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(sings):

 

But age with his stealing steps

Hath claw’d me in his clutch,

And hath shipp’d me intil the land,

As if I had never been such.

He throws up a skull

William Shakespeare, Hamlet

 

 

 

 

 

Ich höre Stimmen, die nach einem Krankenwagen rufen, Neugierige, die nach dem Hergang fragen, jemand sagt: Er ist bei Rot über die Straße gelaufen. Ein anderer sagt: Der Fahrer wollte noch ausweichen.

Der Fahrer sitzt auf dem Kantstein, er hält den Kopf in beiden Händen, er zittert, zittert am ganzen Leib, während ich daliege, ruhig, kein Schmerz, sonderbar, aber die Gedanken flitzen hin und her, und alles, was ich denke, spricht eine innere Stimme deutlich aus.

 

Ich kam von ihr und war, vielleicht ist das später wichtig für die Versicherung, auf dem Weg zu meinem Klienten. Sie hatte mich im Café angerufen. Die Sonne stand knapp über den Hausdächern, und die Tische lagen noch im Schatten der Bäume. Es war schon warm, ja heiß. Über Nacht hatte es kaum abgekühlt. Ich rauchte, trank Kaffee und wollte wenigstens einen Anfang finden für die Rede, die ich morgen halten muss. Noch nie habe ich eine Rede so lange hinausgeschoben. Die Zeit drängt. Oft ist es ein Satz, der alle anderen nach sich zieht, ein Anfang, der

Dann kam der Anruf. Das Handy fiepte.

Ihre Stimme war durch das elektronische Knistern hindurch nur schwer zu hören: Du musst kommen.

Ich sitz an der Rede. Du weißt.

Ja. Aber du musst kommen, bitte.

Wohin?

Zu mir. Gleich.

Ich rauchte die Zigarette zu Ende, zahlte, packte die Blätter und Karteikarten mit berühmten letzten Worten in die Tasche und ging zur Bushaltestelle. Was wollte sie? Warum diese Eile? Meine Befürchtung, ja Angst war: Ben könne alles erfahren haben. Vielleicht war ihr aber auch nur diese Geheimnistuerei, dieses Verstecken, Verschweigen, Verbergen, einfach unerträglich geworden. Oft sind es ja ganz belanglose Anlässe, die Geständnisse mit unabsehbaren Folgen auslösen. Lügen ist, sagt sie, widerlich – und in den letzten Wochen musste sie viel lügen. Vielleicht ist Ben aber auch etwas gesteckt worden, vielleicht hat uns einer seiner Bekannten, der kleine Kinder hat, im Zoo gesehen, ja, im Zoo, da haben wir uns oft getroffen. Oder aber Ben ist nachträglich ein Verdacht gekommen wegen unseres Zusammentreffens in der Wohnung.

Wir haben nur einmal, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, in ihrer Wohnung miteinander geschlafen, und bei dieser Gelegenheit wäre beinahe

Ich lebe in weißen leeren Räumen, ohne Ballast, etwas altmodisch, wie sie gleich sagte. Zwei leere Zimmer in einer Dachwohnung, alles weiß. Ansonsten viel Grau und Schwarz, meine Dienstkleidung, altgetragen, aber gute Ware, Sachen, die man auch ausgefranst und mit Löchern tragen kann: Kaschmir, Baumwolle, Seide.

Keine Bücher, mit Ausnahme des Buchs der Bücher. Man kann von der Konkurrenz nur lernen. Ich kaufe immer nur ein Buch, lese es, verschenke es oder lasse es auf dem Postamt liegen. Mein Hausstand bleibt leicht transportabel, wie die Reiseschreibmaschine, eine Adler Viktoria. Ich bin einer der letzten, der sich an einer mechanischen Maschine abmüht. Aber ich muss ja auch keine Romane schreiben. Ich habe meine verlängerten Finger als schmale Stahlgelenke vor Augen und die Mechanik im Ohr, den

Ein Koffer und eine Tasche, das ist mein Hausstand. Ich kann jederzeit weiterziehen.

 

Sie wollte es nicht glauben, und sie ist darum einmal, was zu tun sie sich sonst strikt weigert, mit mir nach Hause gegangen, in diese Dachwohnung, zwei Zimmer, ein Bad, Küche, ein Tisch, zwei alte Küchenstühle vom Sperrmüll, ein japanischer Futon auf dem Boden, als Überdecke ein Kelim, ausgeblichen das rote Muster, ein Stück aus dem letzten Jahrhundert, das Geschenk eines Klienten, dem ich das Weinen erspart habe, sodann ein Sessel: Leder, Stahlrohr, Schweizer Fabrikat. An der Wand eine japanische Schriftrolle, ein paar schwarz getuschte Zeichen auf hellbraunem Reispapier, eine Kalligrafie, die mir ein Japanologe übersetzt hat: Wörter sinnen über Wörter.

Müsste ich für eine plötzliche Flucht meine Sachen packen, ich würde nur drei Dingen, die ich dann

Auch sie hörte ihn an jenem Tag reden, meinte aber, das sei ein ganz normales Selbstgespräch.

Nein. Man muss nur durch die Wand hören.

Aber wer kann das schon?

Ich.

Da lachte sie, und wenn Iris lacht, leuchtet der Himmel über Berlin. Sie fängt leise an, als würde man sie ein wenig kitzeln, öffnet die Lippen, volle Lippen, die das Öffnen noch betonen, umranden, sie benutzt einen tiefroten Lippenstift, ihre Zähne, gleichmäßige weiße Zähne, bis auf einen Schneidezahn, der aus der Reihe tanzt und ein bisschen schräg steht, das rosig schimmernde und, wie ich weiß, feste Zahnfleisch, dieser zartrot geriffelte Rachen – sie lacht, ihr Eyeliner verschmiert, sie lacht, wie andere weinen. Die Gespräche um sie herum verstummen, die Leute blicken hoch, irritiert zunächst, dann grinsend, schließlich lachen sie mit, ohne die leiseste Ahnung

Pottwale ja.

Auch das Bild, das ich in der Küche hängen habe, gefiel ihr, das einzige Bild in der Wohnung.

Schön, ein Horch. Der hat doch ein Vermögen gekostet.

Nein. Ich habe das Bild für eine Rede bekommen. In meinem Beruf gibt es immer noch Reste von Naturalwirtschaft.

Der Horch ist kein Bild im herkömmlichen Sinn. Was da gerahmt und etwas erhaben unter Glas zu sehen ist, sind maschinenbeschriebene Seiten, teils sorgfältig gefaltet, teils geknüllt, den Gehirnwindungen ähnlich, sodann fixiert, und in der Mitte, auf der Papierlandschaft, liegt eine von Stiefelabdrücken verdreckte, abgestempelte Stechkarte eines Bauarbeiters, alles Trouvaillen, allerdings gezielt gesucht, und darauf kommt es an. Die Seiten, von denen man nur kleine Wortfetzen auf den Knüllkanten lesen kann, zusammenhanglos, zufällig aneinandergeschoben, bekommen erst dadurch ihren Reiz, dass Horch mit detektivischer Zähigkeit die Putzfrauen Berliner Dichter aufspürt und sie bittet, auch zuweilen besticht, für ihn Manuskriptseiten aus dem Papierkorb zu sammeln. Nachdem er sieben solcher Bilder hergestellt hatte, war das Berliner Reservoir ausgeschöpft. Die anderen Schriftsteller in Berlin fand er so miserabel, dass er ihre Manuskriptseiten nicht auch noch in Bildern fixieren wollte.

Toll, das Bild, einfach toll.

Willst du es haben?

Und Ben, glaubst du, hat nichts gemerkt?

Nichts.

Ich meine, er hat auch keinen, wie soll ich sagen, Verdacht?

Nein.

Das erstaunt wiederum mich, denn er ist von Beruf Controller, und zwar in einem Autokonzern. Ich dachte, diese Leute müssten mit einem feinen Dauermisstrauen ausgerüstet sein. Aber Ben hat bisher nie etwas bemerkt, auch nicht an jenem Nachmittag, als er überraschend nach Hause kam und Iris ihm mit hochrotem Kopf und linksherum angezogenem Rock entgegenkam, Nahtkanten und Saum deutlich sichtbar. Vielleicht dachte er, das sei eine dieser modischen Neuheiten, die Röcke mit den Nähten nach außen zu tragen. Und diese Röte im Gesicht? Ihre Wangen glühten. Das musste er doch sehen, ihr Schläfenhaar, verschwitzt, verklebt, als wäre sie eine zehnstöckige Treppe hoch- und ihm entgegengerannt, in der Faust ein schwarzes Spitzentaschentuch – ihren Slip. Ben sah nichts, auch nicht meine nackten Füße in den schwarzen Halbschuhen. Ich kam aus der Gästetoilette, hatte mir das Gesicht gekühlt, die Hände gewaschen, mich angezogen, hatte aber, als ich in die Toilette flüchtete, die Socken vergessen, die lagen noch vor dem grasgrünen Ehebett.

Nein, sagte ich, singen kann ich nicht, Klavier schon, manchmal spiele ich Jazz. Ich erzählte von der Band, die jeden Sonntagmorgen spielt, eine Altherrenband, und versuchte, damit von meinen nackten Füßen in den Schuhen abzulenken. Ich erzähle sonst nie davon, auch Bekannten nicht, obwohl wir öffentlich auftreten. Es gibt Dinge, die soll man tun, sehr geehrte Trauergemeinde, aber nicht darüber reden, damit sie für uns rein bleiben, nicht durch Renommiersucht oder kalkulierte Geselligkeit missbraucht werden. Iris zuliebe habe ich mit diesem Vorsatz gebrochen.

Am nächsten Tag mochte ich sie nicht fragen, wer meine Socken weggeräumt hatte, sie oder er, gute anthrazitfarbene Socken, eine Farbe, die sicherlich auch der Controller bevorzugt. Sie mochte nicht daran erinnert werden, fand die ganze Szene peinlich, grässlich, ja ekelhaft, konnte nicht, wie ich, darüber lachen.

Fürchterlich. Ich wäre am liebsten im Boden versunken, sagte sie. Unsäglich. Es verletzt seine Würde.

Quatsch.

Sie war dem Weinen nah. Als sie endlich aufsah, blickte sie an mir vorbei, machte eine Kopfbewegung, als wollte sie alles abschütteln. Ich weiß nicht, warum sie in dem Moment nicht Schluss gemacht hat. Es wäre einfach und einsichtig gewesen.

 

Kennengelernt habe ich sie auf einer Beerdigung. Sie saß vor mir in der ersten Reihe, die Halle war voll besetzt, was meist der Fall ist, wenn junge, im Berufsleben stehende Menschen sterben.

Ich hatte mit Thomson den Ablauf besprochen. Der Sarg war unter den mächtigen Angebinden und Kränzen kaum zu sehen, es roch nach Gärtnerei, nach frischen Schnittblumen, nach Buchsbaum, darüber der Geruch von Parfüm. Auffallend viele junge Leute waren in dieser Trauergesellschaft. Die Verstorbene hatte für ein Filmbüro gearbeitet. 32 Jahre war sie alt geworden. Die Schwester hatte es übernommen, mir von ihr zu erzählen. Die Mutter konnte es nicht. Der Freund wollte es nicht, ich weiß nicht warum.

Schnell sei sie gestorben, unvorstellbar schnell, hatte ihre Schwester gesagt. Von der Diagnose, Krebs, bis zu ihrem Tod waren es nur drei Wochen.

Ich ging nochmals hinaus in diesen ersten sommerlich heißen Frühlingstag. Die Knospen der Bäume waren zu einem lichten Grün explodiert. Die Leute standen vor der Aufbahrungshalle in kleinen

Hier sah ich sie zum ersten Mal, eine junge Frau, blondes, auffallend dichtes, nackenlanges Haar, in einem schwarzen Hosenanzug, der, knapp geschnitten, die Jacke auf Taille und mit tiefem Ausschnitt, nicht sofort an Trauer denken ließ. Sie stand mit anderen in einem Kreis, so als unterhielten sie sich, aber alle waren stumm und sahen vor sich hin. Die sind mir die Liebsten. Weit angenehmer als die Munteren, die schon durch Tonlage und Lautstärke mitteilen: Das Leben geht doch weiter, Leute. Das sind die Schlimmsten, schlimmer als die Melodramatischen oder die Angetrunkenen oder die Verlegenen, die mit schiefem Mund flüstern.

Ich kann mich nicht erinnern, Ben auf der Beerdigung gesehen zu haben. Aber er war da.

Thomson, der Beerdigungsunternehmer, kam und schwebte durch die Wartenden, so leicht tritt er auf, nicht mit den Hacken, sondern mit den Fußballen. Er geht unvergleichlich, und jeder, der ihn so sieht, versucht ebenfalls, leise, vorsichtig aufzutreten. Darf ich bitten! Die Leute kamen aus ihren Gesprächen heraus in die Halle, setzten sich.

Ein Quartett spielte den von dem Freund der Verstorbenen gewünschten ersten Satz aus Fragmente – Stille von Luigi Nono.

Ich hatte mit der Schwester gesprochen und mit ihren Kollegen, ich hatte mir Fotos angesehen und die Filme, an denen sie mitgearbeitet hatte, hatte mir auch die Arbeit einer Ausstatterin beim Film erklären

Die drei Fotoalben hatte die jüngere der großen Schwester zum 30. Geburtstag zusammengestellt, und schon aus der Anordnung konnte man die Bewunderung für die ältere herauslesen. Es ist für mich jedes Mal wieder erstaunlich, wie aus den Erzählungen, den Fotos, den Zeugnissen langsam eine Person hervortritt, fassbarer wird und immer vertrauter, eine Person, die, am Anfang meiner Recherchen, so ist, wie man den idealen Menschen gern sehen würde, kaum ein moralischer Defekt, immer hilfreich und gut, doch dann, je mehr Fotos, Briefe und Dinge ich mir ansehe, je genauer ich bei Freunden und Verwandten nachfrage, erscheint auch das, was nicht sogleich erzählt wird. In einer Schachtel mit losen Fotos fanden sich auch andere Aufnahmen, eine zeigt die Verstorbene mit ihrem Freund in einem Gartenrestaurant, ihr trauriges Gesicht, halb abgewandt, sein aggressiver, auf sie gerichteter Blick. Eine andere Aufnahme zeigt sie bei der Dreharbeit auf einem Küchenstuhl sitzend, abgespannt, müde, ängstlich blickt sie zu

Ich ging nach vorn zu diesem schmalen hölzernen Rednerpult, legte mein Manuskript darauf, sagte, sehr verehrte Trauernde, nannte die Namen ihrer nächsten Verwandten, ihrer Mutter, ihres Bruders, ihrer Schwester, ihres Freundes, hob erst dann kurz den Kopf und blickte in die dicht besetzte Halle, entdeckte sie, die junge Frau, sie saß in der ersten Reihe neben dem Freund der Verstorbenen, genau in meiner Blickrichtung. Ich stutzte einen Moment, weil sie mich mit einem derart distanziert abschätzenden, ja feindseligen Blick musterte.

Für all die Trauergäste, die nur entfernt mit der Frau bekannt gewesen waren, zählte ich kurz die Lebensstationen auf, Kindheit, Schulzeit, Besuch der Kunsthochschule, dann ihre Arbeit als Ausstatterin in einer Filmproduktion. Ich hatte mich bei dem Produzenten erkundigt, mir erzählen lassen, was er an ihrer Arbeit besonders geschätzt hatte, die Akribie ihrer Entwürfe und die Strenge, mit der sie deren Ausführung überwachte. Ich erwähnte ihre Leidenschaft zu reisen und zu fotografieren. Mehrmals war sie nach Namibia gefahren und hatte dort die Felsmalerei der Buschleute studiert und fotografiert, Fotos, sehr verehrte Trauernde, die ich mit Staunen gesehen habe, diesen Versuch, eine so ferne, räumlich wie zeitlich ferne Kultur ins Bild zu rücken. Dabei war ihr ganz offensichtlich das Licht wichtig, denn sie hatte mit

Ich blickte an dieser Stelle in den Saal und traf, obwohl ich das vermeiden wollte, sofort den Blick der jungen Frau, neugierig, ja gespannt sah sie mich an. Sie machte eine eigentümliche, mir inzwischen so vertraute Kopfbewegung, sie schüttelte sich das Haar ins Gesicht, was ich in diesem Moment aber als Abwehr, als Verneinung deutete.

Ich blickte verwirrt in das Manuskript, setzte übergangslos einen Absatz tiefer an: Der Status des Todes ist paradox. Er verkörpert eben das, die Anwesenheit der Abwesenheit. Das ist das Unbegreifliche, der Schock für uns, noch ist er da, der vertraute, geliebte Mensch, der Tote, und doch nicht mehr. Diese junge Frau, deren Lachen, deren Ernst, deren Nachdenklichkeit ich so angerührt auf den Fotos gesehen habe,

Als sie bemerkte, dass ich wieder zu ihr hin sprach, schüttelte sie abermals das Haar ins Gesicht, aber nur leicht, so als hätte sie vorhin meine Irritation bemerkt. Ich kam nochmals auf die Arbeit der Verstorbenen zu sprechen, die Vorbereitung für einen Film, der in wenigen Wochen gedreht werden sollte, eine Arbeit, die sie fast abgeschlossen hatte, wunderbare Entwürfe, die ich gesehen und bestaunt habe, einige bleiben nun unausgeführt, so wie dieses Leben, das so jung sein Ende gefunden hat. An dieser Stelle wurde das Weinen in der Halle lauter, ein unterdrücktes Schluchzen kam von der ersten Bank, es war der Freund der Verstorbenen.

Lassen Sie mich noch etwas über die Trauer sagen, die nach dem ersten, wortlosen, unmäßigen Schmerz folgt. Der Schmerz ist blind, die Trauer hingegen sehend, sie ist bestimmt durch das Erinnern, das Sich-Vergegenwärtigen des Menschen, dessen Nähe man wünschte, suchte, behalten wollte, dem man sich ganz geöffnet hat, den man liebte. Liebe, wenn sie nicht eigensüchtig, berechnend, geltungssüchtig ist, sieht den anderen in seiner Einmaligkeit, Besonderheit, die man, oft ohne sich genau über das Warum Rechenschaft geben zu können, liebt. Liebe kann man nicht

Das schien mir plötzlich ein falscher Ton zu sein, vielleicht etwas zu getragen gesprochen, ich hätte sagen müssen: Nein, der Tod ist eine Bestialität. Basta. Ich fuhr mit der Hand über das Manuskript, und dabei fiel die letzte Seite herunter, segelte langsam zu Boden und kam unter einen der Kränze zu liegen. Ich sah hoch, blickte in die Halle, blickte in ihr Gesicht. Einen Moment zögerte ich, ob ich die Seite aufheben sollte, aber jetzt auf dem Boden herumzukriechen, das Blatt unter den Kränzen hervorzuziehen, wäre höchst unpassend gewesen. Die Momente angespannter Trauer laufen immer auch Gefahr, in ihr Gegenteil umzukippen, ins Gelächter. Also sprach ich, erstmals seit drei Jahren, frei weiter: Der körperliche Ausdruck dieses Loslassens ist das Weinen. In einer Gesellschaft, die sich, aufgrund der kargen Natur, über Jahrhunderte durch Sparsamkeit behaupten musste, geizt man auch mit Tränen. Ich bewundere die südlichen Länder, in denen man den Tränen freien Lauf lässt. Sie sind das körperliche Zeichen der Klage.

 

Nach der Beerdigung, nachdem die Blumen, viele Blumen, in das Grab geworfen worden waren, so viele, dass sie die Grube ausfüllten, gingen wir nebeneinander zum Restaurant. Ihre Rede hat mir gefallen, sagte sie. Machen Sie das öfter?

Ja, hin und wieder.

Und sonst?

Ich schreibe Kritiken, für den Rundfunk, aber auch nur hin und wieder.

Worüber?

Jazz. Ich sagte nicht, dass ich auch hin und wieder in einer Band spiele, Klavier. Weder vom Spielen noch vom Schreiben könnte ich leben. Immerhin, wenn man mich fragt, womit ich mein Geld verdiene, muss ich nicht sagen: mit Grabreden. Obwohl Beerdigungsredner auch nur ein Beruf ist wie jeder andere. Und die vielen Pfuscher und Alkoholiker, die es unter den Kolleginnen und Kollegen gibt, findet man

Und Sie? Was machen Sie?

Ich verkaufe Licht.

Licht?

Ja.

Im Schwan, dem Restaurant, in dem sich die betuchteren Trauergesellschaften nach den Beerdigungen zum Essen treffen, konnte ich mich neben sie setzen. Wir saßen an einem langen Tisch, mir gegenüber der Professor, von dem niemand weiß, ob er tatsächlich Professor ist. Er kommt zu allen gut besuchten Beerdigungen. Er nickte mir wie einem entfernten Bekannten kurz zu.

Unter größere Trauergesellschaften, die sich zu einem kleinen Imbiss oder aber zu einem Essen mit mehreren Gängen versammeln, mischen sich oft die Traueresser. Einige kenne ich. Thomson informiert zuvor die Hinterbliebenen, die das Essen zahlen, dass man es steuerlich absetzen kann. Das zwingt regelrecht zu Großzügigkeit. Und gerade bei größeren Begräbnissen, wie diesem, fällt der eine oder andere Mitesser nicht auf. Thomson greift nur dann ein, wenn sich mehr als drei unter die Trauergesellschaft mischen wollen, oder aber, wenn einer nach Pisse stinkt oder betrunken ist. Den Professor lässt Thomson jedes Mal zu. Er kommt, im Gegensatz zu den anderen vor dem Restaurant lungernden Mitessern, stets schon zur Trauerfeier, sitzt in der Halle ziemlich weit vorn, konzentriert, ernst folgt er der Rede. Ein alter

Er weiß, dass ich weiß, wer er ist, aber er hat nie, nie auch nur das geringste um Einvernehmlichkeit buhlende Zeichen gegeben.

Einmal am Anfang habe ich die Taktlosigkeit begangen und ihn gefragt, in welcher Beziehung er zu dem Verstorbenen stehe, und er antwortete mit großer Ruhe, er sei nur ein entfernter Verwandter. Er stellt sich auch so vor, wenn er von jemandem aus der Trauergemeinde gefragt wird: Großonkel, sagt er dann oder, wenn der Tote älter ist: Cousin, aber weit entfernt und um einige Ecken. Er spricht das nasal und gut betont aus, kondoliert den Hinterbliebenen mit einer feinen Delikatesse. Die Trauernden sagen dann: Ah, und sehen ihn fragend an, er sagt, Onkel Christian, ich bin der Onkel Christian, genaugenommen Großonkel. Und man sieht ihren Gesichtern an, wie sie nachdenken, den Großonkel Christian in der Erinnerung suchen, von der Tante Mimi der Bruder, raten sie. Nein, der Bruder von ihrem Mann. Er sieht so durchgeistigt aus, blitzt mit der ovalen Brille, lächelt, sagt, im Deutschen sind die

Tante Alma ist ja nun auch schon gestorben, sagen sie verlegen.

Ja, leider, sagt der Großonkel Christian.

Er setzt sich an den eingedeckten Tisch, nicht in die Nähe derer, mit denen er über seinen Verwandtschaftsgrad gesprochen hat. Er setzt sich und isst schnell, aber nicht zu schnell, den Kopf hält er leicht über den Teller gebeugt, so ist der Weg der Gabel nicht weit zum Mund, er kann schnell essen, und doch sieht es nie gierig aus. Die Serviette hat er sich in den Hemdkragen gesteckt, etwas altertümlich vornehm wirkt das. Fisch oder Hirschgulasch? Hirschgulasch bitte, und die Kronsbeeren bitte getrennt auf einen Teller. Er prüft die Weinkarte. Den Bordeaux bitte, den Château le Thil Comte Clary. Welches Jahr, fragt er, und er ist der Einzige der Trauergesellschaft, der nach dem Jahrgang fragt. 1997. Hm. Gut, wenn Sie den bitte bringen.

Er saß neben einer jungen Frau, die als Regieassistentin beim Film arbeitete. Er hörte zu, nickte, erzählte eine Anekdote von Lil Dagover, die er einmal in Berlin, kurz nach dem Krieg, getroffen hatte. Der Wein kam, der Ober zeigte ihm das Etikett, ja, Château le Thil Comte Clary las er in guter französischer Betonung. Die Unterhaltung stockte, als er den Wein

Und schon prosteten mir und ihm auch die Angehörigen der Verstorbenen zu.

Beeindruckend, weil Sie so gar nicht versucht haben, etwas zu glätten, sagte er. Besonders gefallen hat mir, wie Sie diese Entsprechung von archaischer Felsenzeichnung und Filmhintergrund herausgearbeitet haben.

Ich weiß, wenn er mich lobt, ist er nie anbiedernd, nie taktisch, er ist ein Kenner, und er kann vergleichen. Er hört die evangelischen und die katholischen Pastoren, die Freiredner, die Moslems, hinduistische und buddhistische Redner. Wenn er sagt, heute waren Sie gut, dann weiß ich, ich war wirklich gut. Er kann die Besonderheiten hervorheben, erkennt die in der Rede verborgene Arbeit. Er ist ein Beerdigungsästhet, nicht zu vergleichen mit diesen anderen verlumpten Leichenschmausmitessern.

Ja, sagte sie, ich hatte richtig Angst davor, diese Heuchelei, diese Allgemeinplätze. Einfach grässlich. Ihre Rede, die hat mich überrascht. Was Sie über die Trauer und die Tränen gesagt haben, hat mir sehr gefallen. Sie erzählte von der verstorbenen Freundin, die sie seit ihrer Schulzeit kannte. Das Unerwartete, das Plötzliche, damit kommt man nicht zurecht. Ich habe gestern Rolf angerufen, ihren Freund, wollte ihn fragen, ob ich ihn abholen soll, heute zur Beerdigung. Das Telefon klingelt und klingelt, und plötzlich meldet sie sich, ihre Stimme, es war wie ein Schock: Wir sind zurzeit nicht da, melden uns aber gern, wenn Sie Ihre Telefonnummer hinterlassen, danke und tschüs. Dieses Tschüs, verstehen Sie. Nein. Ich war völlig geschafft.

Die junge Frau hatte nur wenig von ihrer Seezunge gegessen, legte Messer und Gabel zusammen. Am Tisch kamen die ersten Lacher auf. Das ist bei jedem Essen so, die gedrückte Stimmung am Anfang weicht auf, jedenfalls dann, wenn Wein getrunken wird wie an diesem Tag, diesem warmen Frühlingstag, der wie ein Vorgriff war auf den kommenden Sommer mit seinen ungewöhnlich heißen Tagen.

Ist das nicht sehr, wie soll ich sagen, niederziehend, wenn man über Verstorbene reden muss?

Es hängt davon ab, was das für ein Leben gewesen war und in welchem Licht man es zeigt.

Wir kamen wieder auf ihre Tätigkeit zu sprechen. Sie erklärte, wie sehr sich das Verständnis von Licht

Ich konnte sie ein wenig damit blenden – wenigstens dafür ist das Studium gut –, dass ich Hegel zitierte: Das Licht sei das existierende allgemeine Selbst der Materie, das unendlich den Raum erst erzeugt.

Ein schöner Satz, sagte sie und kramte in ihrem kleinen schwarz lackierten Korbtäschchen, zog heraus: einen blau irisierenden Waterman, eine Visitenkarte, die sie mir gab, einen winzigen Notizblock, gebunden in Schlangenleder, sagte, während sie sich den Satz notierte, wenn Sie noch andere lichtvolle Sätze haben.

Ja. Thomas von Aquin, die Differenz zwischen dem lumen naturale und dem lumen supra naturale zum Beispiel. Wenn Sie mir Zeit geben, kann ich sicher noch den einen oder anderen Satz aus dem Gedächtnis fördern.

Von so viel Bildung muss man profitieren, lachte sie und schlug vor – weil ihr vermutlich weitere Fragen inmitten der essenden Trauergesellschaft unpassend erschienen –, wir sollten uns einmal nachmittags treffen: Rufen Sie mich an, nächste Woche, vielleicht Dienstag, wenn Sie Zeit haben, nachmittags, betonte sie.

Es ist erstaunlich, wie sie das verbindet, das, wozu

Und ich sagte, interessant, das ist ja fast eine Lebensphilosophie. Dieses Wissen, wo Licht ist, ist Wachstum, Erfolg. Wo Licht ist, ist das Werden, auch ein Satz, den sie sich notiert hat, das Werden, die Produktivität selbst, sagt Schelling.

Zu Hause sah ich dann staunend auf der Visitenkarte ihren Namen leuchten, Iris, natürlich ein Künstlername – ihr Taufname ist Helga –, Straße, Telefonnummer, Faxnummer, Handy, E-Mail – das leuchtete im Dunklen auf meinem Schreibtisch.

So begann es.

 

Und jetzt, vorhin: Schluss. Ich habe Ben alles gesagt. Sie sah mich an, Augen wie nach einer Narkose, die Pupillen weit geöffnet. Sag was!

Ja.

Es musste sein.

Im Lift stehend, der mich langsam in die zweite Etage hob, hatte ich noch überlegt, was ich ihr sagen sollte, um es ihr leichter zu machen: Ich kann dich verstehen. Ich habe es geahnt. Es war wunderbar. Oder: Es wird uns bleiben, so etwas. Eine schöne

Und dann kam ich in ihre Wohnung, sie stand an der Tür, die Augen gerötet und sagte: Schluss. Ich habe Ben alles gesagt. Und es brach aus ihr heraus: Heute, die ganze Nacht hab ich mit ihm geredet, ich hab es ihm gesagt, keine Geheimnisse mehr, ich konnte einfach nicht mehr, ja. Und sie schwieg und schüttelte die blonde Mähne. Und dann – ich hielt den Atem an – begann sie zu weinen. Erst war ein Glänzen in den Augen zu sehen, dann stürzten die Tränen heraus.

Ben ist zusammengebrochen, er ist doch sonst immer so ruhig, so gefasst, es war, nein, sie stockte, als müsse sie das alles bezeichnende Wort finden: fürchterlich. Aber ich konnte nicht, ich wollte nicht mehr. Ich musste einfach. Ben hat geweint, er weinte, schluchzte, heute Morgen ist er gegangen, erst mal ins Hotel, ins Kempinski.

Ausgerechnet ins Kempinski, dachte ich, wo wir, Iris und ich, uns in der letzten Zeit getroffen haben.

Und ich muss dir noch etwas sagen.

Wieder einmal habe ich feststellen können, dass bestimmte Redewendungen einer genauen Beobachtung entspringen: die zusammengeschnürte Kehle, das Luftwegbleiben, oder: Mir bleibt das Herz stehen. Ja, mir blieb das Herz stehen. Ich atmete unordentlich, und so wie ich fragte, klang es undeutlich.

Zum Glück fragte sie nicht, ob ich mich freue. Eine ehrliche Antwort wäre gewesen: Nein und ja.

Bleib bitte heute hier.

Unmöglich, ganz unmöglich, ich muss die Rede

Schreib sie doch hier.

Nein, es geht nicht, ich, nein, ich kann nur an meinem Schreibtisch schreiben, ich brauch diesen Schreibtisch. Was gelogen war. Ich brauche mein Zimmer, was auch gelogen war. Nein, in ihrer Nähe, jetzt, würde ich keinen klaren Gedanken fassen können, ich würde morgen ohne Rede dastehen.

Hör mal, da ist noch etwas.

Es geht nicht. Bitte. Ich muss heute fertig werden. Spätestens heute Nacht. Der liegt in seinem Eisfach und wartet. Ich muss noch seinen Sohn treffen, muss den Ablauf besprechen. Ich komm nachher vorbei.

In meinem Kopf war ein wirres Durcheinander, ich musste unbedingt, sofort, an die frische Luft, musste ein Stück gehen, um einen klaren Gedanken zu fassen, den Anfang finden, den Anfang für meine Rede, ich musste sie heute schreiben.

Da ist noch etwas.

Ich nahm die Aktentasche, vorsichtig, wegen des Sprengstoffs, den ich eingepackt hatte, denn heute kam Vera, die Polin, die bei mir putzt, nachdem sie jahrelang bei einem Architekten in Hamburg und dann hier, in Berlin, bei einem Professor geputzt hatte, bis sie wegen Zollvergehens verurteilt worden war. Diese Frau ist von einer triebhaften Neugier und einem enormen Tatendrang. Sie hat sich vorgenommen, Millionärin zu werden. Ich bin überzeugt, sie wird es schaffen. Irgendwann.

Eine Frau, die mir Horch empfohlen hatte. Horch

Du bist ein Zyniker, hatte Iris gesagt, als sie bei ihrem einzigen Besuch in dem sonst leeren Raum herumging und die Aufschriften der beiden auf dem Tisch liegenden Schnellhefter las, in denen ich die Reden verwahre.

Seit wann ist Systematik zynisch?

Nein, die nicht, aber das mit dem Trocken und dem Feucht.

Ist genau der Unterschied. Hätte ich gewusst, dass du ausgerechnet heute mitkommst, hätte ich Comédie humaine und Tragödie draufgeschrieben. Wobei beides zusammengehört und Humor ursprünglich feucht bedeutet, der Körpersaft, der zur Gesundung führt, woraus du ersiehst, dass Vereinfachung nicht gleichbedeutend mit Einfachheit ist, sondern nur das Destillat eines Begriffs, und da ich das lachend sagte,

Ich nahm ihr die beiden Schnellhefter mit meinen Musterreden aus der Hand. Hefter, die ich, müsste ich flüchten, mitnehmen würde, natürlich, sie sind mein Kapital.

In dem Moment kam Vera, die polnische Putzfrau, aus dem Bad, wieder einmal waren ihr bei der Arbeit die drei oberen Knöpfe der Bluse aufgesprungen. Kaum, dass sie sich einmal bückt, drängt alles ins Freie. Ich gab ihr 120 Mark, und sie sagte: Danke, zog sich den Regenmantel an und ging.

Du könntest es mir ruhig sagen. Iris sah mich forschend an.

Da ist nichts. Wirklich. Denk an Henry Miller, was der sagt: Unmöglich, mit einer Frau intim zu werden, die einen Wohnungsschlüssel hat. Nein, außerdem will die auch gar nicht – glaub ich. Sie kommt einmal die Woche, arbeitet schnell und sauber, ganz prima.

Klar, sagte Iris, sie putzt und legt mal kurz den Metallschwamm zur Seite und bläst dir einen.

Ich merke es ihr schon vorher an, welche Anstrengung es sie kostet, so etwas auszusprechen, sie nimmt innerlich einen Anlauf wie eine Hochspringerin beim Fosbury-Flop. Sie bekommt einen starren Blick, die Oberlippe versteift sich, und dann sagt sie es, endlich, aber viel zu laut und seltsam betont, das Ä so überdeutlich und spitz ausgesprochen, so peinlich

Sie will nicht, dass wir zu ihr gehen, nach dem Vorfall damals, was ich verstehe – und zu mir will sie auch nicht, weil sie sagt, es störe sie, dass ich in demselben Zimmer mit anderen Frauen zusammen war, womöglich Ähnliches gesagt habe, Ähnliches getan habe, und tatsächlich ist die Variationsbreite, sprachlich und körperlich gesehen, doch sehr begrenzt, einschließlich des Kopfstandes des einen Partners, nur acht Grundpositionen und bewegungstechnisch sogar nur zwei Varianten. Man darf nicht darüber nachdenken und schon gar nicht beim Akt selbst. Also blieben die Hotelbesuche, und zuerst, drei Sommermonate lang, die Zoobesuche.

Als Kind war ich mit meinem Onkel in Hagenbecks Tierpark, wo er mir Löwen und Elefanten zeigen wollte, auch einen zahmen, auf einem Balken sitzenden Affen, der ein Halsband mit Kette trug. Man konnte sich mit dem Tier fotografieren lassen. Aber ich wollte nicht, ich hatte Angst. Das Tier zeigte die Zähne, ein wenig nur und ganz kurz. Unsinn, sagte der Onkel und hielt mich für das Muttersöhnchen, das ich war. Der ist zahm, sagte der Onkel, der strenge, tapfere, der schon als Siebzehnjähriger Granaten für die Flak geschleppt hatte, und er hielt dem Affen den Finger hin, siehst du. Der Affe biss sofort zu, und der Onkel, der große, brüllte auf, hob den blutenden Finger hoch. Eine große Aufregung entstand, jemand von der Zooverwaltung kam und sogar ein Sanitäter.

Kein Wunder, dass ich mich jedes Mal gern mit Iris im Zoo getroffen habe.