Kate Morton
Die verlorenen Spuren
Roman
Aus dem Englischen von
Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Kate Morton
Die verlorenen Spuren
Roman
Aus dem Englischen von
Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Für Selwa,
Freundin, Agentin, Heldin
Teil 1
•
Laurel
1
Das ländliche England, ein Bauernhaus mitten im Nirgendwo, ein Sommertag Anfang der Sechzigerjahre. Das Haus ist bescheiden: Fachwerk, an dem die weiße Farbe abblättert, rankende Clematis. Aus dem Kamin steigt Rauch auf, ein untrügliches Zeichen dafür, dass in der Küche etwas Köstliches auf dem Herd steht. Die Gemüsebeete hinter dem Haus sind mit Liebe angelegt, die Bleiglasfenster auf Hochglanz geputzt, und das Schindeldach ist mit großer Sorgfalt ausgebessert.
Ein Holzzaun umgibt das Haus, und ein robustes Tor trennt den gepflegten Garten von den umliegenden Weiden und einem weiter entfernten Wäldchen. Zwischen den knorrigen Bäumen plätschert ein Bach, sprudelt munter über Steine, schlängelt sich wie schon seit Jahrhunderten durch Sonnenlicht und Schatten. Aber das Plätschern kann man von hier aus nicht hören. Der Bach ist zu weit weg. Das Haus steht allein da, am Ende einer langen, staubigen Einfahrt, nicht sichtbar von der Landstraße aus, nach der es benannt ist.
Bis auf eine leichte Brise, die hin und wieder aufkommt, ist alles still und ruhig. Zwei weiße Hula-Hoop-Reifen, im vergangenen Jahr der letzte Schrei, lehnen an einem Glyzinienbogen. Ein Teddybär mit Augenklappe und einem würdevoll ernsten Gesichtsausdruck bewacht das Ganze in seinem Ausguck im Klammerbeutel auf einem grünen Wäschewagen. Neben einem Schuppen wartet geduldig eine mit Blumentöpfen beladene Schubkarre.
Trotz der Stille, oder vielleicht gerade deswegen, strahlt die Szene etwas Erwartungsvolles aus, wie eine Theaterbühne, kurz bevor die Schauspieler auftreten. Ein Moment, in dem noch alle Möglichkeiten offen sind, wenn das Schicksal noch nicht durch die äußeren Umstände besiegelt ist, und da –
»Laurel!« – ertönt in einiger Entfernung eine ungeduldige Kinderstimme.
»Lau-rel! Wo bist du?«
Es ist, als wäre ein Bann gebrochen. Das Licht im Saal geht aus, der Vorhang hebt sich.
Ein paar Hühner tauchen aus dem Nichts auf, um zwischen den Steinen des gepflasterten Gartenwegs zu picken, ein Häher stößt einen einzelnen Schrei aus, ein Traktor auf einer Weide beginnt zu tuckern. Und hoch über allem, auf dem Boden eines Baumhauses, reckt und streckt sich ein sechzehnjähriges Mädchen, auf dem Rücken liegend, drückt das Zitronenbonbon, das es im Mund hat, an seinen Gaumen und seufzt …
Es war sicher grausam, dachte sie, die anderen so lange nach ihr suchen zu lassen, aber die Hitzewelle, das Geheimnis, das sie hütete, die anstrengenden Spiele – noch dazu so kindische Spiele –, all das war einfach zu viel gewesen. Im Übrigen gehörte es zur Herausforderung und, wie Daddy immer sagte, war es nur gerecht, und sie würden es nie lernen, wenn sie es nicht versuchten. Es war nicht Laurels Schuld, dass sie besser im Verstecken war. Die anderen waren kleiner als sie, das stimmte, aber sie waren auch keine Babys mehr.
Außerdem legte Laurel auch keinen besonderen Wert darauf, gefunden zu werden. Jedenfalls nicht heute. Nicht jetzt. Sie wollte nur hier oben liegen und den dünnen Stoff ihres Kleids an ihren nackten Beinen spüren, während sie an ihn dachte.
Billy.
Sie schloss die Augen, und sein Name schrieb sich in schwungvollen Buchstaben auf ihre Lider. Pink, neonpink. Sie drehte das Zitronenbonbon um, sodass es mit der hohlen Mitte auf ihrer Zungenspitze balancierte.
Billy Baxter.
Wie er sie über seine schwarze Sonnenbrille hinweg anschaute. Sein schiefes Lächeln. Sein dunkles Haar mit der Elvis-Tolle …
Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, genau so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte, wie echte Liebe sein würde. Als Shirley und sie am Samstag vor fünf Wochen aus dem Bus gestiegen waren, hatten Billy und seine Freunde auf den Stufen des Tanzlokals gestanden und geraucht. Ihre Blicke hatten sich getroffen, und Laurel hatte dem lieben Gott dafür gedankt, dass sie einen ganzen Wochenendlohn für ein Paar neue Nylonstrümpfe geopfert hatte.
»Komm schon, Laurel.« Das war Iris, ihre Stimme klang müde von der Hitze. »Das ist gemein.«
Laurel schloss die Augen noch fester.
Sie hatte keinen Tanz ausgelassen. Die Band hatte immer wilder gespielt, ihr Haar, das sie sich mühsam nach dem Vorbild der letzten Ausgabe der Bunty hochgesteckt hatte, hatte sich gelöst, und ihr hatten die Füße wehgetan, aber sie hatten immer weitergetanzt. Erst als Shirley, offenbar eingeschnappt, weil sie nicht beachtet worden war, wie eine Anstandsdame ankam und sagte, dass gleich der letzte Bus fuhr und ob sie mitkommen wolle (ihr, Shirley, sei es selbstverständlich egal, was sie mache), hatte sie aufgehört. Und dann, als sie sich verschwitzt verabschiedet hatte und Billy ihre Hand genommen und sie an sich gezogen hatte, da hatte etwas tief in ihrem Innern gewusst, dass sie schon ihr ganzes Leben auf diesen wunderbaren Augenblick gewartet hatte …
»Okay, wie du willst.« Iris klang jetzt wirklich sauer. »Aber du bist selbst schuld, wenn nachher nichts mehr von der Geburtstagstorte übrig ist.«
Zwölf Uhr war gerade vorbei, ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster des Baumhauses und ließ Laurels Lider von innen rot erglühen wie Cherry-Cola. Sie setzte sich auf, machte jedoch keine Anstalten, ihr Versteck zu verlassen. Es war eine ernst gemeinte Drohung – denn es war allgemein bekannt, wie versessen Laurel auf die Victoria-Torte ihrer Mutter war –, aber sie zog nicht. Laurel wusste ganz genau, dass das Kuchenmesser auf dem Küchentisch lag. Es war in dem allgemeinen Chaos vergessen worden, als sie Picknickkörbe, Decken, Limonade, Badetücher und das neue Transistorradio eingepackt hatten und zum Fluss gegangen waren. Sie wusste es, weil sie während des Versteckspiels ins Haus zurückgeschlichen war, um das Buch zu holen. Da hatte sie das Messer neben der Obstschüssel liegen sehen, mit einer roten Schleife um den Griff.
Das Messer war Tradition – mit ihm war bislang jeder Festtagskuchen, jede Jubiläums- und Geburtstagstorte in der Geschichte der Familie Nicolson angeschnitten worden –, und ihrer Mutter waren Traditionen heilig. Deswegen bestand für Laurel kein Grund zur Eile, bis jemand losgeschickt wurde, um das Messer zu holen. Und das war auch gut so. In einem Haus wie dem ihren, wo ruhige Minuten so selten waren wie Sternschnuppen, wo ständig jemand durch eine Tür hereinkam oder eine andere zuschlug, musste man es ausnutzen, wenn man einmal Zeit für sich allein hatte.
Und gerade heute brauchte Laurel Zeit für sich.
Das Buch war am vergangenen Donnerstag mit der Post angekommen, und zum Glück hatte Rose das Päckchen entgegengenommen, nicht Iris oder Daphne oder – Gott bewahre – ihre Mutter. Laurel hatte sofort gewusst, von wem es kam. Sie war hochrot angelaufen, aber sie hatte es gerade noch geschafft, etwas von Shirley zu stammeln und von der neuesten Schallplatte einer bestimmten Band, die sie sich von ihrer Freundin ausleihen wollte. Die Ausrede war völlig überflüssig gewesen, denn die ewig verträumte Rose hatte ihre Aufmerksamkeit längst einem Schmetterling zugewandt, der auf dem Zaunpfahl saß.
Als sie am Abend alle im Wohnzimmer gehockt und Juke Box Jury im Fernsehen gesehen hatten und Iris und Daphne darüber gestritten hatten, wer männlicher aussah, Cliff Richard oder Adam Faith, und ihr Vater unmutig eingeworfen hatte, dass sie alle mit amerikanischem Akzent redeten und überhaupt die Menschen in England immer dicker wurden, hatte Laurel sich hinausgestohlen. Sie hatte sich im Bad eingeschlossen, sich auf den Boden gesetzt und mit dem Rücken an die Tür gelehnt.
Mit zitternden Fingern hatte sie das Päckchen aufgerissen.
Ein dünnes, in Seidenpapier eingewickeltes Buch war ihr in den Schoß gefallen. Als sie den Titel durch das Papier gelesen hatte – Die Geburtstagsfeier von Harold Pinter –, war ihr ein Schauer über den Rücken gelaufen, und sie konnte nur mit Mühe einen Jubelschrei unterdrücken.
Seitdem schlief sie mit dem Buch unter dem Kopfkissen. Das war zwar nicht besonders bequem, aber sie wollte es in ihrer Nähe haben. Sie brauchte es in ihrer Nähe. Es war wichtig.
Es gab Momente im Leben, davon war Laurel überzeugt, da stand der Mensch an einem Scheideweg; Momente, in denen aus heiterem Himmel etwas passierte, das alles änderte. Die Premiere von Pinters Theaterstück war ein solcher Moment gewesen. Sie hatte in der Zeitung davon gelesen und den unwiderstehlichen Drang verspürt hinzugehen. Sie hatte ihren Eltern erzählt, sie würde Shirley besuchen, hatte Shirley darauf eingeschworen, den Mund zu halten, und dann war sie in den Bus nach Cambridge gestiegen.
Es war das erste Mal gewesen, dass sie allein irgendwohin gefahren war, und als sie im dunklen Theater gesessen und miterlebt hatte, wie Stanleys Geburtstagsfeier sich zu einem Albtraum entwickelte, war sie von einem nie gekannten Hochgefühl ergriffen worden. Es schien die Art Offenbarung zu sein, die die Schwestern Buxton jeden Sonntag mit erhitzten Gesichtern in der Kirche erlebten, auch wenn deren Begeisterung wahrscheinlich eher dem jungen Kaplan galt als dem Wort Gottes. Jedenfalls, als sie mit klopfendem Herzen auf ihrem billigen Platz gesessen hatte und das Drama auf der Bühne seinen Gang nahm und sie in ihren Bann schlug, da hatte sie es plötzlich gewusst. Sie hätte nicht genau sagen können, was es war, aber sie war sich ganz sicher gewesen: Das Leben hatte mehr zu bieten, und was auch immer es sein mochte, es wartete auf sie.
Sie hatte ihr Geheimnis für sich behalten, unsicher, was sie damit anfangen sollte, wem in aller Welt sie es erklären sollte, bis sie es am vergangenen Samstag, in seinen Arm geschmiegt, die Wange an seine Lederjacke gepresst, Billy anvertraut hatte …
Laurel nahm seinen Brief aus dem Buch und las ihn noch einmal. Er war kurz, Billy teilte ihr darin nur mit, dass er am Samstagnachmittag um halb drei mit seinem Motorrad am Ende der Straße auf sie warten würde – er wolle ihr eine Stelle an der Küste zeigen, seine Lieblingsstelle.
Laurel warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Nur noch zwei Stunden.
Er hatte genickt, als sie ihm von der Aufführung der Geburtstagsfeier erzählt hatte und wie sie sich dabei gefühlt hatte; er hatte von London und vom Theater gesprochen, von all den Bands, die er in namenlosen Nachtklubs gehört hatte, und Laurel war ganz schwindelig geworden angesichts der ungeahnten Möglichkeiten, die sich vor ihr auftaten. Dann hatte er sie geküsst. Es war ihr erster richtiger Kuss gewesen, und in ihrem Kopf war ein Feuerwerk explodiert, bis sie nur noch weißes Licht gesehen hatte.
Laurel rollte sich auf die Seite, um in den kleinen Handspiegel schauen zu können, den Daphne dort aufgestellt hatte. Sie betrachtete die winzigen schwarzen Pünktchen, die sie sich mit äußerster Sorgfalt in die Augenwinkel gemalt hatte. Zufrieden, dass sie noch kein bisschen verwischt waren, richtete sie ihren Pony und versuchte, das dumpfe, nagende Gefühl abzuschütteln, dass sie etwas Wichtiges vergessen haben könnte. Ein Badetuch hatte sie eingesteckt, den Badeanzug trug sie schon unter ihrem Kleid; ihren Eltern hatte sie erzählt, Mrs. Hodgkins hätte sie gebeten, ein paar Stunden außer der Reihe im Salon aufzuräumen und zu putzen.
Laurel knabberte sich einen Hautfetzen vom Nagelbett. Diese Heimlichtuerei war eigentlich nicht ihre Art; sie war ein wohlerzogenes Mädchen, das sagten alle – ihre Lehrer, die Mütter ihrer Freundinnen, Mrs. Hodgkins –, aber was blieb ihr übrig? Wie sollte sie das alles ihrer Mutter oder ihrem Vater erklären?
Sie war sich ganz sicher, dass ihre Eltern sich nie richtig geliebt hatten, egal was sie ihr für Geschichten darüber erzählten, wie sie sich kennengelernt hatten. Das heißt, sie liebten sich natürlich auf ihre Weise, aber das war die Liebe zwischen alten Leuten, die sich darin äußerte, dass man einander die Schulter tätschelte und gemeinsam Tee trank. Nein – Laurel seufzte mit einem wohligen Schauder. Man konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass die beiden nie die andere Art Liebe gekannt hatten, das Feuerwerk der Gefühle, das Herzklopfen, die körperliche Begierde.
Ein Windstoß trug das Lachen ihrer Mutter herüber, und das Bewusstsein, so vage es auch sein mochte, dass sie an einem Wendepunkt ihres Lebens angelangt war, erfüllte sie mit Zuneigung. Die liebe Ma. Es war nicht ihre Schuld, dass sie den größten Teil ihrer Jugend an den Krieg verschwendet hatte. Dass sie schon fast fünfundzwanzig gewesen war, als sie geheiratet hatte; dass sie immer noch mit Begeisterung Papierschiffchen bastelte, wenn die Kinder einmal Langeweile hatten; dass das schönste Erlebnis in diesem Sommer für sie war, dass sie den ersten Preis des örtlichen Gartenbau-Vereins gewonnen hatte und ein Foto von ihr in der Zeitung erschienen war, und zwar nicht nur im Lokalblatt – der Artikel war sogar in Londoner Zeitungen abgedruckt worden, als Teil einer Serie über besondere Ereignisse im ländlichen England. (Shirleys Vater, ein Rechtsanwalt, hatte die Zeitung mitgebracht, um allen den Artikel zu zeigen.)
Laurels Ma hatte so getan, als wäre es ihr peinlich, und sie hatte protestiert, als ihr Daddy den Artikel an den neuen Kühlschrank geklebt hatte, aber sie hatte ihn auch nicht wieder abgenommen. Nein, sie war mächtig stolz auf ihre besonders langen Stangenbohnen, und genau das war es, was Laurel meinte. Sie spuckte ein winziges Stückchen Fingernagel aus. Irgendwie schien es ihr menschlicher, jemanden, dessen ganzer Stolz Stangenbohnen waren, mit einer Notlüge zu täuschen, als ihn zu der Einsicht zu zwingen, dass die Welt sich geändert hatte.
Laurel hatte keinerlei Erfahrung mit Notlügen. In ihrer Familie standen sich alle sehr nahe. Das war allgemein bekannt. In den Augen der Leute hatten die Nicolsons sich der äußerst verdächtigen Sünde schuldig gemacht, einander wirklich zu lieben und zu respektieren. Aber in letzter Zeit hatte sich irgendetwas geändert. Zwar benahm Laurel sich wie immer, aber es fühlte sich an, als würde sie nicht mehr dazugehören. Sie runzelte die Stirn, als die Sommerbrise ihr ein paar einzelne Haare ins Gesicht blies. Wenn sie beim Abendessen saßen und ihr Vater seine üblichen Witze machte, die keiner lustig fand und über die sie trotzdem lachten, kam sie sich vor wie eine Zuschauerin; als säßen die anderen in einem Zugabteil und ließen sich von dem vertrauten Rhythmus einlullen, während sie allein am Bahnhof stand und ihnen hinterherschaute.
Nur dass sie es war, die weggehen würde. Und zwar schon bald. Sie hatte sich alle nötigen Informationen besorgt: Sie würde auf die Central School of Speech and Drama gehen. Was würden ihre Eltern wohl sagen, wenn sie ihnen erklärte, dass sie sich entschlossen hatte, von zu Hause fortzugehen? Sie waren beide alles andere als weltgewandt – ihre Mutter war nicht ein einziges Mal in London gewesen, seit Laurel auf der Welt war –, und wenn sie erfuhren, dass ihre älteste Tochter nicht nur vorhatte, dorthin zu ziehen, sondern auch noch eine fragwürdige Existenz als Schauspielerin führen wollte, würde sie der Schlag treffen.
Unter ihr flatterte die nasse Wäsche an der Leine. Die Beine der Jeans, die Grandma Nicolson nicht ausstehen konnte (»Du siehst ordinär aus in der Hose, Laurel; es gibt nichts Schlimmeres als ein Mädchen, das sich wegwirft«), schlugen gegeneinander, sodass die Henne, der ein Flügel fehlte, aufgeregt gackernd im Kreis lief. Laurel schob sich die Sonnenbrille mit dem weißen Rahmen auf die Nase und lehnte sich gegen die Wand des Baumhauses.
Das Problem war der Krieg. Er war jetzt schon über sechzehn Jahre vorbei – so lange, wie sie auf der Welt war –, und die Welt hatte sich weitergedreht. Alles war jetzt anders. Ihr Vater hatte in einer großen Truhe auf dem Dachboden Gasmasken, seine Uniform, Essensmarken und alles mögliche andere aus dieser Zeit verstaut, und da gehörte es auch hin. Leider gab es viele Leute, die das nicht einsehen wollten – um nicht zu sagen, fast alle, die älter waren als fünfundzwanzig.
Billy meinte, sie würde es ihnen nie begreiflich machen können. Er sagte, man bezeichne das als Generationenkonflikt, und es sei zwecklos, es erklären zu wollen. Es sei genauso wie in dem Buch von Alan Sillitoe, das er ständig bei sich trug, dass Erwachsene ihre Kinder eben nicht verstünden und dass man etwas falsch machte, wenn sie es doch taten.
Zuerst hatte Laurel ihm widersprechen wollen, schließlich war sie ein wohlerzogenes Mädchen, immer ehrlich ihren Eltern gegenüber, aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte daran denken müssen, wie sie sich neuerdings, wenn ihre Schwestern schliefen, aus dem Haus stahl, hinaus in die laue Nacht, ihr Transistorradio unter der Bluse versteckt, und mit klopfendem Herzen ins Baumhaus kletterte. Oben angekommen schaltete sie Radio Luxemburg ein und ließ sich in der Dunkelheit von leiser Musik berieseln. Und wenn die Musik in die stille Landluft hinausgetragen wurde und die neuesten Hits sich über die uralte Landschaft legten, bekam Laurel eine Gänsehaut von dem berauschenden Gefühl, Teil von etwas Großem zu sein, einer weltweiten Verschwörung, einer geheimen Vereinigung. Sie gehörte einer neuen Generation von jungen Menschen an, die alle in diesem Moment dieselbe Musik hörten, die wussten, dass das Leben, die Welt, die Zukunft auf sie warteten …
Laurel öffnete die Augen, und die Erinnerung verflüchtigte sich. Aber das Gefühl der Gänsehaut blieb. Sie streckte sich genüsslich und schaute einer Krähe hinterher, die unter einem Wolkenstreifen dahinsegelte. Flieg, kleiner Vogel, flieg. Genauso würde sie es machen, sobald sie die Schule abgeschlossen hatte. Sie schaute der Krähe nach, bis sie nur noch ein winziger schwarzer Punkt am blauen Himmel war, und sagte sich, wenn ihr dieses Kunststück gelang, dann würden ihre Eltern ihre Welt mit ihren Augen sehen, und die Zukunft würde ihr offenstehen.
Das Triumphgefühl trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie sah sich um, betrachtete das Haus: das Fenster ihres Zimmers, die Bergastern, die sie mit ihrer Ma auf dem Grab von Constable, dem armen Kater, gepflanzt hatte, der Spalt zwischen den Backsteinen, wo sie als kleines Mädchen ihre Milchzähne versteckt hatte, damit die Zahnfee sie abholen konnte.
Sie hatte vage Erinnerungen an die Zeit davor, wie sie in Pfützen am Strand Schnecken gesammelt und jeden Abend in der Pension ihrer Grandma zu Abend gegessen hatte, aber sie waren wie ein Traum. Das Bauernhaus, in dem sie jetzt wohnte, war das einzige Zuhause, das sie kannte. Es gefiel ihr, ihre Eltern Abend für Abend in ihren Sesseln sitzen zu sehen, zu wissen, dass die beiden, während sie einschlief, im Nebenzimmer leise miteinander redeten, dass sie nur einen Arm auszustrecken brauchte, um eine ihrer Schwestern zu berühren.
Sie würden ihr alle fehlen, wenn sie fortging.
Laurel blinzelte. Sie würden ihr schrecklich fehlen. Die plötzliche Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Ihre Schwestern liehen sich, ohne zu fragen, ihre Kleider aus, brachen ihre Lippenstifte ab, zerkratzten ihre Schallplatten. Aber sie würden ihr fehlen. Ihr wildes Treiben, das Streiten, das ausgelassene Lachen. In dem Zimmer, das sie sich teilten, führten sie sich auf wie junge Hunde. Für Außenstehende war es unerträglich, aber ihnen gefiel das. Sie waren die Nicolson-Mädchen: Laurel, Rose, Iris und Daphne. Ein Blumenbeet voller Töchter, wie ihr Daddy sich gern ausdrückte, wenn er ein oder zwei Bier zu viel getrunken hatte. Satansbraten, wie ihre Grandma stöhnte, wenn die Schwestern mal wieder ein paar Stunden bei ihr verbracht hatten.
Aus der Ferne hörte Laurel das Lachen und Kreischen der anderen unten am Bach. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie sah ihre drei Schwestern vor sich wie auf einem alten Gemälde. Wie sie einander mit gerafften Röcken durch das seichte Wasser jagten. Rose, die sich auf den Felsen in Sicherheit gebracht hatte und die dünnen Beine ins Wasser baumeln ließ, während sie mit einem nassen Stöckchen Bilder auf den Stein malte, Iris, völlig durchnässt und wütend, Daphne mit ihren Ringellocken, die sich den Bauch hielt vor Lachen.
Die karierte Picknickdecke lag im Gras am Ufer ausgebreitet, ihre Mutter stand an der Biegung, wo der Bach schneller floss, knietief im Wasser und ließ ihre Papierbötchen schwimmen. Ihr Vater saß mit hochgekrempelten Hosenbeinen da und schaute zu, eine Zigarette im Mundwinkel, ein beseligtes Lächeln im Gesicht – Laurel sah es genau vor sich –, als könnte er sein Glück nicht fassen, dass das Schicksal ihn genau in diesem Moment an genau diesen Ort geführt hatte.
Und zu Füßen ihres Vaters, im flachen Wasser, planschte der Kleine und versuchte lachend und quiekend, mit seinen Patschhändchen Mummys Bötchen einzufangen. Der Kleine. Ihrer aller Sonnenschein.
Natürlich hatte er einen Namen, Gerald, aber niemand nannte ihn so. Es war ein Name für einen Erwachsenen, und er war doch noch so klein. Heute wurde er zwei Jahre alt, aber er hatte immer noch rosige Pausbäckchen mit Grübchen, seine Augen funkelten verschmitzt, und dann diese dicken, weichen Beinchen. Manchmal musste Laurel sich zusammennehmen, um sie nicht zu fest zu drücken. Sie alle wollten seine Lieblingsschwester sein, und sie alle hielten sich dafür, aber Laurel wusste, dass der Kleine ganz besonders strahlte, wenn er sie sah.
Wie konnte es also sein, dass sie auch nur eine Minute seiner Geburtstagsfeier verpasste? Was dachte sie sich eigentlich dabei, sich so lange im Baumhaus zu verstecken, vor allem wo sie vorhatte, schon bald mit Billy durchzubrennen?
Schuldbewusst runzelte Laurel die Stirn, doch dann fasste sie einen Entschluss. Sie würde alles wiedergutmachen. Sie würde vom Baum klettern, das Geburtstagsmesser vom Küchentisch holen und damit zum Bach gehen. Sie würde die wohlerzogene Tochter spielen, die vorbildliche große Schwester. Wenn sie das alles hinbekam, bevor auf ihrer Armbanduhr zehn Minuten verstrichen waren, würde sie auf dem imaginären Punktekonto, das sie insgeheim führte, zehn Bonuspunkte bekommen. Der warme Wind umspielte ihren sonnengebräunten Fuß, als sie ihn hastig auf die oberste Sprosse der Leiter setzte.
Später sollte Laurel sich fragen, ob alles anders gekommen wäre, wenn sie sich mehr Zeit gelassen hätte. Ob die ganze schreckliche Geschichte vielleicht nie passiert wäre, wenn sie vorsichtiger gewesen wäre. Aber es war passiert, weil sie nicht vorsichtig gewesen war. Weil sie in Eile gewesen war. Und deswegen würde sie sich immer die Schuld an dem geben, was dann geschehen war. Aber damals hatte sie einfach nicht nachgedacht. So sehr, wie sie sich zuerst danach gesehnt hatte, allein zu sein, hatte sie jetzt unbedingt dazugehören wollen, und zwar sofort, als wäre es plötzlich das Wichtigste auf der Welt.
So war es ihr in letzter Zeit oft ergangen. Sie war wie die Wetterfahne auf dem Dach von Greenacres, als wären ihre Gefühle den Launen des Winds ausgesetzt. Es war seltsam, manchmal sogar beängstigend, aber irgendwie auch aufregend. Wie eine Bootsfahrt auf einem stürmischen Meer.
Und diesmal war es auch noch schmerzhaft. Denn in ihrer Eile, zu den anderen zu gelangen, scheuerte sie sich das Knie am Boden des Baumhauses auf. Sie unterdrückte einen Fluch, und als sie hinunterschaute, sah sie frisches, überraschend rotes Blut. Anstatt nach unten zu klettern, zog sie sich wieder ins Baumhaus hoch, um den Schaden zu begutachten.
Sie saß immer noch da oben und betrachtete ihr blutendes Knie und fragte sich, ob Billy die hässliche Schürfwunde auffallen würde und wie sie sie verdecken könnte, als sie aus dem Wäldchen ein Geräusch hörte. Es war ein Rascheln, das einerseits natürlich klang, sich andererseits so sehr von allen anderen Nachmittagsgeräuschen abhob, dass sie darauf aufmerksam wurde. Als sie aus dem Fenster schaute, sah sie Barnaby durch das hohe Gras tollen, wobei seine Ohren auf und ab schlenkerten wie samtene Flügel. Und kurz dahinter folgte ihre Mutter. Sie ging mit großen Schritten in ihrem selbst genähten Sommerkleid über die Wiese, auf der Hüfte den Kleinen in seinem Spielhöschen, der vergnügt mit den nackten Beinchen strampelte.
Die beiden waren zwar ziemlich weit weg, aber der Wind trug das Lied, das ihre Mutter sang, bis zu Laurel herüber. Es war ein Lied, das sie allen Kindern vorgesungen hatte, als sie Babys gewesen waren, und der Kleine jauchzte vor Vergnügen, wenn ihre Mutter mit den Fingern an seinem Bauch hochkrabbelte und ihn am Kinn kitzelte. Die beiden waren so in ihrer Welt versunken und die ganze Szene auf der sonnendurchtränkten Wiese wirkte so idyllisch, dass Laurel spürte, wie sich in das Vergnügen, die beiden beobachten zu können, Eifersucht mischte, weil sie an ihrem Glück nicht teilhaben konnte.
Als ihre Mutter die kleine Pforte öffnete und den Garten betrat, begriff Laurel, dass sie gekommen war, um das Kuchenmesser zu holen.
Mit jedem Schritt ihrer Mutter rückte Laurels Chance auf Wiedergutmachung in weitere Ferne. Die Enttäuschung darüber verdarb ihr so gründlich die Laune, dass sie, anstatt sich bemerkbar zu machen oder vom Baum zu klettern, wie versteinert im Baumhaus hocken blieb. Mit einer dumpfen Wut im Bauch, die ihr ein seltsames Gefühl der Befriedigung verschaffte, schaute sie zu, wie ihre Mutter das Haus betrat.
Als ein Hula-Hoop-Reifen umfiel und lautlos auf dem Boden landete, betrachtete Laurel das als Zeichen der Solidarität und beschloss zu bleiben, wo sie war. Sollten sie sie ruhig noch eine Weile vermissen; sie würde an den Bach gehen, wenn sie so weit war. In der Zwischenzeit würde sie Die Geburtstagsfeier noch einmal lesen und sich eine Zukunft erträumen, weit weg von hier, in der sie schön war und gebildet und erwachsen und ohne Schorf am Knie.
Als sie den Mann zum ersten Mal sah, war er kaum mehr als ein undeutlicher Fleck am Rand ihres Blickfelds, ganz unten am Ende der Einfahrt. Später war Laurel sich nicht einmal mehr sicher, warum sie ausgerechnet in dem Moment aufgeblickt hatte. Als sie ihn ums Haus kommen sah, dachte sie eine Schrecksekunde lang, es wäre Billy, der früher gekommen war, um sie abzuholen. Erst als sie ihn deutlicher erkennen konnte und sah, dass die Kleidung nicht stimmte – dunkle Tuchhose, Hemd und ein schwarzer Hut mit einer altmodischen Krempe –, atmete sie erleichtert auf.
Die Erleichterung wich schnell der Neugier. Es kamen nur selten Besucher, erst recht nicht zu Fuß. Und doch spukte eine vage Erinnerung in Laurels Hinterkopf herum, während sie den Mann näher kommen sah, ein seltsames Gefühl von Déjà-vu, das sie beim besten Willen nicht einordnen konnte. Laurel vergaß ihre schlechte Laune und verfolgte das Geschehen von ihrem sicheren Versteck aus.
Die Ellbogen auf das Fenstersims gelehnt, stützte sie das Kinn in die Hände. Für einen älteren Mann war er ganz ansehnlich, und seine Haltung drückte Entschlossenheit aus. Ein Mann, der es nicht eilig hatte. Auf keinen Fall jemand, den sie kannte, keiner von den Freunden ihres Vaters aus dem Dorf und auch kein Landarbeiter. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass es sich um einen Reisenden handelte, der nach dem Weg fragen wollte, aber dafür lag das Bauernhaus eigentlich zu weit von der Landstraße entfernt. Vielleicht ein Zigeuner oder ein Landstreicher? Einer von diesen Männern, die hin und wieder auftauchten, glücklose Gestalten, die dankbar jede Arbeit annahmen, die ihr Vater ihnen anbot. Oder – der schreckliche Gedanke ließ sie erschaudern – es war der Mann, über den sie in der örtlichen Zeitung gelesen hatte, der, über den die Erwachsenen mit besorgter Miene sprachen, der Kerl, der Leute beim Picknick erschreckte oder Frauen belästigte, die allein zum Bach gingen.
Laurel schüttelte sich bei dem unheimlichen Gedanken, dann gähnte sie. Der Mann war nicht gefährlich; sie sah seine lederne Aktentasche. Wahrscheinlich ein Vertreter, der ihrer Mutter die neueste Lexikonreihe verkaufen wollte.
Sie wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Einige Minuten waren vergangen, als sie am Fuß des Baums Barnaby knurren hörte. Laurel richtete sich wieder auf, und als sie aus dem Fenster schaute, sah sie den Spaniel auf dem gepflasterten Weg stehen. Er beobachtete den Mann, der gerade dabei war, die kleine schmiedeeiserne Pforte zu öffnen, die in den Garten führte.
»Aus, Barnaby!«, rief ihre Mutter aus dem Haus. »Wir sind gleich so weit.« Sie erschien in der Tür, blieb kurz stehen, um dem Kleinen etwas ins Ohr zu flüstern und ihm einen Kuss auf das dicke Bäckchen zu geben. Der Kleine krähte glücklich.
Hinter dem Haus quietschte das Tor neben dem Hühnerstall – die Scharniere mussten mal wieder geölt werden –, und der Hund begann erneut zu knurren.
»Aus, Barnaby!«, sagte Laurels Mutter erneut. »Was ist denn bloß in dich gefahren?«
Der Mann kam um die Hausecke und schaute sich um. Ihr Lächeln erstarb.
»Guten Tag«, sagte der Fremde und blieb stehen, um sich mit einem Taschentuch den Schweiß von den Schläfen zu wischen. »Schönes Wetter heute.«
Der Kleine strahlte den Fremden an und streckte die Ärmchen nach ihm aus.
Es war eine Einladung, der niemand widerstehen konnte, und der Mann steckte sein Taschentuch ein, trat näher und hob eine Hand, als wollte er das Kind segnen.
Wie im Reflex zog Laurels Mutter den Kleinen von dem Fremden weg. Dann setzte sie ihn unsanft hinter sich auf den Boden. Spitze Kieselsteine bohrten sich in die Haut an seinen nackten Beinchen, und für ein Kind, das nur Liebe und Wohlbefinden kannte, war der Schreck zu groß. Er begann zu weinen.
Am liebsten wäre Laurel losgelaufen, um ihren kleinen Bruder zu trösten, aber sie war wie gelähmt. Sie spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufrichteten. Das Gesicht ihrer Mutter nahm einen Ausdruck an, den sie noch nie bei ihr gesehen hatte. Das war Angst, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Ma hatte Angst.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Die Sicherheit eines ganzen Lebens löste sich in Rauch auf und wurde von Panik abgelöst.
»Hallo Dorothy«, sagte der Mann. »Lange nicht gesehen.«
Er kannte den Namen ihrer Mutter. Der Mann war kein Fremder.
Wieder sagte er etwas, diesmal so leise, dass Laurel es nicht verstehen konnte, und ihre Mutter nickte schweigend. Sie hörte dem Mann zu, den Kopf zur Seite geneigt. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, und sie schloss für einen Moment die Augen.
Dann geschah alles sehr schnell.
Der silberne Blitz brannte sich Laurel für immer ins Gedächtnis. Das Sonnenlicht, das die metallene Klinge aufleuchten ließ, in einem kurzen Augenblick voller Schönheit.
Dann fuhr das Messer herab, das besondere Messer, und versank tief in der Brust des Mannes. Der Mann schrie auf, in seinem schmerzverzerrten Gesicht spiegelten sich Verblüffung und Entsetzen. Laurel sah, wie seine Hände nach dem Messergriff fassten, dem Griff aus Elfenbein, um den herum sein Hemd sich rot färbte, während er langsam zu Boden sank und der warme Wind seinen Hut durch den Staub trieb.
Der Hund bellte wie verrückt, der Kleine saß auf dem Boden und weinte erbärmlich, sein Gesicht gerötet und tränenüberströmt, während ihm das kleine Herz brach, aber für Laurel verblassten all diese Geräusche. Sie hörte nur noch das Rauschen des Bluts in ihren Ohren, das laute Keuchen ihres eigenen Atems.
Die Schleife um den Messergriff hatte sich gelöst, die Enden des bunten Bands berührten die Steine, die das Beet einfassten. Es war das Letzte, was Laurel sah, ehe ihr schwarz vor Augen wurde.