Jon Kabat-Zinn

Gesund durch Meditation

Das vollständige Grundlagenwerk zu MBSR

Aus dem Amerikanischen von Horst Kappen

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Jon Kabat-Zinn

Prof. Jon Kabat-Zinn, geboren 1944 in New York, ist ein weltweit angesehener Meditationslehrer und Gründer der Stress Reduction Clinic in Massachusetts. Ihm ist es als erstem gelungen, die Achtsamkeitspraxis systematisch in die medizinische Betreuung zu integrieren. Außerdem gehört er zu den wenigen ausgewählten Wissenschaftlern, die bei dem vom Dalai Lama ins Leben gerufenen Mind and Life Institute mitarbeiten.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1990

unter dem Titel »Full Catastrophe Living« bei Bantam Books, einem Imprint von Random House, Teil von Penguin Random House LLC.

 

 

 

 

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 1990 Jon Kabat-Zinn

© 1990 Vorwort: Thich Nhat Hanh

© This translation published by arrangement with Bantam Books, an Imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2011 Erste vollständige Ausgabe: O.W. Barth Verlag

© 2013 Vollständig überarbeitete Neuausgabe: O.W. Barth Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Übersetzung: Horst Kappen

Redaktion: Horst Kappen

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42091-1

Fußnoten

Mindfulness-Based Stress Reduction: der auf Achtsamkeit beruhende Abbau von Stress, kurz: Stressbewältigung durch Achtsamkeit.

Transkutane Elektrische Nervenstimulation. Das Gerät, das am Gürtel getragen wird, erzeugt elektrische Impulse, die über die Haut an das Nervensystem übertragen werden und damit die Schmerzempfindung hemmen.

Endnoten

Public Broadcasting Service: nichtkommerzielle TV-Senderkette in den USA.

Die Klinik diente ursprünglich als eine Art Sicherheitsnetz für Menschen, die durch dieses Raster gefallen waren, um sie dazu anzuhalten, etwas für sich selbst zu tun, in Ergänzung zu dem, was Ärzte und Chirurgen für sie tun konnten. Inzwischen haben sich diese Lücken des amerikanischen Gesundheitssystems zu einem klaffenden Abgrund ausgeweitet.

Embodiment und embodied awareness sind Begriffe aus der neueren Kognitionspsychologie, die die grundlegende Rolle des Körpers und der Bewegung bei der Wahrnehmung betonen. Pioniere dieser sensomotorischen Theorie der Wahrnehmung sind Jakob von Uexküll (Funktionskreis) und Ludwig Klages (Leib-Seele-Einheit). Von hier aus gibt es ebenfalls Verbindungen zu dem neuen Konzept der Spiegelneuronen, das auf philosophischem Weg von L. Klages mit dem Begriff der spiegelnden Schauung und von Melchior Palágyi mit dem Begriff der virtuellen Bewegung vorweggenommen wurde [Anm. der Red.].

Matthew A. Killingsworth und Daniel T. Gilbert: »A wandering mind is an unhappy mind«, in: Science. 330, 2010, S. 932.

Harvard Business Review. Jan./Feb. 2012, S. 88.

Elizabeth Blackburn erhielt (gemeinsam mit Carol W. Greider und Jack W. Szostak) 2009 den Nobelpreis (Medizin/Physiologie) für die Entdeckung des »Anti-Aging-Enzyms« Telomerase.

Allerdings arbeiten wir mit dem Buch nicht in der Stress Reduction Clinic. Wir betrachten MBSR als eine Art »Praktikum« und ziehen es vor, den Stoff innerhalb des MBSR-Curriculums selbst und aufgrund unserer eigenen Meditationserfahrungen zu vermitteln.

Britta K. Hölzel, James Carmody, Mark Vangel, Christina Congleton, Sita M. Yerramsetti, Tim Gard und Sara W. Lazar: »Mindfulness practice leads to increases in regional brain gray matter density«, in: Psychiatry Research: Neuroimaging. 191, 2011, S. 3643. Britta K. Hölzel, James Carmody, K. C. Evans, E. A. Hoge, J. A. Dusek, L. Morgan, R. Pitman und S. W. Lazar: »Stress reduction correlates with structural changes in the amygdala«, in: Social Cognitive and Affective Neurosciences Advances. 5 (1), 2010, S. 1117.

Norman A. S. Farb, Zindel V. Segal, Helen Mayberg, Jim Bean, Deborah McKeon, Zainab Fatima und Adam K. Anderson: »Attending to the present: mindfulness meditation reveals distinct neural modes of self-reference«, in: Social Cognitive and Affective Neuroscience. 2 (4), 2007, S. 313322.

M. A. Rosenkranz, R. J. Davidson, D. G. MacCoon, J. F. Sheridan, N. H. Kalin und A. Lutz: »A comparison of mindfulness-based stress reduction and an active control in modulation of neurogenic inflammation«, in: Brain, Behavior, and Immunity. 27, 2013, S. 174184.

J. Kabat-Zinn, E. Wheeler, T. Light, A. Skillings, M. Scharf, T. C. Cropley, D. Hosmer und J. Bernhard: »Influence of a mindfulness meditation-based stress reduction intervention on rates of skin clearing in patients with moderate to severe psoriasis undergoing phototherapy (UVB) and photochemotherapy (PUVA)«, in: Psychosomatic Medicine. 60, 1998, S. 625632.

R. J. Davidson, J. Kabat-Zinn, J. Schumacher, M. A. Rosenkranz, D. Muller, S. F. Santorelli, R. Urbanowski, A. Harrington, K. Bonus und J. F. Sheridan: »Alterations in brain and immune function produced by mindfulness meditation«, in: Psychosomatic Medicine. 65, 2003, S. 564570.

J. D. Creswell, M. R. Irwin, L. J. Burklund, M. D. Lieberman, J. M. G. Arevalo, J. Ma, E. C. Breen und S. W. Cole: »Mindfulness-based stress reduction training reduces loneliness and pro-inflammatory gene expression in older adults: A small randomized controlled trial«, in: Brain, Behavior, and Immunity. 26, 2012, S. 10951101.

Lawrence Peter »Yogi« Berra, geboren 1925, ist ein ehemaliger US-amerikanischer Baseballspieler und -manager, der vor allem auch für seine humoristischen Zitate, seine sogenannten Yogiismen, bekannt wurde, die er in Buchform veröffentlichte.

»Dem Tag eine andere Qualität zu verleihen, das ist die größte Kunst.« Henry David Thoreau, Walden.

Dabei können Sie es gerade zum Gegenstand Ihrer Achtsamkeit machen, wie schwer dieser Verzicht unter Umständen fällt. Wie häufig verspüren Sie den Impuls, nach Ihren E-Mails und SMS zu sehen oder zu »twittern«? Wie süchtig sind Sie nach einem 24-Stunden-Onlinestatus, der uns im Prinzip rund um die Uhr für alle Welt erreichbar und verfügbar macht, und wie abhängig von der Technik, die ihn ermöglicht? Vielen ist das immer griffbereite Handy fast so unentbehrlich wie die Luft zum Atmen geworden, während sie zugleich immer mehr den Kontakt zu sich selbst und ihrer Erlebniswirklichkeit verlieren. Die Ironie dabei ist, dass uns so in einer Welt der grenzenlosen digitalen Kommunikation gerade eine der wichtigsten »analogen« Verbindungen, die wir haben – zu den Tiefen unseres Selbst, unserem leibhaften Sein und unserer gegenwärtigen Erfahrung –, verstellt wird oder auch ganz abhandenkommen kann.

Aber sie kommen vor. Sie gehören dann zusätzlich in die Obhut eines in der Traumaarbeit versierten Psychotherapeuten. Dennoch sollten auch MBSR-Lehrer über ausreichend theoretischen Hintergrund und eine entsprechende Schulung verfügen, um die Anzeichen und Symptome einer latenten Traumaerfahrung, die über die Achtsamkeitsübung zutage tritt, erkennen zu können. Sie müssen in der Lage sein, schnell und angemessen zu reagieren, um betroffene Personen angesichts potenziell retraumatisierender Erinnerungen zu unterstützen. Es gilt, Betroffene emotional zu stabilisieren und in einem geschützten therapeutischen Rahmen auf behutsame Weise die Bedingungen dafür zu schaffen, dass der Heilungsprozess einsetzen kann.

Entsprechend dem Einstein-Zitat in Kapitel 12.

Zur Berg-Meditation vgl. auch Kabat-Zinn: Im Alltag Ruhe finden sowie Set 2, CD 3 der geführten Achtsamkeitsmeditationen (in englischer Sprache).

Veröffentlicht in der New York Times vom 29. März 1972. In der letzten Kursstunde des MBSR-Programms verteilen wir an die Teilnehmer ein kleines Textheft, das mit diesem Einstein-Zitat schließt.

Andere Sprachen kennen diese Unterscheidung nicht, wie zum Beispiel das Französische, das beide Bedeutungen mit dem Wort guérir abdeckt.

J. Kabat-Zinn, E. Wheeler, T. Light, A. Skillings, M. Scharf, T. C. Cropley, D. Hosmer und J. Bernhard: »Influence of a mindfulness meditation-based stress reduction intervention on rates of skin clearing in patients with moderate to severe psoriasis undergoing phototherapy (UVB) and photochemotherapy (PUVA)«, in: Psychosomatic Medicine. 60, 1998, S. 625632.

Allerdings gibt es bei Psoriasis und Hautkrebs Parallelen hinsichtlich der Wachstumsfaktoren, so dass sich aus einem besseren Verständnis des Krankheitsgeschehens bei Psoriasis weiterreichende medizinische Implikationen ergeben können.

Da UV-Licht einen Risikofaktor für Hautkrebs (Basalzellkarzinom) darstellt, lässt sich mit der Reduzierung der Anzahl der Therapiesitzungen zugleich das mit der Phototherapie verbundene Krebsrisiko verringern.

In einem komplexeren Sinn ist die MBSR-Methode selbst nichts anderes als ein Anwendungsbeispiel einbeziehender Medizin.

Sehr viel später erhielt Bernard Lown (gemeinsam mit Jewgeni Tschasow) den Friedensnobelpreis als Mitbegründer der Vereinigung International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW).

Im englischen Original lautet der Ausdruck »evidence-based« im Sinne einer »nachweisorientierten Medizin«.

Unter Ärzten in der Primärversorgung erreicht persönlicher und berufsbedingter Stress alarmierende Ausmaße: In vereinzelten Studien geben bis zu sechzig Prozent der praktizierenden Ärzte an, unter Burnout-Symptomen zu leiden (Krasner, Epstein et al.: »Association of an educational program in mindful communication with burnout, empathy, and attitudes among primary care physicians«, in: Journal of the American Medical Association. 302 (12), 2009, S. 12841293).

Die ersten, wegweisenden Untersuchungen dieser Art stammen von Elmer und Alyce Green von der Menninger Foundation, David Shapiro und Gary Schwartz, damals an der Harvard Medical School, und Chandra Patel aus England, um nur einige zu nennen.

Angesichts des üblen politischen Gerangels um die Reform des Gesundheitswesens in den USA, bei dem es mehr ums Geld als um Gesundheit geht, scheint es allerdings, dass denjenigen, denen es wirklich um Gesundheit zu tun ist (und das sollte eigentlich für jeden von uns gelten) nichts übrigbleibt, als geduldig auf einen langfristigen Paradigmenwechsel hinzuarbeiten; ein mühevoller Weg, auf dem jedes Element einer den Patienten einbeziehenden Medizin schon ein Erfolg ist. Andere Länder sind da mit ihrer Gesundheitspolitik schon weiter. So ist zum Beispiel die Achtsamkeit in Form der mindfulness-based cognitive therapy ein vom britischen Gesundheitssystem NHS offiziell anerkanntes Therapieverfahren bei Depression. Es wird Patienten, die mehr als drei schwere depressive Episoden hinter sich haben, im Anschluss an eine Behandlung mit Antidepressiva oder an eine kognitive Therapie verordnet, um der Gefahr eines Rückfalls vorzubeugen (mehr zum Thema MBCT finden Sie in Kapitel 24).

Zusätzlich zu MBSR und MBCT werden inzwischen zahlreiche Versionen des Basisprogramms angeboten, die auf spezifische Personengruppen oder Problematiken zugeschnitten sind wie exzessiven Alkoholmissbrauch unter Studenten (MBRP), Esssucht (MB-EAT), Kriegsveteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung, ältere Menschen oder Mitarbeiter in der Altenpflege (MBEC), Kunsttherapie mit Krebspatienten (MBSR-AT) oder Kinder mit einer Angstproblematik (MBCT-C), um nur einige zu nennen.

Linda E. Carlson und Michael Speca: Krebs bewältigen mit Achtsamkeit. Wie Ihnen MBSR hilft, das Leben zurückzugewinnen. Huber, Bern 2012. Trish Bartley: Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Cancer. John Wiley & Sons, 2011.

Tatsächlich wächst unter den Forschern das Interesse an den Effekten sogenannter »positiver Gefühle« im Zusammenhang mit der Erforschung der Achtsamkeit. So haben zum Beispiel Barbara Fredrickson und ihre Mitarbeiter an der University of North Carolina in Chapel Hill zeigen können, dass bei einem neunwöchigen Praktizieren der Meditation über liebende Güte sich das Sinngefühl steigerte und die Krankheitssymptome verminderten. Untersuchungen von Paul Gilbert in Großbritannien, Kristin Neff in Texas und Christopher Germer in Harvard ergaben, dass der bewusst geübte liebevolle Umgang mit sich selbst und anderen sowohl das seelische und körperliche Wohlbefinden als auch die Kontaktfreude deutlich steigert.

»Entfaltung« ist die Grundbedeutung des Pali-Wortes für »Meditation«: bhavana.

Im Unterschied zur Allostase bezieht sich der Begriff der Homöostase auf die Notwendigkeit, die Schwankungen unmittelbar lebenswichtiger physiologischer Funktionen, wie zum Beispiel der Körpertemperatur, der Blutchemie oder des Sauerstoffgehaltes des Blutes, in engen Grenzen zu halten. Dagegen haben andere physiologische Funktionen, wie die Regulierung des Blutdrucks und Cortisolspiegels oder die Anlage von Fettdepots, einen sehr viel weiteren »Spielraum« und eine entsprechend größere Schwankungsbreite. Gesteuert werden sie zum Teil durch das Gehirn und durch unsere längerfristige Anpassung an die sich ständig verändernden Umweltbedingungen im Laufe von Tagen, Wochen, Monaten und Jahren – Zeiträume, in denen sich typischerweise auch chronischer Stress manifestiert. Es sind diese physiologischen Systeme langfristiger »Gesunderhaltung«, die mit dem Begriff der Allostase vor allem gemeint sind. Jedoch können sowohl Allostase als auch Homöostase durch die chronischen Belastungen einer stressreichen Lebensweise auf gefährliche Weise aus dem Gleichgewicht geraten.

So zum Beispiel in der Arbeit von Dr. Bessel van der Kolk am Traumazentrum in Boston.

Ein sinnfälliges Beispiel dafür ist die vor dem Löwen flüchtende Gazelle, die in der Fluchtreaktion enorme Energien mobilisiert und, sobald sie sich in eine sichere Distanz gebracht hat, zum friedlichen Grasen zurückkehrt, als wäre nichts geschehen. Beim Menschen sieht der Fall etwas anders aus, weil wir, auch nachdem die unmittelbare Gefahr vorüber ist, darüber nachsinnen können, was hätte geschehen können oder künftig geschehen könnte und durch den Denkvorgang selbst unter enormen Stress geraten. Das Trauma des knappen Entrinnens kann uns noch lange Zeit begleiten und muss behutsam aufgearbeitet werden, um bis zu einem gewissen Grad heilen zu können.

Tatsächlich sprach Cannon von der Kampf-oder-Flucht-Antwort (fight or flight response). Wenn ich sie in dem uns hier interessierenden Zusammenhang dennoch Reaktion nenne, dann um ihren unbewussten und automatischen Charakter zu betonen und den Ausdruck »response« der Beschreibung eines bewussteren Handlungsablaufs vorzubehalten [in der deutschen Fassung »achtsamer Umgang«; Anm. der Red.].

Richard Davidson hat unter anderem untersucht, welche Auswirkungen langjähriges Meditieren und MBSR-Training auf das Gehirn haben. Dabei hat sich bestätigt, dass die linke und rechte Hälfte des präfrontalen Cortex Emotionen auf unterschiedliche Weise steuern. Eine erhöhte Aktivität der linken Hälfte verringert offenbar Angst und Aggressionen, möglicherweise auch durch eine dämpfende Wirkung auf die Aktivität der Amygdala. Mit einer erhöhten Aktivität der linken Hälfte des präfrontalen Cortex nimmt also die psychische Widerstandskraft bei emotionaler Belastung zu. Laut Davidson »kann die Aktivität der linken präfrontalen Gehirnregion bei psychisch stabilen Personen dreißigmal so hoch sein wie bei weniger belastbaren Personen«. Vgl. Richard Davidson, Sharon Begley: Warum wir fühlen, wie wir fühlen. Wie die Gehirnstruktur unsere Emotionen bestimmt – und wie wir darauf Einfluss nehmen können. München 2012.

Beispielsweise wird vom Hypothalamus und weiteren Gehirnregionen Dopamin ausgeschüttet, dessen Funktion mit Konzentrationsvermögen, Lernvorgängen, dem Abspeichern von Informationen im »Arbeitsgedächtnis« des Gehirns sowie dem Glückserleben in Zusammenhang steht. Serotonin spielt eine Rolle bei der Stimmung, beim Hungergefühl, beim Schlaf-Wach-Rhythmus und beeinflusst ebenfalls das Glückserleben. Es wird vor allem im Darmtrakt freigesetzt.

Boston Globe, 1. November 1980.

Das gilt ebenso für sozialen Stress, der äußerst bedrohlich wirken kann. Eine seiner häufigsten Formen ist die Furcht vor persönlichem Ansehensverlust. Verlegenheit, Scham, das Gefühl der Zurückweisung und negative Gedanken in Bezug auf sich selbst können Affektausmaß annehmen und zur habituellen Stressreaktion mit all ihren negativen Konsequenzen für den Körper führen. In diesem Bereich steht für uns persönlich sehr viel auf dem Spiel, was einerseits nachvollziehbar ist, andererseits aber nur einen Aspekt dessen darstellt, was uns wirklich ausmacht. In Teil IV wird dieses Thema ausführlich behandelt.

Die Zusammenhänge mögen etwas komplizierter sein, als dieses Modell sie beschreibt. So reagieren Frauen in bestimmten Gefahrensituationen unter Umständen anders als Männer. Die Psychologin Shelley Taylor von der University of California, Los Angeles, schlug daher das ergänzende Konzept einer »tend-and-befriend-Reaktion« vor, die bei Frauen neben der »fight-or-flight-Reaktion« zu beobachten ist und bei der die Sorge um den Nachwuchs und eine vermittelnde Haltung im Vordergrund stehen. Mehr zu den komplexen Zusammenhängen der Biologie und Psychologie des Stresses bietet das wunderbare und aufschlussreiche Buch von Robert Sapolsky: Why Zebras Don’t Get Ulcers. Owl Books, New York 2004.

E. S. Epel, E. H. Blackburn, J. Lin, F. S. Dhabhar et al.: »Accelerated telomere shortening in response to life stress«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences. 101, 2004, S. 1731217315.

Hier ist auch an den Satz des Glücksforschers Daniel Gilbert zu erinnern, der schon in der Einführung zitiert ist: »Während Menschen unter Anforderungen aufblühen, verkümmern sie unter Bedrohungen.« Es handelt sich dabei um eine wichtige Unterscheidung.

Die Studie, die sich vor allem auf das Atemgewahrsein sowie die Meditation über liebende Güte und Mitgefühl konzentrierte, ergab ein so umfangreiches, noch auszuwertendes Datenmaterial, dass die Ergebnisse erst im Laufe der kommenden Jahre schrittweise berichtet werden können. Siehe: http://mindbrain.ucdavis.edu/labs/Saron/shamatha-project

Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2012.

D. M. Perlman, T. V. Salomons, R. J. Davidson und A. Lutz: »Differential effects on pain intensity and unpleasantness of two meditation practices«, in: Emotion. 10, 2010, S. 6571.

A. Lutz, D.R. McFarlin, D. M. Perlman, T. V. Salomons und R. J. Davidson: »Altered anterior insula activation during anticipation and experience of painful stimuli in expert meditators«, in: Neuroimage. Januar 2013, 64, S. 53846.

J. Kabat-Zinn: »An outpatient program in behavioral medicine for chronic pain patients based on the practice of mindfulness meditation: Theoretical considerations and preliminary results«, in: General Hospital Psychiatry. 4, 1982, S. 3347. J. Kabat-Zinn, L. Lipworth und R. Burney: »The clinical use of mindfulness meditation for the self-regulation of chronic pain«, in: Journal of Behavioral Medicine. 8, 1985, S. 163190. J. Kabat-Zinn, L. Lipworth, R. Burney und W. Sellers: »Four-year follow-up of a meditation-based program for the self-regulation of chronic pain: Treatment outcomes and compliance«, in: The Clinical Journal of Pain. 2, 1986, S. 159173.

J. A. Grant, J. Courtemanche, E. G. Duerden, G. H. Duncan und P. Rainville: »Cortical thickness and pain sensitivity in Zen meditators«, in: Emotion. 10, 2010, S. 4353.

F. Zeidan, K. T. Martucci, R. A. Kraft, N. S. Gordon, J. G. McHaffie und R. C. Coghill: »Brain mechanisms supporting the modulation of pain by mindfulness meditation«, in: The Journal of Neuroscience. 31, 2011. S. 55405548.

In der Fachsprache Prodrom oder Prodromalerscheinung (griech. pródromos, »Vorläufer«).

Jon Kabat-Zinn: Coming to Our Senses, Seite 347358. Deutsch: Zur Besinnung kommen. Die Weisheit der Sinne und der Sinn der Achtsamkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt. Freiburg 2008.

Zindel V. Segal, J. M. G. Williams und J. D. Teasdale: Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie der Depression. Ein neuer Ansatz zur Rückfallprävention. Tübingen 2008.

M. Williams, J. Teasdale, Z. Segal und J. Kabat-Zinn: Der achtsame Weg durch die Depression. Freiburg 2009.

Susan M. Orsillo, Lizabeth Roemer: Der achtsame Weg durch die Angst. Wie wir andauernde Sorgen und Grübelei hinter uns lassen und zu einem erfüllten Leben finden. Freiburg 2012. Randye J. Semple, Jennifer Lee: Achtsamkeitsbasierte Therapie für Kinder mit Angststörungen. Paderborn 2013.

J. Kabat-Zinn et al: »Effectiveness of a meditation-based stress reduction program in the treatment of anxiety disorders«, in: American Journal of Psychiatry. 149, 1992, S. 936943. J. Miller, K. Fletcher und J. Kabat-Zinn: »Three-year follow-up and clinical implications of a mindfulness-based stress reduction intervention in the treatment of anxiety disorders«, in: General Hospital Psychiatry. 17, 1995, S. 192200.

Dieser Zwiespalt der Motive oder Triebfedern zeigt sich bereits in den elementaren Verhaltensmustern des Annäherns und Vermeidens, die allen lebenden Organismen eigen sind. Auch der Aufbau unseres Gehirns scheint diesen Gegensatz in seiner funktionalen Symmetrie widerzuspiegeln. Das Annäherungsverhalten steht vor allem mit der Aktivierung bestimmter Regionen des linken präfrontalen Cortex in Zusammenhang, während das Vermeidungsverhalten entsprechenden Regionen der rechten Gehirnhälfte zuzuordnen ist. Von Bedeutung ist diese Symmetrie auch in Bezug auf die Ergebnisse der MBSR-Studie, die wir in einem betrieblichen Umfeld durchgeführt haben (siehe auch das Vorwort). Dabei zeigte sich bis zu einem gewissen Grad eine Verschiebung des emotionalen Aktivitätszentrums von der rechten in die linke Gehirnhälfte beziehungsweise vom Vermeidungs- und Widerstandmodus hin zum Annährungs- und Akzeptanzmodus, wie er für emotionale Intelligenz typisch ist. Damit ist keineswegs ausgesagt, dass »Vermeidung« immer schlecht und »Annäherung« grundsätzlich gut sei. Sinnvoll ist vielmehr, sich beider Impulse bewusst zu sein und differenzieren zu können, wann welches Verhalten zuträglich, das heißt klug ist.

In seinem Buch Emotionale Intelligenz bezeichnet Daniel Goleman diesen Vorgang als »Geiselnahme durch die Amygdala«. Sie setzt dann ein, wenn die Amygdala bei der Wahrnehmung einer echten oder vermeintlichen Gefahr für den Organismus Signale aussendet, ohne dass diese vom präfrontalen Cortex, der unter anderem für die höheren kognitiven Funktionen wie vorausschauendes Denken und die Steuerung der Emotionen zuständig ist, ausreichend moduliert werden.

Stattdessen wurde von Nelson Mandela die Truth and Reconciliation Commission (Wahrheits- und Versöhnungskommission) eingesetzt. Ihre Aufgabe war es, die Fälle enormer Brutalität, die über Jahrzehnte begangen worden waren, aufzudecken, zu benennen und im öffentlichen Bewusstsein wachzuhalten. Ziel war ein Dialog zwischen Tätern und Opfern, in dem nicht die Schuldzuweisung im Vordergrund stand, sondern die gegenseitige Wahrnehmung und Anerkennung des Leidens.

Das metabolische Syndrom (»tödliches Quartett«) besteht aus den vier Faktoren Fettleibigkeit, Bluthochdruck, veränderte Blutfettwerte und erworbene Insulinresistenz [Anm. der Red.].

Michael Pollan: Die Botanik der Begierde. München 2002. Das Omnivoren-Dilemma. München 2011.

Zitiert von Dean Ornish in der New York Times vom 23. September 2012.

Der Glykämische Index ist ein (individuell variables) Maß für die Auswirkung eines kohlenhydrathaltigen Lebensmittels auf den Blutzuckerspiegel [Anm. der Red.].

Bei der Umstellung der Lebensweise ist eine ganze Reihe von Faktoren, die sich günstig oder ungünstig auf unsere Gesundheit auswirken können, zu berücksichtigen. Jeder von uns besitzt seine unverwechselbare Genstruktur, die unter Umständen eine Disposition für bestimmte Lebensmittelallergien und -überempfindlichkeiten oder auch für entzündliche Prozesse und das metabolische Syndrom schafft. Ein gänzlich neuer Forschungszweig, genannt funktionelle Medizin, befasst sich unter anderem mit diesen Zusammenhängen.

Es hatte etwas Unwirkliches. Die Fernsehsender und Militärs bereiteten die Bilder und Meldungen von den Kriegsschauplätzen zu einer verharmlosten Form auf, die nichts mit den Bildern des Grauens zu tun hatte, wie wir sie heute aus dem Irak oder aus Afghanistan kennen.

Tim Ryan: A Mindful Nation: How a Simple Practice Can Help Us Reduce Stress, Improve Performance, and Recapture the American Spirit. Hay House 2012.

Hier liegt der Ansatzpunkt der mindfulness-based cognitive therapy (MBCT), die gezielt mit dem depressiven Muster zwanghaften Grübelns arbeitet, ohne dass dabei eine manifeste Depression vorliegen muss (siehe den Abschnitt Achtsamkeit und Depression in Kapitel 24). MBCT wird mit Erfolg auch bei der generalisierten Angststörung und Panikzuständen sowie anderen schweren emotionalen Störungen angewandt.

Vgl. zum Thema Achtsamkeit im Alltag auch Jon Kabat-Zinn: Im Alltag Ruhe finden. Meditationen für ein gelassenes Leben. München 2010.

Diese Passagen stammen aus den späten achtziger Jahren. Heute, im Jahre 2013, gibt es glücklicherweise wachsende Bestrebungen, Achtsamkeit in den Grundschulen und weiterführenden Schulen zu kultivieren sowie in die Lehrpläne der Hochschulen aufzunehmen.

Dieses Buch beschreibt das MBSR-Programm der Stress Reduction Clinic des University of Massachusetts Medical Center. Sein Inhalt ist weder durch die University of Massachusetts autorisiert, noch spiegelt er deren offizielle Position wider.

 

Die hier gegebenen Empfehlungen sind allgemeiner Natur und können eine professionelle medizinische oder psychologische Behandlung nicht ersetzen. Leser mit gesundheitlichen Problemen sollten einen Arzt zu Rate ziehen, um abzuklären, ob das hier dargestellte Übungsprogramm für sie in Frage kommt. Das gilt insbesondere für einige der Yoga-Positionen, die unter Umständen der individuellen Abwandlung bedürfen.

 

Die im Buch veröffentlichen Ratschläge und Übungen wurden von Verfasser und Verlag mit größter Sorgfalt erarbeitet und geprüft. Eine Garantie und Haftung kann jedoch nicht übernommen werden.

Für
Myla,

 

für
Will, Naushon und Serena,

 

für
Asa, Toby und Teresa,

 

für Sally,

 

für
alle Menschen in der Stress Reduction Clinic, die bereit waren, sich der ganzen Katastrophe des Lebens zu stellen und daran zu reifen,

 

für
alle früheren, gegenwärtigen und künftigen Teilnehmer am MBSR-Programm und anderen Achtsamkeitskursen

 

und für
die Lehrer und Erforscher der Achtsamkeit auf der ganzen Welt – vor deren Engagement, Aufrichtigkeit und liebender Hingabe an ihre Arbeit ich mich tief verneige.

Geleitwort

Es ist mir eine große Freude, mich mit diesem Grußwort an die deutschsprachige Lesergemeinde zu wenden, zu der ich seit langem eine besondere Verbindung habe, auch wenn ich weit von ihr entfernt lebe. Im Laufe der Jahre habe ich viele Male Deutschland, Österreich und die Schweiz bereist, um dort Vorträge zu halten und Ausbildungs-Retreats zu leiten. Dabei kam es zu vielen Begegnungen mit Menschen, die es sich in diesen Ländern zur Aufgabe machen, den MBSR-Ansatz oder andere an der Achtsamkeit orientierte Übungsmethoden in ihr Leben und ihre Arbeit zu integrieren – Kontakte, aus denen sich oftmals echte Freundschaften entwickelt haben.

Die erste deutsche Ausgabe dieses Buches erschien im April 1990 fast gleichzeitig mit der ersten englischen Originalausgabe und war damit auch die erste Übertragung in eine andere Sprache. Das ist für mich kein Zufall, sondern Ausdruck des großen Interesses, das in Ihrem Kulturraum an der Arbeit mit der Achtsamkeit, ihren therapeutischen Möglichkeiten und ihrem Wert für unser gesamtes Leben besteht.

Vielleicht haben Sie die Bedeutung der Achtsamkeit für Gesundheit und Krankheit, für den Umgang mit Stress und Schmerz längst schon für sich entdeckt. Vielleicht ist Ihr Interesse daran auch erst vor kurzem erwacht. Wie dem auch sei, meine Hoffnung ist, dass diese zweite, aktualisierte Ausgabe, nahezu fünfundzwanzig Jahre nach dem ersten Erscheinen von Full Catastrophe Living, für Sie von Nutzen sein wird.

 

Möge Ihre Achtsamkeitsübung an Tiefe und Kraft gewinnen, möge sie Ihrem Leben und Ihrer Arbeit zugutekommen, in jedem Augenblick eines jeden Tages.

 

Jon Kabat-Zinn

Lexington, Massachusetts, im April 2013

Vorwort

Dieses lesenswerte, lebensnahe Buch wird dem Leser auf vielerlei Weise zum Nutzen gereichen, denn es veranschaulicht die praktischen Aspekte der Meditation in einer leicht verständlichen Art und Weise. Meditation ist keineswegs etwas Weltfremdes, vielmehr hat sie ganz konkret mit unserem Leben und Alltag zu tun. Mit ihr eröffnen sich sogar gleich zwei Wege: einer, der von der Welt zum Dharma führt, und ein zweiter, der vom Dharma zur Welt führt.

Wenn das Dharma sich für unser tägliches Leben als nützlich erweist, wenn es uns hilft, das Leben zu meistern, dann ist es echtes Dharma. Dieses Buch ist daher eine wirkliche Lebenshilfe. Ich danke dem Autor dafür, dass er es geschrieben hat.

 

Thich Nhat Hanh

Vorwort zur zweiten, revidierten Ausgabe

Willkommen zur Neuausgabe von Full Catastrophe Living. Zweierlei hat mich bewogen, das Buch nach fünfundzwanzig Jahren erstmalig einer Revision zu unterziehen: Einerseits galt es, den Text inhaltlich auf den neuesten Stand zu bringen; andererseits – und das ist angesichts der vielen Jahre, die seither verstrichen sind, vielleicht der wichtigere Aspekt – ging es mir darum, eine noch präzisere Anleitung zur Meditation zu bieten, eine vertiefte Beschreibung der Möglichkeiten, mit dem menschlichen Leben und Leiden auf achtsame Weise umzugehen. Die Aktualisierung erwies sich als notwendig, da die wissenschaftlichen Forschungen zur Achtsamkeit und zu ihren Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden in diesem Zeitraum einen gewaltigen Zuwachs erfahren haben. Je mehr ich aber in die Arbeit am Text hineinkam, desto spürbarer wurde es für mich, dass die grundlegende Botschaft des Buches, sein eigentlicher Inhalt im Wesentlichen erhalten bleiben musste. Daher habe ich mich darauf beschränkt, die Ausführungen dort, wo es angebracht war, zu ergänzen und zu verdeutlichen. So verlockend es auch schien: Ich wollte der Versuchung, die explodierende Zahl wissenschaftlicher Nachweise für die Wirksamkeit der Achtsamkeit vor den Wagen der MBSR[1]-Methode zu spannen, nicht erliegen. Nach wie vor sollte es vor allem um die Achtsamkeit als inneres Abenteuer gehen. Letztlich bleibt das Buch also das, als was es von Anfang an gedacht war: ein praktischer und allgemeinverständlicher Leitfaden zur Kultivierung der Achtsamkeit mit ihrer verwandelnden Kraft und zutiefst optimistischen Sicht des menschlichen Wesens.

Seit meiner allerersten Begegnung mit der Übung der Achtsamkeit war ich überrascht und ermutigt von den wohltuenden Auswirkungen, die sie in meinem eigenen Leben hatte. Und dieses Grundgefühl hat in den gut fünfundvierzig Jahren, seit ich begonnen habe, mich in ihr zu üben, nichts von seiner Intensität verloren. Im Gegenteil: Es hat nur an Tiefe und Beständigkeit gewonnen, wie eine alte, verlässliche Freundschaft, die sich auch in noch so schweren Zeiten bewährt und uns gerade dadurch mit großer Demut erfüllt.

 

Als ich noch an der ersten Textausgabe arbeitete, riet mir mein Lektor davon ab, das Wort »Katastrophe« in den Titel aufzunehmen, weil viele Menschen allein durch den Ausdruck abgeschreckt werden könnten. Also bemühte ich mich redlich, einen anderen Titel zu finden. Ich ersann und verwarf Dutzende von Alternativen. Die heilende Kraft der Achtsamkeit war einer der Favoriten. Gewiss brachte diese Überschrift zum Ausdruck, worum es in dem Buch ging. Aber der ursprüngliche Titel Full Catastrophe Living stellte sich hartnäckig wieder ein. Er ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Der Grund dafür wird bald deutlich werden.

Schließlich blieb es bei dem Titel, und das war gut so. Noch heute kommen Menschen auf mich zu, um mir zu sagen, dass das Buch ihnen selbst, einem Verwandten oder einem Freund buchstäblich das Leben gerettet habe. Bill Moyers, der als Teil seiner PBS[1]-Serie Healing and the Mind eine TV-Dokumentation über unser Übungsprogramm gedreht hatte, erzählte mir, dass er während der Berichterstattung über den Feuersturm von Oakland im Jahr 1991 Zeuge wurde, wie ein Mann es an sich gedrückt hielt, nachdem sein Haus in Flammen aufgegangen war. Und wer aus New York ist, scheint den Titel ohnehin auf Anhieb zu verstehen.

Eine Resonanz wie diese ist es, die mir bestätigt, was ich seit den Anfängen der Arbeit in der Stress Reduction Clinic gespürt habe, als ich erstmals die wohltuenden Auswirkungen beobachten konnte, die die Übung der Achtsamkeit auf unsere Patienten hatte – von denen viele durch die Lücken des Gesundheitssystems gefallen waren und die durch die verschiedenen Therapien gegen ihre chronischen Leiden, wenn überhaupt, keine vollständige Genesung erfuhren.[2] Ganz offensichtlich geht von der Pflege der Aufmerksamkeit etwas Heilendes und tief Verwandelndes aus, eine Kraft, die in der Lage ist, uns unser Leben zurückzugeben, nicht in einem romantisch-weltfremden Sinn, sondern weil aufgrund unseres ursprünglichen Wesens als Mensch – um mit William James, dem »Vater« der amerikanischen Psychologie zu sprechen – »… wir alle einen nährenden Quell der Lebenskraft in uns tragen, von dem wir kaum zu träumen wagen«.

Hier ist von ur-menschlichen Ressourcen die Rede, die in der Tiefe unseres Wesens verborgen sind wie ein unterirdisches Gewässer oder ein Mineralvorkommen, das im Felsgestein des Planeten eingeschlossen liegt. Wir können uns diese Ressourcen erschließen und nutzbar machen, Ressourcen, die uns erlauben, unser Leben zu transformieren. Wie aber geschieht diese Verwandlung? Sie ergibt sich unmittelbar aus unserer Fähigkeit, eine weitere Perspektive zu gewinnen, uns bewusst zu werden, dass wir größer sind, als wir zu sein glauben. Sie folgt unmittelbar daraus, dass wir uns in der Tiefendimension unseres Seins wahrnehmen und annehmen, mit der ganzen Bedeutung dessen, wer und was wir in Wirklichkeit sind. Und wie sich herausstellt, beruhen alle diese in uns liegenden zutiefst menschlichen Kräfte auf unserer Fähigkeit zu einem im Leib verankerten Gewahrsein (embodied awareness)[3], auf unserem Vermögen, unsere Verbindung zu diesem Gewahrsein bewusst zu entdecken und zu entwickeln. Wir gelangen dahin, indem wir auf eine ganz besondere Weise aufmerksam sind, und zwar gezielt im gegenwärtigen Moment und ohne zu werten.

Diese Dimension des Seins war mir seit meinen eigenen Meditationserfahrungen vertraut, lange bevor das Phänomen »Achtsamkeit« wissenschaftlich erforscht wurde. Und es würde für mich nichts von seiner Bedeutung verlieren, selbst wenn sich eine solche Wissenschaft niemals entwickelt hätte. Die Praxis der Achtsamkeit oder Meditation steht für sich selbst, besitzt ihre eigene überzeugende Logik, ihre eigene empirische Gültigkeit – etwas, das sich nur von innen heraus erfahren lässt, indem man sie über einen gewissen Zeitraum im eigenen Leben kultiviert und sich dabei der Führung derer anvertraut, die diesen Weg vor uns beschritten haben. Sie können uns zeigen, worauf wir zu achten haben und auch, worauf wir entlang des Weges gefasst sein müssen. Denn er wird uns nicht nur an Orte führen, die es genauer zu erkunden gilt und an denen zu verweilen sich lohnt, sondern die Pflege der Achtsamkeit hält anfänglich auch einige Abwege und Fallstricke bereit – von denen der größte darin besteht, dass wir uns selbst zu ernst nehmen und uns mit einzelnen Aspekten unserer Erfahrung (wie Gedanken, Meinungen, Vorlieben und Abneigungen) identifizieren, die uns weder als Ganzes ausmachen noch wesentlich zu dem gehören, wer wir in Wirklichkeit sind. Eine andere Gefahr sind unsere schlechten Angewohnheiten, die wir irgendwann einmal angenommen haben, vielleicht ohne uns ihrer wirklich bewusst zu werden. Daher kann es von unschätzbarem Wert sein, sich auf entscheidenden Etappen des Weges auf die Anleitung durch Menschen, deren Lebensweg bereits durch ähnliche Gefilde geführt hat, verlassen zu können.

Anleitung in Anspruch zu nehmen bedeutet nicht einen Verlust an eigener Kreativität oder die Verleugnung der einmaligen Lebensumstände, in denen jeder von uns sich vorfindet. Im Gegenteil. Was sie uns bieten kann, ist die zuverlässige Begleitung bei einem Prozess, der uns lehrt, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, auch wenn uns das manchmal unmöglich erscheint. Anleitung ist also vor allem als eine verlässliche Wegbegleitung zu verstehen, die uns hilft, auch in schweren Zeiten offen für die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zu bleiben und für uns selbst und die Menschen, die uns am Herzen liegen, ein neues oder besseres Leben aufzubauen. Wie ich hoffe, werden dieses Buch und das MBSR-Programm, das in ihm beschrieben ist, ihren Lesern in diesem Sinne von Nutzen sein, als eine Landkarte, die in unbekanntem und manchmal bedrohlich erscheinendem Gelände den Weg weist. Im selben Sinn ist auch die Literaturliste im Anhang gemeint: Die ausgewählten Bücher sollen als mögliche Begleiter auf einer – womöglich lebenslangen – Entdeckungsreise in das Reich der Achtsamkeit verstanden sein. Letztlich handelt es sich um nichts Geringeres als das Abenteuer, ein erfülltes Leben zu leben oder, besser gesagt, zu ihm zu erwachen.

Keine Landkarte vermag indes, eine Landschaft vollständig abzubilden. Wir müssen sie selbst erleben, das heißt unmittelbar mit eigenen Sinnen erfahren, um sie wirklich kennenzulernen und ihren wohltuenden Einfluss zu erfahren. Dazu müssen wir sie wenigstens von Zeit zu Zeit aufsuchen, besser noch in ihr heimisch werden. Im Falle der Achtsamkeit ist diese unmittelbare Erfahrung nichts anderes als das große Abenteuer des sich entfaltenden Lebens, das immer jetzt – dort, wo wir bereits sind – seinen Anfang nimmt, wo immer und unter wie schwierigen Umständen dies auch sein mag. Oder wie wir häufig unseren Patienten beim Einführungsgespräch in der Stress Reduction Clinic sagen:

»Aus unserer Sicht haben Sie, solange Sie atmen, mehr gesunde als kranke Anteile in sich, egal, was alles mit Ihnen nicht stimmt. Vieles von dem, was gesund in uns ist, beachten wir entweder gar nicht, vernachlässigen wir oder nehmen es als selbstverständlich hin. Innerhalb der kommenden acht Wochen werden wir daher diese gesunden Anteile in Ihnen, in der Form gezielter Aufmerksamkeit, mit Energie versorgen. Die andere, »kranke« Seite überlassen wir inzwischen der Klinik mit ihrer Ärzteschaft und warten einfach ab, was geschieht.«

In diesem Sinne ist es gemeint, dass sich mit dem Konzept der Achtsamkeit und insbesondere mit dem MBSR-Programm, wie es in diesem Buch beschrieben wird, die Aufforderung verbindet, sich auf das Abenteuer des eigenen Lebens einzulassen, das Abenteuer einer neuen Erfahrung, die Körper, Seele und Geist umfasst. Indem wir auf gezieltere und zugleich liebevollere Art und Weise aufmerksam sind, entdecken wir vielleicht ganz neue und wesentliche Dimensionen unseres Lebens, die wir bislang nicht wahrgenommen oder aus irgendeinem Grund ignoriert haben.

Dabei zeigt sich, dass es ein sehr gesundes und heilsames »Tun« ist, auf diese neue Weise wach und aufmerksam zu sein, obwohl es sich, wie wir noch sehen werden, keineswegs um ein Tun im herkömmlichen Sinn handelt oder darum, irgendwohin zu gelangen. Es geht vielmehr um ein Sein und darum, sich so anzunehmen, wie man jetzt schon ist. Es geht darum, die in diesem Ansatz liegende Fülle und sein reiches Potenzial für sich selbst zu entdecken. Dabei markiert das als MBSR bekannte Acht-Wochen-Programm zum Abbau von Stress lediglich einen Anfang. Das eigentliche Abenteuer ist und bleibt das eigene Leben. MBSR ist gewissermaßen eine Durchgangsstation und hoffentlich ein Sprungbrett in eine neue Art des Seins, bei der man in Kontakt ist mit den Dingen, wie sie nun einmal sind. Und ob es uns anfänglich bewusst ist oder nicht: Mit der Aufnahme der Übung werden wir Teil einer weltweiten Gemeinschaft von Menschen, die sich ebenso wie wir selbst von dieser Art zu sein, mit der Welt und dem Leben in Verbindung zu stehen, angezogen fühlen. Dank Internet und seiner sozialen Netzwerke ist diese Gemeinschaft niemals fern.