Die Schattenflotte
Ein historischer Kriminalroman
«Das Verhalten der Passagiere kam mir eigenartig vor. Sie blieben in einer Reihe an der Heckreling, sie starrten achteraus wie bereuende Auswanderer, gestikulierten manchmal und zeigten mit den Fingern. Da jetzt keine Spur vom Festland mehr zu sehen war, kam ich zu dem Schluss, dass sie über den Leichter sprachen – und auf den Augenblick, da mir dieses klar wurde, datiere ich mein Erwachen (…). Ich war Zeuge einer Probe für ein größeres Schauspiel, das vielleicht in naher Zukunft inszeniert werden sollte.»
Erskine Childers, The Riddles of the Sands, 1903
Sören fröstelte. Er vergrub seine Hände noch mehr in den Manteltaschen, obwohl er wusste, dass es nicht am Wetter lag. Am Morgen hatte das Thermometer bereits acht Grad angezeigt, und nun schimmerte die tief stehende Wintersonne durch den nebligen Wolkenteppich hindurch. Wie schon so häufig in den letzten Tagen wanderten seine Gedanken durch die Jahrzehnte zurück bis in seine Kindheit, aber er konnte sich nicht erinnern, jemals einen so milden Neujahrstag erlebt zu haben.
«War es ihr Wunsch?» Martin Hellwege legte seinem Freund behutsam die Hand auf die Schulter.
Sörens Blick folgte der sich kräuselnden Rauchfahne, die sich aus dem zinnenbekrönten Backsteinschlot ihren Weg in den Himmel bahnte, als wäre es ein Sinnbild der Jahre seines Daseins. Er spürte erneut einen Kloß im Hals. «Ja, sie war seit Jahren schon Mitglied in einem Verein für Feuerbestattungen. Wir haben die Unterlagen bei ihrer letzten Verfügung gefunden. Gesprochen hat sie nie darüber.» Sören schluckte. «Das ist … das war typisch für sie. So modern … Sie war ihrer Zeit immer einen Schritt voraus.»
Martin Hellwege nickte stumm.
«Man schiebt die Gedanken an den Tod doch gewöhnlich immer weit von sich. Nicht so bei ihr.»
«Mit zweiundachtzig wird sie anders darüber gedacht haben, Sören. Was für ein stolzes Alter! – Dein Vater ist auch über achtzig geworden», fuhr er fort, als Sören nichts erwiderte. «So, wie es aussieht, wird auch dir ein langes Leben beschieden sein.»
Sören merkte, dass ihn sein Freund auf andere Gedanken bringen wollte. «Dem Verein ist sie schon vor über fünfzehn Jahren beigetreten, alles ist ganz akribisch festgelegt. Stell dir vor, selbst die Kosten für die Einäscherung, achtzig Mark, hatte sie längst beglichen. Dabei war sie wirklich alles andere als müde. Vor vier Tagen waren wir noch gemeinsam im Stadttheater. Es gab ‹Die lustigen Weiber von Windsor›. Du glaubst nicht, wie sie sich amüsiert hat. Und nun … Es scheint so endgültig.»
«Das ist es doch auch», entgegnete Martin.
«Ich meine das Verbrennen. Nichts bleibt …»
«Es ist dir unheimlich?»
Sören schaute seinen Freund an. «Irgendwie schon. Andererseits … Ich besitze genug Vorstellungskraft und Wissen, um mir den Verfallsprozess des menschlichen Körpers in einem Sarg in der Erde plastisch vor Augen zu führen. So betrachtet erscheinen mir die Flammen des Krematoriums geradezu erlösend.»
Sein Blick fiel auf das Gebäude vor ihnen. Ein Zentralbau aus rotem Backstein mit weiß verputzten Wandflächen und romanischen Bögen. In seiner Gestalt war es den Sakralbauten, wie sie etwa im nördlichen Italien zu finden waren, nicht unähnlich. Selbst die Form des freistehenden Campanile hatte man – allerdings zweckentfremdet – mit dem Schornstein aufgegriffen. Was für ein friedliches Ensemble für einen nüchternen Zweckbau. Genau genommen handelte es sich ja nur um einen Ofen mit einem angegliederten Andachtsraum. Sören überlegte kurz, warum man viele moderne Zweckbauten mit altertümlichen Formen verkleidete. Aber die Antwort hatte er sich soeben selbst gegeben. Zumindest in diesem bestimmten Fall verliehen Erscheinung und Zierrat der Verbrennung etwas Würdevolles, milderten Beklemmung und Furcht, welche die Betrachter mit diesem Vorgang verbanden.
Am Eingang des kleinen Urnenfriedhofs hatte sich ein Teil der Trauergesellschaft zusammengefunden. Sören hatte viele der Anwesenden vor Beginn der Einäscherung nur schemenhaft wahrgenommen. Jetzt erst wurde ihm bewusst, wie viele Gäste mit Rang und Namen Clara Bischop die letzte Ehre erweisen wollten. Neben Justus Brinckmann und Alfred Lichtwark, der gemeinsam mit Martin gekommen war, entdeckte Sören Edmund Siemers und Senator von Melle. Keiner von ihnen machte ein Aufsehen um seine Person oder gesellschaftliche Stellung. Man versammelte sich hier zu Ehren von Sörens Mutter, die bis zuletzt Mitglied in zahlreichen kulturellen und wissenschaftlichen Fördervereinen der Stadt gewesen war. Sie hatte sich stets eingemischt, ihre Aktivitäten waren deutlich über die Teilnahme an Kaffeekränzchen hinausgegangen. Auch politisch. Nur wenige Schritte abseits stand eine kleine Gruppe von Mitgliedern der Partei, die Sörens Eltern im Stillen unterstützt hatten. Unter ihnen entdeckte Sören auch Otto Stolten. Die anderen Gäste mussten ihn ebenfalls erkannt haben, aber erstaunlicherweise hielten sich selbst die Damen der Gesellschaft zurück. Nicht einmal ein Gemurmel oder Getuschel war zu vernehmen. Niemand ließ sich etwas anmerken, denn obwohl die Sozialdemokraten in der ganzen Nation immer mehr Zulauf bekamen und einen Reichstagssitz nach dem anderen besetzten, hatten sie hier in der Stadt nach wie vor kein politisches Mitspracherecht. Mehr noch: In Hamburgs bürgerlichen Kreisen galten Sozialdemokraten auch 1902 noch als zwielichtiges, kriminelles Pack.
Auch aus diesem Grund verhielt sich Sören, wie es bereits seine Eltern während der Sozialistengesetze gehandhabt hatten. Erst spät war er darauf gestoßen, dass Hendrik und Clara Bischop die Sozialdemokraten schon sehr früh unterstützt hatten, ohne der Partei jemals selbst anzugehören. Die Zuwendungen mussten über die Jahre offenbar das Übliche überschritten haben, anderenfalls wäre die Partei am heutigen Tag nicht durch einen ihrer führenden Köpfe vertreten gewesen. Immerhin war Stolten der erste Sozialdemokrat in der Hamburger Bürgerschaft. Aber Sören stand nicht der Sinn nach Rechtfertigung, er war schließlich nicht dafür verantwortlich zu machen, mit wem seine Mutter Umgang gepflegt hatte. Sollten die Trauergäste doch selbst eine Erklärung dafür finden, warum Sozialdemokraten anwesend waren.
Sören selbst hielt in der Öffentlichkeit Distanz zur Partei. Sein gesellschaftlicher Stand und Beruf ließen es nicht zu, sich als Befürworter der Sache zu erkennen zu geben. Im Gegensatz zu Tilda, die sich seit ihrer Hochzeit schwer genug damit tat, gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Aber sie hatte durchaus verstanden, dass Sören mehr für die Sache tun konnte, wenn er aus dem Hintergrund agierte. Viele seiner Klienten waren Sozialdemokraten – allerdings legte er tunlichst Wert darauf, dass niemand ihren Anteil an der Gesamtzahl seiner Mandate erfuhr. Seine Einkünfte wären ohne die vielen Pflichtmandate weitaus höher gewesen, doch reichte es auch so für ein gutes Auskommen und einen Lebensstil, der deutlich über dem des Großteils der Bevölkerung lag. Mathilda hatte sich schnell an das Leben gewöhnt, das Sören ihr bot, allerdings achtete sie nachdrücklich darauf, dass es darin keinen Überfluss gab. Es war nicht so, dass Sören ein Leben in Saus und Braus führen wollte, dennoch war Tildas Maß der Bescheidenheit noch einmal deutlich unter seinem angesiedelt, und sie war es, die ihn immer häufiger mit der Frage zügelte, ob für diese oder jene Ausgabe wirklich eine Notwendigkeit bestand.
Er brauchte nicht lange nach seiner Frau zu suchen. Tilda stand mit Henriette von Borgfeld zusammen, der Vorsitzenden eines Vereins für gefallene Mädchen aus dem benachbarten Altona. Clara Bischop war Ehrenmitglied des Vereins gewesen, nachdem sie eine beträchtliche Summe für den Neubau einer Mädchenherberge durch Spenden zusammengetragen und die restlichen Kosten schließlich selbst übernommen hatte. Tilda trug den schwarzen Winterpaletot, den Sören bei Renck & Co. am Graskeller beim Inventur-Ausverkauf erstanden und ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Es stand ihr phantastisch. Genauso wie die Knopfstiefel aus Chevreauxleder, ebenfalls ein Kauf in einer vorweihnachtlichen Vorteilswoche. Erst hatte sie ihn tadelnd angeschaut, wie sie es fast immer tat, wenn er ihr etwas Luxuriöses zukommen ließ, aber als Sören ihr den Preis verraten hatte, hatte sie versöhnlich gelächelt. Er hatte sie bei Gustav Elsner am Neuen Wall zum Schnäppchenpreis von 7,90 Mark erworben. Sie sah einfach umwerfend darin aus, stellte er wieder fest, auch wenn er sich einen anderen Anlass für diese Beobachtung gewünscht hätte.
Im gleichen Augenblick fragte er sich, warum ihm gerade jetzt so nichtssagende Dinge durch den Kopf gingen. Mit einem unwillkürlichen Stechen in der Brust musste er daran denken, was ihnen bevorstand. Wenn Tilda das Engagement in Berlin tatsächlich annehmen sollte – er mochte den Gedanken nicht zu Ende führen. Ein Vierteljahr, eine Spielzeit getrennt von ihr … Der Gedanke schmerzte. Aber er konnte, nein, er wollte es ihr nicht verbieten. Da war das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, als er Tilda vor zehn Jahren einen Antrag gemacht hatte. Er erinnerte sich noch genau an seine Worte. Niemals wolle er ihr Fesseln anlegen, und immer solle sie die Möglichkeit haben, sich beruflich frei entfalten zu können. Nun war es also so weit. Man wollte sie als Erste Geige. Die Anfrage aus Berlin war ihre Chance.
Für Ilka würde die Trennung besonders schwer werden. Sie hatten zwar das Kindermädchen, aber Agnes war bislang nur den halben Tag für ihre gemeinsame Tochter da. Wenn Tilda keine Proben hatte oder Konzerte gab, wollte sie sich selbst um ihre Tochter kümmern. Und mit ihren acht Jahren war Ilka inzwischen ein ziemliches Programm gewohnt. Ein buntes und abwechslungsreiches Programm, das im gemeinsamen Musizieren mit ihrer Mutter gipfelte. Auch wenn er Agnes bestimmt überreden konnte, für eine gewisse Zeit den gesamten Haushalt zu übernehmen, es würde ihr fehlen. An den Wochenenden würden sie dann gemeinsam nach Berlin fahren, vorausgesetzt, er konnte es beruflich einrichten. Sören versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Es waren noch zwei Monate, bis sie sich entscheiden mussten.
Tilda hatte sich nichts anmerken lassen, aber er wusste, wie schwer es ihr selbst heute gefallen war, eine Probe ausfallen zu lassen. Morgen war Hauptprobe für das philharmonische Konzert im großen Saal des Convent Garten. Händel, das Concerto grosso, Beethoven, Schubert und Haydn wurden gespielt. Auch wenn Sören sich große Mühe gab, die genauen Bezeichnungen der Musikstücke waren ihm immer noch nicht so geläufig. Er erinnerte sich nur daran, dass die Sinfonie von Haydn die mit dem Paukenschlag genannt wurde. Und er wusste, dass die Hauptperson des Abends neben dem Dirigenten Richard Barth ein junger, vierzehnjähriger russischer Pianist namens Rubinstein war. Er wünschte sich, dass Mathilda eines Tages genauso im Rampenlicht stehen und auf der Bühne brillieren würde. Gerade deshalb war Berlin so wichtig für sie.
Doch wie Sören es auch drehte, sein Kopf war voller Dinge, die dort momentan nicht hingehörten. Er empfand es schon als schlimm genug, dass er während der letzten Tage die teilweise akuten Probleme seiner Mandanten vernachlässigt hatte, um sich an den Feiertagen seiner Familie etwas mehr widmen zu können. Der plötzliche Tod seiner Mutter hatte dann alles aus den Fugen geraten lassen. Und in zwei Tagen kam auch noch David aus Hannover, um bei diesem Architekten vorstellig zu werden. Sören fiel nicht einmal mehr der Name ein, so unkonzentriert war er. Jedenfalls war der Termin für Davids Zukunft in etwa so wichtig wie das Engagement in Berlin für Tilda. Eine Anstellung in diesem Büro bedeutete neben einem guten Verdienst vor allem ein Sprungbrett für eine berufliche Karriere. Mit dreiundzwanzig, hatte sein Ziehsohn ihm erklärt, sei es an der Zeit, dass er endlich eigenes Geld verdiene.
Ja, David hatte sich gemacht. Sören hatte anfangs nicht daran glauben wollen, dass es David schaffen könne, alle Defizite, die er durch seine problematische Kindheit und den späten Einstieg ins Schulleben gehabt hatte, zu überwinden. Sören und Tilda hatten den Jungen mit vierzehn Jahren adoptiert. Bis dahin hatte er als Waisenkind, begleitet von Elend und Armut, in einer jugendlichen Räubergang gelebt, und eine kriminelle Zukunft war ihm so gut wie sicher gewesen. Aber David war aufgetaut, hatte innerhalb kürzester Zeit alle schulischen Versäumnisse nachgeholt und erwies sich zudem als dankbarer Schüler, dem das Lernen Spaß machte. Vor vier Jahren hatte er die Aufnahmeprüfung ans Polytechnikum in Hannover geschafft, und nun hatte er den Abschluss mit Auszeichnung bestanden. Sören war auf Davids Leistungen stolz und ein wenig auch auf sich selbst.
Und nun würde er sich auch noch um das Haus in der Gertrudenstraße kümmern müssen, das bis unters Dach mit kostbarem Inventar vollgestellt war, darunter die Bibliothek seines Großvaters, Conrad Roever. Sie barg medizinische und naturwissenschaftliche Handbücher und Folianten von unschätzbarem Wert. Seine Mutter hatte sich nie davon trennen können, wahrscheinlich weil immer noch die Hoffnung in ihr schlummerte, Sören könnte irgendwann zur Medizin zurückfinden. Aber das Kapitel war längst abgehakt. Er würde die Bücher einem Institut oder einer Universität als Spende zukommen lassen. Dennoch konnte Sören sich nicht mit dem Gedanken abfinden, das Geburtshaus seiner Mutter zu verkaufen. Er wollte es zur Erinnerung behalten. Und was sollte aus Lisbeth werden? Die einstige Köchin und Hauskraft seiner Mutter war bereits selbst in den Sechzigern. In diesem Alter fand sie keine Anstellung mehr, und auf die Straße setzen konnte er sie nicht. Bis zuletzt hatte Lisbeth die Funktion einer intimen Gesellschafterin und Vertrauten innegehabt. Vielleicht konnte er sie übergangsweise für Ilka …? Sören verwarf den Gedanken schnell. Lisbeth war nicht mehr in dem Alter, in dem man sie mit Kinderbetreuung belästigen konnte. Und Tilda hätte sich niemals damit einverstanden erklärt, ihre Tochter von einer alten Frau erziehen zu lassen. Er musste eine andere Lösung finden.
Doch zunächst einmal musste er endlich die Gäste bewirten. Sören hatte Punsch und gefüllte Berliner Pfannkuchen beim Warenhaus Tietz im Großen Burstah geordert. Für dreißig Trauergäste zu sieben Pfennig das Stück, inklusive Anlieferung nach Ohlsdorf. Das Problem war nur, dass er vorhin mehr als fünfzig Gäste gezählt hatte. Während er darüber nachdachte, wie er sich am elegantesten aus der Affäre ziehen konnte, bemerkte er die Droschke, die an der Alsterdorfer Straße hielt. Das Mädchen mit der dunklen Haube, das ihr entstieg, war eindeutig Agnes. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Irgendetwas musste vorgefallen sein, sonst hätte sie sich nicht über seine Anweisungen hinweggesetzt und wäre nach Ohlsdorf gekommen. Dazu noch mit Ilka, die ihren Vater längst ausgemacht hatte und ihm mit unbeholfenen, stolpernden Schritten, Agnes hinter sich herziehend, entgegengelaufen kam. Noch bevor er Agnes zur Rede stellen konnte, hatte sich Ilka an ihn geschmiegt. Sören blickte hilfesuchend zu Tilda, die über die Situation genauso erstaunt zu sein schien wie er.
«Aber wir hatten doch verabredet …» Sören gab sich Mühe, freundlich zu bleiben. Er runzelte die Augenbrauen und holte tief Luft.
«Ja, Doktor Bischop. Es ist mir auch … Wenn es nicht einen Anlass gäbe, glauben Sie mir …»
Er hatte ihr schon tausendmal gesagt, sie solle ihn nicht ständig mit Doktortitel anreden, aber Agnes ignorierte es beharrlich. Vor etwas mehr als sechs Jahren hatten sie Agnes als Alleinmädchen ins Haus geholt. Das war etwa die Zeit gewesen, als Mathilda aufgehört hatte, Ilka zu stillen, und sich wieder ganz der Musik zugewendet hatte. Anfangs war es ihr gar nicht recht gewesen, so etwas wie ein Alleinmädchen zu beschäftigen, das zudem noch im Hause lebte. Aber Sören hatte darauf bestanden, und Tilda hatte sich schnell an die Vorteile gewöhnt. Außerdem war Agnes trotz ihrer jungen Jahre eine hervorragende Köchin und kannte die Plätze, wo man wirklich frische Waren zu einem erträglichen Preis erstehen konnte.
Sie selbst war eine dieser tragischen Gestalten, wie sie Sören häufig genug vor Gericht vertrat. Durch Armut bedingter Diebstahl, Anzeige, Prozess. Tatsächlich hatte er damals ihr Mandat übernommen, gegen ihre Verurteilung konnte er jedoch nichts unternehmen. Sie hatte sich einfach zu dumm angestellt. Vielleicht war es diese unschuldige Naivität gewesen, die irgendeinen Schutzinstinkt in ihm geweckt hatte. Jedenfalls beglich er ihre Strafe aus eigener Tasche und gab ihr zudem die Möglichkeit, ihre Schulden mit anständiger Arbeit in seinem Haus abarbeiten zu können. Zusätzlich sorgte er dafür, dass sie Gelegenheit erhielt, so etwas wie eine Ausbildung zu absolvieren. Den Kontakten seiner Mutter war es schließlich zu verdanken gewesen, dass Agnes neben der Arbeit im Hause Bischop eine halbtägliche Stelle in der Kleinkinderbewahranstalt in Eimsbüttel bekam. Wenn Ilka aus dem Gröbsten heraus war, würde sie ihr Auskommen haben.
«Ich erhielt soeben eine Nachricht …» Agnes war völlig außer Atem. «Es handelt sich um Ihren … Ihren Sohn.» Sie tat sich immer noch schwer mit dem Umstand, dass David nicht das leibliche Kind ihrer Herrschaften war. Wohl auch, weil David etwa in ihrem Alter war, fiel ihr das Wort Sohn schwer.
«Was ist mit David?», fragte Sören. «Er kommt doch erst in zwei Tagen.»
«Wenn es nur das wäre, Doktor Bischop. Man sagte mir, er sei verhaftet worden.»
«Verhaftet?»
«Ja», schluchzte Agnes aufgeregt.
«Was wirft man ihm vor?»
Sie blickte ihn ängstlich an. «Er soll …, er soll …» Plötzlich schossen Tränen aus ihren Augen. «Er soll einen Mann erschlagen haben.»
Was um alles in der Welt machte David schon jetzt in Hamburg? Und warum wusste er nichts davon, dass er in der Stadt war? Wie lange war er überhaupt schon hier? Vor lauter Fragen, die Sören durch den Kopf gingen, kam er gar nicht dazu, zu überlegen, was eigentlich geschehen war. Er hatte kaum Informationen darüber erhalten, was man David vorwarf, und es machte keinen Sinn zu spekulieren. Er würde es in der nächsten Stunde schwarz auf weiß vor sich haben. Allerdings war unklar, ob man ihn bereits zu David vorließ. Das war allein die Entscheidung des Staatsanwalts. Sören kannte das Prozedere und die Formalitäten genau. Er war kein Außenstehender, was die Sache zumindest vereinfachen sollte. Aber heute war Feiertag, und das war keine gute Voraussetzung für einen beschleunigten Amtsweg. Er würde sich dennoch direkt auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis machen.
Als die Droschke in der Feldbrunnenstraße hielt, überlegte Sören kurz, ob er den Fahrer bitten sollte, vor dem Haus auf ihn zu warten, bis er sich umgezogen hatte. Doch dann entschied er sich dafür, das Rad zu nehmen, wie er es jeden Tag machte, wenn das Wetter es zuließ. Ihren Einspänner hatten sie bereits vor drei Jahren verkauft, als die Elektrifizierung der Ringlinie abgeschlossen war – mit der Straßenbahn fuhr es sich einfach günstiger, wenn auch nicht ganz so komfortabel. Übers Jahr gerechnet kosteten die Fahrscheine der Bahn nicht einmal die Hälfte von dem, was sie für den Unterhalt des Pferdes gezahlt hatten. Und ein noch größerer Vorteil war, dass die ewige Suche nach Stell- und Parkplätzen ein Ende hatte. Während der Geschäftszeiten war in der Innenstadt kaum ein Parkplatz zu finden, und seine Kanzlei in der Schauenburgerstraße verfügte über keine eigene Remise.
Sören wählte den kurz geschnittenen, knielangen Volantpaletot aus winddicht gewebter Wolle, setzte seine Schirmmütze mit den Ohrenklappen auf, klemmte die Hosenbeine mit zwei Wäscheklammern zusammen und schob das Fahrrad aus der alten Remise auf die Straße. Schon bald blickten ihm die ersten Passanten nach. Die Zeit der alten Hochräder war zwar seit Jahren vorüber, und Fahrräder mit zwei gleich großen Gummireifen sah man immer häufiger im Straßenbild, aber Sörens Rad stach allein durch seine extravagante, lang gestreckte Form mit dem geschwungenen Lenker und der großen Karbidlampe hervor. Er hatte das Fahrrad im Frühjahr letzten Jahres bei Seidel & Naumann’s Nähmaschinenmanufaktur in der Admiralitätsstraße erworben. Es war nicht billig gewesen, und Tilda hatte mal wieder mit den Augen gerollt, aber er hatte ihr schnell vorrechnen können, wie viele Billetts für die Straßenbahn er damit einsparen würde. Inzwischen spielte sie sogar selbst mit dem Gedanken, sich auch so ein Vehikel zuzulegen. Sören konnte es kaum erwarten, gemeinsam mit ihr auf eine sonntägliche Tour zu gehen. Bis zum Sommer musste er sich allerdings noch gedulden. Auch wenn der Winter bislang mild war, die Temperaturen luden dennoch nicht zum Verweilen im Freien ein. Und außerdem stand diesem Vorhaben noch Tildas möglicher Aufenthalt in Berlin im Wege.
Sören radelte über die Schulstraße, die man in Andenken an den ehemaligen Senator neuerdings in Tesdorpfstraße umbenannt hatte, und weiter über die Gänseweide in Richtung Dammtordamm. Ein frischer Wind wehte ihm ins Gesicht. Vor ihm breitete sich die Baustelle des zukünftigen Bahnhofs aus. Der mächtige Sockel aus großen Steinquadern war so gut wie fertig, das eigentlich Imposante an der Erscheinung war jedoch das unheimliche Geflecht filigraner Stahlstreben, die sich wie das Gerippe eines riesigen Walfisches in den Himmel streckten. Selbst heute standen die Arbeiter auf den hohen hölzernen Gerüsten und waren damit beschäftigt, die stählernen Profile miteinander zu verbinden. In wenigen Tagen mussten sie den Scheitelpunkt der zukünftigen Bahnhofshalle erreicht haben. In Gedanken sah Sören bereits den Qualm der Lokomotiven vor sich, wie er langsam unter der gläsernen Tonne emporstieg.
Hinter dem Bahndamm bog er rechts ab und nahm die Abkürzung durch den Botanischen Garten, wohl wissend, dass das Befahren der Wege eigentlich nicht gestattet war, aber trotz der Verbotsschilder war er von den hier patrouillierenden Ordnungshütern bislang noch nie ermahnt worden. Es mochte daran liegen, dass er mit dem neuen Rad einfach zu schnell fuhr. Bis die Wachtmeister ihre Pfeife hervorgeholt hatten, war er längst außer Hörweite. Dabei waren einige Abteilungen der Polizei vor vier Jahren mit Dienstfahrrädern ausgestattet worden. Aber an diesem Ort hielten sich vornehmlich Beamte der Sittenpolizei auf, denn die entlegenen, nachts unbeleuchteten Trottoirs an den Bassins des ehemaligen Stadtgrabens waren seit einigen Jahren immer mehr zum Tummelplatz verbotener Gelegenheitsprostitution geworden. Die Zahl der Sittenwächter hatte sich seither verdoppelt. Meist waren sie in Zivil gekleidet, und wenn doch mit Pickelhaube und Uniform, dann hoch zu Ross, aber nie auf einem Rad.
Auch heute blieb Sörens kleines Vergehen ungeahndet, und er erreichte die Straße Bei den Kirchhöfen ohne Zwischenfälle. Das Untersuchungsgefängnis ließ er zunächst auf der Linken liegen und radelte weiter zum Strafjustizgebäude, auf dessen gegenüberliegender Seite sich das Pendant für zivile Angelegenheiten schon seit mehr als drei Jahren im Bau befand. So, wie es aussah, war mit einer Fertigstellung auch in diesem Jahr noch nicht zu rechnen. An das entsprechende Gedränge im Gerichtshof hatten sich mittlerweile alle gewöhnt, man hatte zwei ganze Flure und zwei Verhandlungssäle vorübergehend abtreten müssen. Das Provisorium dauerte nun schon so lange, dass eigentlich niemand mehr mit einer Änderung rechnete. Heute empfand es Sören das erste Mal als vorteilhaft, dass aufgrund der beengten Platzverhältnisse bestimmte Angelegenheiten und Verfahren selbst an Sonn- und Feiertagen abgehandelt werden mussten.
Wie immer herrschte reger Betrieb im Landgericht. Als Erstes steuerte Sören das Vorzimmer von Direktor Fohring an. Bei einem Tötungsdelikt war es mehr als wahrscheinlich, dass sich gleich die Große Strafkammer mit dem Fall befasste. Und mit einer schriftlichen Bewilligung des Präses der Kammer waren alle weiteren Formalitäten ein Kinderspiel.
Sören hatte Glück. Nach einer knappen Stunde hatte er alles beisammen, was er benötigte. Einen offiziellen Bericht gab es noch nicht, dafür waren die Geschehnisse zu jung. Auch eine Anklageschrift war noch nicht verfasst worden, aber zumindest den vorläufigen Polizeibericht hatte er einsehen dürfen. Demnach saß David ganz gehörig in der Patsche.
«Wieder zu Loose?» Der Hauptwärter am großen Tor des Untersuchungsgefängnisses warf Sören einen fragenden Blick zu und deutete im gleichen Atemzug auf das Besucherbuch auf dem Tisch.
Sören schüttelte den Kopf. «Nein, heute nicht.» Er trug Namen und Anliegen in die entsprechenden Spalten ein. Der Wärter kannte ihn gut, und so brauchte Sören sich nicht auszuweisen. Vergangene Woche war er das letzte Mal hier gewesen. Bei besagtem Loose, den er vertrat. Olaf Loose war Elektrotechniker in einer Reparaturwerkstatt der Hamburg-Amerika Linie, einer galvanischen Anstalt, die für das Ver- und Entsilbern von Leuchtern, Bestecken und ähnlich kostbaren Ausrüstungsstücken auf den Schiffen der Reederei zuständig war. Man warf ihm vor, unter der Hand große Mengen Reinsilber veräußert zu haben, was er abstritt. Seiner Aussage nach sei ihm zwar klar gewesen, dass bestimmte Arbeiten und Vorgänge nicht rechtens gewesen sein konnten, aber er habe im Auftrag seines Werkmeisters gehandelt, der ihm anderenfalls mit Entlassung gedroht habe. Der stritt alles ab. Eine gewisse Mitschuld war nicht von der Hand zu weisen, aber in erster Linie ging es darum, ob Loose Anstifter oder Verführter war. Seit mehr als fünf Monaten saß Loose in Untersuchungshaft. Ihm drohte, sollte er wegen Hehlerei verurteilt werden, eine empfindliche Haftstrafe sowie mindestens zwei Jahre Ehrverlust. Der Werkmeister des Betriebes arbeitete hingegen unbehelligt weiter und bezog ein Jahresgehalt von 2500 Mark.
«Ein Verwandter von Ihnen?», fragte der Wärter und runzelte eine Augenbraue, als er den Namen des Häftlings mit der Haftliste verglich.
«Ja, leider», meinte Sören, und schlagartig wurde ihm bewusst, dass er gerade dabei war, einen Kodex seiner Zunft zu missachten: Man vertrat niemanden vor Gericht, der einem nahesteht. Aber so weit war es ja noch gar nicht. Das mahlende Geräusch des großen Schlüssels, mit dem der Wärter das Schloss der eisernen Gittertür freigab, holte ihn in die Gegenwart zurück. Vor ihm öffnete sich einer der trostlosen langen Gänge mit unzähligen Zellentüren. Sören kannte den Anblick nur zu gut, aber es war das erste Mal, dass es ihn schmerzte.
Er erschrak, als man David hereinführte. Weniger wegen der Hand- und Fußfesseln, die man ihm umgelegt hatte; das war hier Vorschrift, wenn Gefangene aus den Zellen in die Besprechungszimmer gebracht wurden. Nein, David sah schrecklich aus, müde und übernächtigt. Haare und Bart wirkten ungepflegt. Er blickte verlegen auf den Boden.
«Keinen Körperkontakt mit den Inhaftierten», brummte der Wärter Sören mahnend an, als er David zu nahe kam.
«Ich weiß schon», fauchte Sören zurück und setzte sich auf den Stuhl an der gegenüberliegenden Tischseite. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Blicke trafen. «David. Was ist passiert?» Am liebsten hätte er ihn an den Schultern gepackt und geschüttelt.
«Ich habe nichts Verbotenes getan», stammelte David. «Ganz im Gegenteil. Ich beteuere dir meine Aufrichtigkeit. Wir wollten doch nur helfen.»
Sören hatte bereits dem Polizeibericht entnommen, dass man David nicht alleine beschuldigte. Demnach sollte er mit einer Gruppe junger Männer zusammengewesen sein, von denen einige polizeibekannt waren. Unter anderem Peter Schulz, genannt der rote Peter, der sich allerdings, genau wie die übrigen Personen, der Verhaftung entziehen konnte. Schulz galt in der Stadt als Anarchist. Er hatte seinen Spitznamen bekommen, weil er wiederholt Ehren- und Denkmäler mit roter Farbe und sozialdemokratischen Parolen beschmiert hatte.
«Helfen?», fragte Sören. «Der Tod dieses Mannes, den ihr vermöbelt habt, ist ja wohl eine Tatsache.» Den Zeugenaussagen nach sollte David mehrfach auf das spätere Opfer eingeschlagen haben. «Wie kommst du überhaupt mit solchen Individuen zusammen?»
David blickte ihn entgeistert an. «Ich habe der Polizei bereits gesagt, dass wir nur schlichten wollten. Aber man hat meiner Aussage keinen Glauben geschenkt. Man gab mir nur zu verstehen, dass es einen Zeugen gebe, der anderes behauptet. Deswegen sitze ich nun hier.»
«Du hast den Mann also nicht geschlagen?»
David zögerte einen Augenblick. «Doch … natürlich. Er wollte ja nicht von dieser Frau ablassen.»
«Von einer Frau steht nichts im Protokoll.»
«Die ist dann ja auch weggerannt, als ich mir den Typen vorgeknöpft habe. So, wie der sich aufgespielt hat, war das bestimmt ein ganz übler Louis. Er hatte die Frau am Handgelenk gepackt und wollte sie mit sich ziehen … aber das war ihr nicht recht. Sie schrie die ganze Zeit auf ihn ein, er solle sie gefälligst loslassen. Steht das nicht im Protokoll? Ich habe es bei der Vernehmung alles erzählt.»
«Nein.» Sören schlug sein Notizbuch auf. «Am besten ist es wohl, du erzählst von Anfang an. Und versuche, möglichst kein Detail auszulassen. Was machst du überhaupt schon in der Stadt? Ich habe dich erst übermorgen erwartet.»
«Es war doch Silvester. Ich bin mit zwei Kommilitonen gekommen, Jan und Willi. Zum Feiern natürlich.»
Sören warf dem Wärter, der neben der Tür stand, einen fragenden Blick zu, dann schob er David einen Zettel über den Tisch. «Schreib die Namen auf.»
«Wir sind gegen Mittag angekommen und erst mal bei Onkel Tom eingekehrt. Es regnete ja Bindfäden …»
«Bei Onkel Tom, so so.» Sören runzelte die Stirn. Die Wirtschaft galt auswärtigen Parteigenossen unter der Hand als zentrale Anlaufstelle. Nach den Unruhen während des Hafenstreiks vor fünf Jahren standen die Räumlichkeiten unter besonderer Beobachtung durch Polizeivigilanten.
«Ist als Genosse doch naheliegend.»
Sören seufzte. «Wann bist du der Partei beigetreten?», fragte er. «Hast du dich bei deiner Verhaftung als Sozialdemokrat zu erkennen gegeben?»
«Vor drei Jahren.» David nickte. «Ja, man hat ja meine Papiere durchsucht. Und das Parteibuch führe ich stets bei mir.»
Kein Wunder, dass man Davids Aussage kaum Glauben schenkte, dachte Sören bei sich. Wenn man als bekennender Sozialdemokrat mit dem Gesetz in Konflikt geriet, war das doppelt schlimm. Vor allem hier in Hamburg. Die Kriminalpolizei arbeitete Hand in Hand mit der Politischen Polizei, und Sozialdemokraten galten den Gesetzeshütern immer noch als aufrührerisches Pack. «Erzähle weiter», forderte ihn Sören auf.
«Wir haben dort ein paar Biere getrunken und sind so um neun Uhr zum Jungfernstieg gelaufen, wo bereits eine große Menge Schaulustiger stand. Es war ein richtiges Gedränge hinter den Absperrungen. Ich hatte nicht erwartet, dass sich so viele Menschen dort einfinden würden, aber inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, und immer mehr Menschen strömten heran. Obwohl man die ganze Straße für den Verkehr gesperrt hatte, kam es immer wieder zu lautstarken Auseinandersetzungen zwischen den Schutzleuten und einigen Droschkenfahrern, die sich über die Sperrung hinwegsetzten, weil sie ihre Fahrgäste direkt bis zu den anliegenden Hotels chauffieren wollten. Die Stimmung war ausgelassen, und die Menge johlte jedes Mal, wenn wieder ein Wagen versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. So ging das weiter bis Mitternacht. Vom Feuerwerk waren wir, wie die meisten, eher enttäuscht. Es mag daran gelegen haben, dass die Luft zu feucht war. Jedenfalls löste sich die Menge danach relativ schnell auf, und wir beschlossen, nach St. Pauli weiterzuziehen. Auf dem Spielbudenplatz haben wir dann den Peter und seine Freunde getroffen. Willi, einer meiner Begleiter, hat uns mit ihm bekannt gemacht. Dann sind wir gemeinsam in einigen Spelunken und Kneipen gewesen, aber immer nur kurz. Höchstens auf ein oder zwei Biere, danach sind wir weitergezogen. Tja, und schließlich sind wir in der Thalstraße gelandet. Hans, ein Bekannter von Peter, meinte, er kenne jemanden, der als Koberer für ein besseres Etablissement arbeite, und der könne uns reinschleusen. Zuerst müsse er aber mal die Lage peilen. Und so warteten wir in einem Torweg auf Hans. Ja, und dann hörten wir die Schreie. Anfangs denkt man sich ja nichts, schließlich waren wir auf dem Kiez, wo lautstarke Auseinandersetzungen und Schreiereien normal sind, aber dann sahen wir einen ziemlich kräftigen Kerl, der eine Frau am Handgelenk gepackt hielt und mit sich zerrte. Sie schrie laut und versuchte ständig, nach ihm zu treten und sich loszureißen, was ihr aber nicht gelang. Ehrensache, dass wir uns ihm in den Weg stellten. Du weißt, ich bin nicht zimperlich, und so einem Louis gegenüber schon gar nicht. Er hatte ungefähr meine Größe, aber selbst dass wir so viele waren, schien ihn nicht zu beeindrucken. Ganz im Gegenteil. Ohne die Frau loszulassen, packte er mich an der Schulter und versuchte, mich wegzustoßen. Das wäre ihm auch gelungen, wenn Peter ihm nicht im selben Augenblick den Arm auf den Rücken gedreht hätte. Daraufhin ließ der Kerl endlich von der Frau ab, die sofort davonlief, glaube ich. Der Kerl schlug aber wie wild um sich. Mich hat er am Kinn getroffen, also holte ich aus und gab ihm einen auf die Zwölf. Ich schlage mich nicht häufig, aber das Ding saß, und er sackte zusammen.»
«Wo hast du ihn genau getroffen?», unterbrach ihn Sören.
«Wie er’s bei mir auch versucht hat.» David fasste sich an den Bart. «Aufwärtshaken, klassisch. Aber meiner verfehlte seine Wirkung nicht.»
«Kann man so sagen», entgegnete Sören zynisch. «Er ist schließlich tot.»
«Nein, nein, nein!», erwiderte David hektisch. «Doch nicht hiervon.» Er blickte auf seine Faust, und die Handketten klirrten. «Er ist ja wieder aufgestanden. Wir haben noch eine Weile dagestanden, weil wir nicht recht wussten, was wir mit ihm machen sollten. Und nach ein paar Minuten ist er zu sich gekommen, hat irgendetwas Unverständliches gemurmelt, und dann hat er sich aus dem Staub gemacht.»
«Und ihr? Was habt ihr dann gemacht?»
«Wir haben noch auf Hans gewartet, aber als der nicht wieder auftauchte, sind wir in die nächstbeste Kneipe.»
«Zum kleinen Fässchen», ergänzte Sören. «Wo man dich schließlich verhaftet hat.«
David nickte.
«Und was ist mit den anderen geschehen?»
David zuckte mit den Schultern, und seine Fesseln klirrten erneut. «Keine Ahnung. Ich war ja auch nicht mehr ganz nüchtern. Ich erinnere mich nur, dass es plötzlich hieß, die Polente sei im Anmarsch. Dann ging alles drunter und drüber. Peter, Willi und Adolph, das war der andere Kumpel von Peter, müssen sich aus dem Staub gemacht haben. Jan Hauer hatte sich schon am Spielbudenplatz verabschiedet, weil er zu irgendeinem Verwandten wollte.»
«Und dich haben sie hopsgenommen. Mensch, Junge, das war keine gewöhnliche Razzia – die Polizisten haben gezielt nach euch gesucht, weil ihnen jemand was gesteckt hat.»
«So ein kleiner Hagerer mit einem Stock. Ja, ich erinnere mich. Der stand dabei und hat mit dem Finger auf mich gezeigt.» Er schüttelte angewidert den Kopf. «Was für Widerlinge es doch gibt. Dabei habe ich wirklich nichts Unrechtmäßiges getan. Glaube mir. Ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist.»
«Man hat den Toten in genau dem Hof gefunden, in dem du ihn niedergeschlagen hast. Das hat zumindest der Zeuge ausgesagt. Er war hinter Müllsäcken versteckt.»
«Aber er hat noch gelebt», entgegnete David. «Du musst mir glauben! Ich weiß nicht, wie er da hingekommen ist.»
«Ich glaube dir ja. Nur leider haben wir bisher niemanden, der deine Variante der Geschehnisse bestätigt. So, wie es aussieht, war es deinen Kollegen erst mal wichtiger, die eigene Haut zu retten. Schöne Freunde, die du da hast. Von Peter Schulz wirst du nicht erwarten können, dass er sich der Polizei stellt. Er steht bereits auf der Fahndungsliste. Der ist sich selbst der Nächste. Und bei seinen Kumpanen wird es bestimmt nicht viel anders aussehen. Kennst du ihre Familiennamen?»
«Natürlich nicht», antwortete David resigniert.
«Und dieser Willi, dein Kommilitone?»
«Heißt Schmidlein», flüsterte David. «Eine Adresse habe ich nicht, aber er hat eine Empfehlung, mit der er sich dieser Tage bei Blohm + Voss vorstellen will. Ich habe seinen Namen aber beim Verhör nicht verraten.»
«Sind Sie sich dessen so sicher?», fragte Dr. Göhle. «Das Opfer ist ein Jude.»
«Dafür gibt es bislang keinerlei Anhaltspunkte.»
«Gut, also Ihres Sohnes. Ich habe sie natürlich gelesen. Allerdings …» Er blickte Sören in die Augen. «Ich will Ihnen da keine falschen Hoffnungen machen. Sie sind lange genug dabei, um den Wert solcher Aussagen zu kennen. Wir haben die Aussage eines Zeugen, der zweifelsohne glaubwürdig erscheint, und da ist von einer Frau keine Rede. Die Leute hingegen, in deren Gesellschaft sich Ihr … Ihr Sohn befand, sind der Polizei bekannt.»
«Richtig. Bislang nicht. Und glauben Sie mir, die Fahndung nach den Burschen läuft. Die Vigilanten der Kriminalpolizei halten die Augen auf. Der rote Peter ist schließlich kein Unbekannter. Auch wenn er und seine Kameraden untergetaucht sind, es wird nicht lange dauern …»
«Dann heißt das noch lange nichts», entgegnete Dr. Göhle. «Soweit wir wissen, handelt es sich ausnahmslos um Sozialdemokraten. Und die halten zusammen.» Bevor Sören etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: «Natürlich prüfen wir alle Aussagen sehr akribisch und bewerten sie unabhängig davon, welche politische Gesinnung die Zeugen haben. Es ist nur eine gewisse Erfahrung, die mich bestimmte Dinge vermuten lässt. Und meistens liege ich mit meinem Instinkt nicht völlig falsch, wie Sie wissen sollten.»
Es war besser, an dieser Stelle das Thema zu wechseln. Er brauchte dringend einige Informationen, die ihm eigentlich noch nicht zustanden. Vor allem – das musste er sich eingestehen –, weil ein Fünkchen Zweifel in ihm glimmte. Zweifel an dem, was David ihm erzählt hatte. Erstens war er nach eigenen Angaben ziemlich betrunken gewesen, und zweitens besaß sein Adoptivsohn eine latente Aggression, die nicht von der Hand zu weisen war. Dem stand ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn gegenüber, aber der war stark durch seine eigentliche Herkunft bestimmt. Und die wurzelte in einer Sippschaft kleinkrimineller Ganoven. Ein Umfeld, aus dem er David im Jugendalter herausgeführt zu haben glaubte. Sören ärgerte sich maßlos über sich selbst, darüber, dass er David nicht wirklich vertraute.
«Nein. Von daher ist die Annahme, er habe sich hier als Lude verdingt, für uns auch völlig abwegig.» Göhle lächelte. «Man fand in seinen Taschen ein Transitpapier für eine Überseepassage. Levi wollte am 12. Januar nach New York reisen. Mit der Pretoria, einem Dampfer der Hapag.»
Dr. Göhle lächelte ihn ausdruckslos an.
«Wenn Sie das Mandat übernehmen, sicher», antwortete der Staatsanwalt.
«Sie kennen das Gesetz.»
Wie erwartet schüttelte Dr. Göhle mit einem freundlichen Lächeln den Kopf. Dann blickte er zur Tür, die sich vorsichtig geöffnet hatte.
Sören hatte keine Einwände. Ganz im Gegenteil. Er war sich bewusst, dass er Verbotenes tat, aber er nutzte die Zeit. Als die schwere Eichentür ins Schloss fiel, trat er an Göhles Schreibtisch und blätterte geschwind durch die Akte. Es waren nicht viele Seiten, und er fand schnell, was er suchte. Den vorläufigen Polizeibericht, den Namen des Zeugen und einen Hinweis auf den Ort, wohin man den Leichnam gebracht hatte. Dann fand er noch etwas, was ihn stutzig machte. Die Meldeadresse des Opfers war zwar nicht so ungewöhnlich für diese Stadt, aber wenn sie tatsächlich stimmen sollte, dann hatte Simon Levi auf der Reeperbahn wirklich nichts zu suchen gehabt.