. »Lass uns nicht im Streit auseinandergehen.« Sie nahm ihre Handschuhe vom Garderobentisch. »Grüße Vater und Christian von mir. Ich werde euch schreiben.«
Luise Martens machte keine Anstalten, auf sie zuzugehen, geschweige denn, ihre Tochter zu umarmen.
In diesem Augenblick rollten draußen Räder übers Pflaster und hielten vor dem Haus. Ida nickte noch einmal, wandte sich ab und öffnete die Tür.
Ida hatte den Hafen immer geliebt und früher oft ihren Großvater hierher begleitet. Er hatte ihr die großen Schiffe gezeigt und erklärt, woher sie kamen. Oft waren es geheimnisvoll klingende Namen wie Rio de Janeiro, Madagaskar oder Surabaya gewesen, die Idas Fantasie stärker anregten als jedes Märchen.
Als sie an der Reling stand, musste Ida an ihren Aufbruch vor drei Jahren denken. Wie nervös und jung sie gewesen war, voller Erwartung – die erste Reise allein und dann gleich nach London! Nun sah sie ohne Bedauern, wie die vertrauten Stadtviertel an ihr vorbeizogen, Altona, Othmarschen, Flottbek. Sie blickte hinüber zur Elbchaussee, die sie bis nach Blankenese begleitete, wo ihr Großvater gewohnt hatte. Danach wurden die Häuser weniger, der Fluss immer breiter, bis er sich in der weiten Nordsee auflöste.
Ida fühlte sich stark und erwartungsvoll, als sie in den Zug stieg und zusah, wie der Bahnsteig hinter ihr kleiner wurde und die hohen Gebäude der Londoner Innenstadt den endlosen braunen und roten Reihenhäusern der Vororte wichen. Zum Glück hatte sie das Abteil für sich allein und war nicht gezwungen, Konversation zu machen.
Sie lehnte sich in die Polster zurück und dachte an ihren ersten Besuch in London, als sie verspätet in den Zeichensaal der Slade School of Fine Art, einer angesehenen Kunstakademie, gekommen und neben einer selbstbewussten jungen Frau gelandet war. Rote Haare, energisches Kinn, große Augen – ihre erste Begegnung mit Grace Gifford. Ida dachte an die Picknicks auf dem Russell Square und die Abende am Kamin, wenn die Wohnung in Bloomsbury zum Bersten voll gewesen war und alle wild durcheinanderredeten. An Professor Tonks, von dem sie so viel gelernt hatte.
Nach einer Weile tauchte sie aus den Erinnerungen auf und schaute aus dem Fenster, sah die Landschaften wie ein Bilderbuch an sich vorbeiziehen, bemerkte im Vorbeifahren Burgen und hübsche Dörfer, bei denen sich ein Innehalten und Betrachten gelohnt hätte. Nachdem sie die Grenze zu Wales überquert hatten, wurde das Land einsamer und rauer, die Wälder wurden dichter, und die Menschen, die zustiegen, sprachen in einem fremdartigen, singenden Tonfall.
Ida spürte, wie ihre Erregung mit jedem Kilometer wuchs. Was erwartete sie in Irland? Grace hatte in ihren Briefen nicht nur von den Lebensverhältnissen auf der großen Insel, sondern auch so viel von ihrer Familie erzählt, dass Ida beinahe meinte, die Menschen zu kennen. Die strenge Mutter und die begabten Schwestern, von denen Grace ihr gelungene Karikaturen geschickt hatte. Das geliebte Kindermädchen.
Habe ich Dir schon von unserem Kindermädchen Bridget erzählt? Wir haben viel von ihr gelernt – verbotene Rebellenlieder, kleine gälische Redewendungen, Sagen und Legenden. Sie hat uns auch vom großen Hunger erzählt, dem vor sechzig Jahren so viele Menschen zum Opfer gefallen sind. Ich habe fünf Schwestern, und Bridget hat uns alle zu Rebellinnen gemacht.
Wenn der Zug anhielt, versuchte Ida, die Umgebung zu zeichnen, doch die Aufenthalte reichten meist nur für eine flüchtige Skizze. Außerdem war das Zeichnen von Landschaften nicht das, woran ihr Herz hing – eine nützliche Übung, mehr nicht.
Ida zeichnete unauffällig auch einige Mitreisende – einen kräftigen Herrn mit karierter Mütze und buschigem Schnurrbart, der sich in ein Buch über die Vogelwelt Großbritanniens vertieft hatte. Eine ältere, gut gekleidete Frau mit ihren Enkelkindern, die einen eleganten Hut trug und streng und ungeduldig wirkte, was Ida für die Kinder leidtat, was aber ein gutes Motiv abgab. Im Geiste hörte sie dabei die Stimme von Professor Tonks: Unter der Farbe liegt die Präzision. Ohne sie gibt es keine Menschlichkeit.
Sie erinnerte sich an das letzte Porträt, das sie gemalt und das zu einem heftigen Streit mit ihren Eltern geführt hatte.
Ida hatte die Frau bei einem Spaziergang durch St. Pauli entdeckt. Sie saß vor einer Kneipe, ihr Gesicht hatte Ida sofort fasziniert. Sie war Mitte vierzig und sicher einmal wunderschön gewesen – bis jemand ihr die rechte Gesichtshälfte mit einem Messer zerstörte. Die Narben waren stumme Zeugen einer längst vergangenen Tat. Ida hatte die Frau gefragt, ob sie sie malen dürfe. Den Blick würde sie nie vergessen – erst Argwohn, dann ungläubiges Staunen, als sie erkannte, dass es Ida ernst war.
Ihre Eltern waren entsetzt gewesen, als die Frau, die sich die grüne Lotte nannte, zu ihnen nach Hause kam. Doch wo sonst hätte Ida sie malen sollen? Das Licht war nirgendwo besser als im Atelier, das sie sich unter dem Dach eingerichtet hatte.
Zuerst hatte die Frau befangen gewirkt und die Haare über die entstellte Hälfte ihres Gesichts gezogen, doch nachdem Ida ihr versichert hatte, dass sie weder Abscheu noch Furcht empfände, wurde sie vertrauensvoller und gehorchte Idas Anweisungen, bis sie die richtige Position gefunden hatten.
Sie hatte das Bild an einen Anwalt aus Berlin verkauft, vorher jedoch einige Fotografien davon anfertigen lassen. Eine hatte sie Grace nach Dublin geschickt.
Ich habe meinen Schwestern das Bild gezeigt, und alle waren beeindruckt. Sidney hat es mit zu ihrer Zeitung genommen, worauf man sie gefragt hat, ob sie es abdrucken dürfen. Wärst Du damit einverstanden? Stell Dir vor, Dein Name in einer Dubliner Zeitung!
Ida erwachte aus ihren Gedanken. Die Küste rückte näher, sie meinte, die Nähe des Meeres zu spüren – sicher eine Einbildung, denn noch waren sie von hohen, teils in Schnee gehüllten Bergen umgeben. Und doch kam ihr das Gebirge vor wie eine letzte Schwelle, hinter der sie etwas völlig Neues erwartete. Und sie wurde nicht enttäuscht.
Es war ein klarer Tag, und der Blick, der sich bot, als sie kurz darauf den Kopf wagemutig aus dem Zugfenster streckte, nahm ihr den Atem. Sie blickte auf eine Insel, weit, flach und grün, die nah am Festland lag und zu der sich zwei Brücken hinüberspannten: zum einen eine kühne Hängebrücke zwischen zwei gewaltigen Pfeilern, die zu beiden Seiten der Meerenge aufragten. Ein Stück weiter eine Eisenbahnbrücke, auf die sie sich nun zubewegten. Die Schienen führten durch zwei eiserne Röhren. Staunend zog Ida den Kopf ein und schloss das Fenster, blieb aber stehen, um nichts zu verpassen. Es war ein sonderbares Gefühl, in die Dunkelheit einzutauchen und zu wissen, dass tief unter einem Schiffe entlangfuhren. Doch dann verließen sie die Röhre, und beiderseits des Zuges breitete sich die weite, grüne Landschaft aus.
Ida atmete tief durch und setzte sich wieder, während der Zug sich Holyhead an der äußersten westlichen Spitze von Wales näherte. Dort würde sie an Bord des Postdampfers gehen, der die Irische See überquerte und in Kingstown nahe Dublin anlegte.
Nicht lange danach tauchten die ersten Häuser von Holyhead auf. Der Zug fuhr bis zum Hafen durch. Auf dem Bahnsteig fand Ida einen Gepäckträger, der ihre Koffer auf einen Wagen lud.
»Zum Postdampfer, Miss?«, fragte der Mann, als er sich mit seiner Last in Bewegung setzte.
»Ja, bitte.«
Sie kamen an einem von Säulen getragenen Tor vorbei, das an eine Miniaturausgabe des Arc de Triomphe erinnerte. Dann stand Ida unvermittelt am Wasser, wo die Hafenmauer ohne Geländer steil zum Meer hin abfiel. Sie blickte auf die See, die an diesem dunklen Februartag bleigrau schimmerte.
»Kann man bei klarem Wetter bis nach Irland sehen?«, fragte sie unvermittelt.
Der Gepäckträger warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Das ist eine gute Frage, Miss. Ich bin jetzt fünfundsechzig und hab noch nie was gesehen.« Er kratzte sich am Kopf. »Kann natürlich dran liegen, dass ich mit meinem Karren meist nach vorn gebeugt gehe. Aber keine Sorge, der Dampfer braucht nicht lange, wenn Sie es nicht erwarten können.«
Die SS Anglia war tatsächlich eindrucksvoll. Ein schlanker Dampfer mit zwei hohen, schwarz-weißen Schornsteinen und einem schwarzen Rumpf, der sich sanft auf dem Wasser wiegte.
»Waren Sie schon einmal drüben?«
Der Mann schaute sie entgeistert an. »Was soll ich denn da? Mir reicht es, wenn ich von hier aus die Schiffe sehe. Komme manchmal nach Feierabend her und schaue sie mir an. Ich kenne jedes einzelne mit Namen, kann Ihnen das Baujahr und die Geschwindigkeit und die Tonnage sagen. Aber damit fahren … nein.«
Menschen waren sonderbar. Manche wohnten am Meer, ohne je über den Strand zu laufen, einige führten ein Angelgeschäft, ohne zu fischen, und wieder andere liebten Schiffe, ohne je an Bord zu gehen.
Sie selbst hingegen konnte es kaum erwarten, die Anglia zu betreten.
Es war kalt, und der Aufenthaltsraum unter Deck erschien verlockend. Ida rang kurz mit sich, zog dann aber die Mütze tiefer ins Gesicht, wickelte sich den Schal eng um den Hals, schlug den Kragen ihres Tweedmantels hoch und machte sich daran, das Deck des Schiffes zu erkunden. Sie ging die Reling entlang, so weit es den Passagieren erlaubt war, und schaute immer wieder aufs Meer und zum Land zurück, als wollte sie die Strecke mit den Augen messen.
Als die Maschinen ansprangen, erbebte das Deck unter ihren Füßen, und die Aufregung schlug wie eine Welle über ihr zusammen. Vor ihr lag nun das Land, über das sie so viel gehört hatte und das ein Widerspruch in sich zu sein schien. Wann immer sie glaubte, sie habe etwas verstanden, lieferte Grace eine Geschichte oder Anekdote, die das genaue Gegenteil zu beweisen schien. Die Sprache selbst war Teil dieser Verwirrung, die schon beim Namen ihres Zielorts anfing.
Du wirst in Kingstown ankommen, das liegt ganz in der Nähe von Dublin. Eigentlich heißt es Dún Laoghaire, und eines Tages wird man den Ort auch so nennen. Wenn du hier bist, bringen wir Dir ein bisschen Irisch bei, aber keine Sorge, hier sprechen alle Englisch, Du wirst also verstehen und verstanden, hatte Grace in ihrem letzten Brief geschrieben.
Ida stand in Gedanken versunken da, während ihr die Kälte in die Glieder drang, konnte sich aber immer noch nicht überwinden, unter Deck zu gehen. Außer den Seeleuten war niemand hier oben, kein vernünftiger Mensch setzte sich freiwillig diesem Wetter aus.
Ein heftiger Wind kam auf und zerrte an ihrem Mantel. Ein Schauer überlief sie. Sie warf einen letzten Blick auf Anglesey und das Festland dahinter, dann begab sie sich in den Aufenthaltsraum, wo es angenehm warm war. Sie bestellte Tee und Sandwiches und suchte sich einen bequemen Platz.
Ida bedauerte es sehr, dass sie den Hafen von Kingstown an einem Winterabend erreichte, denn trotz der Lichter am Ufer war nicht viel zu erkennen. Sie konnte immerhin die geschwungenen Mauern ausmachen, die den Hafen begrenzten und sie wie zwei ausgebreitete Arme empfingen. Trotz der eisigen Kälte spürte sie eine seltsame Vertrautheit, als würde das Land sie willkommen heißen. Zu ihrer Linken zeichneten sich die Umrisse eines lang gestreckten Gebäudes ab, neben dem das Schiff anlegen würde. Weiter rechts befand sich ein großer, pavillonartiger Bau, vielleicht ein elegantes Hotel.
Sie holte tief Luft und schloss kurz die Augen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und sie bekam Angst vor der eigenen Courage. Bald würde sie die Freundin wiedersehen, der sie jahrelang nur auf dem Papier verbunden gewesen war. Würden sie einander immer noch so gut verstehen? Wie würde die Familie Gifford sie aufnehmen? Konnte sie als Malerin hier etwas erreichen?
Ich hoffe sehr, dass ich Dir unser armes, verrücktes Land irgendwann zeigen kann. Nichts ist einfach in Irland, nichts nur schwarz oder weiß, hatte Grace einmal geschrieben.
Ja, dachte Ida bei sich, ich bin bereit.
An Deck wurde es voll, die Passagiere drängten an die Reling und winkten Freunden und Verwandten zu, die sie am Anleger erwarteten. Ida hielt Ausschau nach Grace, konnte sie aber in der Dunkelheit nicht erkennen. Mit einem leichten Ruck legte das Schiff an, die Gangway wurde ausgeklappt, und die Reisenden schoben sich nach vorn. Ida ließ sich Zeit und wartete, bis die meisten von Bord gegangen waren. Dann rückte sie ihre Mütze zurecht und verließ das Schiff.
»Ida!« Sie hörte die Stimme schon, bevor sie ihre Freundin entdeckt hatte. Dann sah sie die zierliche Gestalt auf sich zukommen und lief los, ohne auf ihr Gepäck zu achten, um Grace zu umarmen.
»Lass dich ansehen.« Grace löste sich von ihr und trat einen Schritt zurück. »Du siehst erwachsener aus.«
»Das Gleiche könnte ich von dir sagen. Und du bist so elegant.«
Grace trug einen Wintermantel mit Pelzkragen und einen hübschen Hut mit breiter Krempe. »Komm, wir holen dein Gepäck. Meine Schwester hat einen Bekannten überredet, ihr sein Automobil zu leihen.« Sie deutete vage über die Schulter, wo eine junge, ebenfalls rothaarige Frau mit verschränkten Armen neben einem schwarzen Wagen auf sie wartete.
Grace fand einen Gepäckträger, der Idas Koffer auf seinen Karren wuchtete. »Zu dem Wagen dort drüben.« Sie drückte dem Mann eine Münze in die Hand und zog Ida mit sich zu der jungen Frau.
»Darf ich vorstellen? Meine Schwester Sidney Gifford. Seit sie Journalistin ist, nennt sie sich John Brennan. Das solltest du beachten, falls du eine Antwort wünschst. John, das ist Ida Martens.«
Grace hatte ihr geschrieben, dass John politische Artikel für die Zeitung Sinn Féin verfasste.
Die junge Frau streckte ihr lächelnd die Hand entgegen. Sie hatte ein rundes Gesicht mit Wangen, für die Ida nur das Wort Apfelbäckchen einfiel. Als sie jedoch den Mund öffnete, wurde Ida sofort klar, dass sie nichts Niedliches an sich hatte und weder die Ruhe noch die Sanftheit ihrer älteren Schwester besaß. »Vermutlich wissen Sie alles über unsere Familie, nachdem Grace Ihnen so oft geschrieben hat. Ein Freund, dessen größter Vorzug darin besteht, ein Automobil zu besitzen, war so freundlich, es mir heute zur Verfügung zu stellen.«
Der Gepäckträger hatte die Koffer abgestellt und wartete auf seine Bezahlung. Während Grace das erledigte, hievten Ida und John die Koffer in den Wagen.
»Ich hoffe, dir ist nicht allzu kalt. Hier hast du eine Decke.« Grace breitete eine karierte Decke über Idas und ihre Beine, während John sich ans Steuer setzte. Der Motor sprang dröhnend an, der Wagen fuhr langsam los.
»Sie sind Journalistin?«, fragte Ida.
»Das ist nur eine meiner vielen Beschäftigungen«, antwortete John. »Ich bin in der Sozialistischen Partei, halte Vorträge, kämpfe für das Frauenwahlrecht und die irische Republik. Habe ich etwas vergessen? Ach ja, und ich verteile Essen an Schulkinder.«
»Man könnte sie die Heilige Johanna der Sozialisten nennen.« In Graces Stimme schwang leiser Spott mit.
»Und du?«, fragte Ida ihre Freundin. »Machst du auch bei so etwas mit?«
»Natürlich«, antwortete John an Graces Stelle. »Unsere Schwestern Muriel und Nellie sind ebenfalls dabei. Was wäre Irland ohne die Giffords?«
Ida bedauerte, dass sie Graces Gesicht im Dunkeln nicht sehen konnte. Die Freundin hatte in ihren Briefen von John berichtet, von ihrer scharfen Zunge, dem spöttischen Humor, der unruhigen Energie, die sie ständig in Bewegung hielt und dazu antrieb, neue Herausforderungen zu suchen. Manchmal glaube ich, sie nimmt mich nicht ernst, weil ich ihr zu brav und ruhig erscheine, hatte sie einmal geschrieben.
Sie war natürlich zu unbarmherzig mit sich. Grace war eine Künstlerin, die sich bemühte, von ihrer Arbeit zu leben und von ihren Eltern unabhängig zu werden. Wie schwer das war, wusste Ida nur zu gut, und sie respektierte die Freundin dafür. Sie spürte die Spannung zwischen den Schwestern, die unterschwellige Distanz.
»Erzähle mir von deiner Arbeit«, sagte Ida, um Grace ihre Wertschätzung zu bezeugen.
»In letzter Zeit gehe ich häufig in den United Arts Club, dort würde ich dich gern einführen«, antwortete Grace, und Ida hörte die Dankbarkeit in ihrer Stimme. »Er wurde vom Ehepaar Markievicz gegründet, ich habe dir von ihnen geschrieben.«
»Die Frau, die den polnischen Grafen geheiratet hat und kleinen Jungs das Schießen beibringt, ich erinnere mich. Die würde ich gern kennenlernen.«
»Dort verkehren interessante Leute, und alles ist ganz zwanglos. Fast wie mit den Leuten von der Slade. Du wirst dich sicher wohlfühlen und Kontakte knüpfen können.«
»Zwanglos und bohemienhaft, aber nicht unpolitisch«, warf John von vorn ein. »Nichts, was die Markievicz machen, ist wirklich unpolitisch.«
»Nun aber Schluss damit«, sagte Grace mit fester Stimme. »Dies ist Idas erster Abend in Dublin, da wollen wir sie nicht gleich mit irischer Politik überfallen.«
Das Haus der Giffords lag in Rathmines, einer wohlhabenden Gegend, die sich durch nichts von den gutbürgerlichen Vierteln einer englischen Stadt unterschied. In der Dunkelheit konnte Ida nicht viel erkennen, doch was die Straßenlaternen enthüllten, bestätigte ihren Eindruck. Großzügige, teils villenartige Häuser mit weitläufigen Gärten, aus deren Fenstern warmes Licht nach draußen fiel.
Bei dem Gedanken, Graces Eltern kennenzulernen, wurde Ida ein bisschen mulmig. Wenn Grace über ihre Mutter schrieb, hatte sie stets eine gewisse Kälte gespürt, und die Vorstellung von Isabella Gifford inspiziert zu werden war nicht gerade beruhigend. Sie erinnerte sich, wie liebevoll Grace damals von ihrem Kindermädchen gesprochen hatte, das den Gifford-Kindern die Zuwendung geschenkt hatte, die sie bei der Mutter vermissten. Sie zuckte zusammen, als Grace sie aus ihren Gedanken riss.
»Wir sind da.«
Isabella und Frederick Gifford warteten im Salon, um den Gast ihrer Tochter zu begrüßen. Mr. Gifford empfing sie herzlich und bot ihr einen Platz an, bevor er sich nach ihrer Reise erkundigte. »So so, die Anglia, ein schönes Schiff.«
Mrs. Gifford klingelte und ließ einen kalten Imbiss bringen. »Sie müssen nach der langen Reise sehr hungrig sein, Miss Martens.« Sie klang höflich, aber ein wenig distanziert.
Ida griff dankbar zu, während Grace sie beobachtete, als könnte sie es noch nicht ganz fassen, dass ihre Freundin tatsächlich bei ihnen zu Hause saß. John hatte sich verabschiedet und war weitergefahren, ohne sich um den mahnenden Blick ihrer Mutter zu kümmern.
Während Ida aß, stellte Mr. Gifford weitere interessierte Fragen nach ihrer Reise.
»Erst mit dem Schiff nach London und von dort aus mit dem Zug nach Wales …«
»… und dann wieder mit dem Schiff hierher«, sagte Ida unbekümmert. »Ein ziemlich weiter Weg. In London habe ich zwei Tage bei Bekannten meiner Eltern verbracht.«
Mrs. Gifford hielt sich still im Hintergrund, während ihr Mann freundlich plauderte. Ida erkannte in ihm den Vater wieder, von dem Grace in ihren Briefen liebevoll erzählt hatte.
Als Idas Teller leer war und sie den Tee getrunken hatte, spürte sie plötzlich, wie ungeheuer müde sie war.
»Ich glaube, Sie möchten sich jetzt zurückziehen«, sagte Mrs. Gifford, die ihr die Erschöpfung wohl angesehen hatte.
»Ja, das würde ich gern. Vielen Dank für das Essen und den freundlichen Empfang.«
Grace führte sie nach oben und öffnete eine weiß lackierte Tür. »Unser Gästezimmer. Hier haben zwei meiner Schwestern gewohnt, die inzwischen ausgezogen sind.«
Ida schaute sich um. Ihre Koffer warteten schon neben dem Schrank, das Bett war mit blau geblümter Wäsche bezogen, im Raum duftete es zart nach Lavendel. Die Möbel waren alt, aber gepflegt, und in der Ecke am Fenster stand noch ein Schaukelpferd aus Kindertagen.
Grace umarmte Ida flüchtig. »Ich wünsche dir eine gute erste Nacht. Bis morgen.«
Nachdem sie gegangen war, konnte Ida kaum noch ihre Kleider ablegen, bevor sie ins Bett fiel und schon bald darauf einschlief.