Fredrik Backman
Wir gegen euch
Roman
Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg
FISCHER E-Books
Fredrik Backman ist mit über 10 Millionen verkauften Büchern einer der erfolgreichsten Schriftsteller Schwedens. Sein erster Roman ›Ein Mann namens Ove‹ wurde zu einem internationalen Phänomen; die Verfilmung mit Rolf Lassgård war für zwei Oscars nominiert, ein Remake mit Tom Hanks ist in Planung. Auch Fredrik Backmans folgende Romane eroberten die obersten Ränge der Bestsellerlisten in Deutschland, Schweden, den USA und vielen anderen Ländern; sein Werk wird in 40 Sprachen übersetzt. Backmans Roman ›Britt-Marie hier‹ wurde ebenfalls fürs Kino verfilmt. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Solna bei Stockholm.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Die Menschen von Björnstadt haben erlebt, was es heißt, wenn ein ganzer Ort auseinanderbricht. Und sie wollen nur eines: wieder zusammenfinden. Um eine Zukunft zu schaffen für alle. Dafür braucht es etwas, an das sie glauben können. Etwas, das sie zusammenbringt. Doch der Kampf darum wird einer auf Leben und Tod.
»Es ist selten, dass einem die Figuren eines Romans so am Herzen liegen, und noch seltener, dass man einer ganzen Gemeinschaft so nahe kommt.« Göteborgs-Posten
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel "Vi mot er" im Verlag Forum, Stockholm
© Fredrik Backman 2017
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
in arrangement with Salomonsson Agency
Covergestaltung und -abbildung: Nach dem Originalcover von Simon & Schuster, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490501-3
Für Neda.
Ich versuche noch immer, dir zu imponieren.
Nur dass du’s weißt.
Habt ihr je eine Stadt untergehen sehen? Unsere ist untergegangen. Irgendwann werden wir behaupten, diesen Sommer habe die Gewalt in Björnstadt Einzug gehalten, aber das ist eine Lüge, denn die Gewalt war bereits da. Manchmal ist es so einfach, Menschen dazu zu bringen, einander zu hassen, dass es uns unbegreiflich erscheint, je etwas anderes zu tun.
Wir sind ein kleiner Ort in den Wäldern. Die Leute sagen, hier führe keine Straße her, sondern nur eine vorbei. Die Wirtschaft muss bei jedem tiefen Atemzug husten, die Fabrik spart jedes Jahr hier und da Personal ein – wie bei einem Kind, das glaubt, es würde nicht auffallen, dass die Torte im Kühlschrank immer kleiner wird, wenn es jedes Mal nur etwas vom Rand weglöffelt. Wenn man alte und neue Stadtpläne übereinanderlegt, scheinen die Einkaufsstraße und der kleine Streifen, der sich Ortskern nennt, zusammenzuschrumpfen wie ein Steak in einer heißen Bratpfanne. Allerdings haben wir noch eine Eishalle, viel mehr aber auch nicht. Wobei man hier zu sagen pflegt: Was zum Teufel braucht man noch mehr?
Wer hier durchkommt, hat den Eindruck, dass Björnstadt nur fürs Eishockey lebt, und an manchen Tagen stimmt das vielleicht auch. Denn manchmal muss man anscheinend für eine Sache leben können, um alles andere zu überleben. Wir sind weder dumm noch gierig, und man kann viel Schlechtes über Björnstadt sagen, aber die Leute hier sind tough und arbeiten hart. Wir hatten eine Eishockeymannschaft aufgebaut, die unserem Wesen entsprach und auf die wir stolz sein konnten, denn wir waren nicht so wie ihr. Wenn den Leuten aus der Großstadt irgendetwas zu schwierig erschien, sagten wir grinsend: »Es muss aber schwierig sein.« Hier zu leben war nicht leicht, aber aus diesem Grund schafften wir es und ihr nicht. Wir gingen bei jedem Wetter aufrecht. Doch dann ist etwas passiert, und daran sind wir zerbrochen.
Manchmal richten gute Menschen schreckliche Dinge an, in dem Glauben, nur das zu schützen, was sie lieben. Ein Junge, der Star unseres Eishockeyklubs, hat ein Mädchen vergewaltigt. Und wir haben falsch reagiert. Ein Ort spiegelt die Summe der Entscheidungen seiner Bewohner wider, und als bei zwei von unseren Kindern Aussage gegen Aussage stand, haben wir der Version des Jungen geglaubt. Weil es leichter war, denn wenn das Mädchen log, konnten wir unser Leben so wie immer weiterleben. Doch als wir die Wahrheit erfuhren, sind wir zerbrochen und die Stadt mit uns. Hinterher ist es immer leicht zu sagen, was man alles hätte anders machen sollen, aber ihr hättet es vielleicht auch nicht besser gemacht. Wenn ihr Angst gehabt hättet, wenn ihr euch auf eine Seite hättet schlagen müssen und wenn ihr gewusst hättet, was ihr dafür opfern müsst. Vielleicht seid ihr gar nicht so mutig, wie ihr glaubt. Vielleicht unterscheidet ihr euch gar nicht so stark von uns, wie ihr hofft.
Dies ist die Geschichte, was danach geschah, vom Sommer bis zum Winter. Sie handelt von Björnstadt und dem Nachbarort Hed und davon, wie sich die Rivalitäten zwischen zwei Eishockeymannschaften zu einem erbitterten Kampf um Geld, Macht und ums Überleben auswachsen können. Es ist eine Geschichte über Eishallen und die Herzen, die um sie herum schlagen, eine Geschichte über Menschen und Sport und wie sie sich gegenseitig stützen. Über uns, die wir träumen und kämpfen. Einige werden sich verlieben, und andere werden verzweifeln; wir werden unsere besten Tage und zugleich unsere allerschlechtesten erleben. Diese Stadt wird jubeln, aber sie wird auch brennen. Es wird einen fürchterlichen Knall geben.
Einige Mädchen werden uns stolz machen, einige Jungs werden uns groß machen. Junge Männer in verschiedenfarbigen Trikots werden sich in einem dunklen Wald auf Leben und Tod prügeln. Ein Auto wird mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Nacht fahren. Wir werden sagen, dass es ein Verkehrsunfall war, aber Unfälle passieren meistens durch Zufall, und diesen hier hätten wir verhindern können. Es wird einen Schuldigen dafür geben.
Menschen, die wir lieben, werden sterben. Und wir werden unsere Kinder unter unseren schönsten Bäumen begraben.
Klack-klack-klack-klack-klack.
Die höchste Erhebung in Björnstadt ist ein Hügel, der am südlichen Ortsrand liegt. Von dort aus kann man alles überblicken, von den großen Einfamilienhäusern auf der Anhöhe über die Fabrik, die Eishalle und die Reihenhäuser in der Ortsmitte bis hinunter zu den Mietshäusern in der Senke. Auf dem Hügel stehen zwei Mädchen und schauen hinunter auf ihre Stadt. Maya und Ana. Sie werden bald sechzehn, und es ist schwer zu sagen, ob sie trotz ihrer Unterschiede beste Freundinnen sind oder gerade deswegen. Die eine liebt Musikinstrumente, die andere Schusswaffen. Ihre Abscheu gegen den Musikgeschmack der jeweils anderen löst ebenso wiederkehrende Streitereien aus wie ihr schon zehn Jahre währender Konflikt über Haustiere, und zuletzt wurden sie im vergangenen Winter während einer Geschichtsstunde beide vor die Tür geschickt, weil Maya geflüstert hatte: »Weißt du eigentlich, wer ein Hundeliebhaber war, Ana? Hitler!« Woraufhin Ana brüllte: »Und weißt du, wer ein Katzenliebhaber war?! Josef Mengele!«
Sie zoffen sich regelmäßig, lieben einander beständig, und seit sie klein waren, gab es immer wieder Tage, an denen sie das Gefühl hatten, zu zweit gegen den Rest der Welt zu stehen. Doch seit dem, was Maya im Frühjahr zugestoßen ist, haben die beiden jeden Tag dieses Gefühl.
Es ist Anfang Juni. In diesem Ort herrscht ein Dreivierteljahr lang Winter, aber für ein paar verzauberte Wochen ist gerade Sommer. Der Wald um sie herum badet im Sonnenlicht, die Bäume am Seeufer wiegen sich behaglich in der lauen Brise, aber die Blicke der Mädchen strahlen dennoch keine Zufriedenheit aus. Früher hielt diese Jahreszeit endlose Abenteuer für sie bereit; sie lebten draußen in der Natur und kamen erst spätabends mit zerrissener Kleidung, jeder Menge Schmutz im Gesicht und der Kindheit im Blick nach Hause. Doch das ist vorbei. Jetzt sind sie erwachsen. Für manche Mädchen ist das nichts, was man sich wünscht, sondern etwas, was man ihnen aufzwingt.
Klack. Klack. Klack-klack-klack.
Vor einem der Häuser steht eine Mutter. Sie lädt die Taschen ihres Kindes ins Auto. Wie oft tut man dies, bis sie groß sind? Wie viel Spielzeug sammelt man vom Fußboden auf, nach wie vielen Kuscheltieren fahndet man abends vorm Schlafengehen mit ganzen Suchtrupps, und wie viele einzelne Handschuhe gibt man im Kindergarten verloren? Wie oft denkt man, dass einem als Eltern im Zuge der Evolution eigentlich Schuhlöffel aus beiden Unterarmen wachsen müssten, um damit unter alle verdammten Sofas und Kühlschränke zu gelangen. Wie viele Stunden verbringen wir damit, im Hausflur auf unsere Kinder zu warten? Wie viele graue Haare auf unserem Kopf verdanken wir ihnen? Wie viele Leben opfern wir für ihr eines? Was braucht man, um eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein? Nicht viel. Nur alles. Einfach nur alles.
Klack. Klack.
Oben auf dem Berg wendet sich Ana gerade ihrer besten Freundin zu und fragt: »Weißt du noch, als wir klein waren? Und du immer Mutter und Kind spielen wolltest?«
Maya nickt, ohne die Stadt aus den Augen zu lassen.
»Willst du immer noch Kinder haben?«, fragt Ana.
Mayas Mund öffnet sich kaum, als sie antwortet.
»Weiß nicht. Und du?«
Ana zuckt leicht mit den Achseln, vor Wut und auch aus Trauer.
»Vielleicht, wenn ich alt bin.«
»Wie alt?«
»So um die dreißig.«
Maya schweigt lange, bevor sie fragt: »Jungs oder Mädchen?«
Ana antwortet, als hätte sie in ihrem ganzen Leben nur über diese eine Frage nachgedacht: »Jungs.«
»Und warum?«
»Zu denen ist die Welt nur manchmal grausam, aber zu uns fast immer.«
Klack.
Die Mutter schließt den Kofferraum. Sie hält ihre Tränen zurück, denn sie weiß, wenn sie jetzt auch nur eine einzige vergießt, wird sie nie wieder aufhören zu weinen. Egal wie alt unsere Kinder sind, wir wollen nicht vor ihnen weinen. Wir tun alles für sie, was sie allerdings nicht verstehen, weil sie die Tragweite noch nicht begreifen. Ein Leben lang fühlen wir uns unzulänglich und werden von schlechtem Gewissen geplagt, auch wenn wir ins Fotoalbum nur glückliche Bilder kleben und nie die Zwischenräume zeigen, in denen sich alles verbirgt, was weh tut. Die stummen Tränen im dunklen Zimmer. Nachts liegen wir dann schlaflos im Bett vor Sorge, welchen Widrigkeiten wir unsere Kinder aussetzen und was ihnen alles passieren könnte.
Die Mutter umrundet das Auto und öffnet die Fahrertür. Sie unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen Müttern. Sie liebt, leidet unter Ängsten, empfindet Scham, fühlt sich unzulänglich. Früher saß sie nachts am Bett ihres dreijährigen Sohnes und betrachtete ihn beim Schlafen, während sie Befürchtungen hegte, was ihm alles Schlimmes zustoßen könnte, genau wie alle Eltern es tun. Sie glaubte nur nie, dass sie irgendwann einmal würde befürchten müssen, dass er anderen Schlimmes antut.
Klack.
Die Stadt liegt im Morgengrauen, ihre Bewohner schlafen noch, und auch wenn die Hauptstraße, die aus Björnstadt herausführt, völlig verlassen daliegt, heften sich die Blicke der Mädchen oben auf dem Berg darauf. Sie warten geduldig.
Maya träumt nicht mehr von ihrer Vergewaltigung. Nicht von Kevins Hand auf ihrem Mund, seinem Gewicht auf ihrem Körper, mit dem er ihre Schreie erstickte, nicht von seinem Zimmer mit all den Eishockeypokalen in den Regalen und auch nicht vom Fußboden, auf dem ihr Blusenknopf gelandet war. Jetzt träumt sie nur noch von der Joggingstrecke um die Anhöhe herum, die sie von hier aus sehen kann. Wie Kevin dort in der Dunkelheit allein unterwegs war und sie mit einem Gewehr in den Händen plötzlich hinter einem Baum hervortrat. Wie sie ihm den Lauf an den Kopf hielt, wie er zitterte und weinte und sie um Gnade anflehte. Im Traum tötet sie ihn jede Nacht wieder aufs Neue.
Klack. Klack.
Wie viele Male bringt eine Mutter ihr Kind zum Glucksen vor Freude? Wie oft bringt das Kind sie zum Lachen? Kinder lassen uns innerlich jubeln, wenn sie es zum ersten Mal bewusst tun und wir ihren Humor entdecken. Wenn sie Scherze machen oder lernen, unsere Gefühle zu manipulieren. Wenn sie uns lieben, lernen sie kurz darauf zu lügen, um unsere Gefühle zu schonen, und dann tun sie nur noch so, als wären sie glücklich.
Sie lernen so rasch, was wir uns von ihnen erhoffen. Wir können uns zwar einbilden, sie zu kennen, aber sie haben eigene Fotoalben und werden in den Zwischenräumen erwachsen.
Wie viele Male hat die Mutter schon vorm Haus am Auto gestanden, auf die Uhr geschaut und ungeduldig den Namen ihres Sohnes gerufen? Heute braucht sie es nicht zu tun, denn er sitzt schon seit mehreren Stunden schweigend auf dem Beifahrersitz, während sie gepackt hat. Sein ehemals so durchtrainierter Körper ist innerhalb der Wochen, in denen sie ihn geradezu zum Essen überreden musste, stark abgemagert. Er stiert mit leerem Blick aus dem Wagenfenster.
Wie viel kann eine Mutter ihrem Sohn verzeihen? Wie soll sie es im Voraus wissen? Keine Mutter glaubt, dass ihr kleiner Junge heranwächst und zu einem Straftäter wird. Sie weiß zwar nicht, welche Albträume ihn seit einiger Zeit heimsuchen, hört aber, wenn er nachts schreiend aufwacht. Und zwar seit dem besagten Morgen, an dem sie ihn starr vor Angst und steif vor Kälte auf der Joggingstrecke gefunden hat. Er hatte sich eingenässt, und seine verzweifelten Tränen hatten auf seinen Wangen Erfrierungen hinterlassen.
Er hat ein Mädchen vergewaltigt, aber niemand konnte es beweisen. Es wird immer Menschen geben, die behaupten, dass er und seine Familie ohne Anklage und Strafverfolgung gut weggekommen sind. Sie haben natürlich recht. Aber seine Mutter wird es nie so empfinden.
Klack. Klack. Klack.
Als das Auto die Hauptstraße entlangfährt, steht Maya auf dem Hügel und weiß, dass Kevin nie wieder hierher zurückkehren wird. Dass sie ihn gebrochen hat. Es wird immer Menschen geben, die behaupten, dass sie deshalb gewonnen hat.
Doch sie wird es nie so empfinden.
Klack. Klack. Klack. Klack.
Die Bremslichter leuchten kurz auf, die Mutter wirft einen letzten Blick in den Rückspiegel, auf das Haus, das einmal ihr Zuhause war, und die winzigen Klebereste auf dem Briefkasten, von dem der Name »Erdahl« Buchstabe für Buchstabe abgeschabt wurde. Kevins Vater belädt das andere Auto allein. Er hat damals neben der Mutter auf der Joggingstrecke gestanden und seinen Sohn mit Rotz auf der Jacke und Urin auf der Hose dort liegen sehen. Ihre Ehe war schon lange vorher in die Brüche gegangen, aber erst in diesem Moment sah die Mutter die Scherben. Der Vater weigerte sich, ihr zu helfen, als sie den Jungen halb trug und halb durch den Schnee schleifte. Das ist jetzt zwei Monate her, und seitdem hat Kevin das Haus nicht mehr verlassen. Seine Eltern haben unterdessen kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt. Männer definieren sich selbst eindeutiger als Frauen, das lehrt das Leben sie, und beide, sowohl ihr Mann als auch ihr Sohn, haben sich schon immer nur über ein einziges Wort definiert: Sieger. Solange sie sich zurückerinnern kann, hat Kevins Vater dem Jungen immer dieselbe Botschaft eingetrichtert: »Es gibt nur drei Kategorien von Menschen: Sieger, Verlierer und Zuschauer.«
Und jetzt? Wenn sie keine Sieger sind, was sind sie dann? Die Mutter löst die Handbremse, schaltet die Stereoanlage im Auto aus, fährt hinunter auf die Hauptstraße und biegt mit ihrem Sohn auf dem Beifahrersitz in die eine Richtung ab. Der Vater steigt ins andere Auto und fährt allein in die entgegengesetzte Richtung. Die Scheidungsunterlagen sind schon zur Post gebracht, zusammen mit einem Brief an die Schule, in dem steht, dass der Vater in eine andere Stadt gezogen und die Mutter mit dem Sohn ins Ausland gegangen ist. Die Handynummer der Mutter steht ganz unten für den Fall, dass die Schule irgendwelche Rückfragen hat, doch niemand wird bei ihr anrufen. Diese Stadt wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu vergessen, dass Familie Erdahl je ein Teil von ihr war.
Nach vier Stunden schweigsamer Autofahrt, als sie so weit von Björnstadt entfernt sind, dass weit und breit kein Wald mehr zu sehen ist, fragt Kevin seine Mutter flüsternd: »Glaubst du, dass man ein anderer Mensch werden kann?«
Sie schüttelt mit deutlichen Bissspuren ihrer Zähne auf der Unterlippe den Kopf und blinzelt so heftig, dass sie kaum noch die Straße vor sich erkennen kann. »Nein. Aber man kann ein besserer werden.« Daraufhin ergreift er zitternd ihre Hand. Sie hält sie fest, als wäre er ein dreijähriger Junge, der sich an einer Felswand über dem Abgrund festklammert, und flüstert zurück: »Ich werde dir nie verzeihen, Kevin. Aber ich halte immer zu dir.«
Klack-klack-klack-klack-klack.
Überall in dieser Stadt hört man dieses Geräusch. Man kann es wahrscheinlich nur verstehen, wenn man hier wohnt.
Klackklackklack.
Auf dem Hügel stehen zwei Mädchen und sehen das Auto verschwinden. Sie werden bald sechzehn. Die eine hält eine Gitarre in der Hand, die andere ein Gewehr.
Das Schlimmste an anderen Menschen ist für uns, dass wir abhängig von ihnen sind und ihr Handeln unser Leben beeinflusst. Nicht nur abhängig von denen, die wir uns aussuchen, weil wir sie mögen, sondern auch von allen anderen: den Idioten. Ihr, die ihr in jeder Schlange vor uns steht, nicht vernünftig Auto fahren könnt, schlechte Fernsehserien liebt und im Restaurant zu laut redet, und ihr, deren Kinder im Kindergarten unsere mit der Magen-Darm-Grippe anstecken. Ihr, die ihr falsch parkt, uns die Arbeitsplätze wegnehmt und die falsche Partei wählt. Ihr nehmt auch Einfluss auf unser Leben, und zwar in jeder einzelnen Sekunde.
Großer Gott, wie sehr wir euch dafür hassen.
An der Bar in der Kneipe »Zum Bärenpelz« sitzen mehrere alte Männer schweigend nebeneinander. Man munkelt, dass sie um die siebzig sind, aber sie könnten auch locker als doppelt so alt durchgehen. Sie sind zu fünft, haben aber mindestens acht verschiedene Meinungen und werden die »fünf Onkels« genannt, weil sie bei allen Trainingseinheiten von Björnstadt Eishockey immer an der Bande stehen, wo sie jede Menge Unsinn verbreiten und Ärger machen. Danach gehen sie in den »Bärenpelz« und verbreiten dort Unsinn und machen Ärger. Darüber hinaus amüsieren sie sich regelmäßig damit, einander weiszumachen, dass sie an Demenz leiden: Manchmal tauschen sie bei einem von ihnen nachts heimlich die Hausnummer an der Fassade aus, und regelmäßig verstecken sie im Suff gegenseitig ihre Schlüssel. Einmal haben vier von ihnen das Auto des fünften vor dessen Haus abgeschleppt und es gegen einen identischen Mietwagen ausgetauscht, nur um ihm am nächsten Morgen eine Höllenangst davor einzujagen, dass es nun an der Zeit fürs Pflegeheim wäre, weil er nicht mehr wegfahren konnte. Wenn sie zu einem Eishockeyspiel gehen, bezahlen sie mit Monopoly-Spielgeld, und vor ein paar Jahren taten sie eine ganze Saison lang so, als wären sie bei den Olympischen Spielen im Jahr 1980. Bei jeder Begegnung mit Peter Andersson, dem Sportdirektor von Björnstadt Eishockey, sprachen sie ihn auf Deutsch an und nannten ihn »Hans Rampf«. Das trieb den Sportdirektor langsam, aber sicher in den Wahnsinn, was die »fünf Onkels« wiederum noch diebischer freute als ein Sieg ihrer Mannschaft. Die Leute im Ort halten es durchaus für möglich, dass die Onkel inzwischen tatsächlich dement sind, und zwar alle fünf, aber wie zum Teufel soll man es beweisen können?
Ramona, die Wirtin der Kneipe »Zum Bärenpelz«, stellt fünf Whiskygläser auf die Theke. Hier gibt es nur eine Sorte Whisky, dafür aber mehrere Sorten von Trauer. Die Onkel haben Björnstadt Eishockey schon bis auf den ersten Platz der obersten Liga aufsteigen, aber auch ganz tief absteigen sehen. Ein Leben lang. Doch dieser Tag wird der schlimmste von allen werden.
Mira Andersson sitzt gerade in ihrem Auto und ist unterwegs ins Büro, als ihr Handy klingelt. Sie ist aus vielen Gründen gestresst. Als ihr plötzlich das Handy aus den Fingern rutscht und unter den Sitz gleitet, flucht sie mit Hilfe anatomischer Beschreibungen unter der Gürtellinie, die laut Miras Ehemann selbst betrunkene Seeleute erröten lassen würden. Als Mira das Handy endlich wieder zu fassen kriegt, benötigt die Frau am anderen Ende der Leitung ein paar Sekunden, um sich nach all den vulgären Adjektiven wieder zu sammeln.
»Hallo?«, ruft Mira.
»Ja, entschuldigen Sie, ich rufe von S Express an. Sie haben uns eine Mail mit der Bitte um ein Angebot geschickt …«, teilt ihr die Frau äußerst zaghaft mit.
»Von … wie war das noch gleich? S Express? Nein, da haben Sie sich wohl verwählt!«, stellt Mira klar.
»Sind Sie sicher? Hier in meinen Unterlagen steht aber, dass …«, entgegnet die Frau, doch dann rutscht Mira erneut das Handy aus der Hand, woraufhin sie sich spontan darüber auslässt, was genau sie sowohl vom Geschlechtsorgan als auch von der Kopfform des Ingenieurs hält, der das Handy designt hat, und als sie es endlich wiederfindet, hat sich die Frau am anderen Ende selbst einen Dienst erwiesen und aufgelegt.
Mira denkt nicht weiter über das Gespräch nach, denn sie erwartet eigentlich einen Anruf von ihrem Ehemann Peter, der heute ein Meeting mit dem Gemeinderat hat, bei dem es um die Zukunft des Eishockeyklubs geht. Ihre Nervosität angesichts der Konsequenzen dieses Meetings schlägt ihr auf den Magen, und ihr Bauch fühlt sich wie ein Knoten an, der sich immer fester zusammenzieht. Als Mira ihr Handy auf den Beifahrersitz wirft, leuchtet das Hintergrundbild mit ihrer Tochter Maya und ihrem Sohn Leo kurz auf, bevor die Tastensperre aktiviert wird und das Display erlischt.
Mira fährt weiter zur Arbeit. Wenn sie allerdings angehalten hätte, um im Internet nach S Express zu suchen, hätte sie erfahren, dass es sich dabei um ein Umzugsunternehmen handelt. In Städten, deren Eishockeyklub keine große Bedeutung hat, hätte man es vielleicht als harmlosen Scherz aufgefasst, dass jemand im Namen der Familie Andersson ein Angebot bei der Firma einholt, doch Björnstadt ist keine solche. In einem stillen Wald muss man nicht schreien, um bedrohlich zu wirken.
Mira wird es natürlich bald herausfinden, weil sie clever ist und schon lange genug hier wohnt. Björnstadt ist für viele positive Dinge bekannt: für unfassbar schöne Wälder und eine letzte ursprüngliche Wildnis in einem Land, dessen Politiker ausschließlich in die Expansion der Großstadtregionen investieren. Hier leben freundliche, demütige und hart arbeitende Menschen, die die Natur und den Sport lieben und ein Publikum bilden, das die Tribünen unabhängig davon füllt, in welcher Liga ihre Mannschaft gerade spielt. Hier schminken sich selbst Rentner das ganze Gesicht grün, bevor sie zu einem Eishockeyspiel gehen. Darüber hinaus gibt es verantwortungsvolle Jäger und kompetente Fischer, alles Menschen, die stark wie das Eis und stur wie der Wald sind und Nachbarschaftshilfe leisten, wenn Not am Mann ist. Das Leben hier ist zwar manchmal hart, doch sie grinsen nur und sagen: »Es muss hart sein.« Björnstadt ist bekannt dafür. Aber … nun ja. Die Stadt ist eben auch bekannt für Negatives.
Vor einigen Jahren berichtete ein ehemaliger Eishockeyschiedsrichter in den Medien von den schlimmsten Erinnerungen aus seiner Karriere. Auf dem zweiten, dritten und vierten Platz rangierten Eishockeyspiele in den Großstädten, bei denen wütende Fans Kautabakdosen, Münzen und Golfbälle aufs Eis geworfen hatten, wenn ihnen ein Schiedsrichterentscheid nicht passte. Doch den ersten Platz belegte eine kleine Eishalle irgendwo tief im Wald, in der die Heimmannschaft in der Schlussminute des Spiels mit einer Zeitstrafe belegt wurde. Als ein Gegenspieler kurz darauf ein Tor schoss und Björnstadt verlor, warf der Schiedsrichter einen verstohlenen Blick hinauf zur berüchtigten Stehplatztribüne, die der »Truppe« gehört und ausschließlich mit Männern in schwarzen Jacken gefüllt ist, die normalerweise ohrenbetäubende Fangesänge anstimmen und angsteinflößend grölen. Doch damals erhoben sie ihre Stimmen nicht. Im Gegenteil, die »Truppe« verhielt sich totenstill.
Miras Ehemann Peter, der Sportdirektor von Björnstadt Eishockey, witterte als Erster die Gefahr. Er stürmte sofort in die Technikbox, wo es ihm gerade noch rechtzeitig zum Abpfiff des Spiels gelang, sämtliche Lichter zu löschen. Daraufhin wurden die Schiedsrichter in der Dunkelheit vom Wachpersonal herausgeführt und unmittelbar wegchauffiert. Niemand hatte ihnen erklären müssen, was sonst passiert wäre.
Deshalb reichen leise Drohungen in einem Ort wie diesem aus; ein Anruf bei einem Umzugsunternehmen genügt, und bald wird Mira auch den Grund dafür erfahren.
Das Meeting im Rathaus ist noch nicht beendet, als einige Björnstädter das Ergebnis schon kennen.
Vor dem Rathaus sind stets zwei Flaggen gehisst, eine in den Landesfarben und eine mit dem Wappen der Kommune, und die Politiker können sie vom Konferenzraum aus sehen. Es sind nur noch wenige Tage bis Mittsommer, und es ist drei Wochen her, dass Kevin und seine Familie die Stadt verlassen haben. Damit haben sie die Geschichte verändert, nicht die zukünftige, sondern die vergangene. Es ist nur noch nicht für alle ersichtlich.
Einer der Politiker hüstelt nervös und unternimmt einen tapferen Versuch, sein Jackett zuzuknöpfen, obwohl es schätzungsweise schon ein halbes Dutzend Weihnachtsfeiern her ist, als es rein theoretisch noch möglich war, und sagt: »Es tut mir leid, Peter. Aber wir gehen davon aus, dass die Region am meisten davon profitiert, wenn wir die Ressourcen der Kommune auf einen einzigen Eishockeyklub konzentrieren, und nicht auf zwei. Wir werden von nun an den Fokus auf … Hed Eishockey legen. Und es wäre für alle das Beste, inklusive für dich selbst, es einfach zu akzeptieren. Im Hinblick auf … die Situation.«
Peter Andersson, der Sportdirektor von Björnstadt Eishockey, sitzt auf der anderen Seite des Tisches. Die Erkenntnis darüber, wie man ihn hintergangen hat, lässt ihn in einen bodenlosen Abgrund stürzen, und seine Stimme trägt kaum, als er hervorbringt: »Aber wir … wir brauchen doch nur für ein paar Monate Unterstützung, bis wir noch mehr Sponsoren aufgetrieben haben, und die Kommune muss lediglich als Garant für das Darlehen bei der Bank einstehen …«
Er verstummt und schämt sich angesichts seiner eigenen Dummheit. Die Politiker haben natürlich längst mit den Bankdirektoren gesprochen, da sie als Nachbarn gemeinsam Golf spielen und auf Elchjagd gehen. Dieser Beschluss ist schon lange, bevor Peter den Raum betreten hat, gefallen. Als die Politiker Peter herbestellten, hatten sie ihn sorgfältig darauf hingewiesen, dass es sich um ein »informelles Meeting« handelt. Es würde kein Protokoll geben. Die Stühle im Konferenzraum sind besonders schmal, damit die mächtigsten Leute auf mehreren gleichzeitig sitzen können.
Peters Handy gibt einen Klingelton von sich, und als er es öffnet, erblickt er eine Mail mit dem Inhalt, dass der Klubdirektor von Björnstadt Eishockey gerade zurückgetreten ist. Er wusste also, wie das Ganze ausgehen würde, und hat bestimmt schon ein Angebot aus Hed erhalten. Peter muss den Tiefschlag also allein verkraften.
Die Politiker auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches winden sich unangenehm berührt. Peter kann ihre Gedanken lesen: ›Jetzt mach dich nicht lächerlich und fang ja nicht an, zu bitten und zu betteln. Nimm es stattdessen wie ein Mann.‹
Björnstadt liegt an einem großen See, dessen eines Ufer von einem schmalen Strand gesäumt wird. Zu dieser Jahreszeit, wo es so warm ist und man fast vergisst, dass der Winter in Björnstadt neun Monate dauert, gehört er den Teenagern der Stadt. Mitten im Gewusel von Strandbällen und überschießenden Hormonen sitzt ein zwölfjähriger Junge mit Sonnenbrille. Er heißt Leo Andersson, was im vorigen Sommer nur wenige wussten, jetzt aber alle. Sie linsen heimlich zu ihm rüber, als wäre er eine Bombe, die jeden Moment detonieren könnte. Vor ein paar Monaten wurde Leos Schwester Maya von Kevin Erdahl vergewaltigt, aber die Polizei hatte keine Beweise dafür, so dass Kevin wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Daraufhin spaltete sich die Stadt in zwei Lager; die meisten schlugen sich auf Kevins Seite, und der Hass eskalierte, bis sie versuchten, Leos Familie aus der Stadt zu vertreiben. Sie warfen Steine mit der Aufschrift »Hure« durchs Zimmerfenster seiner Schwester, mobbten sie in der Schule und beriefen schließlich eine Mitgliederversammlung in der Eishalle ein, wo sie alles daransetzten, Mayas und Leos Vater als Sportdirektor von Björnstadt Eishockey abzusetzen.
Dann trat ein Augenzeuge vor, ein Junge in Mayas Alter, der sich im Haus befand, als es passierte, doch seine Aussage zeigte keine Wirkung. Die Polizei unternahm nichts, die Stadtverordneten hielten die Klappe, und auch die anderen Erwachsenen halfen Maya nicht weiter. Bis eines Nachts plötzlich etwas geschah. Was genau, weiß niemand. Aber seitdem hat Kevin das Haus nicht mehr verlassen. Im Ort kursierte das Gerücht, dass er unter einer psychischen Krankheit litt, und eines Morgens vor drei Wochen verließen er und seine Familie unerwartet die Stadt.
Leo hatte geglaubt, dass danach alles besser werden würde. Doch stattdessen wurde es noch schlimmer. Er ist zwölf Jahre alt, und in diesem Sommer lernt er, dass die Leute immer dazu neigen werden, eine simple Lüge der komplizierten Wahrheit vorzuziehen, denn die Lüge hat einen unschlagbaren Vorteil: Sie muss lediglich nachvollziehbar sein, während die Wahrheit alles benennen muss, was geschehen ist.
Als Peter Andersson auf der Mitgliederversammlung des Klubs im Frühjahr mit denkbar knapper Mehrheit als Sportdirektor bestätigt wurde, sorgte Kevins Vater umgehend dafür, dass Kevin von Björnstadt Eishockey zu Hed Eishockey wechselte. Er überzeugte auch den Trainer, nahezu alle Sponsoren und fast alle besseren Spieler aus der Juniorenmannschaft, ihm zu folgen. Als Kevins Familie dann vor drei Wochen überraschend die Stadt verließ, stand plötzlich alles Kopf, doch bizarrerweise veränderte sich nichts.
Was hatte Leo geglaubt? Dass in diesem Moment alle anderen Kevins Schuld realisieren und um Verzeihung bitten würden? Dass die Sponsoren und Spieler mit gesenkten Köpfen wieder nach Björnstadt zurückkehren würden? Von wegen; niemand in diesem Ort senkt den Kopf. Wir Menschen wollen einfach nicht zugeben, wenn wir falschliegen. Je schlimmer der begangene Fehler ist und je gravierendere Folgen er hat, desto größer ist der Stolz, den wir zu verlieren haben, wenn wir einen Rückzieher machen. Also tut es niemand. Deshalb haben sich alle einflussreichen Björnstädter für eine andere Strategie entschieden: Sie leugneten, je Freunde der Familie Erdahl gewesen zu sein. Erst murmelte man zurückhaltend, doch dann zunehmend wagemutig, dass »der Junge schon immer etwas merkwürdig« gewesen sei und »sein Vater ihn zu stark unter Druck gesetzt« hätte, »wie man ja gesehen hat«. Daraus ergaben sich dann unmerklich Kommentare wie »diese Familie war doch nie so wie … na du weißt schon, wie wir. Der Vater stammte ja außerdem gar nicht von hier, sondern war nur zugezogen«.
Als alle Spieler den Klub wechselten und zu Hed Eishockey gingen, hieß es, dass Kevin »unschuldig angeklagt« und »einer Hexenjagd ausgesetzt« worden wäre, doch jetzt verbreiten alle eine andere Version: Dass die Sponsoren und Spieler gar nicht nach Hed abgewandert seien, um Kevin zu folgen, sondern vielmehr, um sich »von ihm zu distanzieren«. Sein Name wurde von der Mitgliederliste in Hed gestrichen, während er in Björnstadt noch immer registriert ist. Auf diese Weise distanzierten sich Kevins alte Freunde weit genug vom Vergewaltiger und auch von seinem Opfer, so dass ihn nun alle als »Psychopathen« bezeichnen können, während sie Maya weiterhin eine »Hure« schimpfen. Lügen zu verbreiten ist einfach, aber die Wahrheit zu sagen ist schwer.
Björnstadt Eishockey war von so vielen Leuten »Kevins Klub« genannt worden, dass Hed Eishockey nun ganz automatisch zum Gegenpart wurde. Die Eltern der Spieler schickten Mails an die Kommunalpolitiker mit Begriffen wie »Unsicherheit« und der Aufforderung »Verantwortung zu übernehmen«. Wenn sich Menschen bedroht fühlen, kann das schnell zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Eines Nachts wurde »Vergewaltiger!!!« auf ein Ortseingangsschild von Björnstadt gesprüht. Ein paar Tage später wurde eine Gruppe Achtjähriger aus Björnstadt und Hed von einem Pfadfinderlager nach Hause geschickt, nachdem sie sich aufs Blut geprügelt hatten. Die Kinder aus Hed hatten die anderen lautstark mit »Bjööörnstaaadt: Vergewaltiger!!!« beschimpft.
Leo sitzt heute am Strand, während fünfzig Meter entfernt Kevins alte Freunde sitzen, lauter großgewachsene durchtrainierte Achtzehnjährige. Neuerdings tragen sie rote Hed-Eishockey-Kappen. Sie waren es, die im Internet verbreitet hatten, dass Maya »es verdient« hätte und Kevin ganz offensichtlich unschuldig sei, denn »Wer wollte diese Hure auch nur mit ’ner Zange anfassen?«. Als hätte Maya je irgendeinen von ihnen gebeten, sie überhaupt anzufassen. Jetzt hingegen behaupten dieselben Jungs, dass Kevin nie einer von ihnen gewesen ist, und diese Lüge werden sie so oft wiederholen, bis Kevin nur noch mit Björnstadt Eishockey in Verbindung gebracht wird, denn wie man die Story auch dreht und wendet, diese Jungs stilisieren sich selbst zu Helden. Sie gewinnen immer.
Leo ist sechs Jahre jünger und noch dazu weitaus kleiner und schwächer, und dennoch haben ihn mehrere seiner Freunde aufgefordert, »etwas zu unternehmen«, da diese Idioten »bestraft werden müssen«. Und »wie ein Mann« aufzutreten. Männlichkeit ist mit zwölf Jahren etwas Kompliziertes. In jedem anderen Alter allerdings auch.
Plötzlich hört er ein Geräusch. Alle Köpfe drehen sich in Richtung der Badelaken auf dem Sand. Am ganzen Strand beginnen die Handys zu vibrieren. Erst eines oder zwei und dann alle auf einmal, bis die Klingeltöne einen Klangteppich bilden wie von einem unsichtbaren Orchester, in dem alle Instrumente gleichzeitig gestimmt werden. Die Nachricht trifft ein.
Björnstadt Eishockey existiert nicht mehr.
»Es ist doch nur ein Klub, im Leben gibt es wichtigere Dinge.« Das lässt sich leicht sagen, wenn man glaubt, dass Sport nur aus Zahlen besteht. Doch das ist keineswegs der Fall, und um es zu begreifen, muss man sich nur eine ganz simple Frage stellen: Wie fühlt es sich für ein Kind an, Eishockey zu spielen? Die Antwort darauf ist überhaupt nicht schwer. Bist du schon einmal verliebt gewesen? Genauso fühlt es sich an.
Auf der Landstraße, die aus Björnstadt herausführt, joggt ein verschwitzter Sechzehnjähriger. Er heißt Amat. In einer Autowerkstatt im Wald hilft ein ölverschmierter Achtzehnjähriger seinem Vater dabei, Werkzeug zu holen und Reifen zu stapeln. Er heißt Bobo. Auf einer Terrasse in einem Garten steht ein viereinhalbjähriges Mädchen und schießt Pucks gegen eine Hauswand. Sie heißt Alicia.
Amat hofft darauf, dass er eines Tages gut genug sein wird, damit der Eishockeysport seine Mutter und ihn von hier wegbringt. Für ihn bedeutet der Sport Zukunft. Bobo hingegen hofft nur, noch eine weitere Saison lang unbeschwert spielen zu können, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen, denn er weiß, dass danach jeder Tag den Arbeitstagen seines Vaters gleichen wird. Für Bobo ist der Sport das letzte Spiel im Leben.
Und für Alicia, das viereinhalbjährige Mädchen, das von der Terrasse aus Pucks schießt? Bist du schon einmal verliebt gewesen? Für sie fühlt sich dieser Sport genauso an.
Die Handys vibrieren. Die Stadt hält inne. Nichts verbreitet sich rasanter als eine schlechte Nachricht.
Amat, sechzehn Jahre alt, bleibt auf der Landstraße stehen. Mit den Händen auf die Knie gestützt und vornübergebeugtem schweren Brustkorb, in dem sein Herz laut pocht: Klack-klack-klack-klack-klack. Bobo, achtzehn Jahre alt, rollt ein weiteres Auto in die Werkstatt und beginnt eine Delle in der Karosserie auszubeulen: Klack-klack-klack. Alicia, viereinhalb Jahre alt, steht auf der Terrasse im Garten. Die Handschuhe sind ihr zu groß, und der Schläger ist zu lang, aber sie schießt dennoch mit voller Kraft einen Puck gegen die Wand: Klack!
Sie alle sind in einer kleinen Stadt im Wald aufgewachsen und von genügend Erwachsenen umgeben, die behaupten, dass die Arbeitsplätze immer weniger und die Winter immer strenger werden, dass die Bäume dichter und die Abstände zwischen den Häusern größer werden, dass alle natürlichen Ressourcen zwar in ländlichen Regionen wachsen, aber jegliche Gelder dennoch in die Großstädte investiert werden. »Bären scheißen in den Wald, und alle anderen scheißen auf Björnstadt.« Für Kinder ist es leicht, Eishockey zu lieben, weil ihnen beim Spielen keine Zeit zum Nachdenken bleibt.
Doch jetzt trifft die Handynachricht ein. Amat bleibt stehen, Bobo lässt seinen Hammer fallen, und kurz darauf muss irgendwer einem viereinhalbjährigen Mädchen erklären, was es bedeutet, wenn ein Eishockeyklub »Insolvenz anmeldet«. Sie oder er muss versuchen, es so klingen zu lassen, als ginge es nur um einen Sportverein, auch wenn Sportvereine eigentlich nicht untergehen. Sie hören nur auf zu existieren. Stattdessen gehen ihre Mitglieder unter.
In der Kneipe »Zum Bärenpelz« pflegt man zu sagen: »Mach die Tür zu, damit die Fliegen nicht frieren.« Dort äußert man aber auch noch ganz andere Dinge wie: »Du glaubst also, dir eine Meinung übers Eishockey bilden zu können? Du würdest ja noch nicht mal mit beiden Händen in den Gesäßtaschen deinen Arsch finden!« Oder: »Du willst Ahnung von Taktik haben? Du bist doch auf dem Eis noch aufgeschmissener als ’ne Kuh auf Kunstrasen!« Oder auch: »Unsere Verteidiger werden nächste Saison besser spielen? Piss mir nicht ans Bein und behaupte, dass es regnet!« Doch heute macht keiner dumme Sprüche, heute schweigen alle. Es ist unerträglich. Ramona schenkt ein letztes Mal Whisky nach. Die fünf Onkel prosten sich flüchtig zu. Dann knallen fünf leere Gläser auf die Theke. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Die Onkel stehen auf, verlassen die Kneipe und gehen jeder seiner Wege. Werden sie einander morgen wieder anrufen? Warum denn? Worüber sollen sie sich ohne eine Eishockeymannschaft noch streiten?
Es gibt vieles, worüber man in einer Kleinstadt nicht spricht, aber für einen Zwölfjährigen gibt es keinerlei Geheimnisse, denn der weiß, wo im Internet er suchen muss. Leo hat alles gelesen. Jetzt trägt er trotz der Wärme ein langärmliges Shirt. Er tut so, als hätte er einen Sonnenbrand, aber eigentlich will er nur vermeiden, dass man die Striemen auf seiner Haut sieht. Nachts kann er nicht aufhören, sich zu kratzen, denn der Hass juckt ihn am ganzen Körper. Er hat sich noch nie geprügelt, nicht einmal beim Eishockeytraining, und immer geglaubt, nach seinem Vater zu kommen, der kein Gewaltmensch ist. Doch jetzt sehnt er sich plötzlich nach einem Gegner, mit dem er sich anlegen kann. Der ihn zufällig anrempelt, nur um einen Grund dafür zu haben, sich den erstbesten harten Gegenstand zu schnappen und den Jungs die Fresse zu polieren.
»Geschwister müssen füreinander einstehen«; das sagen alle zu einem, wenn man ein Kind ist. »Streitet euch nicht! Prügelt euch nicht! Geschwister müssen füreinander einstehen!« Eigentlich sollten Leo und Maya einen älteren Bruder haben, der sie womöglich hätte beschützen können. Er hieß Isak, starb aber an einer Krankheit, noch bevor sie geboren wurden, was es Leo nun unmöglich macht, an einen Gott zu glauben. Leo hat erst begriffen, dass Isak tatsächlich gelebt hatte, als er sieben Jahre alt war und ihm zufällig ein Fotoalbum mit Bildern seines Bruders und seiner Eltern in die Hände fiel. Auf allen Fotos lachten sie und umarmten sich fest. Sie liebten einander offenbar bedingungslos. An diesem Tag hat Isak Leo vieles über das Leben gelehrt, ohne überhaupt anwesend zu sein. Er hat ihn gelehrt, dass Liebe allein nicht ausreicht. Es ist schlimm, so etwas lernen zu müssen, wenn man sieben ist. Allerdings in jedem anderen Alter auch.
Jetzt ist er zwölf und versucht, seinen Mann zu stehen. Wie auch immer man es nun anstellt. Er bemüht sich, nachts seine Haut nicht mehr aufzukratzen, unter der Bettdecke zusammengerollt ganz leise zu weinen und stillschweigend zu hassen, ohne dass es jemand sieht oder gar begreift, warum. Er versucht, den Gedanken abzuschütteln, der ihm beständig von innen gegen die Schläfen hämmert. Geschwister müssen füreinander einstehen, doch er konnte seine Schwester nicht beschützen.
Er konnte seine Schwester nicht beschützen er konnte seine Schwester nicht beschützen er konnte seine Schwester nicht beschützen.
Heute Nacht hat er sich die Haut an Bauch und Brustkorb so stark aufgekratzt, dass sich ein langer tiefer Riss bildete, aus dem Blut heraussickerte. Als er sich heute Morgen im Spiegel betrachtete, fand er, dass die Wunde wie eine Zündschnur aussieht, die zu seinem Herzen führt. Und jetzt fragt er sich, ob sie in seinem Inneren wohl schon brennt und wie lang sie ist.
Die älteren Generationen nannten Björnstadt und Hed immer »die Bären und die Stiere«, insbesondere wenn sich ihre Eishockeymannschaften begegneten. Doch das ist lange her, und niemand weiß genau, ob in Hed der Stier schon als Symbol auf den Trikots existierte, bevor sie den Spitznamen erhielten, oder erst danach. In der Gegend um Hed gab es damals Viehwirtschaft und weitläufiges Weideland, so dass es später leichter war, dort Fabriken anzusiedeln. Die Bewohner von Björnstadt waren bekannt als harte Arbeiter, doch hier stand der Wald dichter, so dass die Gelder in die südlicher gelegene Nachbarstadt investiert wurden. Die älteren Generationen sprachen davon, wie Bären und Stiere durch ihren Kampf eine Balance aufrechterhielten, so dass keinem die gesamte Macht zufallen konnte. Das konnte man damals, als noch genügend Arbeitsplätze vorhanden waren und die Ressourcen für beide Städte ausreichten, so sehen. Heute hingegen ist es schwieriger, denn die Vorstellung, dass es ein Gleichgewicht der Gewalt gibt, ist eine Illusion.
Gewalt lässt sich nie kontrollieren. Auch wenn wir es uns wünschen.
Maya ist zu Hause bei Ana. Es sind ihre letzten ruhigen Minuten, bevor die Handynachricht eintrifft; die letzten Augenblicke nach Kevins Wegzug aus der Stadt und vorm erneuten Losbrechen der Hölle. Sie hatten jetzt drei Wochen Ruhe, in denen die Leute fast zu vergessen schienen, dass Maya überhaupt existiert. Diese Zeit war herrlich, doch gleich ist sie vorbei.
Ana vergewissert sich, dass der Waffenschrank verschlossen ist. Dann holt sie den Schlüssel und vergewissert sich, dass die Waffen darin nicht geladen sind. Sie lügt Maya an und gibt vor, sie reinigen zu wollen, doch Maya weiß, dass sie immer nachsieht, wenn ihr Vater wieder angefangen hat zu trinken. Ein sicheres Zeichen dafür, dass ein Jäger seinen Pegel überschritten hat, ist, wenn er vergisst, seinen Waffenschrank abzuschließen oder wenn er eine geladene Waffe hineinstellt. Bislang ist es zwar nur ein einziges Mal vorgekommen, kurz nach dem Auszug ihrer Mutter, als Ana noch klein war, doch Anas Unruhe hat sich bis heute nicht ganz gelegt.
Maya liegt auf dem Fußboden mit ihrer Gitarre auf dem Bauch und tut so, als bekäme sie es nicht mit. Ana trägt schwer daran, die Tochter eines Alkoholikers zu sein; es ist ein einsamer Kampf.
»Hörst du mich, du Schnepfe?«, ruft Ana schließlich.
»Ja, du blöde Kuh, was ist denn?«, fragt Maya lächelnd.
»Spiel was«, fordert Ana sie auf.
»Du hast mir gar nichts zu befehlen, ich bin schließlich nicht dein Musiksklave«, schnaubt Maya.
Ana grinst. Man kann ihre Art von Freundschaft nicht kultivieren. Sie wächst wild.
»Bitte!«
»Dann lern doch selber zu spielen, du faule Socke.«
»Brauch ich nicht, du dumme Nuss, ich hab schließlich ’ne Knarre in der Hand. Spiel jetzt, bevor ich dich abknalle!«
Maya lacht. Als es Sommer wurde, hatten sie einander gelobt, sich von den Männern in dieser verfluchten Stadt zumindest nicht das Lachen nehmen zu lassen.