Paige Toon
Immer wieder du
Roman
Aus dem Englischen von Andrea Fischer
FISCHER E-Books
Als Tochter eines australischen Rennfahrers wuchs Paige Toon in Australien, England und Amerika auf. Nach ihrem Studium arbeitete sie zuerst bei verschiedenen Zeitschriften und anschließend sieben Jahre lang als Redakteurin beim Magazin »Heat«. Paige Toon schreibt inzwischen hauptberuflich und lebt mit ihrer Familie, sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, in Cambridgeshire.
Weitere Titel der Autorin ›Immer wieder du‹, ›Lucy in the Sky‹, ›Du bist mein Stern‹, ›Einmal rund ums Glück‹, ›Diesmal für immer‹, ›Ohne dich fehlt mir was‹, ›Sommer für immer‹, ›Endlich dein‹, ›Wer, wenn nicht du‹.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: bürosüd°, München
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
›Pictures of Lily‹ im Verlag Pocket Books, London
© Paige Toon, 2010
Published by Arrangement with SIMON & SCHUSTER UK LTD., London, England
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400850-9
Für meine Mum – meinen Ayers Rock
Ohne dich hätte ich es nicht geschafft
»Willst du mich heiraten?«
Als ich diesen Satz höre, muss ich an dich denken. Ich denke jeden Tag an dich. Meist in der ruhigsten Minute des Morgens oder in der dunkelsten Stunde der Nacht. Nicht dann, wenn mein Freund, mit dem ich seit zwei Jahren zusammen bin, mir einen Heiratsantrag macht.
Ich blicke in Richards hoffnungsvolle Augen.
»Lily?«, fragt er noch mal.
Es ist schon zehn Jahre her, aber es fühlt sich so an, als hättest du mich erst gestern verlassen. Wie soll ich aus ganzem Herzen »Ja« sagen, wenn mein Herz immer nur bei dir war?
Ich hole tief Luft und zwinge mich zu antworten …
»Jetzt ist aber Schluss! Ich bin dein Gemecker satt! Wir sind jetzt hier, und hier bleiben wir auch, also gewöhn dich dran, Lily!«
Es hat lange gedauert, aber jetzt rastet meine Mutter aus. Ich kann es ihr nicht verübeln. An ihrem Vorhaben, nach Australien zu ziehen, hab ich schon herumgenörgelt, seitdem sie zum ersten Mal mit Michael im Internet geflirtet hat.
»Ist das Gras hier überhaupt mal grün?«, gebe ich gelangweilt zurück. Wenn sie glaubt, ich würde klein beigeben, ist sie schwer auf dem Holzweg.
Meine Mutter sagt nichts; sie seufzt bloß und guckt in den Rückspiegel, bevor sie auf die Überholspur wechselt.
Es ist Ende November – Sommer in Australien –, und wir fahren vom Flughafen in Adelaide hinauf in die Berge. Zu meiner Linken erheben sich gelbe Hügel, zu meiner Rechten tun sich tiefe baumbewachsene Schluchten auf. Die Straße ist sehr kurvenreich, ich halte mich an der Armlehne fest und blinzele in das grelle Sonnenlicht, weil ich vergessen habe, meine Sonnenbrille aus dem Koffer zu holen. Ich muss wohl nicht extra betonen, dass ich nicht gut gelaunt bin.
»Findest du nicht, dass er uns wenigstens vom Flughafen hätte abholen können?«, grummele ich.
»Wir mussten sowieso den Mietwagen mitnehmen. Und wie schon gesagt, Michael muss arbeiten.«
»Können die Beuteltiere nicht einen Morgen ohne ihn auskommen?«
Die neue große Liebe meiner Mutter ist im örtlichen Wildpark für die Tiere verantwortlich. Den lieben langen Tag muss der Mann nichts weiter tun, als Kängurus füttern und für fotografierende Touristen Koalas im Arm wiegen.
»Vielleicht schon«, erwidert Mum leicht angespannt, obwohl sie sonst immer so ruhig ist, »aber auf der Mailbox hat er was von einem kranken Tasmanischen Teufel erzählt.«
»Na und?«, erwidere ich.
»Das klingt aber nicht nach der Lily, die ich kenne«, sagt sie vorwurfsvoll. »Die Lily, die ich kenne, würde sich Sorgen um ein krankes Tier machen. Die Lily, die ich kenne, wollte sogar einmal nicht in den Urlaub fahren, weil ihr Hamster krank war. Die Lily, die ich kenne, hat sich immer um ihre Haustiere gekümmert, als wären es ihre Kinder.«
»Ja, und jetzt sind sie alle tot«, entgegne ich.
Schweigen.
»Was ist das überhaupt, so ein blöder Tasmanischer Teufel?«, hake ich nach.
»Ach, halt doch einfach den Mund!«
Ich grinse vor mich hin und starre aus dem Fenster, zufrieden mit meinem kleinen Sieg. Dann fällt mir ein, dass wir uns in einem anderen Land befinden. Am anderen Ende der Welt. Und mir wird klar, dass ich überhaupt nicht gewonnen habe. Ich habe verloren. Super.
»Crafers – da ist es.« Mum setzt den Blinker, um links rauszufahren.
»Und was ist, wenn du den Typ nicht leiden kannst?«, frage ich. »Können wir dann wieder zurück nach Hause?«
»Ich werde ihn mögen«, sagt sie mit Nachdruck. »Und das hier ist jetzt unser Zuhause.«
»Das wird nie mein Zuhause sein«, erwidere ich finster.
England ist mein Zuhause. Und sobald ich achtzehn bin, werde ich dorthin zurückkehren. Aber das dauert noch über zwei Jahre – eine Ewigkeit. Ich habe so eine Stinkwut auf meine Mum, weil sie mir das antut, ich kann es gar nicht in Worte fassen.
Ausgerechnet sie musste einen Mann im Internet kennenlernen. Wir befinden uns bald im Jahr 2000 – wer macht so was? Meiner Meinung nach ist dieser blöde Film e-m@il für dich daran schuld. Der hat meiner Mum garantiert diesen Floh ins Ohr gesetzt, als sie ihn letztes Jahr gesehen hat. Schön und gut, wenn die dämliche Meg Ryan und Tom Quasselstrippe Hanks nach Herzenslust E-Mails austauschen, aber wer kommt für die Folgen auf? Ich offenbar. Hier hocke ich nun in dem verfluchten Känguruland und muss bei einem Mann wohnen, den ich noch nie gesehen habe, nur weil meine Mum sich verknallt hat. Wieder mal.
Wir verlassen das Kaff namens Crafers und fahren weiter über die gewundene Straße. Neben uns ist eine Koppel mit vielen hell- und dunkelbraunen Ziegen.
»Das ist also Piccadilly«, stellt Mum fest.
»Piccadilly?«, schnaube ich verächtlich. »Willst du mich verarschen?«
Sie wirft mir einen Blick zu. »So heißt die Stadt.«
»Das nennst du Stadt?« Demonstrativ glotze ich auf vereinzelte Häuser und Höfe, die in großen Abständen am Straßenrand auftauchen. Ausrangierte Autos, Geländewagen und Traktoren stehen unbenutzt im verdorrten Gras. »Ich kenne den Picadilly Circus in London, und dagegen ist das hier ein Dreck!«
Meine Mum runzelt wütend die Stirn, während die Straße uns durch einen bescheidenen Weinberg führt. »Seiner Beschreibung nach ist es nicht mehr weit von hier.«
Wir fahren noch an ein paar Häusern vorbei, dann geht Mum vom Gas.
»Rosen, davon hat er gesprochen.« Sie weist nach vorn auf rosafarbene und rote Rosenbüsche am Straßenrand und biegt dann links ab in die Auffahrt zu einem roten Backsteinhaus mit einem Dach aus braunen Ziegeln und einer schattigen, von Weinranken überwucherten Veranda.
Meine Mum schaut mich an. »Sei nett, ja?«
Ich will erwidern: Wieso sollte ich?, aber sie schneidet mir das Wort ab. »Bitte!«
In diesem Augenblick kommt ein großer, dunkelhaariger Junge aus der Haustür, und ich wundere mich über den ängstlichen Ausdruck in den Augen meiner Mutter, denn der Kerl ist – wie soll ich sagen? – unerwartet scharf.
»Wer ist das?«, frage ich misstrauisch, während Mum sich abschnallt und sich bemüht, eine gelassene Miene aufzusetzen.
»Das muss Josh sein.«
»Mein neuer großer Bruder?« Meine Stimme trieft vor Sarkasmus, aber insgeheim ärgere ich mich, mir nach dem vierundzwanzigstündigen Flug nicht die Knoten aus den langen dunklen Haaren gekämmt zu haben. Mum wirft mir einen letzten, flehenden Blick aus ihren müden blauen Augen zu, dann steigt sie aus. Widerwillig folge ich ihr.
»Hi!« Strahlend stürmt sie über den Kiespfad, wirbelt helle Staubwölkchen auf. »Ich bin Cindy.«
»Tag auch, ich bin Josh.« Er streckt die Hand aus, und Mum schüttelt sie. Dann dreht sie sich zu mir um.
»Das ist meine Tochter Lily.«
Das breite Lächeln auf ihrem Gesicht ist unentschlossen, doch Josh merkt es nicht. Er ist zu sehr damit beschäftigt, mich von Kopf bis Fuß zu mustern. Ich verschränke die Arme vor der Brust, funkele ihn herausfordernd an und warte genervt, bis seine dunkelbraunen Augen in meine hellbraunen schauen.
»Tag auch.«
»Sagt man das hier im Ernst so?«, entgegne ich und ignoriere seine ausgestreckte Hand.
»Was?« Belustigt hakt er seine Daumen in die Jeanstaschen. Seine Attraktivität gibt ihm offenbar viel zu viel Selbstvertrauen, und das ärgert mich.
»›Tag auch‹. Ich dachte, so reden die nur im Fernsehen, wenn Australier gezeigt werden.«
»Ach so.« Josh zieht die Mundwinkel nach unten und schaut Mum an. »Braucht ihr Hilfe bei eurem Gepäck?«
»Dad kommt bald nach Hause«, sagt Josh, als wir unsere Koffer ausgeladen haben und in die Küche umgesiedelt sind. Ich könnte ein bisschen Ruhe und Frieden gebrauchen, um meine Taschen auszupacken, aber mein Verlangen nach Tee und Plätzchen ist größer als der Wunsch, mich zurückzuziehen.
»Wie weit ist es denn bis zum Safari-Park?«, will Mum wissen.
»Das ist ein Naturschutzpark«, erwidert Josh. »Er reicht bis direkt an unser Haus, aber bis zum Eingang sind es fünf Minuten Fahrt.«
»Naturschutzpark, stimmt«, tadelt Mum sich leise, als Josh eine Packung Plätzchen holt und das Cellophan abzieht. Ich beobachte ihn verstohlen, während er den Wasserkessel füllt, auf den Herd stellt und drei nicht zueinander passende Becher von einem hellgelb gestrichenen Regal holt. Sein dunkles Haar ist zerzaust. Sieht aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekommen, und als er sich den Schlaf aus den Augen reibt, wird mir klar, dass es wahrscheinlich auch so ist. Es ist neun Uhr morgens, und er muss – wie alt? – achtzehn sein. Neunzehn? Wie ein Frühaufsteher sieht er jedenfalls nicht aus.
Josh dreht sich zu mir um, und ich wende rasch den Blick ab. Er fragt: »Wollt ihr Milch oder Zucker?«
»Ja, gern. Milch und einen Würfel Zucker für beide«, antwortet Mum für uns.
Josh stellt eine Milchtüte und einen mit Tee verspritzten Zuckertopf auf den Tisch. »Bedient euch«, sagt er, als der altmodische Kessel zu pfeifen beginnt.
Ich greife nach den Plätzchen. YoYos heißen sie.
»Und, Josh«, sagt Mum, »was machst du so?«
»Ich arbeite in einer Autowerkstatt in Mount Barker«, erwidert er.
»Als was?«, hakt sie nach.
»Ich repariere Autos.«
»Wie weit ist es bis Mount Barker?«
»Ungefähr zwanzig Kilometer über den Princes Highway.«
»Stimmt, hier rechnet man in Kilometern, nicht wahr? Wir kennen ja nur Meilen.«
Ich gähne. Unüberhörbar.
Josh wirft mir einen Blick zu, dann dreht er ruckartig den Kopf zur Tür.
»Dad ist da.« Er steht auf und verschwindet im Flur.
Mum kaut sofort an ihrem rosa lackierten Daumennagel. »Meinst du, ich sollte an die Tür gehen, um ihn zu begrüßen?«, flüstert sie mir zu. Sie wirkt nervös.
»Nein. Warte hier«, entgegne ich. »Und hör auf, an deinen Fingernägeln zu knabbern!«
Hastig nimmt sie die Hand aus dem Mund und streicht sich über ihre halblangen blondierten Haare. Kurz empfinde ich ein überwältigendes Mitgefühl, das jedoch gleich wieder verschwindet. Ich lausche, höre, wie sich die Tür öffnet und wieder schließt, murmelnde männliche Stimmen, und dann taucht Josh wieder in der Küche auf, dicht gefolgt von seinem Vater. Mum springt auf und wirft dabei fast ihren Stuhl um. Sie greift nach hinten, um ihn festzuhalten, stößt dabei gegen den Tisch und verschüttet Tee auf die grüne Plastiktischdecke.
»Verzeihung, ich bin so ungeschickt«, entschuldigt sie sich.
»Kein Problem«, sagt Michael mit dröhnender Stimme. »Josh, schmeiß ein Geschirrtuch drauf, Junge.« Dann wendet er sich wieder meiner Mum zu. »Cindy«, sagt er warmherzig. »Endlich!«
»Hallo, Michael«, sagt sie schüchtern. Die beiden gehen ein paar Schritte aufeinander zu und nehmen sich ungeschickt in die Arme. Es wirkt unbeholfen.
Josh schaut mich an und verdreht die Augen. Ich grinse zurück.
Mum löst sich von Michael und dreht sich zu mir um. »Das ist Lily.«
Er kommt zu mir und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Bleib sitzen, bleib sitzen«, sagt er, obwohl ich überhaupt nicht vorhatte aufzustehen. »Schön, dich kennenzulernen, Lily.«
Michael ist Anfang vierzig, also ungefähr acht Jahre älter als Mum. Sie war erst neunzehn, als sie mich zur Welt brachte. Mum ist einsfünfundsiebzig groß, und Michael überragt sie nur leicht. Er hat einen stämmigen Körper, verglichen mit ihrer schlanken Figur. Dazu hat er braungraues Haar, ein wettergegerbtes Gesicht und freundliche schokoladenbraune Augen. Michael spricht mit starkem australischem Akzent, seine Stimme ist kräftig, aber nicht erdrückend. Entgegen meiner festen Vorsätze mag ich ihn sofort. Ich frage mich, ob er weiß, worauf er sich eingelassen hat.
»Wirf den Kessel an, Junge!«, fordert er seinen Sohn auf. »Ich hab den ganzen Morgen noch nichts getrunken.« Josh gehorcht, und Michael hebt einen Stuhl an, damit er nicht über den Boden schrammt, und setzt sich neben mich. »Wie war euer Flug?« Er schaut von Mum zu mir.
»Ganz gut«, antwortet Mum.
»Lang«, werfe ich ein. »Und das Essen war eine miese Pampe.«
»Du Ärmste«, sagt Michael mitfühlend. »Ich dachte, wir könnten zu Mittag grillen. Wenn ihr bis dahin noch wach seid.«
»Noch Tee?«, fragt Josh Mum und mich pflichtbewusst.
Meine Mutter schaut in ihren Becher. »Nur wenn es nicht zu viel Umstände macht.«
»Natürlich nicht!« Michael überschlägt sich förmlich. »Lily?«
»Nein, danke.«
Josh kümmert sich um den Tee.
»Hat mein Junge euch gut versorgt?«, fragt Michael.
»Ja, sehr gut«, erwidert Mum.
»Schön.«
»Dann raus mit der Kohle«, sagt Josh zu seinem Dad und baut sich mit ausgestreckter Hand vor ihm auf.
»Später, mein Junge, später.« Michael winkt ab.
»Hat dein Dad dich bestochen, damit du nett zu uns bist?«, frage ich Josh belustigt.
»Zwanzig Dollar«, bestätigt er grinsend.
»Ich schätze mal, da hat er dich über den Tisch gezogen«, sage ich.
»Ich merke schon, die beiden werden uns Ärger machen«, sagt Michael ziemlich müde zu Mum.
»Hm«, erwidert sie.
Am Abend führt Michael meine Mum zum Essen aus. Sie kommt in mein Zimmer, um mit mir über den Nachmittag zu sprechen, kaum dass der Wecker sich in mein erschöpftes Bewusstsein geschrillt hat. Meine Augen fühlen sich an, als wäre jemand mit einer Nagelfeile darüber gefahren, aber ich will nicht zu lange im Bett bleiben, damit ich heute Abend auch einschlafen kann.
»Lily«, sagt sie. »Michael will mich zum Essen einladen.«
»Und?«
»Und ich habe mich gefragt, ob das für dich in Ordnung ist.«
»Wieso fragst du mich? Du bittest mich doch sonst nicht um Erlaubnis.«
»Stimmt, ich habe nur ein schlechtes Gewissen, weil ich dich an unserem ersten Abend in dem neuen Land allein lasse …«
»Oh, wir haben Schuldgefühle. Mach dir um mich keine Sorgen, Mum, ich bin es gewohnt, allein zurechtzukommen.« Sie wirkt gekränkt. »Im Ernst«, füge ich kleinlaut hinzu, »geh essen und genieß es. Lern den Typen besser kennen. Er scheint nett zu sein.«
Sie antwortet mit strahlendem Lächeln: »Ja, nicht wahr?«
»Ja. Also schikanier ihn nicht so wie all die anderen.« Tut mir leid, aber meine Großzügigkeit hat ihre Grenzen.
Josh ist im Wohnzimmer und guckt fern, als ich schließlich aus meinem Zimmer komme. Mum und Michael sind vor einer halben Stunde gegangen.
»Ich dachte, du schläfst«, sagt er.
»Ich hab auch geschlafen«, erwidere ich. »Es ist ein erstaunliches Phänomen, aber die Menschen neigen dazu, wieder aufzuwachen.«
»Ich wollte gerade eine Pizza bestellen.« Josh nimmt meinen witzigen Sarkasmus gar nicht zur Kenntnis. »Guck mal, welche du willst.« Er reicht mir die Speisekarte einer Pizzeria, und ich lasse mich auf das dreisitzige Sofa fallen. Josh lümmelt sich in einen abgenutzten Sessel aus demselben blassblauen Samtstoff und hat die Füße auf dem Couchtisch aus Kiefernholz. »Dad hat uns Geld dagelassen«, fügt er hinzu.
»Oh«, mache ich. »Yippie!« Er sieht mich stirnrunzelnd an, und ich bemühe mich um eine unbeteiligte Miene, während ich die Speisekarte studiere. Ich weiß sofort, was ich will, und gebe ihm die Karte zurück. »Kann ich auch Crisps haben?« Ich deute mit dem Kinn auf die Packung Doritos mit Käsegeschmack, die auf dem Tisch liegt.
»Meinst du die Chips?«
»Da, wo ich herkomme, heißen die Dinger Crisps.«
»Da, wo du jetzt bist, heißen sie Chips.«
»Da ich nicht lange hierbleibe, werde ich meine Ausdrucksweise nicht ändern.«
»Aha? Wohin willst du denn gehen?«
»Zurück nach England, wenn du es unbedingt wissen willst.«
»Und deine Mum geht mit dir zurück?«
»Wieso, willst du sie nicht hier haben?«
»Wenn sie meinen Dad glücklich macht, kann sie gern bleiben.«
»Darauf würde ich nicht wetten.«
»Musst du eigentlich so ätzend sein?«, fährt er mich an.
»Muss ich nicht, nein.«
»Gut.«
»Es ist eine bewusste Entscheidung.«
Er funkelt mich zornig an. »Also, kann ich nun einen Crisp haben, oder was?« Da Josh nicht auf der Stelle antwortet, beuge ich mich vor und schnappe mir die Tüte.
»Bedien dich ruhig«, knurrt er, als ich mir den Dorito längst in den Mund geschoben habe. Er greift nach dem Telefon auf einem Beistelltisch. »Weißt du schon, was du haben willst?«
»Hawaii«, antworte ich.
»Dasselbe wie ich.«
»Sollen wir uns vielleicht eine teilen?«
»Nein, ich will eine ganze.«
»Teilst du nicht gerne?«
»Ich teile immerhin mein Haus mit dir.«
Innerlich bin ich angespannt, versuche aber, mir nichts anmerken zu lassen. »Ist ja wohl groß genug«, murmele ich. Josh beachtet mich nicht weiter und wählt die Nummer.
Mein neues Zuhause hat vier Schlafzimmer, von denen zwei Mum und mir zugewiesen worden sind, obwohl es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis sie bei Michael schläft. Die Küche ist nicht zu klein, das Wohnzimmer sogar ziemlich groß. Zu Michaels Zimmer gehört ein Bad, alle anderen nehmen das große – das heißt, ich muss es mit Josh teilen. Super. Da kann er noch so gut aussehen – wenn er nasse Handtücher auf dem Boden liegen lässt, schwöre ich, dass ich sie ihm aufs Bett werfe.
Josh legt den Hörer auf und stellt den Fernseher lauter. Schweigend sitzen wir da, bis es eine halbe Stunde später an der Tür klingelt: Das Abendessen ist da. In der Zwischenzeit grüble ich nach. Ich bin eigentlich keine Zicke, ich hab nur … Ach, keine Ahnung. Plötzlich fühle ich mich leer.
Josh kommt mit den Pizzakartons zurück und wirft sie auf den Couchtisch.
»Gehst du morgen zur Arbeit?«, frage ich und kämpfe mit den Mozzarella-Fäden, die hartnäckig an einem Stück Pizza kleben. Josh hat offensichtlich nicht viel für Besteck und Geschirr übrig.
»Morgen ist Sonntag, also nein«, erwidert er patzig.
»Ich hab vergessen, welcher Tag heute ist«, sage ich leise. »Das kann passieren, wenn man gerade aus seinem Leben gerissen wurde.«
Josh schaut mich an, und sein Blick wird weicher. »Das sieht meinem Dad überhaupt nicht ähnlich«, erklärt er.
»Für meine Mum ist es typisch«, entgegne ich mit hartem Ton und ziehe mir den Pizzakarton auf den Schoß. »Schon wieder Werbung! Wie viele Werbespots habt ihr hier eigentlich?«
Josh murmelt etwas vor sich hin und beißt einen Riesenhappen von seiner Pizza. Den Rest seiner Mahlzeit bestreitet er schweigend.
»Wann gehst du denn nun zurück nach England?«, fragt er schließlich.
Ich streiche mein dunkles Haar zur Seite. »Sobald ich achtzehn bin.«
Er wirft mir einen neugierigen Blick zu. »Wie alt bist du denn?«
»Fünfzehn, fast sechzehn. Und du?«
»Achtzehn.« Pause. »Ich hätte dich für älter gehalten.«
»Verdammt, du hast mich durchschaut. Eigentlich bin ich fünfunddreißig.«
»Echt?« Er zieht eine Augenbraue hoch.
»Ja. Gefangen im Körper einer Fünfzehnjährigen.« Ich stelle meine halb vertilgte Pizza beiseite, lege die nackten Füße auf den Tisch und ärgere mich, nicht in weiser Voraussicht zur Fußpflege gegangen zu sein, bevor ich ans andere Ende der Welt flog. Joshs Blick wandert über meine Beine bis zu meinen Brüsten und verharrt dort ein paar Sekunden.
»Glückliche Fünfunddreißigjährige«, murmelt er.
»Willst du mich verarschen?«, gebe ich bissig zurück.
Er schnaubt verächtlich. Ich nehme die Füße vom Tisch, schlage die Beine auf dem Sofa unter und verschränke die Arme. Lässig steht er auf.
»Ich geh heute Abend mit ein paar Kumpels in Stirling aus«, sagt er und kratzt sich am Schulterblatt. Ich erhasche einen Blick auf seinen gebräunten, durchtrainierten Bauch.
»Viel Spaß.« Ich wende den Blick ab und hoffe inständig, dass er nicht gemerkt hat, wie ich rot werde.
»Wenn du willst, kannst du mitkommen«, sagt er beiläufig.
»Nein danke.«
»Warum nicht?«
»Ich bin kaputt.«
»Looser.«
»Weißt du, wie spät es jetzt in England ist?«, frage ich aufgebracht, und meine Gedanken überschlagen sich bei dem Versuch, den Zeitunterschied auszurechnen.
»Wie du willst«, lautet seine Antwort. Damit schlurft er aus dem Zimmer.
Ich brauche ungefähr fünfzehn Sekunden, bis ich weiß, dass es in England halb zehn Uhr morgens ist und ich bis auf mein Nickerchen am frühen Abend im Grunde die ganze Nacht wach war. Ich bin kurz davor, es Josh durch den Flur nachzurufen, merke aber noch rechtzeitig, dass ich mich damit zum Idioten machen würde. Ich stehe auf, nehme die Pizzakartons, schalte den Fernseher aus und gehe in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Draußen hupt ein Auto. Als ich mein Glas mit Wasser aus dem Hahn fülle, taucht Josh im Türrahmen auf.
»Das würde ich nicht trinken«, sagt er. »Im Kühlschrank steht Regenwasser.«
Ich schaue auf mein Glas. »Ah, okay.«
»Die holen mich ab«, sagt er, als die Hupe wieder ertönt.
»Wer ist es? Crocodile Dundee?«
Josh findet das nicht lustig. Na ja, ich schon.
»Bis später.«
»Nur wenn es sich nicht verhindern lässt!«, rufe ich ihm kindisch nach. Die Haustür schlägt zu.
Ich kippe das Leitungswasser in den Ausguss und seufze, als mir klar wird, dass ich allein im Haus bin. Ich bediene mich am Wasser aus dem Krug im Kühlschrank und tapse barfuß durch den Flur zu meinem Zimmer. Beim Anblick der grün-braunen Vorhänge und der dazu passenden Tagesdecke auf dem Bett rümpfe ich die Nase. Vielleicht werde ich mein Zimmer doch noch verschönern. Bisher hatte ich beschlossen, es so zu lassen, wie es ist, weil es keinen Zweck hat, es persönlich einzurichten, wenn ich mich hier eh nie zu Hause fühlen werde. Aber wenn ich es mir recht überlege, glaube ich nicht, dass ich es so lassen kann, nicht mal für kurze Zeit. Vielleicht kann ich ja ein paar Poster besorgen oder die Tagesdecke austauschen, wenn ich was Billiges, Fröhliches finde.
Ich trete ans Fenster und schaue hinaus. Der Blick geht hinauf in die Berge. Zum ersten Mal fällt mir auf dem Gipfel etwas auf, das wie eine Burg aussieht. Seltsam. Ich ziehe die Vorhänge zu.
Mein Koffer liegt noch neben dem Fenster auf dem Boden. Ich habe nicht lange fürs Auspacken gebraucht; ich durfte nur einen Koffer mitnehmen, worüber Mum und ich uns in England in die Haare bekamen. Ich gehe ins Bad, putze mir die Zähne, dann gehe ich wieder ins Zimmer und ziehe meinen Schlafanzug an, bevor ich den Koffer mit den Füßen unters Bett schiebe, damit er aus dem Weg ist.
Eine riesengroße Spinne schießt unter dem Bett hervor und huscht unglaublich schnell in Richtung Tür.
»Iiiiieh!«
Ich stoße einen markerschütternden Schrei aus und springe aufs Bett. Bibbernd hocke ich auf der Matratze, Angst schnürt mir die Kehle zu, und mir kommt die entsetzliche Erkenntnis, dass ich mit dem Tier in einem Zimmer schlafen muss, falls ich es nicht loswerde. Nervös recke ich den Kopf in die Richtung, in die die Spinne geflohen ist.
Die haben mehr Angst vor uns als wir vor denen, die haben mehr Angst vor uns als wir vor denen, die haben mehr Angst vor uns als wir vor denen … Zu Hause hat dieses Mantra immer ganz gut funktioniert, aber die Spinnen hier können tödlich sein.
Vorsichtig steige ich aus dem Bett und schnappe mir einen herumliegenden Turnschuh, den ich als Waffe benutzen will. Barfuß komme ich mir immer so verletzlich vor. Ich schiebe mich vorsichtig zur Tür, halte dabei die Augen offen nach einem dunklen Spinnenkörper, der sich an eine Fußleiste drückt.
Nichts. Nada. Null. Ich weiß nicht, ob sie zur Tür hinaus ist oder ob sie noch irgendwo bei mir im Schlafzimmer lauert. Als ich verängstigt wieder ins Bett steige, weiß ich nur eines ganz sicher: Diese Nacht werde ich nicht gut schlafen.
Fünf Uhr morgens. Alles in allem nicht schlecht. Zwar bin ich um drei Uhr wach geworden und musste dringend aufs Klo, aber ich konnte es mir verkneifen, denn ich wollte um keinen Preis im Dunkeln durch den Flur schleichen, solange dort gefährliche Achtfüßer lauerten. Jetzt steige ich jedoch aus dem Bett und ziehe mir schnell meine Turnschuhe an, bevor ich ins Bad gehe. Mums Schlafzimmertür ist angelehnt. Ich bin neugierig, ob sie auch schon wach ist, drücke die Tür auf und spähe hinein. Das Bett ist leer, noch immer ordentlich hergerichtet mit seiner schaurig-schönen Tagesdecke in Schmutzig-Orange und Senfgelb.
Also hat sie gleich in der ersten Nacht mit Michael geschlafen. Überrascht mich das? Eigentlich sollte es das nicht, aber ich atme trotzdem tief durch und stoße beim Verlassen des Zimmers einen lauten Seufzer aus. Die Tür schließe ich hinter mir.
Nach einem Ausflug ins Bad begebe ich mich in die Küche, stehe dort unschlüssig herum und überlege, womit ich mir die Zeit vertreiben könnte, bis alle wach werden. Ich habe in der Nacht nicht mal jemanden heimkommen hören, daher muss ich sehr fest geschlafen haben, trotz meiner Spinnenphobie.
Vielleicht ist Mum überhaupt nicht zurückgekommen? Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen? Wenn sie tot wäre, dann müsste mein Dad Platz für mich schaffen …
Als mir klar wird, dass mein erster Gedanke nicht dem Wohlergehen meiner Mutter gilt, spüre ich ein fieses Stechen im Kopf, aber bevor die dunkle Seite meiner Phantasie eine grausame Szene heraufbeschwört, die ihr leeres Bett erklärt, höre ich im Flur eine Tür aufgehen. Kurz darauf erscheint Michael in der Küche.
»Ah, Lily«, sagt er freundlich. »Ich hab mich schon gefragt, wer hier so früh herumgeistert.«
»Ist Mum bei dir im Schlafzimmer?«, frage ich unumwunden.
»Äh, ja«, erwidert er und wirkt verlegen. Ich atme erleichtert aus, und er wirft mir einen sonderbaren Blick zu, bevor er mit geheuchelter Begeisterung in die Hände klatscht. »Gebongt, ich setz mal den Kessel auf. Möchtest du eine Tasse? Oh …« Er schaut auf meine nackten Füße in den Turnschuhen, bevor er meinen Schlafanzug in Augenschein nimmt. »Wolltest du rausgehen?«, fragt er verdutzt.
»Nein, aber ich hatte gestern Abend eine Spinne in meinem Zimmer.« Ich kann nicht anders – irgendwem, egal wem, muss ich davon berichten.
Er reißt die Augen auf. »Du hast doch nicht etwa in Sportschuhen geschlafen?«
»Sportschuhe? Meinst du die Turnschuhe?«
»Heißen die bei euch so?«
»Ja. Jedenfalls, nein, ich hab sie nur angezogen, um ins Bad zu gehen.«
Er nickt. »Verstehe. Die Spinne hat dich ganz schön erschreckt, was?«
»Ja, die war riesig. Schwarz und behaart.« Unwillkürlich muss ich mich schütteln.
Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Klingt nach einer Jagdspinne. Keine Bange, Schätzchen, die sind nicht gefährlich. Apropos«, fügt er gedankenverloren hinzu, »ich weiß nicht, ob es wahr ist oder eine von diesen städtischen Legenden, aber angeblich verursachen Jagdspinnen mehr Todesfälle als jede andere Spinnenart.«
Ich schaue ihn fragend an und bedaure es sofort, denn er fährt lebhaft gestikulierend fort. »Stell dir vor, du fährst mit deinem Auto die Straße entlang, ganz in Gedanken versunken, klappst die Sonnenblende runter, und plötzlich fällt die eine fette Spinne in den Schoß. PENG!«, ruft er so laut, dass ich zusammenfahre. »Du baust einen Unfall, und gute Nacht, Marie!«
Ich kann noch nicht Autofahren, aber nehme mir vor, Sonnenblenden zu vermeiden, wenn es so weit ist.
»Ups, ich habe dir wieder Angst eingejagt. Ich will damit nur sagen, dass Jagdspinnen in aller Regel nicht beißen. Und wenn, dann würdest du nicht davon sterben. Wenn du ein paar richtig giftige Spinnen sehen willst, dann solltest du mal mit mir zur Arbeit kommen.« Ich lächele matt, und er schmunzelt vor sich hin. »Vielleicht sind kuschelige Koalas eher dein Ding.«
Meine Mum taucht in der Küchentür auf. »Guten Morgen«, flötet sie und strahlt mich an. »Hey«, sagt sie mit tiefer Stimme zu Michael und reckt sich, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Befangen schaut er zu mir herüber.
»Verdammt. Ich hab den Tee vergessen.« Er stürzt quer durch die Küche. »Ich war abgelenkt, weil ich Lily etwas über Spinnen erzählt habe.«
»Ich hatte gestern Abend eine riesengroße in meinem Zimmer«, erkläre ich.
»Iih«, sagt Mum voller Ekel, während Michael den Kessel nimmt und mit Wasser füllt.
»Ja, ich habe ihr gesagt, sie soll irgendwann mal mit mir zur Arbeit kommen und sich die Spinnen da ansehen«, fährt Michael fort. »Obwohl ich glaube, sie würde lieber die Koalas beobachten.«
Mum umarmt mich. »Das würde dir gefallen, nicht wahr?«
Ich zucke mit den Schultern. »Kann sein.«
Insgeheim würde ich das wirklich gerne tun. Es stimmt, ich möchte unbedingt echte australische Wildtiere aus der Nähe erleben. Ich liebe Tiere. Ich habe früher mit dem Gedanken gespielt, Tierärztin zu werden, aber meine Zeugnisse waren nie gut genug. Und es war keine Übertreibung von Mum, als sie sagte, ich hätte einmal nicht in Urlaub fahren wollen, weil mein Hamster krank war. Ich war zwölf und hatte Billy seit zwei Jahren, aber an dem Tag, bevor wir nach Teneriffa fliegen wollten, begann er zu zittern und zu bibbern. Ich war fast wahnsinnig vor Sorge. Die halbe Nacht blieb ich auf, um bei ihm Wache zu halten. Zu Mum sagte ich, dass ich auf keinen Fall in Urlaub fahren und ihn bei unseren Nachbarn lassen würde, wenn es ihm am Morgen nicht besser ginge. Um zwei Uhr nachts konnte ich jedoch die Augen nicht mehr offen halten, und als ich um sechs hoffnungsfroh erwachte, war der kleine Billy tot.
Als Mum sich entschuldigt und ins Bad verdrückt, stellt Michael drei Becher Tee auf den Tisch und schiebt einen in meine Richtung. Ich rühre einen Teelöffel Zucker hinein und schaue ihn an.
»Mum hat gestern gesagt, eins der Tiere im Naturschutzpark sei krank. Ein Tasmanischer Teufel oder so?«
»Ja, ja, um den armen alten Henry hat es eine Weile ziemlich schlecht gestanden, aber er kommt langsam wieder auf die Beine.«
»Oh, schön. Was ist eigentlich ein Tasmanischer Teufel?«
»Das ist ein fleischfressendes Beuteltier, das man nur in der tasmanischen Wildnis findet. Weißt du, Tasmanien ist die Insel, die wie ein Anhängsel am Festland klebt.«
»Weiß ich.« Klar kenne ich Tasmanien, aber wie um Himmels willen sieht ein fleischfressendes Beuteltier aus?
Bevor ich fragen kann, kommt Mum zurück in die Küche. Michael betrachtet mich nachdenklich.
»Was habt ihr denn gestern Abend so angestellt, Josh und du?«, fragt Mum, zieht einen Stuhl neben mich und greift nach ihrem Tee.
»Nichts«, murmele ich. »Er ist mit ein paar Kumpels weggegangen.«
»Hast du heute irgendwas vor?«
»Ich weiß nicht, Mum.« Ich kann nichts dafür, aber es klingt bissig. Was glaubt sie denn, was ich die ganze Nacht gemacht habe, während sie ihren Spaß hatte? Dass ich von Tür zu Tür gegangen bin und mich mit den Nachbarn angefreundet habe? Beleidigt stehe ich auf. »Ich geh duschen.«
»Und was ist mit deinem Tee?«
»Den nehme ich mit.« Ich greife nach dem dampfenden Becher und versuche beim Duschen, ihre verletzte Miene zu vergessen.
Anderthalb Stunden später bin ich in meinem Zimmer und blättere wahllos in einer Zeitschrift, als es an der Tür klopft. Resigniert schließe ich die Augen. Ich habe einfach keinen Bock, jetzt mit Mum zu sprechen.
»Ja«, rufe ich.
Ich bin überrascht, als Michael seinen Kopf zur Tür hereinsteckt. »In einer dreiviertel Stunde fahre ich zur Arbeit. Hättest du Lust mitzukommen?«
»Oh.« Verwundert richte ich mich auf.
»Wenn nicht, ist auch egal, Gelegenheiten wird es noch jede Menge geben.«
»Nein, nein, ich hätte … Na ja … kommt Mum auch mit?«
»Nö, sie hat gesagt, sie möchte gern in Ruhe auspacken und sich ein bisschen einrichten.«
»Na gut. Wenn das für dich in Ordnung ist.«
»Klar.«
Er dreht sich um und will gehen, aber ich rufe ihn zurück.
»Was soll ich anziehen?«
»Was du willst. Aber es wird heiß heute, also nimm einen Hut und Sonnencreme mit.«
Ich steige aus dem Bett und öffne den Kleiderschrank. Meine einzigen beiden Röcke lachen mich an und wollen, dass ich einen von ihnen statt der Jeans anziehe, die ich bereits trage, aber ich lasse die Röcke, wo sie sind, setze sogar noch einen drauf und ziehe ein graues Sweatshirt mit Kapuze über mein schwarzes T-Shirt. Falls die Temperatur wirklich auf die in den Nachrichten am Vorabend angekündigten fünfunddreißig Grad steigt, werde ich bereuen, mich für eine Ganzkörperhülle entschieden zu haben, aber ich bin noch nicht bereit, der Welt meine bleichen Gliedmaßen zu zeigen. Ich will die Schranktüren wieder schließen, aber zögere kurz. Ich bücke mich und ziehe eine kleine schwarze Kameratasche hervor. Soll ich die heute mitnehmen? Werde ich sie benutzen?
Als vorgezogenes Geburtstags- und Abschiedsgeschenk habe ich von meinem Vater eine Nikon F60 bekommen, und ich musste ihm versprechen, viele Fotos zu machen, damit er mich nicht zu sehr vermisst. Ein stechender Schmerz durchfährt mich, und ich schiebe die Tasche vorsichtig wieder in den Schrank zurück.
Josh liegt noch im Bett, als wir um Viertel vor acht aufbrechen. Michael fährt einen weißen Pick-up, der vorn drei Sitze hat. Rückwärts setzt er über die Kiesauffahrt auf die Straße. Wir biegen nach links ab und fahren in die andere Richtung als die, aus der Mum und ich am Vortag gekommen sind. In den benachbarten Gärten hängen weiße Netze locker über zahlreichen Bäumen. Sie erinnern mich an Kinder, die sich Halloween mit Bettlaken als Geister verkleiden.
»Sind das Obstbäume?«, frage ich Michael.
»Yep. Kirschen, Nektarinen, Pfirsiche … Die Netze halten die Vögel ab. Wir haben hinten im Garten einen Aprikosenbaum. Iss, so viel du willst, denn am Ende landet das Obst immer auf dem Boden und verfault, weil es keiner will.« Er schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Die reine Verschwendung.«
Irgendwann biegt Michael nach links ab auf einen unbefestigten Weg, der steil hinauf in die Berge führt. Meine Ohren setzen sich zu, und ich muss mehrmals schlucken. Michael kurbelt seine Scheibe herunter, ich tue es ihm nach. Ein angenehmer Duft zieht herein, gepaart mit dem Aroma von Tau, den die frühe Morgensonne von den Farnen am Wegesrand verdunsten lässt.
»Was ist das für ein Geruch?«, frage ich.
»Eukalyptus«, antwortet Michael und zeigt aus dem Fenster. »Von den ganzen Eukalyptusbäumen.«
Ich atme tief ein, und ein unerwartetes Glücksgefühl breitet sich in mir aus. Ich bin überrascht.
»Arbeitest du sonst auch sonntags?«, frage ich Michael.
»Manchmal«, erwidert er. »Wir alle müssen gelegentlich sonntags arbeiten.«
»Was machst du denn genau?«
»Ich bin leitender Tierpfleger. Ich kümmere mich unter anderem um die Teufel und die Dingos.«
»Cool. Ob wohl jemand was dagegen hat, wenn ich heute mitkomme?«
»Natürlich nicht, Schätzchen! Josh ist immer mitgekommen, bevor seine Mutter starb.«
Ich frage mich, was es mit dem Tod von Joshs Mutter auf sich hat, wenn er danach nicht mehr in den Naturschutzpark wollte. Wie seine Mum wohl gestorben ist und so. Ich will Michael fragen, aber es kommt mir irgendwie nicht richtig vor.
Oben auf dem Berg biegen wir nach links ab, zurück auf die Hauptstraße, und nach einer Weile geht es rechts durch rostige schmiedeeiserne Tore in den Naturschutzpark. Die Stadt nehme ich nur schemenhaft hinter den Eukalyptusbäumen wahr. Schließlich öffnet sich die Straße zu einem großen Parkplatz. Michael fährt in den Bereich für das Personal und stellt den Motor ab. Wir steigen beide aus, und ich folge ihm nervös durch die Tore. Allmählich bereue ich meinen spontanen Entschluss, ihn zu begleiten, wo ich doch im Haus hinter verschlossener Zimmertür sein könnte und mit niemandem sprechen müsste.
»Morgen, Jim!«, ruft Michael, als ein Mann in ähnlicher Aufmachung wie er – beigefarbene Shorts und ein dazupassendes langärmeliges Hemd – uns entgegenkommt.
»Morgen, Mike. Und wer ist das?«
»Lily!«, dröhnt Michael, dann fügt er leise hinzu: »Cindys Tochter.«
»Oh, schön!«, ruft der Mann namens Jim aus. »Ihr seid gestern angekommen, stimmt’s?«
»Ja.«
»Wie war euer Flug?«
»Lang«, erwidere ich, während eine lästige Schmeißfliege um mein Gesicht herumsummt.
»Ich dachte, Lily wollte vielleicht mal aus dem Haus«, erklärt Michael.
»Klasse. Und was hat deine Mum heute vor?«
Ich zucke mit den Schultern. »Sie ist, äh, im Haus.« Ich bringe es nicht über die Lippen, »Zuhause« zu sagen.
»Tja, wir sind alle ganz wild darauf, sie kennenzulernen. Und dich natürlich auch. Ich muss dann mal. Bin auf dem Weg zu Trudy wegen meines Stundenzettels. Schönen Tag noch!«, ruft er uns über die Schulter zu, während er auf das Büro rechts von uns steuert.
»Komm mit!«, fordert Michael mich auf.
»Wohin wollen wir?« Ich schaue mich um und kann hinter den Bäumen ummauerte Einfriedungen erkennen.
»Immer eins nach dem anderen«, sagt er augenzwinkernd. »Wir trinken erst mal eine Tasse.«
Dieser Mann trinkt eine Menge Tee.
Im Aufenthaltsraum für die Belegschaft gibt es eine einfache Küchenzeile, zwei verschlissene grau-grüne Sofas und einen Tisch mit sechs braunen Stühlen, die aussehen, als stammten sie aus einer Schule. Einige Mitarbeiter halten sich dort auf, und Michael stellt mir jeden einzeln vor. Alle sind sehr entgegenkommend, infolgedessen legt sich meine Nervosität ein wenig.
»Jetzt kannst du es dir aussuchen«, sagt Michael nach zehn Minuten Plaudern und Teetrinken. »Ich muss gleich bei den Wombats ausmisten, und du darfst mir gern zusehen, wenn ich die Sch…, ähm, den Dreck wegmache, aber ich dachte, du läufst lieber ein bisschen herum. Um halb zehn öffnen wir die Tore für Besucher, aber wir fangen erst um elf mit der Fütterung an, und zwar bei den Teufeln, also hast du noch Zeit totzuschlagen. Vielleicht willst du zu den Kängurus. Hey, Janine, hast du eine Karte zur Hand?«
Eine Frau mit mausgrauem Haar, im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, kramt in einem Rucksack und reicht Michael eine Karte. Er faltet sie auseinander und zeigt auf die Stelle, an der sich der Aufenthaltsraum befindet.
»Hier bist du jetzt. Wenn du die giftigen Spinnen sehen willst, von denen ich dir erzählt habe, musst du zu diesem Gebäude hier gehen.«
Als Antwort schneide ich eine Grimasse.
»Gut, also eher nicht. Egal«, fährt er fort, »die Teufel sind hier, die Koalas da drüben und die Dingos ein Stück weiter rechts. Wir füttern die Dingos nach dem Mittagessen, es lohnt sich also, hinzukommen und meinen kleinen Vortrag anzuhören.« Er stupst mich an. »Und auf dieser großen Koppel hier findest du die Kängurus und Emus. Die Wallabys sind hier …«
»Danke«, unterbreche ich ihn und strecke die Hand nach der Karte aus. Ich will unbedingt los.
»Bitte, Schätzchen.« Er reicht sie mir. »Manchmal gehen die Pferde mit mir durch, aber natürlich bist du alt genug, um selbst zu lesen.«
»Das hoffe ich doch. Bist du um elf bei den Tasmanischen Teufeln?«
»Yep. Ich moderiere die Fütterung, also sehen wir uns da.«
Mit der Karte in der Hand verlasse ich voller Vorfreude den Aufenthaltsraum und begebe mich in Richtung der Kängurus. Eine leichte Brise weht, und ich höre das Rascheln des Laubs an den Bäumen in der Nähe, während ich über den Pfad zum Grenzzaun schlendere. Ich schiebe mich durch die Pforte und befinde mich auf einer großen Koppel. In der Ferne erblicke ich eine Gruppe Kängurus. Der asphaltierte Weg führt um die Einzäunung herum, aber wenn ich den Wildtieren näherkommen will, muss ich querfeldein gehen. Ich nehme meinen Mut zusammen und verlasse den Pfad. Abgefallene Eukalyptusblätter knistern unter meinen Füßen.
Die Kängurus mustern mich mit mäßigem Interesse, als ich mich aufgeregt näher an ihre Gruppe heranwage. Über ein Dutzend von ihnen liegt im Schatten eines mächtigen Baumes, zwei haben sich auf fast menschliche Weise auf einen Ellenbogen gestützt. Ihr Fell hat einen rötlichen Schimmer, und ihre Ohren zucken, um die Fliegen abzuwehren. Sie sind viel hübscher, als ich sie mir nach all den Fotos und Naturdokumentationen vorgestellt habe. Ich bleibe auf Abstand, um sie nicht zu stören, aber sie sind anscheinend nicht irritiert von meiner Anwesenheit. Daher entspanne ich mich nach einer Weile und halte mein Gesicht in die Sonne. Der klare blaue Himmel wölbt sich über mir, bald spüre ich die sengende Hitze.
Ich trete in den Schatten des Baumes, ziehe mein Sweatshirt aus und binde es mir um die Hüfte, bevor ich großzügig Sonnencreme mit Faktor 30 auftrage. Sonst ist niemand in Sichtweite, und mir ist ganz wohlig zumute, weil ich gern allein bin. Plötzlich verspüre ich das Bedürfnis, mich ins Gras zu setzen und dort zu bleiben, doch ein schlurfendes Geräusch bringt mich schlagartig wieder in die Gegenwart zurück. Ein großes Känguru hat sich aufgesetzt und wendet mir den Kopf zu. Mein Herz schlägt schneller, als es langsam näherkommt. Wenn das Tier es auf einen Boxkampf anlegt, bin ich verloren. Flüchtig kommt mir der Gedanke, dass meine Eltern dann mal merken würden … aber als es bei mir ist, schnüffelt es nur an meiner Hand.
»Willst du was zu fressen?«, frage ich, unerklärlich enttäuscht, dass es keinen Kampf anfängt. Mit dunklen Augen schaut es zu mir hoch. »Tut mir leid, ich habe nichts.«
Es ist fast so groß wie ich, aber ich habe keine Angst mehr. Zaghaft strecke ich eine Hand aus und streichele seinen weichen, pelzigen Hals, und es legt eine dunkle Pfote auf meinen Arm. Entzückt kichere ich in mich hinein.
»He, wie heißt du?« Mir fällt ein, dass Michael mir von dem Tasmanischen Teufel namens Henry erzählt hat. »Ich glaube, ich nenne dich Roy«, beschließe ich laut. »Roy das Känguru. Und ich kann dich an dem kleinen Schlitz im Ohr erkennen.«
In dem Augenblick stellt Roy die Ohren auf, und sein Kopf fährt herum Richtung Pforte. Ich folge seinem Blick und sehe eine große Gruppe japanischer Touristen, die aufgeregt die Koppel betreten. Lebhaft machen sie uns Zeichen, die Kameras schussbereit.
»So viel zum Thema: mit dir im Gras relaxen«, sage ich traurig zu Roy. Er macht kehrt und hoppelt davon.
Eine Zeitlang schlendere ich ziellos umher, bleibe bei den Pelikanen stehen, eile an beängstigend großen Emus mit langen Hälsen vorbei. Schließlich ziehe ich die Karte zu Rate und merke, dass ich nicht weit entfernt von den Koalas bin. Ich möchte mich nicht wie eine typische Touristin verhalten, aber egal. Allerdings muss ich es vor Mum verheimlichen, sonst glaubt sie am Ende noch, ich wäre brav geworden.
Nur wenige Leute warten vor mir in der Schlange, um dem berühmtesten australischen Tier möglichst nahezukommen, und ich sitze schließlich auf der langen Holzbank und sehe zu, wie ein rotblonder Mann in beigefarbenen Shorts und einem dunkelgrünen Polohemd einen Koala mit Eukalyptusblättern füttert und sich dabei mit einem Paar von Mitte zwanzig unterhält. Vor mir wartet eine Familie, und die beiden kleinen Schwestern zanken sich, wer den Koala zuerst anfassen darf.
»Ihr könnt ihn gleichzeitig streicheln«, sagt die Mutter schließlich und verdreht die Augen, als sie mich ansieht. Ich muss grinsen, als ihre Töchter sich ungeduldig durch das Tor schieben, um ihre Plätze neben dem Koala und dem Tierpfleger einzunehmen. Das Haar des älteren Mädchens hat denselben Blondton wie das von Kay. Heiße Tränen steigen mir in die Augen. Rasch wische ich sie ab.
Ich bin kein Einzelkind. Mein Vater hat zwei weitere Töchter: Kay, vier Jahre alt, und Olivia, die noch kein Jahr alt ist. Olivias erster Geburtstag ist in zwei Wochen, wenige Tage nach meinem. Ich werde ihre Feier verpassen. Im März werde ich Kays Geburtstag verpassen. So vieles wird mir entgehen … Wahrscheinlich werden die beiden ihre große Halbschwester am anderen Ende der Welt total vergessen. Und das neue Baby wird nicht einmal ahnen, dass es mich gibt.
Lorraine, die Frau meines Vaters, ist im dritten Monat schwanger, was sie mir erst neulich eröffnete, als ich versuchte, ihr Gästezimmer zu erobern. Das war mein letzter verzweifelter Versuch, England nicht verlassen zu müssen, und er schlug fehl.
»Hallo?«
Ich schaue auf und sehe, dass der rotblonde Tierpfleger mir zuwinkt. Die Familie ist längst weg.
»Entschuldigung.« Verlegen springe ich auf.
»Mit den Gedanken woanders?«, fragt er freundlich, als ich auf ihn zugehe.
»Ein bisschen.«
»Bist du Engländerin?«
»Ja. Hat mich meine leichenblasse Haut verraten?«
»Der Akzent«, gibt er lächelnd zurück. »Auf Urlaub hier?«
Ich schüttele den Kopf. »Für länger.« Vermutlich.
»Also«, sagt er und richtet seine Aufmerksamkeit auf den Koala. »Das ist Cindy.«
Ich schnaube verächtlich.
»Was ist?«
»Tut mir leid, so lustig ist das eigentlich nicht. Cindy ist nur der Name meiner Mutter«, erkläre ich.
»Oh!« Erkenntnis erhellt sein Gesicht. »Bist du …?«
»Lily Neverley. Ich wohne bei Michael.«
»Ah, gut, verstehe! Willkommen in Australien!«
»Danke. Und bevor Sie fragen, er war lang.«
»Lang? Ah, der Flug.« Er grinst. »Das hat man dich wohl schon öfter gefragt, was?«
»Vorhin alle im Aufenthaltsraum.«
»Also, ich bin Ben.«
Ich ergreife seine Hand. Er ist vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig, hat kurzes rotblondes Haar und ist groß, drahtig und braungebrannt, wie man es von einem Australier erwartet, der jeden Tag draußen in der Sonne arbeitet. Ich mag ihn auf Anhieb, genau wie Michael.
Mit einem Kopfnicken deute ich auf den Koala. »Und das ist Cindy?«
»Yep. Du kannst sie am Rücken kraulen, wenn du willst.«
»Die ist ja wirklich weich«, murmele ich. »Hallo«, sage ich zu dem Koala. »Schmecken dir diese schönen grünen Blätter?« Ich wende mich an Ben. »Ich habe vorhin ein Känguru getroffen. Es war enttäuscht, dass ich ihm nichts zu fressen mitgebracht habe.«
»Die mögen die Pellets, die man am Eingang kaufen kann.«
»Danke für den Tipp. Vielleicht hol ich mir später welche. Von den Emus habe ich mich allerdings ferngehalten. Mir hat nicht gefallen, wie sie aus ihren kleinen Knopfaugen gucken.«
Er lacht, und im Hinblick auf die Schlange der Wartenden sage ich: »Ich gehe wohl lieber weiter.«
»Schon gut, da kommt unsere Ablösung.«
Die Frau, die ich als Janine, die Kartenfrau, wiedererkenne, tritt durch das Tor auf der anderen Seite der kleinen Einfriedung. Sie trägt einen zweiten Koala auf dem Arm.
»Hallo«, sagte Janine zu mir, und ich trete zur Seite, als Ben seinen Koala von der Sitzstange hebt. »Wie geht’s mit dem Jetlag?«
»Ganz gut, danke.« Das Wort Jetlag kenne ich von meinem Dad, der einmal nach Amerika geflogen ist.
»Möchtest du mitkommen und Cindy zurückbringen?«, fragt Ben mich und setzt den Koala wie ein kleines Kind auf seine Schultern.
»Hm«, erwidere ich zögernd. Ich will ihm nicht im Weg sein, aber bis elf Uhr, wenn die Tasmanischen Teufel gefüttert werden, habe ich noch ein bisschen Zeit. »Ja, gern, wenn das in Ordnung ist?«
»Klar.«
Ich folge ihm durch das Tor, und Cindy sieht mich über die Schulter an und kaut dabei träge auf einem Blatt.
»Wie viele Koalas habt ihr?«, frage ich.
»Ungefähr fünfzig«, ruft er nach hinten. »Die Tiere, die mit den Touristen fotografiert werden, dürfen nur zwanzig Minuten pro Tag Kontakt haben, daher brauchen wir ziemlich viele, besonders wenn das eine oder andere Tier mal nicht gut drauf ist.«
Ben geht zu dem näheren der beiden Koala-Häuser, auch »Verschläge« genannt, wie ich später erfahre. Man sieht ein paar Koalas, die sich auf den Ästen eines Eukalyptusbaums zusammenkuscheln. Der Tierpfleger steigt über die Absperrung und setzt Cindy sanft auf einem Ast ab, den sie vorsichtig hinaufklettert bis ins Dunkle unter der hölzernen Dachtraufe. Auf einem Schild steht Psst … bitte Ruhe! Koalas haben ein sehr empfindliches Gehör. Als daher Bens Funkgerät zu knacken beginnt, springt er über die Absperrung zurück, eilt davon und gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen.
»Yep?«, meldet er sich.
»Ben, hier ist Michael«, kann ich trotz des Summens hören. »Hab ein Problem mit einem Wombat. Kannst du den Vortrag bei den Teufeln halten?«
»Klar. Lily ist gerade bei mir.«
»Wie macht sie sich?«
»Sie hat eben Cindy kennengelernt.«
Ich vernehme ein kehliges Lachen, und Ben kneift die Lippen zusammen in dem Versuch, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen.
»Bringst du sie bitte zum Mittagessen in den Aufenthaltsraum?«
»Geht klar.«
»Danke, Kumpel.«
Ein letztes Knacken, dann ist die Leitung unterbrochen.
»Du musst nicht auf mich aufpassen«, sage ich rasch.
»Komm mit!«, erwidert Ben, Lachfältchen um seine blauen Augen.
»Wo gehen wir hin?«