Latifa Nabizada / Andrea-Claudia Hoffmann
»Greif nach den Sternen, Schwester«
Mein Kampf gegen die Taliban
Knaur e-books
Latifa Nabizada, geboren 1971, schloss als erste Frau Afghanistans die Ausbildung zur Hubschrauberpilotin ab und flog zahlreiche Einsätz, später auch für die Mudschaheddin. Unter den Taliban flüchtete sie nach Pakistan, kehrte jedoch nach einem Jahr zurück in ihre Heimat. Nach ihrer Heirat und der Geburt der Tochter war sie zunächst für die internationale Schutztruppe ISAF im Einsatz. Später wechselte sie aufgrund wachsender Bedrohung durch die Taliban ins afghanische Verteidigungsministerium als Leiterin der Abteilung »Human Rights and Gender Politics«. Nachdem die Taliban mehrere Anschläge auf ihr Leben verübt hatten, konnte Latifa im Winter 2015 nach Österreich fliehen, wo sie heute mit ihrer Tochter lebt.
Dr. Andrea C. Hoffmann, geboren 1973 in Marburg, ist seit über zehn Jahren die Nahostexpertin des Nachrichtenmagazins »Focus«. Von der mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Journalistin erschien außerdem 2009 bei Diederichs das Buch »Iran, die verschleierte Hochkultur« und bei Lübbe 2015 zusammen mit Ensaf Haider »Freiheit für Raif Badawi, die Liebe meines Lebens«. Sie bereist regelmäßig die Region.
Vollständige und erweiterte Ausgabe Juni 2016
© 2014 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Fotos im Innenteil: Privatarchiv Latifa Nabizada, picture alliance/Demotix/Numan Qardash
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: picture alliance/Demotix/Numan Qardash
ISBN 978-3-426-42599-2
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Kabul im Frühling 2013. Eine Stadt, die sich hinter Sandsäcken und Stacheldraht verbarrikadiert. Amerikanische Soldaten brausen in ihren Humvees durch die Straßen. Die Deutschen trauen sich nicht mehr, das Isaf-Hauptquartier zu verlassen. In weniger als zwei Jahren will die internationale Koalition aus dem Hindukusch abziehen; dann soll die afghanische Armee die Lage allein in den Griff bekommen. Der Westen ist nach fast zwölf Jahren Afghanistan-Einsatz kriegsmüde, und die ausländischen Soldaten zählen die Tage bis zum Abzug. Aber auch ihre Gegner warten nur auf diesen Moment.
Ich bin wie so oft in den vergangenen Jahren als Journalistin am Hindukusch unterwegs. Auf der Luftwaffenbasis in Kabul treffe ich diejenigen, die demnächst die Verantwortung übernehmen sollen: afghanische Militärs. Männer in Uniform, die bemüht sind, der ausländischen Presse gegenüber Zuversicht auszustrahlen. Doch es gibt nicht nur strahlende Gesichter. Vor dem Büro des zuständigen Kommandeurs vernehme ich die Stimme einer Frau, die sehr energisch und resolut klingt. Sie gehört einer zierlichen Person im Flieger-Outfit. Die Pilotin bricht gerade einen Streit vom Zaun. »Von Ihnen lasse ich mir überhaupt nichts sagen, schließlich fliege ich bereits seit fünfundzwanzig Jahren«, faucht sie ihren Vorgesetzten an.
Seit 25 Jahren? Ich werde hellhörig. Unwillkürlich beginne ich zu kalkulieren. »Also bereits zu Sowjet-Zeiten?«, frage ich sie neugierig.
»Selbstverständlich«, bestätigt die Frau mit dem wettergegerbten Gesicht. Latifa Nabizada zieht ihr khakifarbenes Kopftuch stramm; es gehört zu ihrer Uniform. »Meine Schwester und ich haben im Jahr des Abzugs der Sowjets mit unserer Ausbildung begonnen«, vertraut sie mir an, »wir beide sind die ersten Pilotinnen Afghanistans.« Sie lächelt siegesgewiss. Die Frau weiß, dass sie in ihrem Leben etwas Besonders erreicht hat, und freut sich, dass ich mich offenbar dafür interessiere. Schnell sind wir in ein Gespräch verwickelt. Als sie mich zu sich nach Hause einlädt, um mir alte Fotos aus der Flugschule zu zeigen, willige ich sofort ein. Ihre männlichen Kollegen schauen uns missgünstig nach, als wir mit ihrem Geländewagen aufbrechen: Latifa hat ihnen die Show gestohlen, nicht zum ersten Mal. Das ist ihre Spezialität.
Als ich die Pilotin wiedertreffe, ist fast ein halbes Jahr vergangen. Die Sicherheitslage hat sich weiter verschlechtert. Trotzdem habe ich mich erneut dazu entschlossen, nach Afghanistan zu reisen. Der Grund dafür ist natürlich Latifa: Ihre Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen. Nach langen Telefonaten von Deutschland aus sind wir beide übereingekommen, dass ich auf der Basis ihrer Erinnerungen ein Buch über sie und ihre Schwester schreiben werde. Latifa ist von der Idee begeistert. Zusammen mit ihrem Mann, der wie sie eine Armeeuniform trägt, und ihrer siebenjährigen Tochter ist sie zum Flughafen gekommen, um mich abzuholen. In den kommenden Wochen werde ich bei ihrer Familie zu Gast sein.
Während wir mit dem in Tarnfarben lackierten Armeefahrzeug durch die Straßen holpern, bekomme ich eine erste Ahnung davon, auf was für ein Abenteuer ich mich eingelassen habe. Es regnet in Strömen. Gut, dass der Wagen Allradantrieb hat. Die ungepflasterten Straßen Kabuls sind jetzt, Ende Oktober, eine einzige Rutschbahn aus aufgeweichtem Schlamm.
Wir fahren bis zu einer Neubausiedlung, die in der Nähe des Militärflughafens liegt. Es sind Angehörige der Armee, die hier Land erworben haben. Wer in die Siedlung hineinwill, muss eine Schranke passieren: Zwei Soldaten mit Sprengstoff-Detektoren kontrollieren alle Fahrzeuge. Die Grundstücke sind von hohen Mauern umgeben. Auch Latifas Haus liegt hinter einer massiven Steinmauer. Ein Eisentor schützt sie vor Blicken von außen. Nachdem wir mit dem Fahrzeug in die Einfahrt ihres Grundstücks gefahren sind, verschließt meine Gastgeberin es sofort wieder sorgfältig. Und erst jetzt darf ich aus dem Fahrzeug steigen: »Je weniger Nachbarn dich sehen und wissen, dass du hier wohnst, desto besser«, sagt sie. »Selbst bei Militärs weiß man nie, auf welcher Seite sie stehen.«
Latifa wohnt in einem Haus, dem man ansieht, dass sie es gerade erst aus dem Boden gestampft haben. Bei meinem ersten Besuch im Frühling befand es sich noch im Rohbau. Jetzt sind die drei Zimmer im Erdgeschoss verputzt und vor allem mit Matratzen und Sitzkissen ausgestattet: ein Wohnzimmer, ein Gästezimmer und ein Schlafzimmer. Im Schlafzimmer steht ein großes Doppelbett, zu dem Latifa mich zielstrebig lotst. Ich protestiere. Aber sie schwört tausend Eide, dass sie es normalerweise nicht benutze, sondern vielmehr die Angewohnheit habe, zusammen mit ihrem Mann und der Tochter im Wohnzimmer zu schlafen. Ich glaube ihr das nicht eine Minute lang. Aber Latifa gibt nicht nach: Der Gast gehört für sie nun einmal auf der bequemsten Schlafgelegenheit im ganzen Haus untergebracht.
Sie hat an alles gedacht: Neben dem Bett steht bereits eine Batterie von Flaschen mit gereinigtem Wasser, weil sie (ganz richtig) davon ausgeht, dass ich das Kabuler Leitungswasser nicht vertragen werde. So viel Erfahrung hat sie bereits mit Ausländern. Trotzdem sind die sanitären Bedingungen des afghanischen Haushalts für mich gewöhnungsbedürftig, besonders das »Bad«, ein kahler, fensterloser Raum, in dem ganz hinten ein Loch in den Betonboden eingelassen ist: das Klosett. Aus einem Hahn in der Wand kommt kaltes Wasser, das in einem Blecheimer aufgefangen wird. Je nach Bedarf kann man es entweder zum Zähneputzen, zum Wäschewaschen oder als Toilettenspülung benutzen. Und wenn eine größere Reinigungsaktion ansteht, erhitzt Latifa einen Kessel auf ihrem Gaskocher in der Küche.
Es ist das erste Mal, dass ich auf so engem Raum mit einer afghanischen Familie zusammenlebe. Deshalb bin anfangs schüchtern, insbesondere was den Umgang mit Latifas Mann angeht. »Ist es okay, wenn ich im Haus das Kopftuch abnehme?«, frage ich sie, um keinen Fauxpas zu begehen.
»Klar. Homayun macht das nichts aus. Und mir auch nicht«, antwortet sie lachend. Nur wenn wir am Wochenende ihre Eltern besuchen oder die Verwandten bei ihr zu Hause anrücken, empfiehlt sie mir, einfach einen leichten Schal um den Kopf zu schlingen. Das verstehe ich: Latifas Mutter und ihre älteren Schwestern gehen schließlich nie ohne ihre Burka aus dem Haus.
Dann beginnen wir mit der Arbeit. Ich versuche, mich in Latifas eng getakteten Tagesablauf einzufädeln. Aber das ist nicht einfach. Denn die Frau ist doppelt belastet, mit mir nun sogar dreifach: Morgens muss sie zum Flughafen und ihrem Beruf als Hubschauberpilotin nachgehen und nachmittags Mann und Kind versorgen. Wie in jeder afghanischen Familie ist sie ganz allein für den Haushalt zuständig, muss das Essen kochen, die Wäsche für alle Familienmitglieder waschen, das Haus sauber halten. Und nun lauere auch noch ich ihr in jeder freien Minute auf, um mich mit ihr zu unterhalten.
Latifa nimmt es gelassen. Nach dem Abwasch setzt sie eine große Kanne grünen Tee auf. Dann machen wir es uns auf den Sitzkissen neben dem Holzofen gemütlich. Geduldig beginnt sie, mir ihr Leben zu erzählen. Langsam verschwinden das Afghanistan des Jahres 2013, die Bedrohungslage vor Latifas Tür, die Isaf-Soldaten auf den Straßen Kabuls – und ich tauche in eine längst untergegangene, unbekannte Welt ein. Gebannt lausche ich Latifas Erzählung und sauge jedes Detail begierig in mich auf.
Frei wie ein Kind
An einem bitterkalten Wintertag lag der Schnee meterhoch in unserem Garten. Auf den Straßen Kabuls marschierten sowjetische Soldaten, die einen Aufstand gegen die kommunistische Regierung verhindern sollten. Unsere Heimatstadt war zu einer Bühne der Weltpolitik geworden, auf der die großen Machtkämpfe der Zeit aufgeführt wurden. Aber von alldem wusste ich als achtjähriges Mädchen natürlich noch nichts.
Ich wusste lediglich, dass mein Vater ein Offizier in der afghanischen Armee war. Meine fast gleichaltrige Schwester Lailuma und ich schauten ihm gern dabei zu, wenn er sich morgens vor dem Spiegel die Uniform zuknöpfte. Auch an diesem Januarmorgen des Jahres 1980 hielt ich ein Tuch bereit, um seine Orden an der Brust zu polieren. Lailuma reichte ihm seine Mütze und prüfte, ob sie auch richtig saß. So aufgeputzt, fanden wir unseren Vater ungeheuer elegant.
Durch das niedrige Fenster, an dem sich Frostblumen gebildet hatten, sahen wir ihm hinterher, als er durch den Tiefschnee in Richtung Gartenmauer stapfte. Am Tor drehte er sich noch einmal um – und winkte zum Abschied. Wir winkten zurück.
Im Winter haben afghanische Kinder drei Monate Schulferien, so dass wir zu Hause bleiben durften. Während meine Mutter und meine beiden ältesten Schwestern Nasima und Schapirai mit dem Kochen des Mittagessens beschäftigt waren, spielten wir anderen Kinder miteinander. Mein Lieblingsspiel war cheschm pendakan: Verstecken. Das spielten wir immer im Sommer, denn in unserem Garten gab es viele Apfel- und Birnbäume und reichlich Gelegenheit, sich dahinter zu verbergen. Wenn ich meine Geschwister aufspürte, schrie ich vor Stolz und Häme – und lachte sie aus. An diesem Tag aber lag der Schnee zu hoch fürs Versteckspiel. Wir tollten herum und veranstalteten eine Schneeballschlacht. Meine älteren Geschwister bauten einen Schneemann. Lailuma und ich halfen begeistert mit. Meine Mutter, die mit ihren zehn Kindern immer alle Hände voll zu tun hatte, schenkte uns keine besondere Beachtung, solange wir uns innerhalb der Gartenmauern aufhielten. Nur wenn wir hinaus auf die Straße stürmten, schimpfte sie und drohte damit, uns auszusperren.
Unser Viertel heißt Khaikhane, und meine Eltern wohnen bis heute dort in diesem ruhigen mittelständischen Wohnviertel im Norden Kabuls. Damals lebten dort Usbeken, Tadschiken, Hazara und Paschtunen Seite an Seite. Es kümmerte niemanden, zu welcher Volksgruppe die Nachbarn gehörten, da das Zusammenleben der Ethnien keinerlei Problem darstellte. Wir ahnten nicht, wie radikal sich das bald ändern sollte. Doch damals lagen vor den Gebäuden noch keine Sandsäcke zum Schutz vor Selbstmordattentätern, und die Fassaden, die heute Einschusslöcher tragen, waren noch unversehrt.
Wir Kinder waren völlig in unser Treiben im Schnee vertieft, als plötzlich das Tor aufflog. Unser Spiel erstarb. Vier Männer in Uniform stürmten mit schweren Stiefeln in unseren Garten, das Gewehr über der Schulter. Unseren Vater, dem die Mütze schief auf dem Kopf hing, hielten zwei von ihnen wie einen Gefangenen in ihrer Mitte. Ein dritter Mann schubste ihn von hinten und trat ihn immer wieder in die Beine. Vaters Gesicht war geschwollen, er ließ den Unterkiefer hängen. Er warf uns Kindern einen traurigen, fast entschuldigenden Blick zu. Wir waren zutiefst erschrocken.
Instinktiv zogen wir uns in Richtung Haus zurück, wo meine verängstigt blickende Mutter schon in der Tür stand. Wie immer, wenn sie zu Hause war, hatte sie sich ein Tuch locker um den Kopf geschlungen. Jetzt zog sie es tiefer ins Gesicht, während wir wie eine Schar aufgescheuchter Küken unter ihren Armen hindurch ins Haus schlüpften. Nicht einmal unsere Schuhe zogen wir aus, sondern stürmten einfach so in unser Wohnzimmer mit den gewebten Teppichen und Sitzkissen. Auf dem Bochari, einem Holzofen aus Metall, hatte meine Mutter die Pfanne einfach stehen lassen, und es roch nach verbrannten Zwiebeln und Lauch. Aber niemand achtete darauf.
Die Soldaten folgten uns ins Haus, und meine Mutter scheuchte uns ein Zimmer weiter. Die Einrichtung ähnelte dem des Wohnzimmers, nur dass sich an der Wand seitlich unsere Schlafmatten und Decken stapelten. Zitternd vor Angst umringten wir meine Mutter, die hastig die Tür hinter sich zuzog. Angestrengt lauschten wir auf die Geräusche im Nebenzimmer. Ich hörte laute, scharfe Stimmen. Dann einen Schlag, ein Stöhnen. Erschrocken sah ich meine Mutter an. Es war das Stöhnen meines Vaters.
Meine Mutter biss sich auf die Lippen. Im Raum nebenan wurden Möbelstücke herumgeschoben. Die Soldaten durchsuchten unser Haus. Gegenstände wurden aus den Schränken gerissen und einfach wieder fallen gelassen. Dann kamen sie zu uns in den Nebenraum und durchwühlten dort alles. Dabei wurden sie immer wütender. Sie schrien meinen Vater an. Offenbar fanden sie nicht, was sie suchten.
Als sie sich ärgerlich zur Tür wandten, dachte ich bereits, der Alptraum sei überstanden. Da sah ich, dass sie meinen Vater erneut am Arm packten. Die Soldaten zwangen ihn in eine gebeugte Haltung und gingen mit ihm hinaus in den Garten und weiter Richtung Gartentor. Sie nahmen ihn mit! Ich verspürte den Impuls, ihnen hinterherzulaufen, aber meine Mutter fasste mich fest an der Schulter.
Wie hypnotisiert starrte ich aus dem Wohnzimmerfenster. Diesmal drehte sich Vater am Tor nicht mehr um. Kein Winken zum Abschied. Dann war er verschwunden.
Mutter hatte die ganze Zeit über keinen Ton herausgebracht, doch nun brach sie in Tränen aus und wir mit ihr. Keiner von uns verstand, was eigentlich geschehen war – und welche Konsequenzen das Ganze nach sich ziehen sollte. Im Nachhinein bin ich froh, dass wir es damals noch nicht ahnten.
Wir verbrachten einen bangen Abend und eine schlaflose Nacht, doch Vater kam nicht zurück. Am nächsten Tag schickte meine Mutter ihre beiden ältesten Töchter auf die Suche nach unserem Familienoberhaupt. Vater war wie die Lebensader der Familie: unser Versorger, unser Beschützer.
Mutter fühlte sich völlig hilflos ohne meinen Vater. Als typische afghanische Ehefrau ihrer Zeit hatte sie das öffentliche Leben ganz ihrem Ehemann überlassen. Sie war nie zur Schule gegangen und kannte die Welt außerhalb unserer Gartenmauern kaum. Meine Mutter stammt aus einem kleinen Ort namens Shirin Tagab in der nördlichen Provinz Fariab, wo sie mit sechzehn Jahren ihren Cousin, meinen Vater, heiratete.
Vater, der einige Jahre älter als meine Mutter ist, kommt aus einer relativ gebildeten Familie, in der es auch Lehrer und Bankangestellte gibt. Mein Großvater hatte entschieden, dass mein Vater eine Laufbahn bei der Armee einschlagen sollte. Dort spezialisierte er sich auf dem Gebiet der Pharmazie. Er überwachte die Ausgabe von Medikamenten an die Soldaten. In den ersten Jahren ihrer Ehe mussten meine Eltern oft umziehen, weil das Vaters Karriere förderlich war. Schließlich wurde mein Vater ins Hauptquartier nach Kabul versetzt. Er kaufte das Grundstück und baute das Haus: Es besteht aus drei ebenerdigen Zimmern, deren Fenster zum Innenhof weisen. In unserem ummauerten Garten gibt es Obstbäume, einen Brunnen mit einer Wasserpumpe und einen Schuppen mit Plumpsklo.
Meine Mutter war für den Haushalt und für die Kinder zuständig. Ich bin die Nummer sechs in der Reihe von insgesamt zehn Geschwistern. Lailuma, die nur zehn Monate jünger ist als ich, wurde als siebte geboren. Wir waren sieben Schwestern und drei Brüder.
Meine ältesten Schwestern haben – wie meine Mutter – nie die Schule besucht. Dass meine Eltern zu oft umziehen mussten, ist nur der halbe Grund: Es war zu der Zeit für Mädchen einfach nicht üblich, zur Schule zu gehen. Dieses Privileg blieb uns jüngeren Töchtern vorbehalten. Meine Mutter bedauert es heute zutiefst, dass meine älteren Schwestern Analphabetinnen geblieben sind. Aber die allgemeine Einstellung gegenüber Mädchenbildung änderte sich erst langsam.
Da meine Eltern Usbeken sind, sprachen wir daheim Usbekisch. Erst in Kabul lernte meine Mutter Dari, doch richtig sicher fühlte sie sich nie damit. Lailuma und ich sprachen hingegen bereits in der Schule Dari und Paschtu, die beiden Landessprachen. Das Entziffern der arabischen Buchstaben, die zum Schreiben von Dari verwendet werden, musste uns dort aber niemand beibringen: Das beherrschten wir bereits vor unserer Einschulung. Als ich fünf und Lailuma vier Jahre alt war, verbrachten wir unsere Nachmittage oft in der Moschee. Ein dickleibiger Mullah erklärte uns dort die Bedeutung der Schriftzeichen. Wir lernten den Koran auswendig – und benutzten die Zeichen als Erinnerungsstütze. Auf diese Weise haben wir gleichzeitig Lesen gelernt.
Unsere Familie gehörte zur Mittelschicht, und Offiziere wie mein Vater waren recht angesehen. Er verdiente genug, um uns Puppen und Bücher zu kaufen, und beim Schneider ließ er uns hübsche Kleider anfertigen. Nicht nur an den Feiertagen empfingen wir Besuch von Verwandten, die wir reichlich bewirteten. Die älteren Schwestern halfen meiner Mutter bei der Zubereitung der verschiedenen Speisen. Meine Aufgabe war es, eine hübsch gefertigte Metallkanne zu den Gästen zu tragen, damit sie unter dem Strahl des Wassers ihre Hände waschen konnten. Meine Schwester Lailuma reichte ihnen ein Tuch zum Abtrocknen. Nach dem Essen servierten wir ihnen Tee und Zucker aus einer kleinen Silberdose. Wir wussten nicht, wie gut es uns ging, bis es all das nicht mehr gab.
Angespannt warteten wir daheim auf die Rückkehr unserer Schwestern Nasima und Schapirai, die meine Mutter ins Militärhospital geschickt hatte. Dort befand sich das Büro meines Vaters. Sie sollten sich bei seinen Kollegen und Vorgesetzten nach seinem Verbleib erkundigen und vor allem herausfinden, was der Grund war für seine Verhaftung.
Die beiden kehrten niedergeschlagen zurück: Sie hatten das Büro meines Vaters verriegelt gefunden. Keiner der Soldaten hatte es ihnen öffnen, keiner hatte ihnen Auskunft erteilen wollen. In die Stirn meiner Mutter grub sich eine tiefe Sorgenfalte. Als sie an diesem Abend wie gewohnt das Esstuch auf dem Teppich im Wohnzimmer ausbreitete, ermahnte sie uns zum ersten Mal, langsam zu essen. Sie verteilte die Spaghetti mit Joghurt, ein Gericht, das wir Asch nennen, auf zwei großen, flachen Tellern, von denen jeweils mehrere Kinder mit den Händen aßen, wie es bei uns üblich ist. Mutter fütterte meinen kleinsten Bruder, der auf ihrem Schoß saß. Gleichzeitig überwachte sie, dass sich keiner von uns zu viel nahm. Sie erklärte uns, wir würden alle satt werden, wenn wir uns nur disziplinierten und die Portionen gerecht teilten. Von diesem Zeitpunkt an rationierte sie unsere Vorräte: Nach ihren Berechnungen reichten sie nicht länger als ein bis zwei Wochen, und das Feuerholz etwa vier Wochen. Dann würde sie anfangen, unsere Wertsachen wie die Zuckerdose zu verkaufen. Aber von solchen Überlegungen sagte sie uns Kindern damals kein Wort. Erst sehr viel später vertraute sie mir ihre einsamen Gedanken aus den ersten Tagen von Vaters Abwesenheit an.
Mit jedem Tag, den Vater nicht nach Hause kam, wuchs die Verzweiflung meiner Mutter. Plötzlich fand sie sich als Gattin eines einst gut verdienenden Beamten allein mit zehn Kindern wieder. Tag für Tag schickte sie meine Schwestern auf die Suche nach ihm. Aber sie kamen jeden Abend unverrichteter Dinge nach Hause: Die Militärs hüllten sich in Schweigen. Niemand im Krankenhaus schien zu wissen, was mit Vater geschehen war. Zumindest behaupteten das seine ehemaligen Kollegen. Unterdessen wurden die Lebensmittel zu Hause immer knapper. Wir aßen nur noch Kartoffeln.
Ihr letztes Geld gab meine Mutter für Zucker aus. »Finger weg«, sagte sie streng, als wir um sie herumstrichen, während sie den Zucker in einem großen Topf mit etwas Wasser mischte. Wie hypnotisiert sahen wir ihr dabei zu. Sie stellte den Zuckertopf auf den Bochari und erhitzte ihn langsam. Dabei rührte sie die Masse darin immer wieder, damit sie nicht anbrannte. Bald verbreitete sich ein betörend süßer Geruch im ganzen Raum. Mutter aber ließ den Topf nicht aus den Augen. Nachdem der Zucker ganz und gar zu flüssigem, braunem Karamell geschmolzen war, nahm sie den heißen Topf vom Feuer und ließ ihn wieder abkühlen. Sie breitete eine Plastikdecke auf dem Wohnzimmerteppich aus und hockte sich daneben, wobei sie sich den Topf zwischen die Beine klemmte. Mit sauberen Fingern langte sie in die jetzt lauwarme, zähflüssige Masse und formte sie zu kleinen Kugeln, die sie sorgfältig auf dem Plastiktuch verteilte. Zuletzt steckte sie noch je einen Zahnstocher in jedes der Kügelchen. Die Lutscher waren fertig. Bei ihrem Anblick lief mir das Wasser im Mund zusammen.
Aber Mutter machte uns keine Hoffnungen, dass die Süßigkeiten in unseren Mündern landen würden: Sie bewachte sie beim Abkühlen, als lägen nicht Lollis, sondern Juwelen auf dem Tuch. Selbst als wir zu Bett gingen, verharrte sie auf dem Boden in ihrer Wachposition, die angezogenen Beine mit den Armen umschlungen. Sie bettete den Kopf auf die Knie, manchmal schloss sie wohl die Augen. Ob sie in dieser Nacht überhaupt geschlafen hat, weiß ich nicht, doch als ich nach dem Aufwachen nachsah, hockte sie noch da und hütete ihren Schatz.
Am Morgen waren die Lutscher hart, und Mutter zählte sie genau ab. Vorsichtig bettete sie die Süßigkeiten in einen Korb und bedeckte sie mit einem Tuch. Dann erteilte sie meinem fünfzehnjährigen Bruder Zainullah den Auftrag, die Süßigkeit auf dem Bazar zu verkaufen. Für einen Afghani das Stück. Sie gab ihm genaue Anweisungen, wie er die Ware anzupreisen hatte – und schärfte ihm ein, sich nichts stehlen zu lassen. Von dem Erlös sollte er neuen Zucker besorgen. Auf diese Weise schuf sie unsere erste, winzig kleine Einnahmequelle, die natürlich keineswegs ausreichte, um uns alle satt zu bekommen.
Bald gab es bei uns daheim nur noch Suppe mit ein paar Nudeln darin. Manchmal brachte Zainullah altes Brot vom Bazar mit nach Hause, das nur einen Bruchteil von frischgebackenem kostete. Hungrig tunkten wir die harten Rinden in die Suppe, um sie wieder weich zu bekommen. Ganz schlimm wurde es allerdings, als mitten im Winter auch noch das Feuerholz ausging: Oft saßen wir schlotternd um eine Öllampe, um uns an ihr zu wärmen. Der Hunger war allgegenwärtig. In dieser Zeit hatten wir nur einen einzigen Wunsch, eine wunderschöne Fantasievorstellung: dass Vater plötzlich wiederkommen und alles werden würde wie früher.
Meine Schwestern durchkämmten immer noch die Stadt auf der Suche nach ihm. Eines Abends, es war bereits Frühling, kamen sie endlich mit Neuigkeiten für meine Mutter zurück: Ein ehemaliger Kollege meines Vaters, der im Gesundheitsministerium arbeitete, hatte ihnen verraten, dass Vater sich angeblich im Gefängnis Pol-e Charkhi befinden sollte. Dorthin, sagte er, brächten die Soldaten alle Mudschaheddin.
Mudschaheddin, das Wort war neu für mich. Fragend sah ich meine Schwestern an. Aber die hatten dem Bericht des Beamten lediglich entnommen, dass es etwas war, für das man ins Gefängnis gesperrt wurde. Damals besaßen wir noch kein Radio und kein Fernsehen. Und unser Vater hatte mit uns nie über Politik gesprochen.
Auch Mutter konnte nicht richtig erklären, was das seltsame Wort bedeutete. Zuerst sagte sie, ein Mudschahed sei ein frommer Mann, der an Gott glaube und die Fremden aus unserem Land vertreiben wolle. Wir nickten verständig. Die Beschreibung passte auf unseren Vater. Mutter schien das jedoch nicht zu gefallen. Sie verbesserte sich und sagte: Nein, ein Mudschahed sei ein Krieger, der gegen die Ungläubigen kämpfe. Wieder nickten wir artig. Jetzt stellten wir uns Vater als Kriegshelden vor, der sich mit den Mächten des Bösen duellierte. Die Vorstellung gefiel uns fast noch besser. Aber Mutter wirkte erneut unzufrieden. Schließlich erklärte sie, Vater sei kein Mudschahed. Wir sollten das Wort nicht mehr in den Mund nehmen. Schluss. Ende der Diskussion.
Der Kollege meines Vaters hatte meinen Schwestern allerdings auch anvertraut, dass man eine Mitgliedskarte der Mudschaheddin in seinem Büro entdeckt habe. Aus heutiger Sicht gehe ich davon aus, dass er damals einer kommunistischen Säuberungsaktion zum Opfer gefallen war: Alle politischen Abweichler, die man in den Offiziersrängen entdeckte, wurden damals verhaftet. Und das Gefängnis Pol-e-Charkhi war als Endstation für Anti-Kommunisten berüchtigt. Und dafür, dass die wenigsten Gefangenen es wieder lebendig verließen. Im Jahr zuvor hatte die von der Sowjetunion gestützte Regierung fast dreißigtausend Insassen ermorden lassen. Natürlich kannten wir keine Einzelheiten. Wir wussten auch nichts über die Massengräber, die Henker rund um das Gefängnis angelegt hatten. Aber der Ruf, der Pol-e-Charkhi vorauseilte, hätte schlimmer nicht sein können: Dort einzusitzen, kam einem Todesurteil gleich. Meine Mutter, die das alles besser verstand als wir, unterdrückte ein Schluchzen.
Am nächsten Tag kratzte sie all unser Geld zusammen, um Bustickets zu kaufen. Pol-e-Charkhi liegt im Osten von Kabul, außerhalb der Stadt. Von unserem Haus aus brauchte man mehr als eine Stunde dorthin. Schon von weitem sahen wir die massiven Mauern, Wachtürme und Sperrzäune aus Stacheldraht. Es war ein riesiger Komplex, der losgelöst wirkte aus unserer normalen Welt. Die letzten drei Kilometer mussten wir zu Fuß gehen. Meinen zweijährigen Bruder Asef setzten wir uns abwechselnd auf die Schultern. Da damals kein Mensch über ein eigenes Telefon verfügte, hatten wir natürlich keinen Termin mit der Gefängnisleitung vereinbart. Wir tauchten einfach so vor dem Haupttor auf. Meine Mutter, die als traditionell erzogene Frau vom Land wie immer, wenn sie ausging, eine wadenlange, hellblaue Burka mit Gitterfenster vor der Augenpartie trug, fragte die Wachposten, ob es einen Mohammad Nabi unter den Insassen gebe. Die Antwort war, sie wüssten es nicht, und dann befahlen sie ihr, mitsamt ihrer Kinderschar zu verschwinden. Aber meine Mutter ließ sich von ihnen nicht einschüchtern. Sie drohte den Wachleuten, dass sie sich nicht von der Stelle rühren werde, bevor sie ihren Mann mit eigenen Augen gesehen habe. Immer wieder schickte sie eines von uns Kindern vor, um die Wachleute am Ärmel zu zupfen und ihre Bitte zu wiederholen. Die Männer schimpften und schwangen bedrohlich ihre Gewehrkolben. Unsere aufdringliche Präsenz beschämte sie. Sie ließen Mutter ausrichten, der Besuchstag sei am Freitag. Aber sie taten uns nichts zuleide. Schließlich winkte der Chef der Truppe Mutter zu sich und erkundigte sich erneut nach dem Namen des Mannes, den sie suchte. Dann verschwand er im Innern der Anlage. Meine Mutter drückte aufgeregt meine Hand.
Nach einiger Zeit kam der Mann wieder und erlaubte uns, ihm hinter die Absperrung zu folgen. Er führte die gesamte Familie in ein Büro im zweiten Stock eines grauen Betongebäudes, in dem ein Beamter in Uniform an seinem Schreibtisch saß. Mutter wiederholte ihr Anliegen. Der Mann sah verschiedene Listen durch. Aber in keiner von ihnen fand sich der Name meines Vaters. »Du hast dich getäuscht. Geh nach Hause«, sagte er zu meiner Mutter. Doch die beschwor ihn, abermals gründlich zu schauen: Ihr Mann sei bestimmt dort.
Vielleicht war es die Verzweiflung, die bei ihren Worten mitschwang, vielleicht war es der Anblick von uns Kindern, die den Beamten milde werden ließ. Jedenfalls stand er auf einmal auf und führte uns in ein anderes Zimmer. Es war völlig leer, nur blanke Betonwände, aber keine Möbel. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir dort ausharrten. Jedenfalls taten wir es in vollkommener Stille: Nicht einmal Asef quengelte herum oder veranstaltete irgendwelchen Blödsinn, wie er es sonst gerne tat. Wir waren alle so angespannt, dass keiner ein Wort sprach.
Dann öffnete sich die Tür, und der Beamte trat zusammen mit zwei Männern in Uniform herein. Sie führten einen Gefangenen in ihrer Mitte. Der Mann war abgemagert und trug Ketten an Händen und Füßen. Ich fühlte einen Stich im Herzen, als ich ihn endlich erkannte: Es war Vater! War er das wirklich? Nichts erinnerte an den eleganten Offizier, der sich jeden Morgen vor dem Spiegel frisiert hatte. Lailuma und ich verharrten in einer Art Schockstarre. Ungläubig starrten wir den Mann an, der gebeugt wie ein Greis vor uns stand. Hatten sie ihn geschlagen? Zu unserem Entsetzen trug er immer noch dieselben zerschlissenen Kleider wie am Tag seiner Verhaftung, und er roch unglaublich schlecht.
»Hier ist dein Mann«, sagte der Beamte zu meiner Mutter. »Du hast dreißig Minuten.«
Mutter rannen die Tränen übers Gesicht. Auch wir Kinder weinten. Mein Vater selbst schien hilflos, ja beschämt, uns einen solchen Anblick bieten zu müssen. Als wir ihn umarmen wollten, bellten die Uniformierten, dass jeder Körperkontakt mit dem Gefangenen untersagt sei.
Es war eine bizarre Situation. Wie oft hatten wir uns in den vergangenen Monaten das Wiedersehen mit Vater ausgemalt. Abends, wenn wir zusammen um den Bochari saßen, hatten wir uns vorgestellt, wie er mit uns herumalbern würde, wie er uns auskitzelte, mit uns lachte. Und jetzt stand er vor uns, und wir wussten nicht, was wir tun sollten. Natürlich freuten wir uns, ihn zu sehen. Gleichzeitig waren wir entsetzt über seinen Zustand. Intuitiv begriffen wir, dass die Umstände, unter denen Vater festgehalten wurde, grausam sein mussten. Dass sie ihn physisch und psychisch zerstörten.
»Geht es dir gut?«, fragten wir überflüssigerweise. Vater nickte. »Brauchst du etwas? Sollen wir dir neue Kleidung bringen?« Jetzt lächelte er ein bisschen. »Wann kommst du wieder zurück, Vater?« Er konnte es uns nicht sagen. »Warum haben sie dich festgenommen?« Bei dieser Frage legte einer der Beamten Einspruch ein. »Keine Politik!« Also verlegten wir uns auf harmlosere Themen. »Bekommst du auch genug zu essen?«, fragte meine Mutter. »Was möchtest du gerne? Was soll ich dir bringen?«
Dann war der Moment vorbei. »Die Zeit ist um«, verkündete der Beamte. Vater wurde abgeführt. Er verschwand auf dieselbe unwirkliche Weise, in der er gekommen war: in Ketten.
Uns hinterließ er völlig aufgelöst – und ratlos. Auf dem Nachhauseweg liefen Mutter ununterbrochen Tränen übers Gesicht. Die Erleichterung, die sie sich von dem Wiedersehen mit meinem Vater erhofft hatte, war nicht eingetreten. Im Gegenteil: Es war, als habe sie erst in dem Augenblick das Ausmaß unserer prekären Lage begriffen. Bis dahin hatte sie sich an dem Gedanken festgehalten, dass sie Vater nur wiederfinden müsse, um unser Leben zurück in die gewohnten Bahnen zu lenken. Nun verstand sie, dass wir wohl noch eine ganze Weile ohne ihn würden zurechtkommen müssen. Dabei wussten wir noch immer nicht, warum man ihm und uns das antat: Außer dem diffusen Vorwurf, dass Vater Mudschahed sei, hatte man ihm nichts vorgeworfen, es gab keine Anklageschrift, kein Gerichtsverfahren. Es gab keine Stelle, bei der man sich hätte beschweren können. Die neuen Machthaber hatten ihn einfach weggesperrt. Und keiner konnte uns sagen, wie lange dieser Zustand andauern sollte.
Der »Besuchertag« im Gefängnis sei der Freitag, hatte der Beamte meine Mutter lediglich wissen lassen. Dazu muss ich erklären, dass afghanische Gefängnisse – anders als in Europa – den Insassen keine Vollverpflegung bieten. Sonst würden sich vermutlich viele freiwillig melden! Die Häftlinge bekommen sehr, sehr wenig zu essen. So wenig, dass sie davon in der Regel nicht überleben können. Mein Vater zum Beispiel bekam nur einmal am Tag eine dünne Suppe. Deshalb hatte er auch so furchtbar abgemagert ausgesehen. Man erwartete von den Angehörigen, dass sie die Gefangenen versorgten. Geschah das nicht, hatte der Häftling kaum eine Chance. Das ist wohl heute noch so.
Meine Mutter hatte jetzt also ein weiteres Problem: Sie musste nicht nur ihre zehn Kinder durchbringen, sondern auch noch ihren Mann versorgen. Sein Überleben hing allein von ihr ab. Wie sollte sie das ohne eine nennenswerte Einkommensquelle bewerkstelligen?
Mutter erwies sich als sehr erfinderisch. Sie beschwatzte den Baumwollhändler, uns auf Kredit etwas von seiner Ware zu überlassen. Bald saßen wir jüngeren Kinder stundenlang zusammen im Wohnzimmer und spannen diese Baumwolle zu Fäden. Wir ließen die Wolle durch unsere Finger laufen, bis die Kuppen wund waren und schmerzten, während sich zwischen ihnen ein feiner Faden entspann. Das fertige Knäuel brachte sie dann zurück zum Händler – und erzielte einen Mehrwert von zehn oder zwölf Afghani. Das reichte für zwei Brote vom Bäcker.
Es blieb nicht das einzige Handwerk, das wir ausüben mussten: Ich lernte Teppiche zu weben. Keine Kunstwerke, sondern praktische Matten, die nicht viel Geschick erforderten und auch von ungeübten Kinderhänden angefertigt werden konnten. Es gab keine Alternative, entweder wir verdienten Geld – oder wir gingen abends hungrig zu Bett. Immerhin erlaubte uns Mutter weiterhin den Schulbesuch, der gratis war.
Meine älteren Schwestern schickte sie in die Fabrik. Da sie, wie gesagt, Analphabeten waren, wollte zunächst niemand die beiden einstellen. Aber schließlich fanden sie doch einen sehr schlecht bezahlten Job am Fließband. Es war eine anstrengende und monotone Arbeit: Zehn Stunden am Tag mussten sie immer wieder dieselbe Handbewegung machen. Aber ich habe sie nie klagen hören: Wir waren alle heilfroh über das Geld.
Von dem ersten Lohn, den meine Schwestern nach Hause brachten, ging Mutter einkaufen. Sie holte Reis, Gemüse und sogar ein wenig Hammelfleisch vom Bazar, natürlich Ausschussware. Beim Anblick dieser Köstlichkeiten lief uns allen das Wasser im Mund zusammen. Noch ärger wurde es, als sie mit dem Kochen begann. Sie stellte den Reistopf auf den Herd, der schon bald einen wunderbaren Duft verströmte. Ich liebte den Geruch von gekochtem Reis. Gebannt sahen wir ihr dabei zu, wie sie Lauch, Zwiebeln und Karotten zerschnitt und eine leckere Mahlzeit zubereitete. Aber wieder einmal gingen wir leer aus.
Mutter ließ das Essen abkühlen und verpackte es in zwei Plastikbehälter. Mein kleiner Bruder bekam einen Wutanfall, als er begriff, was sie vorhatte: Bereits an den vergangenen Freitagen hatte sich Mutter zusammen mit den beiden ältesten Schwestern auf den Weg nach Pol-e-Charkhi gemacht, um Vater frische Kleider und ein wenig von unserer kargen Kost zu bringen, meist nur eine Handvoll Brot. Der neue Verdienst erlaubte es ihr nun, ihn liebevoll zu bekochen. Aber für uns Kinder blieb davon nichts übrig.
Mein Bruder heulte und versuchte, die Behälter aus ihrer Tasche zu stehlen. »Gib mir das!«, schrie er sie an. Sie klopfte ihm streng auf die Finger. »Euer Vater ist im Gefängnis, und wir müssen ihn, so gut wir können, unterstützen«, erklärte sie uns. »Wenn er gut isst, wird er bei Kräften bleiben und kommt bald wieder zu uns zurück.«
Außer dem Jüngsten zweifelte keiner von uns daran, dass sie das Richtige tat: Es war uns völlig klar, dass wir zugunsten unseres Familienoberhauptes zurückstecken mussten. Mutter lehrte uns, es freudig und stolz zu tun. Wie alle Kinder in Afghanistan wurden wir zu absoluter Solidarität mit der Familie erzogen.
Auch Lailuma und ich strebten danach, jeden Anflug von Egoismus zu unterdrücken. Sie, die Besonnenere von uns beiden, war darin erfolgreicher: Lailuma konnte sich immer schon besser zurücknehmen als ich. Sie machte sich Gedanken über alles. Mehr als ich ließ sie sich deshalb von den Ermahnungen unserer Mutter beeindrucken. Aber sie besaß auch die Fähigkeit, sich von der Realität abzukoppeln: Wenn es ihr in der Wirklichkeit zu ungemütlich wurde, flüchtete sie in eine ihrer Fantasiewelten. Und nur ich, ihre engste Vertraute, durfte sie begleiten.
Wir schauten gemeinsam den sowjetischen Kampfjets hinterher, wann immer sie mit lautem Getöse über Kabul hinwegdüsten. Lailuma war von ihnen sehr beeindruckt, und sie fragte mich, wie sie wohl funktionierten? Dann hockte sie sich auf einen umgekippten Baumstamm im Garten und behauptete, dass sei unser Flugzeug. Wir stellten uns vor, dass wir darauf wie auf einem Hexenbesen durch die Luft reiten könnten. Kichernd führten wir Flugmanöver durch und ahmten mit unseren Körpern die Bewegungen nach, die unser Gefährt angeblich vollzog. Sogar Überschallflug beherrschte unser Baumstamm. Aus der Erdatmosphäre heraus kamen wir damit bis zu den Planeten, den Sternen. Es war herrlich.
Aber ich war erdverbundener als Lailuma. Unsere Fantasiereisen konnten mich nur eine begrenzte Zeit von unserem entbehrungsreichen Alltag ablenken. Und ich war streitbarer, eine kleine Draufgängerin, könnte man fast sagen. Manchmal zankte ich mich auch mit Mutter. In solchen Situationen brannten bei mir die Sicherungen durch: Dann stahl ich mich nachts in die Vorratskammer und aß alles auf, was ich finden konnte. Wütend stopfte ich alles Essbare in mich hinein, bis mir schlecht wurde oder bis Mutter schweigend und mit ernster Miene in der Tür stand. Mutter schalt nicht mit mir. Sie stand nur da und sah mich traurig an – was viel schlimmer war als jede Standpauke. Und ich schämte mich in Grund und Boden.
»Es war für mich sehr schwer, euch hungrig zu sehen«, gestand mir Mutter später. »Aber was sollte ich tun? Mein Herz hat mir befohlen, das wenige, das wir hatten, eurem Vater zu bringen.«
Ich glaube, dass es mehr als eheliches Pflichtbewusstsein war, das sie dazu trieb: Meine Mutter liebt meinen Vater. Obwohl ihre Ehe keine Liebesheirat war, sondern bereits kurz nach ihrer Geburt arrangiert wurde, bauten sie im Lauf der Jahre ein inniges Verhältnis zueinander auf. Durch die erzwungene Trennung vertiefte sich ihre Beziehung. vermisste Vater schmerzlich. Sie fühlte sich wie amputiert ohne ihren Ehemann. Ständig hatte sie Angst, dass wir überfallen und ausgeraubt werden könnten. Manchmal saß sie die ganze Nacht lang wach und starrte zur Tür.
Woche für Woche fuhr sie hinaus zum Gefängnis. Am Freitag, unserem »Sonntag«, hatten die Gefangenen »Hofgang«: Sie wurden in Ketten in den Hof geführt, wo schon die Angehörigen warteten. Es herrschte eine rohe, gewalttätige Atmosphäre. Manchmal schlugen die Wachleute Mutter mit ihren Gewehrkolben. Manchmal nahmen sie ihr die Geschenke für Vater einfach ab und behaupteten, es sei verboten, den Gefangenen etwas zu bringen. Trotzdem ließ sie sich nicht abschrecken, sondern ging jede Woche mit dem hin, was wir entbehren konnten.
Beide weinten, wenn sie sich wiedersahen. Und wenn sie uns von Vater erzählte, sah er immer traurig aus in ihren Gedanken. Sie konnte sehen, dass er geschlagen worden war, die Male an den Armen, Schultern und im Gesicht sprachen eine deutliche Sprache. Aber er erwähnte es nie. Und sie erzählte ihm nicht, dass wir uns die Speisen, die sie ihm brachte, vom Munde absparten. Dass wir daheim hungerten. Wenn er nach uns fragte, behauptete sie stets, es gehe uns gut, er brauche sich keine Sorgen zu machen. Solche »Lügen« gelten in unserer Kultur als Zeichen der Fürsorge. Aber natürlich ahnte Vater, wie schwer unser Leben ohne ihn war. Uns Kinder aber nahm Mutter nie wieder mit nach Pol-e-Charkhi.
Wir sahen Vater fünf Jahre nicht. Eines Tages stand er plötzlich im Garten: ein Mann, ausgemergelt, die Wangen eingefallen, mit hängenden Schultern. Meine Mutter stieß einen unterdrückten Schrei aus, als sie ihn von unserem Wohnzimmerfenster aus sah. Er ging langsam zum Brunnen und wusch sich Gesicht und Hände mit dem eiskalten Wasser. Mutter glaubte, sie träume. Oder war sie vor Kummer verrückt geworden? Erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass wir Kinder den Mann im Garten ebenfalls entdeckt hatten, wagte sie es, ihm entgegenzueilen.
Ein paar Schritte vor ihm blieb sie stehen. Die beiden sahen sich an. Und dann tat Mutter etwas, was sie in meiner Gegenwart noch nie getan hatte: Sie küsste Vater auf den Mund. Als er sie in den Arm nahm, begann sie zu weinen.
Wir Kinder, insbesondere die jüngeren, brauchten eine Weile, um zu begreifen, was sich da vor unseren Augen abspielte. War der Mann im Garten wirklich unser Vater? War er tatsächlich zurückgekehrt? Schüchtern traten wir näher. Lailuma war inzwischen zwölf, ich dreizehn Jahre alt, im afghanischen Denken waren wir also bereits junge Frauen. Deshalb fühlten wir uns ein wenig unsicher in der Umarmung dieses Mannes, der ja unser Vater war – und auch irgendwie fremd.
Am merkwürdigsten aber benahm sich unser jüngster Bruder Asef, der mittlerweile sieben war. Er lehnte es strikt ab, Vater zu drücken.
»Wer ist der Mann?«, fragte er meine Mutter skeptisch.
»Das ist dein Vater«, erklärte sie ihm. »Er ist ein sehr lieber Mann. Komm, geh zu ihm und gib ihm einen Kuss.« Aber Asef verweigerte standhaft jede Berührung mit dem Fremden.
Vaters Entlassung erfolgte genauso überraschend und willkürlich wie zuvor seine Verhaftung. Auch er selbst hörte nie mehr als den diffusen Vorwurf, aufseiten der Mudschaheddin gestanden zu haben, die gegen die Sowjets in einem Partisanenkrieg kämpften. Wie berechtigt diese Anschuldigung gewesen ist, vermag ich bis heute nicht zu beurteilen. Richtig ist, dass mein Vater ein religiöser Mensch war und ist, der die kommunistische Regierung mit Skepsis betrachtete. Aber ich glaube nicht, dass er sich aktiv am Widerstand beteiligt hat. Uns gegenüber hat er so etwas jedenfalls nie erwähnt.
Mit seiner Rückkehr änderte sich erneut alles für uns, diesmal zum Positiven. Zwar konnte Vater nicht wieder in seinem alten Beruf arbeiten. Für eine Laufbahn beim Militär war er »verbrannt«. Aber er schaffte es schnell, sich neu zu orientieren. Vater eröffnete einen kleinen Lebensmittelladen, in dem er Dinge des alltäglichen Bedarfs verkaufte: Öl, Reis, Mehl, Nudeln, Salz und dergleichen. Das Geschäft entwickelte sich rasch und bescherte meiner Familie bald wieder ein gutes Auskommen. Sogar ein Radio konnten wir uns leisten. Wir Kinder mussten jetzt nicht mehr arbeiten. Davon profitierten vor allem wir Jüngeren: Lailuma und ich konnten uns wieder auf die Schule konzentrieren. Und nach allem, was wir durchgemacht hatten, wussten wir um den Wert dieses Privilegs.
Die Grundschulzeit über besuchten wir dieselbe Klasse. Dann trennten sich unsere Wege. Wir waren beide gut in der Schule, aber ich war ehrgeiziger. Ich bestand darauf, auf die renommierteste Mädchenschule Kabuls zu wechseln. Dort unterrichteten die qualifiziertesten Lehrer Afghanistans, hieß es. Nichts anderes wollte ich. Fast eine Stunde fuhr ich täglich mit dem Bus ins Stadtzentrum. Lailuma erklärte mich für verrückt, mir freiwillig einen so langen Weg anzutun. Sie wählte eine Schule in der Nachbarschaft, die sie zu Fuß erreichen konnte, und so war sie die gesamten Grundschuljahre über jeden Tag zwei Stunden früher zu Hause als ich.
Latifa als Schülerin im Jahr 1987, damals befindet sich Afghanistan noch unter sowjetischer Besatzung.
Trotzdem bereute ich meine Entscheidung nicht. Ich liebte meine neue Schule. Jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn mussten wir zum Fahnengruß antreten. Wir standen auf, legten die Hand aufs Herz und schmetterten die Nationalhymne: »Unser revolutionäres Vaterland ist nun in den Händen der Werktätigen. Das Erbe der Löwen gehört jetzt den Bauern. Das Zeitalter der Tyrannei ist vorbei, die Ära der Arbeiter ist gekommen.« Es fehlte mir nicht an revolutionärem Pathos.
Die Lehrer hatten mir erklärt, dass der Kommunismus eine gute Sache sei: Während im Kapitalismus ein paar Bonzen alles besäßen und der Rest der Bevölkerung unter Armut leide, würde im Kommunismus der Reichtum eines Landes auf das ganze Volk verteilt. Ob Arbeiter oder Fabrikdirektor: Jeder bekäme denselben Anteil. Dieses Modell leuchtete mir als sehr gerecht ein. Mein Vater schien zwar nicht sehr beeindruckt, wenn ich daheim solche Reden schwang, aber er hielt sich mit Widerspruch zurück. Und ich konnte beim besten Willen nichts Verwerfliches an der Idee des Teilens entdecken.
Ich empfand Dankbarkeit gegenüber den Soldaten, die nach Afghanistan gekommen waren, um uns im Kampf gegen verbrecherische Feudalherren und kapitalistische Ausbeuter zu unterstützen. In der Schule hörte ich nur Gutes über sie: dass sie für den Fortschritt eintraten. Und für Volksbildung, insbesondere die Bildung der Frauen. Das gefiel mir. Von den blutigen Kämpfen, die zu dieser Zeit in den Provinzen tobten, bekamen wir Eliteschülerinnen in der Hauptstadt nichts mit.
Mein Ehrgeiz war so groß, dass ich unbedingt Klassenbeste werden wollte. Ich weiß nicht genau, woher ich diesen Willen dazu nahm. Vielleicht hat sie mit der traumatischen Erfahrung meiner Mutter zu tun, die sich im Nachhinein dafür schämte, dass sie uns Kindern während der Zeit der Abwesenheit unseres Vaters so wenig hatte bieten können. Deshalb feuerte sie mich und meine Schwestern an, uns in der Schule anzustrengen. »Meine Kinder mussten Hunger leiden, weil ich keinen Beruf erlernt habe«, sagte sie zu uns. »Wenn ihr nicht so enden wollt wie ich, müsst ihr in der Schule euer Bestes geben.« Das merkte ich mir gründlich.
In Mathematik war ich nicht so gut. Aber in allen anderen Fächern glänzte ich, besonders in Dari. In meiner Freizeit begann ich, Gedichte zu schreiben, und ich traute mich sogar, sie bei öffentlichen Lesungen in der Schule vorzutragen. Das war damals so Mode. Ich verfasste patriotische Verse über mein Heimatland. Und über die Liebe. Sentimentale Liebeslyrik hat in unserem Land eine lange Tradition. Sie ist für afghanische Mädchen die einzige Möglichkeit, romantische Gefühle auszudrücken, die sonst komplett tabu sind. Praktischerweise werden sie in Gedichtform nämlich abstrakt oder gar religiös interpretiert. Natürlich darf sich keine Entsprechung im realen Leben dafür finden. Und die gab es in meinem Fall auch nicht: Mir jedenfalls gelang es, allein und ohne an eine bestimmte Person zu denken, in meinen Emotionen zu schwelgen. Eine reale Liebelei hingegen hätte meinen gesellschaftlichen Tod bedeutet. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, so etwas zu riskieren.
In ihrem Gymnasium trägt Latifa 1988 selbst verfasste Gedichte vor.
Allerdings kleidete ich mich ziemlich gewagt. Ich interessierte mich für Mode – und gehörte immer zu den Trendsetterinnen in meiner Schule. In Zeitschriften informierte ich mich, was gerade angesagt war, und nähte die Sachen, die in Kabul nur schwer zu bekommen waren, im Zweifelsfalle selbst.
Die modebewusste Latifa lässt sich vom Sowjetstil beeinflussen (1989).
Natürlich war das Thema ein ewiger Konfliktherd zwischen mir und meiner Mutter, die ihr Leben lang in der Öffentlichkeit nur die Burka getragen hat. Sie brachte wenig Verständnis dafür auf, dass ein Teenager in den 1980ern ohne Besitz einer Jeans kaum leben konnte. Monatelang lagen Lailuma und ich ihr und meinem Vater mit diesem Wunsch in den Ohren. An Norooz, unserem Neujahr, an dem wir traditionell neue Kleider bekommen, war es schließlich so weit: Vater brachte das begehrte Kleidungsstück – vermutlich ohne Einverständnis meiner Mutter – nach Hause.