Broken Darkness

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel «The Truth About Him» bei Bantam Books/Penguin Random House LLC, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

«The Truth About Him» Copyright © 2015 by Molly Fader

This translation published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Redaktion Antonia Zauner, Olching

Umschlaggestaltung und Illustration bürosüd, München

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN Printausgabe 978-3-499-27522-7 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-40487-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40487-8

Für die Tage voller Sonne in Florida. Für die Kartenspiele. Die Margaritas. Die Spaziergänge am Strand. Diese Woche erfüllt jedes Jahr meine Seele.

Annie

Annie McKay kam zu sich. Nach und nach nahm sie einzelne Details ihrer Umgebung wahr.

Die genarbte Oberfläche des Linoleums unter ihrer Wange. Ihren verdrehten Fuß, der an etwas Hartem verkeilt war.

Den kupfrigen Blutgeruch. Er drehte ihr den Magen um, sodass sie würgte.

«Annie, es tut mir leid.»

Die Stimme … oh Gott.

Es war Hoyt. Ihr Mann. Er ragte über ihr auf.

Einige Augenblicke lang, viele eigentlich, zweifelte sie, ob er wirklich da stand. Vielleicht war sie bei der Rückkehr in den Wohnwagen gestolpert und gestürzt, hatte sich den Kopf angeschlagen. Und halluzinierte. Holte Hoyt aus alten Albträumen hervor. Das erschien ihr viel einleuchtender.

Denn er konnte sie unmöglich gefunden haben.

Ich bin vorsichtig gewesen. So vorsichtig.

Vor zwei Monaten war sie vor ihm geflohen. Mit Blutergüssen am Hals und dreitausend Dollar aus seinem Tresor. Verzweifelt und verängstigt hatte sie mitten in der Nacht

Hunderte Meilen weit weg von Hoyt. Von Oklahoma. Von der Farm, wo sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte.

Und hier war sie glücklich gewesen, so glücklich wie noch nie. Vor nicht mal zwei Stunden hatte sie Dylan und sein beeindruckendes Haus verlassen. Am ganzen Körper glühend, lebendig und befriedigt. Und mit klarem Kopf.

Sie hatte Pläne gemacht, richtige Pläne für ihr Leben, und nicht bloß verängstigt auf etwas reagiert.

Alles hatte sich zum Besseren verändern sollen.

«Annie?»

Das ist keine Halluzination.

Sei klug, Annie. Denk nach!

«Hast du gehört, was ich gesagt habe?»

Still lag sie da. Hoyt hasste es, wenn sie schwieg. Seine Entschuldigungen musste sie immer prompt annehmen, seine Schuldgefühle sofort lindern.

Aber sie sagte nichts. Denn … er konnte sie mal.

«Steh auf.»

Sie hielt die Augen geschlossen, weil sie noch nicht bereit war, ihn zu sehen. Nicht hier. Nicht in ihrem Wohnwagen. Ihrem Zuhause.

Weil sie hoffte, das Handy noch in der Hosentasche zu haben, drehte sie sich auf den Rücken.

Bitte, bitte, betete sie, bitte, lass es noch da sein.

Unter ihrem Hintern war nichts. Das Handy war weg.

«Na also. Ist gar nicht schlimm, nicht wahr? Also, steh

Heiße Tränen sickerten unter ihren Wimpern hervor, sosehr sie sich auch bemühte, sie zurückzuhalten.

«Na komm.» Er wollte ihr um die Hüfte und unter die Achselhöhle greifen, um ihr aufzuhelfen, aber sie zuckte voller Widerwillen zurück. Wackelig kam sie auf die Beine. Als sie die Augen öffnete, verschwamm alles. Sie griff nach der Tischkante, landete halb auf der Polsterbank und drohte abzurutschen.

«Du verschmierst überall Blut.» Seine vertrauten Hände mit den kleinen Narben und den kurzgeschnittenen Nägeln hielten ihr einen rosa Waschlappen hin. Es war der aus ihrem Bad. Wahrscheinlich hatte er ihre Sachen durchwühlt, alles angefasst. Alles war jetzt mit ihm behaftet.

Auf keinen Fall würde sie den Waschlappen nehmen. Nicht aus seiner Hand.

«Na schön», brummte er und warf ihn auf den Tisch. «Mach es selbst.»

Beleidigt trampelte er zu den Autositzen vorn im Wohnwagen und setzte sich.

Hoyt an diesem bislang hoytfreien Ort zu sehen, war ein Schock.

Sie zwang sich, ihn anzublicken. Ihn wirklich anzublicken.

Er war ein kräftiger Mann, über eins achtzig groß und am ganzen Körper muskelbepackt, weil er mal Rodeoreiter gewesen war. Er hatte weißblonde Haare, sodass seine Brauen und Wimpern fast nicht auffielen, was sein Gesicht

Aufrichtigkeit sah aus wie Täuschung. Wut sah aus wie Vergebung.

Anfangs hielt sie ihn für einen ruhigen Menschen. Andere Leute auch, zu Beginn ihrer Ehe sagte das jeder über ihn.

Er ist so ruhig, sagten alle. Und daran klammerte sie sich. Mit beiden Händen und ihrer ganzen Angst nach dem Tod ihrer Mutter. Sie klammerte sich an den Eindruck, den sie für wahr halten wollte.

Aber der war eine Lüge gewesen. Alles an ihm war eine Lüge.

Und sie selbst war dumm gewesen.

Dass er sich genauso benahm wie immer, dasselbe anhatte wie immer – Jeans, seine braunen Cowboystiefel und das dunkelblaue Westernhemd mit den Perlmuttdruckknöpfen, am Gürtel das Messer mit dem Knochengriff –, machte es umso surrealer.

Neuer Ort, alter Albtraum.

Ihr Handy lag jetzt auf seinem Knie. Er hatte es ihr weggenommen, ihre Taschen ausgeräumt, während sie bewusstlos am Boden gelegen hatte.

Weil er ein Tier war.

«Es tut mir leid», sagte er mit völligem Ernst, was sie umso mehr erschreckte. «Ich weiß, zu Hause, das hat dir Angst gemacht. Was ich getan habe … an dem Abend in der Küche?» Er tat, als könnte sie es vergessen haben. «Das war zu viel. Ich verstehe das.»

«Es wird nicht wieder vorkommen. Das schwöre ich.»

«Wie hast du mich gefunden?» Sie versuchte, sich auf den Augenblick zu konzentrieren, einen klaren Blick zu behalten.

«Glaubst du mir?», fragte er. «Dass es anders werden wird?»

Nein. Nicht in einer Million Jahren.

«Ich glaube dir», log sie und stützte ihren schweren, wummernden Kopf in die Hand. «Erzähl mir doch, wie du mich gefunden hast.»

«Das war schon ziemlich cool.» Er lächelte auf eine Art, die vermutlich bescheiden wirken sollte, so, als sollte sie stolz auf ihn sein. «Die Bassett Gazette hat so ein Widget-Dings – so heißt das – auf ihrer Website. Da sieht man eine Karte der Vereinigten Staaten, und auf der Karte sind Stecknadeln, die markieren, wo sich Leute in die Website einloggen. Die Kleine im Büro, mit der ich geredet habe, war ganz begeistert davon, meinte, sie zeigen, dass die Zeitung überall online gelesen wird. Und da gab es den einen Punkt … den einen kleinen Punkt, den ich beobachtet habe. Weißt du, wo der hinwanderte?»

Ihr war schlecht, aber sie nickte. Sie hatte sich für so clever gehalten.

«Eine Zeitlang bewegte er sich im Kreis, dann nach Norden, nach Pennsylvania und dann nach Süden. Und dann blieb er in Cherokee, North Carolina. Wo er immer wieder aufleuchtete. Einmal pro Woche. Dienstags. Das ist der Tag,

In einem ihrer historischen Romane kam ein Mann vor, der einen Falken hatte. Und Annie gefielen die Schilderungen, wie der Mann den Falken fliegen ließ und für ihn sorgte, die Beschreibung der Glöckchen und der Handschuhe und des Beutels mit den Fleischstückchen an seinem Gürtel. Und beim Lesen hatte sie gedacht, wie großartig es wäre, ein wildes Tier zu halten.

Aber jetzt begriff sie, wie sich der Falke fühlen musste. Eben noch frei die Flügel ausbreiten, hoch über die Landschaft aufsteigen, dann plötzlich mit einer Haube über dem Kopf angekettet. In Gefangenschaft. Die Freiheit nur noch eine Erinnerung.

«Ich bin eine Woche lang dort geblieben, hab in der Bibliothek herumgehangen. Im Supermarkt. Alle Motels abgeklappert, aber … nichts. Ich erfuhr von dem Trailerpark und hab mich umgesehen. Dabei bin ich diesem Phil an einer Tankstelle begegnet. Er hat mir so einiges über das Leben hier erzählt. Und als ich dich beschrieb, meinte er, du würdest vielleicht hier wohnen. Du bist mit seiner Frau befreundet? Ich fürchte, Phil kann dich nicht besonders leiden.»

«Was willst du?» Sie konnte nicht länger so tun, als ob.

Er schaute sie an, als wäre er überrascht, mit offenem Mund, die hellen Brauen bis zur Stirnmitte hochgezogen. «Ich will, dass du heimkommst. Dass du wieder meine Frau bist.»

«Was bedeutet das überhaupt für dich, Hoyt? Deine Frau? Du liebst mich nicht …»

Er stand auf, und sie drückte sich gegen das Rückenpolster.

«Ich habe mich entschuldigt. Mehr als das kann ich nicht tun. Du hattest deinen Spaß. Die Leute fragen nach dir, und ich bin es leid, mich schräg von der Seite ansehen zu lassen. Jeder denkt, ich hätte dir was getan. Vor zwei Wochen war die Polizei bei uns. Die Polizei, Annie. Da hat’s mir gereicht.»

Er berührte ihre Hand, ehe sie sie wegziehen konnte. Es war schlimmer, wenn er so tat, als bemühte er sich um sie. Oder vielleicht bemühte er sich tatsächlich und wusste nur nicht, wie er das richtig anstellen sollte.

«Wir können wieder zur Kirche gehen.»

Annie blickte auf, unsicher, ob er das tatsächlich gesagt oder ob sie es sich nur eingebildet hatte.

«Annie? Möchtest du gern wieder zur Kirche gehen?»

«Ja … natürlich», sagte sie leise. Vor drei Jahren hätte sie noch vor Dankbarkeit geweint. Inzwischen ließ sie sich jedoch nicht mehr täuschen. Er würde sie einmal hingehen lassen, vielleicht zweimal, und dann einen Vorwand finden, sie wieder davon abzuhalten.

Und da war er. Der wahre Grund, warum er sie wieder zu Hause haben wollte. Der Landverkauf wegen der Windräder. Der war ohne ihre Unterschrift nicht zu machen. Darum fand diese kleine Szene hier statt. «Es ist Zeit, an die Zukunft zu denken, meinst du nicht?»

Meine Zukunft wird möglichst weit von dir entfernt stattfinden.

«Ich verzeihe dir, dass du mich bestohlen hast, Annie. Das Geld, die Pistole. Vergeben und vergessen.»

Oh mein Gott.

Die Pistole.

Die Pistole im Nachttisch.

Hatte er die auch gefunden? Oder lag sie da noch?

Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Kein bisschen.

«Ich … ich muss das T-Shirt wechseln.» Es war zerrissen und blutig. Die Flecke würden nie wieder rausgehen. Zu Hause hatte sie etliche davon gehabt. Kleidungsstücke, die im Lumpensack oder im Mülleimer landeten, weil die Wahrheit über ihr Leben darauf verewigt war.

Mit wackeligen Beinen stand sie auf und ging, eine Hand an der Wand, durch den kurzen Flur ins Schlafzimmer.

Bitte. Bitte sei noch da. Bitte sei noch da. Die Pistole war ihre einzige Chance.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, warf sie sich trotz Schwindel und Kopfschmerzen förmlich über das Bett und riss die Nachttischschublade auf.

Sie bekam weiche Knie und rutschte an der Wand hinunter auf den Boden.

Quietschend ging die Tür auf, und Hoyt stand da. Ein blonder Teufel. Ihre Pistole wie ein Spielzeug in seiner großen Hand.

In der anderen hielt er die Bücher. Die Klebezettel von Dylan. Die Artefakte ihrer Rebellion. Ihres ganzen Lebens hier.

Wortlos warf er die Bücher aufs Bett. Den Zeitungsartikel. Die Klebezettel.

Sie wollte sie wegnehmen, weg aus seiner Reichweite. Aus seinem Blickfeld. Aber es war zu spät. Was sie besaß, hatte er angefasst und damit verdorben. Sie senkte den Kopf, um ihn nicht sehen zu müssen. Wie ein Kind: Wenn sie ihn nicht sah, dann war er nicht da.

Dann war das alles nie passiert.

Sie musste nur irgendwie aus der Sache rauskommen.

«Wer ist Dylan Daniels?», fragte er.

«Niemand. Ich weiß nicht, wer er ist.» Annie stand auf. Warum sie sich die Mühe machte zu lügen, wenn sie das so schlecht hinbekam, wusste sie nicht. Sie wusste nur, sie durfte Dylan nicht ins Zentrum dieses Albtraums rücken.

«Stopp.» Er hielt das Handy hoch, auf dem Display war ihr Chat zu sehen. Zusammen mit dem Foto, auf dem sie fast nackt war. Ihre Brüste und ihr Bauch und weiß verschwommen ihre Oberschenkel.

«Ich weiß Bescheid. Du solltest also aufhören zu lügen. Um deinetwillen.»

Er würde sie umbringen. Sie keuchte halb schluchzend.

«Sieh mich nicht so an», wisperte er mit gequälter Miene. «Ich werde dir nichts tun.»

Fast hätte sie gelacht. Aber der Schrecken schnürte ihr die Brust zusammen.

«Es gefällt mir nicht, Annie, aber ich … ich glaube, ich verstehe es.» Er legte den Kopf schräg wie der alte gelbe Labrador, den sie mal gehabt hatten. «Was ich mit dir gemacht habe … deswegen hast du dich so aufgeführt. Ich weiß, das bist du nicht wirklich. Das Foto, die Klebezettel. Das ist nicht die Annie, die ich kenne.»

Die Annie, die er kannte, war eine Flickenpuppe. Eine Vogelscheuche. Ein bewegliches Spiegelbild von ihm. Die Annie, die er kannte, gab es nicht mehr.

Aber Hoyt redete weiter. «Wir können heimfahren und es einfach vergessen. Diesen Daniels vergessen. Von vorn anfangen.»

Das war unmöglich. Dylan Daniels zu vergessen, war unmöglich. Er war ihr unter die Haut gegangen. In ihr Innerstes vorgedrungen.

Beweg dich, sagte sie sich. Bleib in Bewegung. Sitz nicht bloß da und lass dir wieder das Leben ruinieren. Solange sie

Sie zog ein sauberes T-Shirt aus der Kommode. «Würdest du, bitte?», sagte sie, als er einfach stehen blieb. Die Waffe hielt er so locker, als wollte er ihre Angst verhöhnen.

An seinem Kiefer zuckte ein Muskel, und er blickte auf die Bücher und das Handy und fragte stumm, ob sie wirklich glaubte, sie hätte jetzt Anstand verdient. Doch dann nickte er und ging hinaus, als wäre es ein besonderer Gefallen, wenn er ihr Privatsphäre zugestand. Ein dummer, alberner Wunsch einer dummen, albernen Frau.

Sowie er weg war, zog sie sich das ruinierte T-Shirt aus und ein sauberes über. In diesem Zimmer waren die Fenster zu klein, um hinauszuklettern. Trotzdem zog sie die Vorhänge auf, denn sie hoffte, dass Ben in seinem Garten sein und sie bemerken würde. Aber er war nicht dort. Und in Joans Wohnwagen brannte noch immer kein Licht.

So leise wie möglich trat sie zur Tür und hielt das Ohr daran, um zu hören, wo Hoyt sich aufhielt. Aber es war still. Unheimlich still.

Zitternd zog sie die Tür einen Spalt weit auf und sah ihn auf dem Fahrersitz. Er aß eine Zimtschnecke aus dem Beutel, den sie von Dylans Haus mitgebracht hatte. Wenn sie geschickt und schnell war, könnte sie vor ihm an der Tür sein.

Sie machte sich auf den Weg in die kleine Küche und stützte sich dabei an der Wand ab, so, als wäre ihr schwindlig. Noch anderthalb Meter. Ein Meter. Ein halber. Die Tür war fast in Reichweite. Sie blieb stehen und fasste sich an die

«Willst du packen?», fragte er. «Ich möchte zurückfahren. Wir sind schon viel zu lange weg.» Als wären sie gemeinsam verreist. Hätten einen Ausflug gemacht.

«Können wir vorher noch was essen? Ich muss was essen. Dann ist mir vielleicht nicht mehr so schwindlig.»

Sie drehte sich um, sodass sie zwischen ihm und der Tür stand, und dann tat sie, als griffe sie nach dem Einkaufsbeutel, doch stattdessen packte sie den Öffner und stieß die Tür auf. Kalte Luft umströmte sie, als sie die Stufen hinunterspringen wollte. Aber Hoyt bekam ihr T-Shirt zu fassen, packte sie bei den Haaren und riss sie zurück in den Wohnwagen.

Und knallte die Tür zu.

Annie kreischte so laut, dass ihr die Kehle weh tat, und er verpasste ihr einen Rückhandschlag, stieß sie zu Boden und warf sich auf sie, was ihr die Luft aus der Lunge trieb. Er drückte ihr die Hand auf den Mund. Sein Messer hatte sich zur Seite gedreht, und die Spitze der Lederscheide berührte sie an der Taille, wo ihr Shirt hochgerutscht war.

Sie wollte sich davon wegschieben, doch er lag zu schwer auf ihr.

Bei jedem Atemzug spürte sie die kratzende Lederscheide.

«Sieh mich an, Annie», verlangte er scheinbar ruhig. «Ich habe dich gefunden, und wir sind wieder zusammen. Du wirst nirgendwohin gehen. Und das musst du begreifen.»

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich aufzubäumen und ihn abzuwerfen.

Er rückte ein Stückchen höher, und zu ihrem Entsetzen bemerkte sie, dass er unter dem Reißverschluss hart war. Dieser Mann, der selten Sex mit ihr gewollt hatte, war erregt. Sie schloss die Augen vor diesem neuen, entsetzlichen Schrecken.

Deutlich spürte sie die Messerscheide und seine Erektion.

«Wusste er, dass du verheiratet bist, als du ihn gevögelt hast?»

Sie antwortete nicht. Wollte es nicht. Er trieb ein krankes Spiel mit ihr. Er strich ihr übers Haar, und sie hätte am liebsten geschrien.

«Du riechst schmutzig. Nach Schweiß und Sex.» Er schnupperte an ihr. Schob die Nase in ihre Haare. An ihren Hals. «Mach die Beine breit, Annie.»

Wimmernd presste sie die Oberschenkel zusammen.

So werde ich sterben.

Plötzlich klopfte es an der Tür, und sie erstarrten beide. Als sie die Augen aufmachte, sah sie gerade noch sein Erschrecken, dann wurde sein Gesicht wieder schrecklich leer.

«Annie!» Es war Ben. Der alte, gebrechliche Ben. «Alles in Ordnung mit dir? Ich hab dich schreien hören.»

«Wer ist das?», fragte Hoyt.

«Du willst sicher nicht, dass dem Mann was passiert.» Sein Mentholatem wehte über ihr Gesicht. Er lutschte ständig Hustenbonbons. «Wenn du auch nur ein Wort sagst, ihm irgendwie zu verstehen gibst, dass etwas nicht in Ordnung ist, dann kriegt er es mit mir zu tun. Wir beide fahren nach Hause, Annie. Daran kannst du nichts ändern. Egal, was du tust.»

Die Situation war umso brenzliger, weil Ben mal zu einer Rockerbande gehört hatte und vorbestraft war. Die Cops würden nur einen Blick auf ihr Gesicht und auf Bens Vorstrafen werfen und Hoyt jedes Wort glauben.

Hoyt wirkte sehr glaubwürdig.

Ganz langsam erhob er sich von Annie, ohne sie eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Sie reagierte jetzt anders, als er es gewohnt war, und sie zog Kraft aus der Tatsache, nicht länger unterschätzt zu werden.

Zitternd stand sie auf, griff nach dem rosa Waschlappen auf dem Tisch und drückte ihn sich an die Stirn. In der Hoffnung, Ben würde glauben, was sie ihm gleich vormachen wollte.

Hoyt zog sich aus dem Blickfeld der Tür zurück, und Annie trat nach draußen und schloss sie leise hinter sich.

Jetzt könnte ich abhauen.

Aber Hoyt würde sich an ihre Fersen heften. Und vorher Ben etwas antun.

«Alles okay bei dir?», fragte Ben besorgt, wie immer in einem sauberen weißen T-Shirt, das tadellos gebügelt war. Er

Und könnte ihr nicht helfen.

«Alles bestens», log sie lächelnd. «Da war eine Schlange, und ich bin schreiend zur Seite gesprungen und hab mir den Kopf am Küchenschrank gestoßen.»

«Bestimmt eine Königsnatter. Die hat man hier ständig», sagte er. «Willst du, dass ich …?»

Sie stellte sich ihm in den Weg, als er sich zur Seite neigte, um in den Wohnwagen zu spähen oder, schlimmer noch, um an ihr vorbei hineinzugehen. «Nein, hat sich erledigt.»

Das klang gar nicht überzeugend. Er deutete auf sein Auge. «Am Auge hast du dich auch gestoßen? Und an der Lippe?»

«Bitte», seufzte sie, weil sie nicht länger lügen konnte. «Bitte, Ben, geh einfach.»

«Annie …»

«Verdammt noch mal, Mann. Mir geht’s gut. Ich bin müde und will mich jetzt hinlegen. Lass mich in Ruhe.»

Seinen dunklen Augen entging nichts, und sie hatte keine Ahnung, was er jetzt dachte, aber schließlich gab er nach, hob beschwichtigend die Hände und zog ab. Und mit ihm verschwand jede Hoffnung auf Rettung.

Annie würde sich selbst retten müssen.

Dylan

Es fiel mir schon schwer zu hoffen, aber zu vertrauen war unmöglich.

Unter Dieben, Mördern und tollwütigen Tieren in Menschengestalt aufzuwachsen, das sorgte nicht gerade für Urvertrauen.

Aber gottverdammt, ich gab mir Mühe. Ich klammerte mich an Hoffnung und Vertrauen. Mit meinen narbigen Händen, die es viel zu sehr gewohnt waren, derlei Dinge wegzustoßen.

Ich lehnte mich gegen den Küchentresen und las die Textnachricht, die Annie mir vor zwei Stunden geschickt hatte. Ich kannte sie schon auswendig. Würde sie wahrscheinlich noch auf dem Totenbett aufsagen können. Trotzdem blickte ich darauf, als würde es mir helfen, es tatsächlich zu glauben.

Ich weiß von deiner Haftstrafe. Ich weiß, was passiert ist. Das ändert für mich nichts. Für mich bleibst du derselbe. Wenn die Angelegenheit erledigt ist, wenn ich damit fertig bin, komme ich zu dir. Um die Geschichte von dir selbst zu hören. Um zu vollenden, was wir angefangen haben.

Seit dem Unfall und den Verbrennungen vor fünf Jahren ging es in meinem Leben um Kontrolle. Ich ließ niemanden rein oder raus, einschließlich mir selbst. Ich lebte in einer Festung auf einem Berg, der mir gehörte. Der Hauptsitz meiner Firma, 989 Engines, die ich mit meinen einzigen Freunden gegründet hatte, befand sich hier, die Werkstatt ebenfalls. Ich arbeitete noch mit denselben Leuten wie nach meiner Haftentlassung vor neun Jahren.

Ich arbeitete. Ich machte Geld. Mehr, als ich in meinem Einsiedlerleben ausgeben konnte.

Ich war nicht einsam. Ich hatte keine Bedürfnisse.

Oder jedenfalls hatte ich das geglaubt.

Bis Annie McKay auf der Bildfläche erschien. Aus dem toten Winkel krachte sie mitten in mein Leben.

Ich hatte sie überhaupt nicht kommen sehen.

Es hatte Jahre gedauert, um all die Gefühle für meine Familie abzutöten. Aber ich hatte es geschafft. Die Erinnerungen lagen mit Ketten umwickelt am Grund des Ozeans. Mein Bruder. Meine Mom. Pops. Es war hart gewesen. Härter als manches andere, aber es hatte mir gutgetan. Das war mir klar.

Doch Annie hatte meinen Berg vor zwei Stunden verlassen, und das Haus war nun mit den Geistern der Vergangenheit bevölkert. Die Luft stickig vor Erinnerungen und Gerüchen und dem Nachhall ihrer Stimme.

Dort auf der Couch hatte sie mich eingelassen. In die feuchte Enge. Ich spürte noch immer ihren Atem an meiner Schulter, während sie mich langsam in sich aufnahm.

Am Tisch hatte sie Champagner getrunken. Wegen des Käses, den sie nicht mochte, gelogen. In dem schwarzen Morgenmantel, den ich nie anzog.

Im Badezimmer hatte sie auf dem Waschtisch gesessen, sich an den Spiegel gelehnt, ihr Körper rosig und blass vor mir ausgebreitet. Das verblüffend rote Haar zwischen ihren Beinen. Annie war auf dem Kopf weißblond, und ich hätte ahnen sollen, dass etwas nicht stimmte, als ich diese roten Löckchen sah. Aber ich war zu heiß gewesen, zu … getrieben, um solche Überlegungen anzustellen.

Im Schlafzimmer lag ihr Geist auf dem Bett eingerollt und verriet mir ihr großes – vernichtendes – Geheimnis.

Ich bin verheiratet, sagte sie, nachdem ich sie gefickt hatte. Zweimal. Nach einer wochenlangen Telefonbeziehung.

Ich hatte nicht viele Grundsätze, aber einer war, dass ich keine verheirateten Frauen fickte. Ich war angepisst, klar, aber nur vorübergehend. Denn wir hatten beide Geheimnisse. Dieses war ihres.

Meins war … Scheiße, meins war schlimmer.

Und nun wusste sie Bescheid. Weil Pops es ihr erzählt hatte.

Aber wusste sie es wirklich?

Jemand klopfte an meine Haustür, und das taten nur zwei Leute: mein Geschäftspartner Blake oder Margaret, seine Mutter. Und ich wollte keinen von beiden sehen. Ich wollte

«Geh weg!», brüllte ich.

Die Tür wurde trotzdem geöffnet.

«Bist du taub?»

«Nein.» Es war Blake. Ich nahm hastig den Morgenmantel weg, der noch auf dem Tisch lag, und die Kondomverpackung vom Rand der Couch. «Aber du vielleicht?», meinte Blake, als er in die Küche kam. Er trug einen seiner teuren Anzüge und einen Seidenschlips, die Arbeit in der Werkstatt war ihm nicht anzusehen. Wie alle diese Typen, die mit viel Geld hantierten, hatte er sich den Dreck unter den Fingernägeln wegmaniküren lassen.

Er trug rosa Krawatten. Rosa. Und keiner zog ihn damit auf.

Weil er Unternehmer war. Erfolgreich.

Er warf mir ein Lächeln zu, das ich schon oft gesehen hatte, jedes Mal, kurz bevor er jemanden zusammenfaltete. Blake besaß Charme und setzte ihn gekonnt ein, weshalb sich viele Leute in ihm täuschten. «Das würde erklären, warum du nicht ans Handy gehst.» Er sah mich mit den gleichen grünen Augen wie sein Vater an, nur dass der mich nicht verurteilt hatte.

Blake urteilte ständig über mich. Sogar, wenn er sich bemühte, es nicht zu tun.

Und im Moment konnte er sich sein Urteil sonst wohin schieben.

«Ich war beschäftigt», sagte ich ausweichend und warf etwas von den Essensresten in den Mülleimer.

Das gab Blake das Recht, sich über mich lustig zu machen.

Doch alles hatte seine Grenzen.

«Was willst du, Blake?»

Blake stieß sich vom Tisch ab, der Charme verschwand.

«Unten sind alle mit den abschließenden Getriebetests beschäftigt, einschließlich mir übrigens, trotz der zwanzig anderen Dinge, die ich erledigen müsste. Weil wir im Zeitplan zurückliegen, weil andere Motorenbauer uns zuvorkommen wollen, weil all unsere sehr interessierten, sehr reichen Käufer kribbelig werden. Und du räumst deine Küche auf?»

«Die Jungs kriegen das schon hin. Ich habe an dem Getriebe mehr Arbeitsstunden geleistet als jeder andere. Ich komme runter, wenn ich so weit bin.»

«Geht es um diese Frau?»

Diese Frau. Sein anzüglicher Ton brachte mich auf die Palme.

«Sie heißt Annie.»

«Meinetwegen. Ich dachte, sie ist gegangen.»

«Ist sie.»

Traurig, aber entschlossen. Nicht bereit, mehr von mir anzunehmen als die Telefonnummer meines Anwalts. Sie

Ich muss das allein tun, hatte sie gesagt, mit einer unerbittlichen Entschlossenheit, die ich gut verstand.

Und ich ließ sie gehen, weil ich ihr glaubte. Ich bewunderte sie dafür.

«Gott sei Dank, Mann», sagte Blake. «Vielleicht kriegen wir dann endlich was geschafft. Seit zwei Monaten läufst du herum, als wäre dir das Handy am Schwanz angewachsen.» Das kam der Wahrheit näher, als er vermutlich dachte. In den letzten vier Wochen war es so schlimm gewesen, dass ich jedes Mal hart wurde, wenn das Handy klingelte.

«Sie wird zurückkommen.»

Denn auf ihre Frage, ob sie das tun dürfe, sagte ich ja.

Ich schrieb ihr, ich würde auf sie warten.

«Sie kommt zurück? Hierher?» Ich hatte Verständnis für Blakes ungläubigen Ton. Sonst kamen keine Frauen hierher. «Hast du ihr erzählt …?»

«Nein.»

«Dylan», seufzte er. «Du musst es ihr sagen. Dass du im Knast warst und was da passiert ist – das darfst du ihr nicht verschweigen.»

«Sie weiß es.»

«Woher?»

«Pops muss es ihr gesagt haben. Sie hat mir geschrieben, dass sie Bescheid weiß und dass das nichts ändert.»

«Keine Ahnung», sagte ich.

Und vielleicht wäre es richtig, sie gehen zu lassen, einen klaren Schnitt zu machen. Keinen Kontakt mehr. Nur Erinnerungen.

Doch dazu war ich noch nicht bereit. Noch wollte ich mehr von ihr. Alles.

«Und du vertraust ihr?»

Oh Mann. Wenn Blake wüsste, wie sehr sie mich belogen hatte – von Anfang an immer wieder –, würde er ausflippen.

«Das möchte ich.» Mehr sagte ich dazu nicht.

Blake lachte, aber es klang bitter. Hart. «Ich kenne dich seit neun Jahren, Mann, seit deine Familie dich an unserer Tür abgegeben und sich aus dem Staub gemacht hat. Ich habe an deiner Seite gearbeitet, mit dir und für dich jede Menge Geld gescheffelt. Meine Mom hat dir nach dem Rennunfall praktisch das Leben gerettet. Mein Vater hat dich geliebt wie einen Sohn …»

«Worauf willst du hinaus?», fuhr ich ihn an.

«Dass ich nach alldem nicht mal sicher bin, ob du mir vertraust. Du traust nämlich niemandem.»

«Klingt, als wärst du eifersüchtig.» Das war scherzhaft gemeint. Aber es war nicht witzig. Überhaupt nicht. Denn

Das hatte ich meiner Familie zu verdanken.

«Nein. Ich bin angepisst. Weil du einer dahergelaufenen Frau …»

«Sie ist keine dahergelaufene Frau», schnauzte ich.

«Jede kommt dahergelaufen», hielt er dagegen. «Die niedlichen, die gerissenen, die, die dir den Schwanz lutschen, und die, die es nicht tun. Und jetzt hängt sogar dein Dad mit drin. Wann war das je etwas Gutes?»

Nie. Kein einziges Mal.

Auf ein leises Summen holte Blake sein Handy aus der Jacketttasche.

«Einen Moment», sagte er zu mir, wandte sich ab und ging mit dem Handy am Ohr in den dunklen Flur.

Mein dünnes Vertrauen bekam Risse. Ich wollte Blake nicht zuhören. Ich wollte nicht, dass er recht hatte.

Aber er hatte bei vielem recht.

Ich hielt die Champagnerflasche in der Hand, die Annie und ich vor dem Sex getrunken hatten. Bevor sie mir gestand, dass sie verheiratet war.

Ich wollte sie in der Spüle zerschmettern.

Ich wollte den Kerl zerschmettern, über den Blake geredet hatte – diese Version von mir. Ich wollte sie vernichten. Ich lechzte nach Gewalt und Blut oder nach einem rasanten Rennen und Motordröhnen. Nach allem, was mich von mir selbst ablenken konnte. Von meiner Gefangenschaft in diesem zerstörten Körper.

Ich drehte mich um, und er hielt mir das Handy hin. Er hatte diese ruhige Schadensbegrenzungsmiene aufgesetzt, die ich schon hundert Mal bei ihm gesehen hatte, immer kurz bevor er mir eine schlechte Nachricht überbrachte. «Der Anruf ist für dich. Mein Bruder … Phil. Unten im Trailerpark.»

«Was macht der denn da?» Ich hatte Phil erst vor kurzem gefeuert, was den endgültigen Bruch zwischen ihm und Blake bedeutet hatte.

«Offenbar wohnt er da.»

«In meinem Trailerpark? Wusstest du das?»

Blake schüttelte den Kopf. «Phil behält alles für sich. Wirklich alles. Er ist geradezu paranoid.»

Oh Himmel. Jetzt musste ich mir auch noch Sorgen machen, weil Phil zu Annies Nachbarschaft gehörte.

«Aber er sagt, ein alter Mann mit einem Messer verlangt, dich zu sprechen.»

In dem Trailerpark wohnte nur ein alter Mann, der zwischen Blake, seinem beschissenen Bruder und mir eine Verbindung ziehen konnte.

Und das war Ben.

Pops.

In meinem Nacken kribbelte es. Plötzlich war ich hellwach. Und voller Angst. Ich spürte Kräfte, die da draußen am Werk waren, Ereignisse, die sich allmählich und unaufhaltsam anbahnten.

Unvermeidlich.

«Hallo?»

«Dylan?»

Ich hatte meinen Vater über viele Jahre beobachten lassen, aber nicht ein Mal seine Stimme gehört. Nicht seit dem Tag, an dem er mich in der U-Haft besuchte und verlangte, dass ich auf meine Freiheit verzichtete, damit mein Bruder die seine behalten konnte.

Und sie jetzt zu hören, die alte Raucherstimme und die schleppende Sprechweise, das war, als fiele mir ein Felsbrocken auf die Brust und triebe mir den Atem aus der Lunge. Ich war neunundzwanzig und zugleich neun Jahre alt. Die Distanz schrumpfte zu nichts, und die Jahre und Erinnerungen fielen in sich zusammen.

Jene erste Nacht im Countygefängnis, als meine Tür mitten in der Nacht aufging … Gott, ich hätte alles gegeben, um Pop sagen zu hören, ich solle die Fäuste hochnehmen, weil es jetzt Dresche gäbe.

«Was willst du?», fragte ich.

«Mein Junge …»

«Nicht.» Das kam unwillkürlich. Und ich riss die Hand hoch, wie um ihn abzuwehren. Nach all den Jahren noch. Nenn mich nicht so. Das Recht dazu hast du schon lange verwirkt.

Als Kind drängte ich mich in jede Lücke in seinem und Max’ Leben, nur um Zeit mit ihnen verbringen zu können.

Max dagegen … Max war schon lange weg. Er ließ mich damals auf der Begrüßungsparty bei einem Ersatzbruder und Ersatzeltern zurück und brach den Kontakt zu mir ab.

«Warum rufst du an?», fragte ich. Wieso gerade jetzt?

«Es geht um Annie», sagte er, und alle meine Sinne waren geschärft. «In ihrem Wohnwagen ist ein Kerl, der sie prügelt. Ich glaube, es ist ihr Mann.»

Scheiße. Verdammt.

«Kannst du sie da rausholen?», fragte ich.

«Ich hab’s versucht. Sie hat mir quasi die Tür vor der Nase zugeknallt. Ich beobachte die Sache, aber du musst herkommen, mein Junge. Und zwar schnell.»

Innerlich auf hundertachtzig schnappte ich mir die Schlüssel vom Haken an der Tür und trat in die kühle Dämmerung. Blake stand draußen an die Holzwand gelehnt. In meiner Adrenalinflut spürte ich alles. Die Luft. Den Kies unter den Sohlen. Die scharfen Kanten des Schlüssels in der Hand.

«Alles okay?», fragte Blake, und trotz seiner harten Worte eben war ihm jetzt die Besorgnis anzusehen. Der Kerl konnte einem mächtig auf den Sack gehen, aber er gehörte zu den Guten.

Ich warf ihm das Handy zu, und er fing es mit einer Hand. «Ist Annie …?»

Ich schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen, weil mir

Das Vertrauen, meine schwache Rebellion, rann mir durch die Finger.

Annie

Sobald Annie wieder im Wohnwagen war, ging sie ins Bad.

«Annie?», fragte Hoyt, doch sie rannte an ihm vorbei, schloss ab und schaffte es gerade noch zum Klo, dann erbrach sie sich. Sie wusste nicht, ob es an einer möglichen Gehirnerschütterung lag, an ihrer Angst, an der Tatsache, dass sie Ben so mies behandelt hatte, oder ob schlicht der Champagner zum Frühstück ihren Magen rebellieren ließ.

Hoyt klopfte an die Tür.

«Gib … gib mir eine Minute», rief sie. Sie ließ sich Zeit, putzte sich die Zähne, sah sich die Platzwunde an der Braue genauer an. Und dabei überlegte sie sich einen Plan. Keinen tollen, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

«Annie?»

Wütend kniff sie die Lippen zusammen, aber so durfte sie sich ihm nicht zeigen, er würde sie bloß dafür schlagen. Sie vielleicht sogar vergewaltigen.

Verhalte dich klug, sagte sie sich.

Als sie die Tür öffnete, stand Hoyt mit einem Sandwich da. Einem mit Erdnussbutter und Gelee, das er für sie gemacht hatte.

Klar. Zu dünn.

«Iss auf und dann fahren wir los.» Er setzte sich, um auch ein Sandwich zu essen. «Annie?»

«Danke», sagte sie leise und spielte mit den Sesamsamen an der Rinde. Er stand auf Manieren, und Annie war nicht nach kleinen Meutereien zumute. Von ihrer letzten war noch ein Backenzahn locker.

«Isst du jetzt mal?»

«Ich hab nachgedacht.» Ihre Stimme war nur ein Hauch. Mehr hatte sie nicht. Ihre schwache Stimme, ihr heftig klopfendes Herz, ihre zitternden Hände.

«Dafür bist du nicht gerade berühmt.» Als ob er mit ihr scherzte. Als wäre das eine Neckerei unter Eheleuten.

Meine liebe Frau vergisst immer, das Garagentor zu schließen. So ein Dummerchen!

Oh, seine dummen, achtlosen Sticheleien, wie sehr die sie verletzt hatten. Aber jetzt war nichts mehr übrig, was er verletzen konnte.

«Ich überlasse dir das ganze Land», sagte sie. «Ich überschreibe dir alles – du kannst es an den Konzern verkaufen, du kannst es als Weideland verpachten. Du kannst einen Vergnügungspark darauf bauen. Ich überlasse dir alles.»

«Darum geht es mir nicht …»

«Du kannst es haben. Aber ich werde nicht mitkommen. Wir können einen Vertrag aufsetzen lassen und die Scheidungspapiere, und ich unterschreibe alles. Es gehört dir.»

«Nein.»

«Ich habe deiner Mutter versprochen, für dich zu sorgen.»

Die Erwähnung ihrer Mutter brachte sie einen Moment lang aus dem Konzept. «Was?»

«Bevor sie starb. Sie kam zu mir und bat mich, für dich zu sorgen. Ich glaube, deshalb hat sie mich eingestellt.»

«Das ist … das ist lächerlich.»

Er zuckte die Achseln. «Deine Mom war ziemlich lächerlich.»

Natürlich dachte er das. Jeder in der Stadt hielt sie für eine lächerliche Person.

Und sie musste zugeben, es leuchtete ein, dass ihre Mutter sie verkuppelt hatte. Sie war sterbenskrank gewesen und hatte es schrecklich gefunden, ihre Tochter allein zurückzulassen. Allein bedeutete ungeliebt. In der paranoiden Gedankenwelt ihrer Mutter wäre es für Annie besser, mit Hoyt zusammen zu sein, wie immer die Beziehung aussähe, als allein zu leben.

«Sie würde dich auf der Farm wollen, Annie.»

«Ja, aber lebendig», fauchte ich.

Während ihrer fünfjährigen Ehe hatte sie sich eine mächtige Selbsttäuschung gestattet. Nicht Hoffnung, sondern … Einbildung. Sie hatte sich selbst belogen. Und damit war jetzt Schluss. Sie konnte nicht mehr vor der Realität davonlaufen.

Früher oder später würde Hoyt sie umbringen.

«Alles wird anders, wenn wir wieder zu Hause sind»,

Ja. Sie konnte sich auf furchterregenden, schrecklichen Sex freuen.

Ihr Zorn verlor an Boden und unterlag recht schnell dem alten Schrecken.

Das konnte er gut. Darin bestand seine Macht. Sein schrecklicher Zauber. Für Hoffnung war er ein schwarzes Loch. Er saugte sie auf, neutralisierte sie. Verwandelte sie in Angst und Selbstverachtung. Und Annie verstand nicht, wie ein Mensch dazu kam. Wie jemand so wurde.

«Wie war deine Mom?», fragte sie.

Er blickte sie mit seinen kalten blauen Augen an, als verstünde er die Frage nicht, und sie wusste nicht so recht, warum sie das überhaupt wissen wollte. Vielleicht, um Zeit zu schinden. Vielleicht, um zu begreifen, warum er so war.

«Du … du sprichst kaum von ihr.»

«Da gibt es nicht viel zu sagen. Sie starb, als ich klein war. Ich kann mich kaum an was erinnern.»

«Was weißt du denn noch?»

«Annie? Was soll das?»

«Ich unterhalte mich bloß mit dir. Du weißt allerhand über meine Mom. Ich dachte nur, ich sollte auch was über deine wissen.»

«Sie war hübsch. Und sie hat geraucht. Das weiß ich noch.»

«Aber haben deine Großeltern nicht über sie gesprochen? Man sollte doch meinen, sie haben dir von ihr erzählt …»

«Wie waren sie?»

«Alt. Sie haben viel gearbeitet. Und sie haben mich gezwungen, auch zu arbeiten. Keine Schule, keine Freunde, keine Geburtstage. Keine Kirche. Nur Arbeit.» Er schüttelte den Kopf. Das bisschen, das er von seiner Kindheit erzählt hatte, klang nach Einsamkeit. Nach Kälte. Aber reichte das als Erklärung? Vielleicht war Hoyt von Geburt an so. Aufgrund eines Defekts in seiner Körperchemie. Er war vielleicht so grausam, weil er so gepolt war. Von Anfang an. «Und weißt du was, am Ende war es egal. Als sie starben, waren sie pleite. Ich musste das Land verkaufen, um Steuerrückstände zu begleichen. Das war’s. Das ist die ganze Geschichte.»

«Waren sie wenigstens freundlich?»

«Freundlich? Was soll das, Annie?», brüllte er und wurde krebsrot im Gesicht. «Sie sind tot. Allesamt. Mutter. Vater. Großeltern. Alle tot. Ich habe nur noch dich, Annie. Das haben wir gemeinsam, nicht wahr? Keine Eltern. Niemanden, um den wir uns kümmern könnten. Oder der sich um uns kümmern würde.»

«Smith.» Sie wagte es, den Namen auszusprechen, der nicht mehr gefallen war, seit Hoyt damals von ihr verlangt hatte, ihn zu entlassen. «Smith hätte sich um mich gekümmert.»

«Der alte Sack?» Hoyt lachte.

«Er war mein Freund.» Sie hatten nie darüber gesprochen. Was sie Smith angetan oder was Smith über Hoyt gesagt

«Er war kriminell, Annie. Er war im Gefängnis, weil er in einer Bar ein Pärchen verprügelt hat. Hat dem Mann ein Auge ausgerissen oder so was. Die Frau niedergeschlagen. Er war betrunken und gefährlich. Die ganze Stadt wusste davon. Jeder. Außer deiner verrückten Mom. Oder vielleicht wusste sie es, und es war ihr egal.»

«Nicht … nenn sie nicht so.»

«Verrückt? Aber das war sie.»

«Nenn sie nicht so!», schrie Annie.

Blitzschnell packte er ihre Hand und quetschte sie schmerzhaft, bis sie taub wurde. Annie senkte den Kopf und atmete durch die Schmerzen hindurch.

«Deine Mom war eine alleinstehende, verrückte alte Frau, die ihr Kind in Gefahr gebracht hat, weil sie in einen gewalttätigen Drecksack verknallt war.»

Annie dachte an Dylan und was Ben über ihn gesagt hatte. Dass er ein Krimineller sei, im Gefängnis jemanden getötet habe.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Dylan hatte Geheimnisse, das wusste sie, quälende Geheimnisse. Und er besaß eine Gewaltbereitschaft, einen Zorn, der unter der Oberfläche brodelte. Wegen des Unfalls beim Autorennen, hatte sie zunächst geglaubt, weil sich sein Leben dadurch unwiderruflich verändert hatte. Aber nein, seine Geheimnisse waren viel schlimmer. Viel quälender.

Sie schreckten sie jedoch nicht. Auch er nicht. Oder was er getan hatte.

Das zog sie an.

Und was sagte das über sie?

Die Leute warfen mit dem Wort verrückt um sich, als ob es nichts bedeutete. Doch ihre Mutter war nicht gesund gewesen, und, schlimmer noch, sie war nicht stark genug gewesen oder hatte ihre Tochter nicht genug geliebt, um auf sich selbst aufzupassen. Um ihre Medikamente zu nehmen. Um bessere Entscheidungen zu fällen.

Und sie hatte eindeutig etwas für Smith empfunden.

War Annie wie ihre Mutter? Hatte sie eine dunkle Seite und fühlte sich deshalb von solcher Gewaltbereitschaft angezogen?

Vor lauter Kopfschmerzen konnte sie ihre Gedanken nicht festhalten. Sie entglitten ihr ständig.

Dylan.

Die Farm.

Mom.

Freikommen.

Aufgeben.

«Wenn du nichts isst, dann lass uns fahren.»

«Es wird schon dunkel», wandte sie ohne Druck und Überzeugung ein. Früher konnte sie besser lügen. Ausgezeichnet beschwichtigen. In den zwei Monaten im Trailerpark musste sie die Fähigkeit verloren haben. Aus der Übung gekommen sein.

Hoyt stand auf. Sein Schatten fiel über den ganzen Wohnraum.

Irgendwo musste er zumindest ein geringes Maß an Sozialisation erfahren haben. Gelernt haben, wie man sich als Mensch verhielt. Und Annies Aufgabe als seine Ehefrau war es gewesen zu warten … ihm zu helfen, diese Maske beizubehalten, und sich zu wappnen, wenn er den Schein nicht mehr wahren konnte.

Ich kann nicht zurück. Ich kann nicht.

«Ich gehe nicht mit», hauchte sie.

«Was hast du gesagt?»

Gleich würde er sie schlagen. Da brauchte sie sich nichts vorzumachen.

«Ich sagte, ich gehe nicht mit.»

«Steh auf», befahl er und strahlte eine furchterregende Ruhe aus. Eine grauenerregende Anspannung.

«Nein.»

Als er sie beim Arm packte, zerbrach ihre Angst. Sprang in Stücke und legte einen tiefsitzenden Zorn frei. Einen lodernden Zorn.

Annie widersetzte sich. Sie trat und schlug, stieß und kratzte, ohne ihn anzusehen, und legte ihre ganze Kraft und Trauer und Hass hinein. Doch er war kräftig, und es war vorbei, ehe es richtig angefangen hatte. Er gab ihr eine Ohrfeige, streifte dabei ihre Lippe, sodass sie wieder aufplatzte.

«Bist du jetzt fertig?», fragte er. Als wäre sie ein Kind, das gerade einen Trotzanfall hatte.

Sie spuckte einen Mundvoll Blut auf ihn.

Die hellen Brauen und Wimpern hoben sich von seinem

«Du solltest mich jetzt töten», sagte sie. «Wir wissen beide, dass es so mit uns enden wird.»

«Es endet damit, dass du nach Hause kommst, wo du hingehörst. Wo wir wieder eine Familie sind. Wie es sich gehört.»

«Wir werden nie eine Familie sein.» Er wusste gar nicht, was das war, und sie eigentlich auch nicht. Mom hatte ihr solche Wörter nicht mitgegeben.

«Steh auf.» Er zog sie an den Oberarmen hoch, drückte die Finger in die zarte Haut unterhalb der Achselhöhlen bis auf den Knochen, sodass der Schmerz bis in die Finger ausstrahlte. «Möchtest du etwas von hier mitnehmen?», fragte er. «Die dreckigen Bücher?»

Annie schüttelte den Kopf. Nein, wollte sie nicht, nicht mal die Liebesromane, die ihr so sehr gefallen hatten. Denn sie würde nur wieder abhauen. Fliehen, bis er sich gezwungen sähe, sie zu töten.

«Alles wird wieder gut, Annie.» Er fasste ihr an die Haare, und sie zog den Kopf weg. «Gefällt mir, deine neue Frisur. Hab ich dir das schon gesagt? Sieht wirklich hübsch aus.»

Sie spuckte Blut auf den Fußboden neben seinen Stiefel.

Er holte tief Luft, weshalb sie sich für die nächste Ohrfeige wappnete. Mehr Schmerzen. Mehr Blut.

«Komm jetzt.» Er nahm seine Jeansjacke mit dem Schaffellkragen vom Fahrersitz des ehemaligen Wohnmobils, das sie ihr Heim nannte. «Wir brechen auf.»

Die Außenwelt war ein Schock. Kalt und dunkel. Der

Dieser Instinkt war im Flowered Manor aufs äußerste geschärft.