H. P. Lovecraft
Der Fall Charles Dexter Ward
Roman
Aus dem Amerikanischen von Andreas Fliedner
FISCHER digiBook
H. P. Lovecraft (1890-1937) ist der einflussreichste und beliebteste Horror-Autor des 20. Jahrhunderts. Seine Erzählungen erschienen zu seinen Lebzeiten vor allem in Magazinen wie »Weird Tales« und werden heute in Millionenauflagen gedruckt und gelesen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de
Charles Dexter Ward, ein junger Mann aus einer angesehenen Familie von Providence, ist aus der Nervenheilanstalt entflohen, in die er aufgrund merkwürdiger Persönlichkeitsveränderungen eingewiesen wurde. Der Arzt der Familie, Marinus Bicknell Willett, geht seinem Fall nach und stößt dabei auf den geheimnisvollen Joseph Curwen, einen Vorfahren Wards, der zwar schon lange tot ist, aber noch immer einen schrecklichen Einfluss auf die Lebenden ausübt ...
H. P. Lovecrafts einziger unheimlicher Roman in ungekürzter Neuübersetzung, der es erstmals gelingt, Lovecrafts speziellen Stil und die besondere Atmosphäre seiner Erzählung in deutscher Sprache schillern zu lassen.
»H. P. Lovecraft ist der bedeutendste Horror-Autor des 20. Jahrhunderts.« Stephen King
Erschienen bei FISCHER digiBook
Unter dem Titel »The Case of Charles Dexter Ward« erstmals veröffentlicht 1941 in der Zeitschrift »Weird Tales«
Erstdruck der Übersetzung in»Der Fall Charles Dexter Ward« (Golkonda, 2016); Wiederabdruck in »H. P. Lovecraft – Das Werk« (FISCHER Tor, 2017)
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Guter Punkt, München,
nach einer Idee und unter Verwendung einer Illustration von Jonathan Gray
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490733-8
»Die essentiellen Saltze von Thieren können so präparirt und conservirt werden/daß ein findiger Mann in seiner Studierstube die gantze Arche Noah versammeln/und nach seinem Gutdünken die Gestalt eines jeglichen Thieres/bis in das Kleinste aus dessen Asche erstehen lassen kann. Und mittels selbiger Methode vermag ein Philosoph/aus den essentiellen Saltzen menschlicher Gebeine/ohne verbrecherische Necromantie zu treiben/die Gestalt eines jeglichen toten Vorfahrn aus dem Staube zu erwecken/zu dem dessen Cörper zerfallen ist.«
BORELLUS
Aus einer privaten Klinik für Geisteskranke in der Nähe von Providence, Rhode Island, verschwand vor kurzem ein außerordentlich merkwürdiges Individuum. Der Patient nannte sich Charles Dexter Ward und war nur äußerst widerstrebend von seinem untröstlichen Vater in die Anstalt eingeliefert worden. Dieser hatte miterlebt, wie die Geistesverwirrung seines Sohnes sich von bloßer Exzentrizität zu einer dunklen Manie steigerte, die nicht nur plötzliche Anfälle von Mordlust fürchten ließ, sondern auch tiefgreifende und eigentümliche Veränderungen des Bewusstseins mit sich brachte. Die medizinische Fachwelt steht dem Fall weitgehend ratlos gegenüber, da er eine Reihe erstaunlicher physiologischer und psychologischer Merkwürdigkeiten aufweist.
Zum einen erschien der Patient auf sonderbare Weise älter, als es seinen sechsundzwanzig Jahren entsprach. Zwar lassen geistige Störungen den Menschen bekanntlich rascher altern, aber das Gesicht des jungen Mannes hatte gewisse kaum sichtbare Züge angenommen, die man gewöhnlich nur bei sehr alten Menschen findet. Zum anderen waren seine Organfunktionen auf eine Art aus dem Gleichgewicht geraten, für die sich in der medizinischen Praxis nichts Vergleichbares findet. Atmung und Herzschlag waren merkwürdig aus dem Takt geraten, und der Patient hatte seine Stimme verloren, so dass er nur noch ein Flüstern hervorbringen konnte. Die Verdauung war unglaublich verlangsamt und reduziert, und seine Nervenreaktionen auf die üblichen Stimuli wiesen keine Ähnlichkeit mit irgendetwas auf, das je zuvor bei Gesunden oder Kranken beobachtet wurde. Die Haut war krankhaft kühl und trocken, und die Zellstruktur des Gewebes schien ungewöhnlich grob und porös. Ein großes olivfarbenes Muttermal an der rechten Hüfte war verschwunden, während sich auf der Brust ein sehr eigentümlicher Fleck oder schwarzer Punkt gebildet hatte, der zuvor nicht dort gewesen war. Im Großen und Ganzen waren sich die Ärzte einig, dass sich Wards Stoffwechsel in einem nie dagewesenen Grad reduziert hatte.
Auch in psychologischer Hinsicht war Charles Ward ein einzigartiger Fall. Selbst wenn man die neusten und umfassendsten Abhandlungen hinzuzog, hatte sein Wahnsinn keine Ähnlichkeit mit irgendeinem bekannten Krankheitsbild und verband sich mit einer Geisteskraft, die ihn zu einem Genie oder einer Führerpersönlichkeit gemacht hätte, wäre sie nicht durch irgendetwas in seltsame und groteske Bahnen gelenkt worden. Dr. Willett, der Hausarzt der Wards, versichert, dass die ungeheure geistige Leistungsfähigkeit des Patienten, die sich auf allen Gebieten äußerte, welche außerhalb des Bereichs seiner Geistesstörung lagen, mit dem Ausbruch seines Wahns sogar noch zugenommen hatte. Ward war tatsächlich von jeher ein Gelehrter und Historiker gewesen, doch selbst seine brillantesten frühen Arbeiten zeigten nicht jene ans Wunderbare grenzende Auffassungsgabe und Erkenntnisfähigkeit, die er während seiner letzten Untersuchungen durch die Nervenärzte an den Tag legte. Es gestaltete sich dementsprechend schwierig, eine gerichtliche Einweisung in die Klinik zu erwirken, so kraftvoll und klar schien der Geist des jungen Mannes. Nur aufgrund der Aussagen Dritter und angesichts der Diskrepanz zwischen seiner überragenden Intelligenz und einer Vielzahl ungewöhnlicher Wissenslücken wurde er schließlich in Verwahrung genommen. Bis zum Moment seines Verschwindens war er ein unersättlicher Leser gewesen und hatte, soweit es seine angeschlagene Stimme zuließ, jede Gelegenheit zur Konversation genutzt. Scharfsinnige Beobachter, für die seine Flucht vollkommen überraschend kam, waren daher optimistisch gewesen, dass schon bald mit seiner Entlassung aus der Klinik zu rechnen sei.
Nur Dr. Willett, der ihn auf die Welt gebracht und seither seine körperliche und geistige Entwicklung verfolgt hatte, schien erschrocken bei dem Gedanken, dass Charles Ward in die Freiheit zurückkehren könne. Der Arzt hatte Fürchterliches erlebt und etwas entdeckt, das er seinen skeptischen Kollegen nicht zu enthüllen wagte. Ja, Willett und seine Verbindung zu dem Fall stellen ein eigenes kleines Geheimnis dar. Er war der Letzte, der den Patienten vor dessen Flucht sah, und empfand nach jenem letzten Gespräch eine Mischung aus Grauen und Erleichterung, woran sich mehrere Zeugen erinnerten, als Wards Flucht drei Stunden später bemerkt wurde. Die eigentliche Flucht ist eines der ungelösten Rätsel von Dr. Waites Klinik. Ein geöffnetes Fenster über einer sechzig Fuß senkrecht abfallenden Wand bietet kaum eine hinreichende Erklärung, aber nach jener Unterredung mit Willett war der junge Mann unzweifelhaft verschwunden. Auch Willett hat der Öffentlichkeit keine Erklärung anzubieten, obwohl er seit Wards Flucht seltsam erleichtert wirkt. Viele meinen, dass er gern mehr erzählen würde, wenn er hoffen könnte, bei einer nennenswerten Zahl von Zuhörern Glauben zu finden. Er hatte Ward in seinem Zimmer angetroffen, doch kurz nachdem er weggegangen war, klopften die Wärter vergeblich. Als sie die Tür öffneten, war der Patient verschwunden, und sie fanden nur das offene Fenster vor, durch das eine kühle Aprilbrise eine Wolke feinen bläulich-grauen Staubs hereinwehte, die ihnen beinahe den Atem raubte. Zwar hatten die Hunde einige Zeit vorher angeschlagen, doch war das noch während Willetts Besuch gewesen, und sie hatten niemanden gestellt und auch später keine Anzeichen von Beunruhigung mehr gezeigt. Wards Vater wurde unverzüglich telefonisch benachrichtigt, schien jedoch eher betrübt denn überrascht. Als Dr. Waite ihn persönlich aufsuchte, hatte Dr. Willett bereits mit ihm gesprochen, und beide bestritten, von der Flucht gewusst zu haben oder gar bei ihr behilflich gewesen zu sein. Nur einige enge und vertraute Freunde von Willett und Ward senior machten später gewisse Andeutungen, die jedoch zu ungereimt und phantastisch waren, um Glauben zu finden. Was bleibt, ist allein die Tatsache, dass man bis heute keine Spur von dem verschollenen Wahnsinnigen gefunden hat.
Charles Ward liebte von Kindheit an alles Altertümliche, und zweifellos waren es die ehrwürdige Stadt, in der er aufwuchs, und die Relikte der Vergangenheit, die das alte Haus seiner Familie in der Prospect Street auf dem Gipfel des Hügels bis unters Dach füllten, die diesen Geschmack in ihm geweckt hatten. Mit den Jahren war seine Liebe zu alten Dingen noch gewachsen, so dass Geschichte, Genealogie und die Beschäftigung mit der Architektur, den Möbeln und der Handwerkskunst der Kolonialzeit alles andere aus dem Kreis seiner Interessen verdrängten. Wenn man Charles Wards Wahnsinn begreifen will, ist es wichtig, sich diese Neigungen vor Augen zu führen. Denn wenn sie auch nicht seinen innersten Kern bildeten, so waren sie doch in hohem Maße für seine äußere Form verantwortlich. Die Wissenslücken, welche die Nervenärzte feststellten, beschränkten sich ausschließlich auf die Gegenwart, und ihnen stand – wie durch geschicktes Fragen offenbar wurde – ein immenses, wenn auch von dem Patienten nach außen hin verheimlichtes Wissen über die Vergangenheit gegenüber, so dass man auf den Gedanken kommen konnte, er habe sich durch eine Art geheimnisvoller Selbsthypnose buchstäblich in eine vergangene Epoche versetzt. Das Merkwürdige dabei war, dass Ward sich für die geschichtlichen Tatsachen, die er so gut kannte, nicht im Geringsten zu interessieren schien. Offenbar hatten sie durch übermäßige Vertrautheit jede Bedeutung für ihn verloren. Alle Anstrengungen seiner letzten Tage waren vielmehr darauf gerichtet, sich jene alltäglichen Fakten der modernen Welt anzueignen, die so völlig und unzweifelhaft aus seinem Geist getilgt worden waren. Dass diese vollständige Löschung seines Gedächtnisses stattgefunden hatte, versuchte er nach besten Kräften zu verbergen. Aber für alle, die ihn beobachteten, war offensichtlich, dass seine gesamte Lektüre und Konversation von dem verzweifelten Wunsch bestimmt war, sich über sein eigenes Leben und die gängigen praktischen und kulturellen Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts ein Wissen anzueignen, wie man es von jemandem, der 1902 geboren wurde und das Schulsystem unserer Zeit durchlaufen hat, erwarten konnte. Die Nervenärzte rätseln, wie es dem entflohenen Patienten in Anbetracht des Fehlens lebenswichtiger Kenntnisse augenblicklich gelingt, sich in der komplizierten Welt von heute zurechtzufinden. Die vorherrschende Meinung ist, dass er in irgendeiner niederen und anspruchslosen Stellung »untergetaucht« ist, bis er sein Wissen über die Gegenwart auf ein normales Niveau gebracht hat.
Wann Wards Wahnsinn erstmals auftrat, ist unter den Spezialisten umstritten. Dr. Lyman, die eminente Bostoner Autorität, datiert seinen Beginn auf 1919 oder 1920, während des letzten Schuljahrs des Jungen auf der Moses Brown School. Damals gab er ganz plötzlich seine historischen Interessen zugunsten okkulter Studien auf, während er sich zugleich weigerte, den für einen Collegebesuch nötigen Abschluss zu machen, da er sich weit bedeutenderen privaten Forschungen widmen müsse. Für diese These spricht die Veränderung in Wards Gewohnheiten um diese Zeit und insbesondere, dass er begann, in städtischen Archiven und auf alten Friedhöfen nach einem gewissen 1771 angelegten Grab zu suchen – dem Grab eines seiner Vorfahren namens Joseph Curwen. Ward behauptete, einige von Curwens Papieren hinter der Täfelung eines sehr alten Hauses am Olney Court auf dem Stampers’ Hill gefunden zu haben, von dem bekannt war, dass Curwen es erbaut und dort gewohnt hatte. Es ist, grob gesagt, unbestreitbar, dass im Winter 1919/20 eine dramatische Veränderung mit Ward vorging. Er gab von heute auf morgen seine allgemeinen historischen Forschungen auf und stürzte sich – sowohl in seiner Heimatstadt wie auswärts – Hals über Kopf in okkulte Studien, die er nur unterbrach, um seine sonderbar hartnäckige Suche nach dem Grab seines Ahnen fortzusetzen.
Dieser Auffassung widerspricht Dr. Willett jedoch grundlegend. Er stützt sich dabei auf seine intime und langwährende Kenntnis des Patienten und auf gewisse entsetzliche Nachforschungen und Entdeckungen, die er zuletzt machte. Diese Nachforschungen und Entdeckungen haben ihre Spuren bei ihm hinterlassen, so dass seine Stimme bebt, wenn er von ihnen berichtet, und seine Hand zittert, wenn er versucht, sie niederzuschreiben. Willett räumt ein, dass die Veränderung von 1919/20, hätte man es mit einem gewöhnlichen Fall zu tun, tatsächlich den Beginn jenes Verfallsprozesses kennzeichnen würde, der in dem schrecklichen und unheimlichen Irrsinn von 1928 seinen Höhepunkt erreichte. Aber aufgrund persönlicher Beobachtungen ist er überzeugt, dass genauer differenziert werden muss. Obwohl er zugibt, dass der junge Ward stets ein unausgeglichenes Temperament hatte und mit übertriebener Empfänglichkeit und Begeisterung auf Phänomene seiner Umgebung reagierte, so bestreitet er doch, dass der eigentliche Übergang von geistiger Gesundheit zum Wahnsinn mit der ersten Veränderung stattfand. Er schenkt vielmehr Wards eigener Aussage Glauben, wonach dieser etwas entdeckt oder wiederentdeckt hatte, von dem er wunderbare und tiefgreifende Auswirkungen auf das menschliche Denken erwartete. Der eigentliche Wahnsinn kam seiner festen Überzeugung nach erst viel später zum Ausbruch: nach der Auffindung von Curwens Porträt und der alten Papiere; nach einer Reise an seltsame, fremdländische Orte und nachdem unter merkwürdigen und geheimnisvollen Umständen schreckliche Anrufungen vollzogen worden waren; nachdem auf diese Anrufungen gewisse unmissverständliche Antworten gegeben wurden und nachdem unter quälenden und unerklärlichen Umständen ein verzweifelter Brief geschrieben worden war; nach der Welle des Vampirismus und den unheilvollen Gerüchten im Pawtuxet-Tal und nachdem die Bilder der Gegenwart aus dem Gedächtnis des Patienten schwanden, während seine Stimme versagte und sein körperliches Aussehen jenen schleichenden Veränderungen unterlag, die so viele Beobachter später bemerkten.
Erst dann, so führt Willett scharfsinnig aus, nahm Ward unzweifelhaft jene albtraumhaften Züge an, und der Doktor ist sich entsetzlich sicher, dass genügend stichhaltige Indizien vorliegen, um der Behauptung des jungen Ward hinsichtlich seiner einschneidenden Entdeckung Glaubwürdigkeit zu verleihen. Zum einen waren bei der Auffindung von Joseph Curwens alten Papieren zwei äußerst verständige Handwerker zugegen, zum anderen hat der junge Mann diese Papiere und eine Seite des Curwen-Tagebuchs später Dr. Willett selbst gezeigt, der beide Dokumente für echt hielt. Die Öffnung, in der Ward behauptete, die Papiere gefunden zu haben, hat es lange Zeit wirklich gegeben, und Willett konnte einen sehr überzeugenden letzten Blick auf die Dokumente werfen, wenn auch unter Umständen, die kaum zu glauben sind und vielleicht niemals bewiesen werden können. Dann waren da die geheimnisvollen Übereinstimmungen in den Briefen von Orne und Hutchinson und das Problem von Joseph Curwens Handschrift sowie das, was die Detektive über Dr. Allen herausfanden. Und schließlich die schreckliche Botschaft in mittelalterlichen Minuskeln, die Dr. Willett in seiner Tasche fand, als er nach seinem schockierenden Erlebnis das Bewusstsein wiedererlangte.
Doch was am überzeugendsten ist, sind die beiden grässlichen Resultate, zu denen der Doktor während seiner abschließenden Nachforschungen durch den Einsatz eines gewissen Formelpaars kam. Resultate, die buchstäblich die Echtheit der Papiere und die Realität dessen, was sie auf monströse Weise andeuteten, bewiesen – im selben Moment, in dem diese Papiere für immer menschlicher Kenntnis entzogen wurden.
Man muss sich das frühere Leben von Charles Ward als etwas vorstellen, das genauso der Vergangenheit angehört wie die Altertümer, die er so sehr liebte. Mit einiger Begeisterung für die militärische Ausbildung, die damals zum Unterricht gehörte, war er im Herbst 1918 in die Moses Brown School eingetreten, die ganz in der Nähe seines Elternhauses lag. Das 1819 errichtete Hauptgebäude hatte ihn in seiner jugendlichen Begeisterung für alte Architektur stets bezaubert, während der weitläufige Park, der die Lehranstalt umgab, seinen Landschaftssinn ansprach. Er machte sich wenig aus Geselligkeit und verbrachte seine Zeit entweder zu Hause, auf ziellosen Spaziergängen, im Unterricht und beim Exerzieren oder im Rathaus, im Parlamentsgebäude, in der öffentlichen Bibliothek, im Athenäum, in der Historischen Gesellschaft, in der John-Carter-Brown- oder der John-Hay-Bibliothek der Brown University oder in Colonel Shepleys neueröffneter Privatbibliothek in der Benefit Street, wo er nach historischen und genealogischen Informationen stöberte. Man kann sich dazu sein damaliges Aussehen vor Augen rufen: groß, schlank und blond, mit kurzsichtigen Gelehrtenaugen und leicht gebücktem Gang, immer etwas nachlässig gekleidet und alles in allem eher eine harmlos verschrobene als einnehmende Gestalt.
Seine Spaziergänge waren stets abenteuerliche Expeditionen in die Vergangenheit, während deren er aus den unzähligen Relikten der glanzvollen alten Stadt ein lebhaftes Panorama verflossener Jahrhunderte heraufbeschwor. Sein Elternhaus war ein großes georgianisches Herrenhaus ganz oben auf dem ziemlich steilen Hügel, der sich unmittelbar östlich des Flusses erhebt. Aus den rückwärtigen Fenstern seiner weitläufigen Flügel bot sich ihm ein schwindelerregender Blick über das Gewirr von Türmen, Kuppeln, Dächern und Hochhäusern der Unterstadt bis zu den purpurnen Hügeln, die sich jenseits der Stadtgrenze erstreckten. Hier war er geboren, und aus dem eleganten klassischen Portikus der symmetrisch geschwungenen Backsteinfassade hatte sein Kindermädchen ihn zum ersten Mal in seinem Kinderwagen ausgefahren. Ihre Route führte sie vorbei an dem kleinen weißen, zweihundert Jahre alten Bauernhaus, das sich die Stadt schon vor langer Zeit einverleibt hatte, und weiter entlang der schattigen, prächtigen Straße in Richtung auf die würdevollen Colleges, deren alte, mächtige Ziegelbauten und kleinere Holzhäuser mit ihren schmalen, von wuchtigen dorischen Säulen flankierten Portiken inmitten großzügiger Höfe und Gärten vornehm vor sich hin träumten.
An anderen Tagen war er die schläfrige Congdon Street entlanggeschoben worden, die mit ihren auf hohen Terrassen gelegenen, ostwärts blickenden Häusern weiter unten am steilen Hang des Hügels verlief. Da die Stadt in ihrem Wachstum den Hügel emporgeklettert war, hatten die kleinen hölzernen Häuser hier für gewöhnlich ein höheres Alter, und während dieser Ausfahrten hatte er etwas von der Atmosphäre eines malerischen Dorfes der Kolonialzeit in sich aufgesogen. Das Kindermädchen legte meist auf den Bänken der Prospect Terrace eine Rast ein, um einen Schwatz mit den Polizisten zu halten, und eine der ersten Erinnerungen des Jungen war das sich nach Westen erstreckende Meer von Dächern und Kuppeln und Kirchtürmen und fernen Hügeln im Dunst, das er eines Winternachmittags von der großen, geländerbewehrten Aussichtsplattform aus erblickte, violett und geheimnisvoll vor einem fiebrigen, apokalyptischen Sonnenuntergang, der den Horizont in Rot und Gold und Purpur und seltsame Grüntöne tauchte. Im Vordergrund zeichnete sich die gewaltige Marmorkuppel des Parlamentsgebäudes als massive Silhouette ab, und eine Lücke in den rötlich überhauchten Schichtwolken, die sich vor den flammenden Himmel gelegt hatten, verlieh der die Kuppel krönenden Statue einen phantastischen Nimbus.
Als er älter wurde, begannen seine sprichwörtlich gewordenen Spaziergänge. Zunächst an der Hand seines ungeduldig weitergezogenen Kindermädchens, und später allein, in träumerische Grübelei versunken. Weiter und weiter wagte er sich den beinahe senkrechten Hügel hinab und drang jedes Mal in ältere und wunderlichere Schichten der ehrwürdigen Stadt vor. Mit zaghaften Schritten folgte er der hügelabwärts verlaufenden Jenckes Street mit ihren in den Abhang verkeilten Fassaden und ihren Giebeln aus der Kolonialzeit, bis sie an einer schattigen Kreuzung in die Benefit Street einmündete. Dort stieß er auf ein uraltes Holzhaus mit zwei von ionischen Säulen flankierten Portalen, während sich rechts ein vorzeitliches Gebäude mit Mansarddach, um das herum sich noch Reste eines einstigen Bauernhofs erhalten hatten, und links das imposante Haus des Richters Durfee in seiner zerfallenden georgianischen Pracht erhoben. Die Gegend war dabei, zu einem Elendsviertel zu verkommen, aber die riesigen Ulmen warfen einen gnädigen Schatten über die Straßen, und der Junge setzte seine Wanderung gewöhnlich in Richtung Süden fort, entlang der langen Reihen von Häusern aus der Zeit vor der Revolution mit ihren mächtigen zentralen Kaminen und klassizistischen Portalen. Auf der Ostseite der Straße saßen sie auf hohen Sockelgeschossen, und mit Geländern versehene beidseitige Steintreppen führten zu den Türen hinauf. Der junge Charles stellte sich vor, wie sie ausgesehen hatten, als die Straße noch neu war und rote Absätze und Allongeperücken einen malerischen Kontrast zu den jetzt verblichenen farbigen Giebelfeldern bildeten.
Nach Westen, hinunter zur alten »Town Street«, die die Stadtgründer 1636 entlang des Flussufers angelegt hatten, fiel der Hügel hier fast genauso steil ab wie weiter oben. Dort verliefen unzählige kleine Gassen mit windschiefen, uralten geduckten Häusern, und sosehr sie ihn auch anzogen, zögerte er doch lange, ihr abschüssiges Pflaster zu betreten, aus Furcht, sie könnten sich als Traum oder als Tor zu unbekannten Schrecken herausstellen. Lieber folgte er weiter der Benefit Street, vorbei an dem eisernen Zaun des versteckten Kirchhofs von St. John’s, der Rückseite des Colony House von 1761 und dem verfallenden Golden Ball Inn, wo Washington einst eingekehrt war. In der Meeting Street – die früher Gaol Lane und dann King Street geheißen hatte – blickte er hinauf nach Osten zu den geschwungenen Treppen, in die die Straße überging, um sich den Abhang hinaufzuwinden, und hinab nach Westen auf das alte Schulhaus aus der Kolonialzeit, das über die Straße hinweg dem ehrwürdigen Schild von »Shakespeare’s Head« zuzwinkerte, wo vor der Revolution das Providence Gazette and Country Journal gedruckt wurde. Dann kam die herrliche, 1775 erbaute First Baptist Church mit ihrem unvergleichlichen Gibbs-Kirchturm und den georgianischen Dächern und Kuppeln, die um sie herum in der Luft zu schweben schienen. Wie auch nach Süden hin wurde die Gegend hier gediegener, und wunderbare alte Herrenhäuser begannen ihre Pracht zu entfalten. Doch noch immer führten die kleinen, uralten Gässchen, denen ihre unzähligen altertümlichen Giebel eine gespenstische Anmutung verliehen, den Hang hinab nach Westen, wo sie sich in ein Chaos aus schillerndem Verfall ergossen. Dort träumten die heruntergekommenen alten Kaianlagen zwischen Laster und Unflat aus aller Herren Länder, verfallenden Anlegeplätzen und den triefäugigen Schaufenstern der Schiffsausrüster von den stolzen Tagen des Ostindienhandels, und die Gassen trugen noch immer ihre alten Namen wie Packet, Bullion, Gold, Silver, Coin, Doubloon, Sovereign, Guilder, Dollar, Dime und Cent.
Als er älter und abenteuerlustiger wurde, wagte sich der junge Ward manchmal hinab in diesen Malstrom baufälliger Häuser, zerbrochener Oberlichter, stürzender Stufen, verbogener Brüstungen, dunkelhäutiger Gesichter und namenloser Gerüche, der sich von der South Main zur South Water Street erstreckte. Er drang bis zu den Kais vor, an denen noch die Dampfer anlegten, die die Massachusetts-Bay und den Sund befuhren, und machte sich dann durch diesen tiefer liegenden Teil der Stadt auf den Rückweg nach Norden, vorbei an den Lagerhäusern von 1816 mit ihren steil abfallenden Dächern und über den weitläufigen Platz an der großen Brücke, wo das 1773 erbaute Market House noch immer fest auf seinem altertümlichen Bogengewölbe ruhte. Auf diesem Platz pflegte er innezuhalten, um die verwirrende Schönheit der Altstadt in sich aufzunehmen, wie sie sich im Osten hangaufwärts erstreckte, akzentuiert von zwei georgianischen Kirchtürmen und bekrönt von der gewaltigen Kuppel der neuen Christian-Science-Kirche, wie London von St. Paul’s. Am liebsten kam er am späten Nachmittag auf dem Platz an, wenn das Licht der sinkenden Sonne Market House und die uralten Dächer und Glockentürme auf dem Hügel mit Gold überzog und die träumenden Kais, an denen einst die Ostindienfahrer vor Anker lagen, verzauberte. Nachdem er diesen Anblick ausgiebig in sich aufgenommen hatte, schwindelte ihm beinahe vor poetischer Begeisterung, und er wanderte in der hereinbrechenden Dämmerung heimwärts, den Hügel hinauf, vorbei an der alten weißen Kirche und durch die engen, steilen Gassen, wo bereits hinter Butzenscheiben und durch Lünetten hoch über doppelten Treppenaufgängen mit merkwürdig geformten Eisengeländern die ersten gelben Lichter schimmerten.
In späteren Jahren verlangte es ihn gelegentlich nach kräftigen Kontrasten: Dann verbrachte er die eine Hälfte seines Spaziergangs in den nordwestlich seines Elternhauses gelegenen Vierteln der Stadt mit ihren verfallenden Häusern aus der Kolonialzeit. Dort fällt der Hügel zur niedrigeren Anhöhe von Stampers’ Hill hin ab, auf der sich das Ghetto und das Negerviertel um den Platz drängen, wo vor der Revolution die Postkutsche nach Boston abging. Die andere Hälfte widmete er der vornehmen Gegend im Süden um die George, Benevolent, Power und Williams Street, wo sich auf dem Hügelabhang die alten, vornehmen Herrenhäuser, ummauerten Gärtchen und steilen, grasüberwachsenen Wege erhalten haben, in denen der Duft so vieler Erinnerungen hängt. Auf diesen Streifzügen und bei den eifrigen Studien, die sie begleiteten, muss sich Charles Ward einen Großteil jenes historischen Wissens angeeignet haben, das schließlich die moderne Welt aus seinem Geist verdrängte. Sie bildeten den geistigen Nährboden, auf den in jenem furchtbaren Winter 1919/20 die Saat fiel, die so seltsam und schrecklich aufgehen sollte.
Dr. Willett ist überzeugt, dass bis zu diesem verhängnisvollen Winter, in dem die erste Veränderung stattfand, Charles Wards Begeisterung für die Vergangenheit keinerlei krankhafte Züge aufwies. Außer als malerische Orte oder aufgrund ihrer geschichtlichen Bedeutung übten Friedhöfe keine besondere Anziehung auf ihn aus, und jede Art von Gewalttätigkeit oder Grausamkeit war ihm fremd. Dann jedoch entfaltete sich schleichend ein merkwürdiges Nachspiel zu einem seiner genealogischen Erfolge des vorigen Jahres. Damals hatte er unter seinen Vorfahren mütterlicherseits einen gewissen sehr langlebigen Mann mit Namen Joseph Curwen entdeckt, der im März 1692 aus Salem gekommen war und um den sich eine Reihe äußerst eigentümlicher und beunruhigender Gerüchte rankten.
Wards Ururgroßvater, Welcome Potter, hatte 1785 eine gewisse »Ann Tillinghast, Tochter von Mrs. Eliza, Tochter von Captain James Tillinghast« geheiratet, von deren Herkunft die Familienchronik nichts überlieferte. Als der junge Ahnenforscher Ende 1918 im städtischen Archiv einen Band mit alten standesamtlichen Akten durchsah, stieß er auf einen Eintrag über eine Namensänderung, vermittels welcher 1772 eine Mrs. Eliza Curwen, Witwe von Joseph Curwen, gemeinsam mit ihrer sieben Jahre alten Tochter Ann erneut ihren Mädchennamen Tillinghast annahm. Begründet wurde dies damit, dass »der Name ihres Ehemannes ein öffentlich Ärgernis geworden, aufgrund gewisser Thatsachen, die nach seinem Hinscheiden bekanntgeworden und welche ein altes, weithin verbreitetes Gerücht bestätigten, dem jedoch das getreue Weib nicht Glauben schenken wollt, bevor es nicht zweyfelsfrey erwiesen ward«. Ward wurde auf diesen Eintrag aufmerksam, als er zufällig zwei Blätter trennte, die man sorgfältig verklebt und durch eine umständliche Änderung der Seitennummerierung wie eines gezählt hatte.
Es war Charles Ward sofort klar, dass er einen bislang unbekannten Urururgroßvater entdeckt hatte. Diese Entdeckung schien ihm umso aufregender, als er bereits auf vage Hinweise und verstreute Anspielungen auf diesen Mann gestoßen war. Allerdings gab es so wenige offizielle Aufzeichnungen über ihn, dass es beinahe schien, als habe man absichtlich versucht, die Erinnerung an ihn auszulöschen. Was zutage kam, war darüber hinaus so eigenartig und rätselhaft, dass man nicht umhinkonnte, sich zu fragen, was genau die Stadtschreiber der Kolonialzeit so unbedingt verbergen und vergessen wollten, und gleichzeitig zu vermuten, dass sie nur allzu triftige Gründe für die Tilgung seines Andenkens hatten.
Bisher hatte Ward sich bloß müßigen Träumereien über den alten Joseph Curwen hingegeben, doch nachdem er entdeckt hatte, in welchem Verhältnis er zu dieser offensichtlich »totgeschwiegenen« Persönlichkeit stand, begann er so systematisch wie möglich alles auszugraben, was er über ihn finden konnte. Seine mit höchstem Eifer betriebene Suche zeitigte schließlich einen Erfolg, der seine höchsten Erwartungen übertraf. In alten Briefen, Tagebüchern und Bündeln unveröffentlichter Aufzeichnungen, die auf spinnwebenüberzogenen Dachböden in Providence und anderswo geschlummert hatten, fand sich eine Vielzahl erhellender Passagen, die zu tilgen ihre Verfasser nicht für nötig befunden hatten. Ein wichtiges Streiflicht kam nicht zuletzt aus dem fernen New York, wo einige Briefwechsel aus dem Rhode Island der Kolonialzeit im Fraunce’s-Tavern-Museum aufbewahrt wurden. Das letztlich Entscheidende jedoch – und nach Dr. Willetts Meinung die eigentliche Ursache von Wards Verderben – war der Fund, den man im August 1919 hinter der Täfelung des verfallenden Hauses am Olney Court machte. Ohne Zweifel war es dieser Fund, der jene schwarzen Abgründe öffnete, die tiefer waren als der tiefste Schlund der Hölle.