Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung Boris Schmalenberger
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-499-63135-1 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-56161-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-56161-8
This is an exercise in fictional science … Or just, science, if you agree that fiction is part of it, always was, and always will be as long as our brains are only minuscule fragments of the universe, much too small to hold all the facts of the world but not too idle to speculate about them.
Valentino Braitenberg, 1984, Vehicles
Dies ist ein Versuch, Wissenschaft als Geschichte zu erzählen … Oder einfach nur als Wissenschaft, wenn Sie zustimmen, dass das Erzählen einer Geschichte schon immer Teil von ihr war und sein wird, solange unsere Gehirne auch nur winzig kleine Fragmente des Universums bleiben, viel zu klein, um all die Fakten der Welt zu behalten, aber nie zu faul, um neue Vermutungen über sie anzustellen.
Valentino Braitenberg, 1984, Vehikel
Für Eugene
Wüssten Sie gerne, was andere Menschen über Sie denken? Dann warten Sie bitte einen kleinen Moment. Wir bereiten nur noch kurz den Hirnscanner vor, stecken dann schnell ein paar Testpersonen hinein und schauen in ihren Kopf – und schon kennen wir ihre Gedanken! Fangen wir doch am besten gleich mit Ihrem Partner an, der Person, die Ihnen am nächsten steht. Bestimmt sind Sie neugierig, was im Kopf dieser geliebten Person vorgeht. Wir haben ihr mal folgende Fragen gestellt:
Vertrauen Sie Ihrem Partner? (Würden Sie selbst jemals fremdgehen?)
Glauben Sie an Gott? (Würden Sie Andersgläubige und Nichtgläubige gerne für ihren Unglauben bestrafen?)
Mögen Sie Ausländer? (Oder würden Sie lieber in einer Gegend ohne Ausländer leben?)
Wie? Sie können die Antworten Ihres Partners auf diese Fragen vorhersagen? Sehr schön, dann können wir ja gleich sehen, ob Sie mit Ihrer Vermutung richtig liegen. Ah, der Hirnscanner spuckt schon die ersten Ergebnisse aus, warten Sie noch einen kleinen Moment, gleich haben wir eine Antwort … und die wäre … oh – hallo?! Wo gehen Sie denn hin? Warten Sie doch! Ach, soooo genau wollen Sie es auf einmal doch nicht wissen, was andere denken? Vor allem nicht über Sie?
Ich kann Sie beruhigen. Mit dem Hirnscanner in den Kopf zu schauen funktioniert in der Realität weder schnell noch einfach. Es dauert, im Gegenteil, meist ziemlich lange, setzt genaue Vorbereitungen voraus und funktioniert nur unter streng kontrollierten Laborbedingungen. Und selbst dann liefert der Blick ins Hirn nur eingeschränkte Antworten. Zugegeben, die Technik hat in letzter Zeit erstaunliche Fortschritte gemacht. Wir können inzwischen tatsächlich einiges über die Abläufe in Ihrem Kopf herausfinden, wenn wir Sie in den Scanner legen und die Aktivitäten Ihres Gehirns beobachten. Beispielsweise können wir ziemlich genau bestimmen, welche Stelle des Films «Vom Winde verweht» Sie gerade ansehen. Oder anhand der Aktivitätsmuster Ihres Gehirns sagen, ob auf dem Foto, das Sie betrachten, ein Mann mit Brille oder mit Vollbart abgebildet ist. Mit einer erstaunlichen Trefferquote können wir sogar erkennen, ob Sie dazu neigen fremdzugehen, an einen Gott glauben oder eine Tendenz zu fremdenfeindlichen Einstellungen haben.
Was wir allerdings nicht können, trotz all der Technik: etwas darüber aussagen, ob Sie tatsächlich fremdgehen, tatsächlich an Gott glauben oder tatsächlich keine Ausländer mögen. Das entscheidet letztlich Ihr Gehirn. Denn Ihr Hirn hat seinen eigenen Kopf.
Obwohl wir während eines Experiments nur einen winzigen Bruchteil der Prozesse beobachten können, die tagtäglich und in jedem Moment in unseren Gehirnen ablaufen, haben mich die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften schon immer fasziniert. Warum nehmen Menschen dieselben Dinge unterschiedlich wahr? Gibt es diese Unterschiede wirklich, oder bilden wir uns das nur ein? Warum sehen für Deutsche alle Asiaten ähnlich aus? Sehen religiöse Menschen die Welt anders als Nichtgläubige? Könnte man Ausländerfeindlichkeit tatsächlich «behandeln», indem man zum Beispiel fremdenfeindlich eingestellten Personen in der virtuellen Realität in den Körper eines Ausländers steckt und so die Wahrnehmung dieser Personen verändert? Warum verbringen wir eigentlich so viel Zeit im Leben damit, uns anzuschauen, was andere Menschen tun? Warum interessiert uns so sehr, was sie über uns denken?
In diesem Buch erzähle ich Ihnen von denjenigen Aspekten unserer Wahrnehmung und unseres Denkens, die mich am meisten fasziniert haben. Wir beginnen dabei wie ein neugeborenes Kind, das anfängt, die Welt zu entdecken. Wir verfolgen, wie es lernt, die vielen verschiedenen Signale seiner Umgebung aufzunehmen und zu interpretieren. Wie es anfängt, sie zu kategorisieren. Wie es sich selbst als eigenständiges Wesen erkennt. Wie es mit anderen Menschen interagiert und sich in die Gesellschaft und in seine Kultur integriert. Danach untersuchen wir, auf welche Weise wir Gruppen und Gemeinschaften bilden und wie diese miteinander umgehen. In diesem Rahmen betrachten wir auch, welche Funktion Kulturen und Glauben für das Miteinander haben und wie sie die Vorgänge in unseren Gehirnen beeinflussen.
Unser Gehirn sucht immer nach Erklärungen. Erklärungen, wie die Welt funktioniert, wie wir selbst funktionieren und wie andere Menschen funktionieren. Doch jedes Gehirn findet eben seine eigenen Antworten. Denn jedes Gehirn macht im Laufe seines Daseins unterschiedliche Erfahrungen und hat unterschiedliche Vorlieben.
Glauben Sie mir: Es wird spannend, wenn wir uns selbst in die Köpfe schauen! Denn wir bekommen einen Eindruck davon, wie und warum wir unsere Umwelt und unsere Mitmenschen so und nichts anders sehen. Und nun wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Entdeckungsreise in das eigene Ich.
Dong-Seon Chang
Tübingen, Juni 2016
Wie unterschiedlich wir die Welt wahrnehmen
Alles, was du siehst oder hörst oder erfährst, egal auf welche Weise, ist besonders für dich. Du erschaffst eine Welt, indem du sie wahrnimmst.
Douglas Adams
Es fängt im ersten Moment an. Noch während wir als Baby damit beschäftigt sind, den Schock zu überwinden, dass man uns aus dem warmen, gemütlichen Bauch unser Mutter in die kalte, zugige Welt verstoßen hat, müssen wir zusehen, wie wir in unserem neuen Zuhause zurechtkommen. «Sehen» ist dabei wörtlich gemeint, denn während es im Hotel Mama beruhigend dunkel war, fluten nun plötzlich von überall grelle Lichter auf uns ein. Formen, Farben und Figuren, mit denen wir in den ersten Tagen und Wochen überhaupt nichts anfangen können. Unser Gehirn ist schlichtweg nicht vorbereitet auf diese Fülle von Eindrücken und will viel lieber auf der Stelle zurück in den beruhigend bekannten Schoß der Mutter.
Doch daraus wird nichts.
Die Geburt ist eine Einbahnstraße, und so muss sich unser Gehirn damit abfinden, dass es fortan unablässig mit Informationen aus unserer Umgebung traktiert wird. Keine leichte Aufgabe. So viel Licht, so viele Töne, so viele Farben, so viele Klänge. Für das Hirn ist das in etwa so, als würden wir ein riesiges Orchester bei einer Generalprobe erleben – ohne Notenblätter, mit ungestimmten Instrumenten und noch bevor der Dirigent da ist. Ein undurchdringlicher Klangteppich, in dem die Töne weder zueinanderpassen noch voneinander unterscheidbar sind. Erst nach und nach lernt das Gehirn, dass die Töne zu unterschiedlichen Instrumenten gehören, dass es Geigen und Flöten gibt, Cellos und Klarinetten, Harfen und Trommeln – die Instrumente werden gestimmt, die Töne zu Melodien. Aber all das muss das Gehirn erst lernen: um irgendwann selbst der Dirigent dieser Töne werden zu können. Und auch der Farben.
Das kann doch nicht so schwer sein, meinen Sie? Rot ist schließlich Rot, Blau Blau und Grün Grün. Alles ist klar umrissen, und wenn wir einmal von Streitfällen wie der Frage absehen, ob Türkis nun eine Nuance von Blau ist oder doch eher in die Kategorie Grün gehört, sind wir uns bei Farben doch wunderbar einig. Schließlich sehen wir alle dieselben Farben.
Sehen wir nicht!
Es mag Ihnen seltsam vorkommen, aber das Rot, das Sie sehen, ist ein anderes Rot, als ich sehe. Moment!, werden da die Physiker unter Ihnen einwenden. Rot ist doch hervorragend definiert! Rot ist schlichtweg derjenige Teil des elektromagnetischen Spektrums, dessen Wellenlängen zwischen 630 nm und 700 nm liegen. Nun, das stimmt. Aber es gibt da noch ein anderes Rot. Das Rot, das wir wahrnehmen, wenn Licht mit der passenden Wellenlänge in unser Auge fällt und das Auge dem Gehirn mitteilt, dass es gerade Rot sieht. Sozusagen die Empfindung von Rot. Und die kann sehr unterschiedlich ausfallen, haben Neurowissenschaftler herausgefunden. Farben sind demnach eine ganz persönliche Sache.
Das sorgte im Jahr 2015 für einen weltumspannenden Streit im Internet. Damals hatte die Britin Caitlin McNeill eines ihrer Kleider fotografiert und das ziemlich mittelmäßige Bild über Tumblr in die sozialen Medien entlassen (Bild 1). Das alleine wäre nichts Besonderes, denn es gibt ja viele Menschen, die die Internetgemeinde ebenso bereitwillig wie mutwillig mit allen Details ihres Daseins beglücken. Zum Phänomen wurde dieses Foto erst durch die Frage, die jene Dame zu ihrem Kleid stellte: Ist es blau-schwarz oder weiß-gold?
Ist das Kleid blau-schwarz oder weiß-gold?
Damit war die Schlacht eröffnet. Über Wochen tobten online erbitterte Diskussionen über die «richtige» Beantwortung dieser Frage. In Deutschland, Frankreich und Spanien wurde gestritten, in China, Korea und Japan zankten sich die User, in Kanada, Argentinien und den USA debattierten die Menschen, selbst im Nahen Osten und in Afrika drehte sich in der digitalen Welt plötzlich alles um das Kleid und seine ach so eindeutige Farbkombination. Blau-schwarz gegen weiß-gold! Unterschiedlicher können doch Farben kaum sein! Die Antwort kann doch nicht so schwer sein.
Offensichtlich doch.
Ob Sie es glauben oder nicht, das Hickhack im Internet lief auf ein Unentschieden zwischen zwei unversöhnlichen Lagern hinaus: Die eine Hälfte der Menschen sah ein blau-schwarzes Kleid, die andere Hälfte ein weiß-goldenes. Es gab sogar einige, für die das Kleid mal die eine Farbkombination hatte und beim nächsten Betrachten die andere.
Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen: In der Realität war das Kleid blau-schwarz. Aber darauf kommt es eigentlich gar nicht an. Der entscheidende Punkt ist, dass wir wirklich und wahrhaftig unterschiedliche Farbeindrücke wahrnehmen, obwohl die Lichtstrahlen mit der physikalisch exakt gleichen Zusammenstellung von Wellenlängen auf unser Auge treffen. Irgendwie hatten also beide Lager recht. Wie kann das sein?
Schuld ist unser Gehirn!
Kurz gesagt, sieht das Gehirn nicht nur das, was es sieht, sondern dazu noch eine Menge, was es zu sehen glaubt, denn es ist ein ausgesprochen cleveres Organ. Das Gehirn weiß aus Erfahrung, dass Weiß nicht immer weiß und Rot nicht immer rot aussieht. Mit einem kleinen Experiment wird das deutlich: Stellen Sie sich vor, Sie würden mit einem Erdbeer-Vanille-Eis in eine Diskothek gehen. (Ja, ich weiß, mit einem Eis in der Hand am Türsteher vorbeizukommen wird ein wenig schwierig. Aber wer hat gesagt, dass wissenschaftliche Forschung immer ungefährlich ist?) Die Tanzfläche wird von der Lichtshow abwechselnd in weißes, rotes und grünes Licht getaucht. Welche Farbe hat Ihr Eis?
Ein unbestechliches physikalisches Messgerät (das sich, zugegeben, ebenfalls nur mit allerlei Tricks in einen Club schmuggeln ließe) würde Ihnen unmissverständlich anzeigen, dass bei weißer Beleuchtung Vanille annähernd weiß und Erdbeere lecker rot aussieht. Sobald das Licht aber zu Rot wechselt, ändert der Apparat schlagartig seine Meinung. Plötzlich ist sowohl die Vanille- als auch die Erdbeerkugel rot. Doch es wird noch bunter: Im grünen Licht ist Vanille grün und Erdbeere – schwarz! Behauptet das Messgerät. Und physikalische Messgeräte können sich ja wohl nicht irren.
Tun sie auch nicht. Denn von dem Licht, das auf die Eiskugeln fällt, wird ein Teil von den Farbstoffen im Eis geschluckt, und nur der Rest macht sich auf den Weg ins Auge oder eben in den Apparat. Weil Weiß alle Farbanteile reflektiert, richtet es sich in bestem Opportunismus nach der vorherrschenden Beleuchtung. Vanille wechselt daher je nach Ablauf der Lasershow seine Farbe. Rotes Eis wirft jedoch nur rotes Licht zurück. Wird es mit weißem oder rotem Licht bestrahlt, ist alles in Ordnung. In grünem Licht gibt es aber keinen Rotanteil, und so reflektiert das Erdbeereis überhaupt kein Licht. Ohne Licht erhalten wir allerdings ein sattes Schwarz. Und genau das «sieht» das Messgerät.
Unser Gehirn ist da ein gutes Stück schlauer.
Aus seinen Erfahrungen hat es gelernt, wie sich unterschiedliche Beleuchtungsverhältnisse auswirken, und es kompensiert die Effekte. Das geschieht automatisch, ohne uns zu fragen. Anstelle der physikalisch korrekten Farbe sieht es die «eigentliche» Farbe. Deshalb wissen wir während des Tanzens immer, welche Eissorten wir gerade verkleckern.
Welches Feld ist heller – A oder B?
Manchmal jedoch scheitert unsere Farbwahrnehmung genau an dieser Superfähigkeit unseres Gehirns. Beispielsweise bei der Einschätzung der Helligkeit von Schachbrettfeldern nach Edward H. Adelson vom Massachusetts Institute of Technology in den USA (Bild 2 auf S. 17). Wir sehen einen Gegenstand, der einen Schatten auf einige Felder des Bretts wirft. Unser Auge sieht, dass die Felder im Schatten ein bisschen dunkler sind. Gleichzeitig weiß das Gehirn aber, dass es weiße und schwarze Felder gibt und Schwarz immer dunkler ist als Weiß. Deshalb muss ein weißes Feld auch im Schatten heller sein als ein beleuchtetes schwarzes Feld. Ein durchaus logischer Schluss – der aber in diesem Fall nicht richtig ist. Tatsächlich sind beide Felder gleich hell.
Wie? Das glauben Sie nicht? Trauen Sie etwa Ihrem eigenen Gehirn mehr als mir? Na, dann werfen Sie mal einen Blick auf Bild 3 (unten)! Und? Was sehen Sie? Wer hatte denn nun recht? (Ich gebe zu, dass ich selbst immer wieder auf diese Täuschung reinfalle, und das, obwohl ich eigentlich Bescheid weiß. So ein Gehirn kann eben ziemlich bockig sein, wenn es sich einmal entschieden hat.)
Kaum zu glauben: Beide Felder sind gleich hell.
Kommen wir zurück zu dem Kleid, das die digitale Welt spaltete. Bei diesem Foto sind die Lichtverhältnisse erstens unklar und zweitens ungünstig. Das ganze Bild hat einen leichten Farbstich und eine Helligkeit, die keine Hinweise darauf gibt, ob es in der prallen Sonne oder im Schatten aufgenommen worden ist. Das Gehirn lässt sich jedoch nicht mit solchen Uneindeutigkeiten abspeisen, sondern trifft im wörtlichen Sinne augenblicklich eine Entscheidung. Geht es von einem Kleid im Schatten aus, zieht es vom physikalisch korrekten Licht, wie es in das Auge fällt, die bläulichen Anteile ab, weil im Schatten bläuliches Licht vorherrscht. Übrig bleibt der Eindruck eines hellen, weiß-goldenen Kleids. Vermutet Ihr Gehirn aber, dass Sie das Kleid im warmen, leicht gelblichen Sonnenlicht sehen, entfernt es den vermeintlichen Gelbanteil, und das Kleid wird dunkler, eben blau-schwarz.
Der Effekt ist übrigens im Farbbereich von Blau zu Gelb deshalb am stärksten ausgeprägt, weil das Sonnenlicht im Laufe des Tages durch diese sogenannte Tageslichtachse wandert. Morgens erscheint es gelblich, mittags eher bläulich, und abends wechselt es wieder zu Gelb. Schuld daran ist die unterschiedliche Streuung der Farbanteile in der Atmosphäre – worüber wieder die Physiker am besten Bescheid wissen.
Für uns begeisterte Hirnforscher ist hingegen die Erkenntnis wichtig, dass unser Gehirn nicht einfach ein physikalischer Messapparat ist, sondern alle Bilder, die ihm das Auge schickt, mit den bisherigen Erfahrungen vermischt und deutet. Das passiert nicht nur beim Erkennen von Farben, sondern auch bei der Interpretation von Bewegung, wie das Bild 4 zeigt. Was wir sehen, liegt also weniger im Auge des Betrachters als vielmehr in dessen Gehirn. Und das ist – wie wir in diesem Buch immer wieder feststellen werden – ein Unikat.
Geht die Katze die Treppe hoch oder herunter?
Es geht aber noch krasser. Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn wir unseren Farbsinn ein wenig verschieben würden? Beispielsweise so, dass wir kein Rot mehr sehen können, dafür aber ultraviolettes Licht, auch Schwarzlicht oder UV-Licht genannt? Sie ahnen es vielleicht schon: Ich will Sie – ganz ohne Gentechnik – zu einer Biene machen. Denn für Bienen ist unser Rot einfach Schwarz. Mit ihren Augen betrachtet, sind Sonnenuntergänge kein bisschen romantisch, hat die Deutschlandfahne oben einen doppelt so dicken dunklen Balken und muss man an Ampeln bei Schwarz stehenbleiben. Klingt ein bisschen trostlos, oder?
Zum Ausgleich gibt es aber auf der anderen Seite des Farbspektrums eine Menge Neues zu entdecken. Mit einem UV-Blick könnten wir ohne Speziallampe die Sterne und Glitzersplitter auf den Euro-Geldscheinen sehen, weiße Wäsche wäre noch strahlender, und scheinbar einfarbige Blumen hätten auf einmal ein interessantes Muster, wie Bild 5 es zeigt.
Welche Blüte sieht das menschliche Auge, welches das einer Biene?
Was für Geldfälscher eine Katastrophe wäre, ist für die Biene natürlich wunderbar, denn mit ihrem Sinn für UV-Licht sieht sie die sogenannten Saftmale. Das sind für uns Menschen unsichtbare Flecken auf den Blütenblättern, mit denen die Pflanze signalisiert, dass es hier leckeren Nektar gibt, es sind sozusagen die Werbetafeln der Blume für ihre Bestäuber.
Bienen sind im Übrigen nicht die einzigen Tiere, die ultraviolettes Licht sehen können. Auch Ihr Wellensittich steht total darauf. Zumindest die Mädchen. Wenn Wellensittichweibchen sich einen Partner aussuchen, hören sie nämlich nicht auf das ganze Gequassel, mit dem sie ihr Käfignachbar zutextet. Vielmehr achten sie darauf, wie schön die Kehlflecken des eifrigen Werbers das ultraviolette Licht reflektieren. Das hat die Biologin Kathryn Arnold von der Universität York mit einem ziemlich fiesen Trick herausgefunden. Sie hat einigen der männlichen Wellensittiche gründlich die Show vermiest, indem sie deren Gefieder mit UV-dichter Sonnencreme eingerieben hat. Mit diesen Kandidaten wollte anschließend keines der Weibchen mehr etwas zu tun haben. Da konnten sich die armen Möchtegernmachos noch so sehr ins Zeug legen beim Balzen.
Der Zweck unseres kleinen Ausflugs in die Tierwelt liegt natürlich nicht darin, über Sinn und Unsinn von Sonnenschutzcreme zu philosophieren (zum Glück sind Menschen ja blind für UV-Licht, sodass wir Männer am Strand nicht ständig mit einem Sonnenbrand herumlaufen müssen, um unsere Chancen beim anderen Geschlecht zu wahren). Der Schlenker zu den Bienen und Sittichen zeigt vielmehr, dass unsere Sinne uns lediglich einen Teil der Welt zeigen. Sogar nur einen winzigen Bruchteil dessen, was es über unsere Umgebung eigentlich zu erfahren gäbe. Denn neben dem UV-Licht wären da noch Röntgen-, Gamma- und Infrarotstrahlung sowie Mikro- und Radiowellen.
Und unsere anderen Sinne? Auch sie zeigen uns nur einen Ausschnitt unserer Umwelt: Wir bekommen nichts mit von Ultraschall (denken Sie nur an die Ortungssysteme der Fledermäuse) oder Infraschall (den nutzen Elefanten gerne für ihre Ferngespräche), und unzählige Düfte ziehen ungerochen an unserer Nase vorbei (Ihr Hund könnte Ihnen dazu einen stundenlangen Vortrag halten).
Selbst das bisschen an Information, was wir durch unsere Sinne erhalten, ist noch so viel, dass unser Gehirn völlig überlastet wäre, wenn es das alles verarbeiten müsste. Der Fleck auf dem Tisch, das Muster der Tapete, das Brummen der Autos vor dem Haus, das Tschilpen der Spatzen … Ihre Sinne nehmen diese Wahrnehmungen auf und leiten sie an Ihr Gehirn weiter, während Sie diese Zeilen lesen. Doch Ihr Gehirn ignoriert sie, denn es konzentriert sich völlig auf den Text. (Das tut es doch, oder?) Es schaltet gewissermaßen einen Filter ein, der nur Informationen hindurchlässt, die es in diesem Moment als wichtig und relevant einstuft. Das kann so weit gehen, dass Sie einen Gorilla übersehen, der in einer Turnhalle durch Ihr Blickfeld läuft. Ernsthaft!
An der Universität von Illinois haben Christopher Chabris und Daniel Simons ein entsprechendes Experiment zur sogenannten Unaufmerksamkeitsblindheit durchgeführt. Dazu filmten sie Basketballspieler, die sich einen Ball zuwarfen. Ein Team trug weiße, das andere schwarze T-Shirts. Die Aufgabe der Testpersonen bestand darin zu zählen, wie oft sich das weiße Team den Ball zupasste. Anschließend wurden die Probanden nach der Anzahl der Ballwechsel befragt und ob ihnen während des Films etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Überraschenderweise hatte rund die Hälfte der Teilnehmer nicht bemerkt, dass ungefähr nach der Hälfte des Filmchens ein Mensch in einem Gorillakostüm auf der Bildfläche erschienen war. Er trottete gemächlich in die Mitte des Feldes, trommelte sich mehrfach auf die Brust und setzte danach seinen Weg durch die Spieler fort.
Wenn Sie das Gorilla-in-unserer-Mitte-Experiment einmal mit Ihren Freunden und Verwandten selbst durchführen möchten, finden Sie das Video im Internet unter www.theinvisiblegorilla.com/videos.html. (Sie selbst werden ihn nun nicht mehr übersehen können und sich fragen, wie das überhaupt jemand tun kann. Sie werden sich wundern!)
Videos in Büchern zu zeigen ist nicht so ganz einfach, aber ich kann Ihnen einen anderen Test anbieten. Schauen Sie sich bitte Bild 6 an, und sagen Sie mir, was Sie darauf sehen.
Auf den ersten Blick scheint es sich um ein abstraktes Muster von weißen und schwarzen Flächen zu handeln. Auf den zweiten Blick auch. Selbst mit großer Mühe kann das Gehirn der meisten von uns nicht viel mit dem Muster anfangen. Es fehlt ihm einfach ein Anhaltspunkt, welche Teile wichtig sind und welche nicht. Blättern Sie jetzt bitte um, und betrachten Sie Bild 7. Na, erkennen Sie es jetzt?
Die farbigen Umrisse sind genau die Hilfe, die das Gehirn gebraucht hat. Plötzlich schält sich aus dem abstrakten Muster der Kopf einer Kuh heraus, und wir wundern uns, dass wir nicht gleich drauf gekommen sind. Vor allem, wenn wir uns noch einmal Bild 6 vornehmen und jetzt auf Anhieb die Kuh entdecken. Warum war das gerade so fürchterlich schwer?
Was sehen Sie auf diesem Bild?
Weil Ihr Gehirn noch nicht gewusst hat, welche Flächen für das Erkennen relevant sind. Nachdem es das aber gelernt hat, ist es nahezu unmöglich, die Kuh nicht mehr zu sehen. Oder den Gorilla beim Spiel mit dem Basketball. Vom Moment der Erkenntnis an versorgt uns das Gehirn nicht mehr mit dem Wust von Informationen, die das Gesamtbild ausmachen, sondern es liefert uns nur noch die Auswahl, die es als wichtig ansieht.
Selbst wenn die Interpretation verkehrt ist.
Fehlleistungen des Hörsinns können besonders vergnüglich sein, wenn wir zum Beispiel versuchen, Liedtexte zu verstehen. Wenn Sänger sich so richtig ins Zeug legen, um mit ihrer Musik Emotionen zu vermitteln, entwickeln sie sich manchmal zu logopädischen Albträumen. Sie säuseln und nuscheln, dass kein Wort mehr deutlich an unser Ohr gelangt. Konfrontiert mit dem Schallwellensalat aus Worten und Musik, gibt unser Gehirn alles, um in dem Durcheinander dennoch einen Sinn zu entdecken. Es will mit aller Macht verstehen. Und stößt dabei ab und zu auf Wörter und Sätze, die ähnlich klingen, obwohl sie etwas ganz anderes bedeuten. So wird beispielsweise das kraftvolle «I’ve got the Power» von Snap zu einem ebenso nachdrücklichen «Agathe Bauer». Und Bryan Adams singt im Hit «Summer of ’69» nicht: «I got my first real six-string», sondern gesteht: «I got my first real sex-dream», während Paul McCartneys «Hope of Deliverance» an Dynamik gewinnt in der Version «Hau auf die Leberwurst!».
Forscher bezeichnen solche Hörunfälle, bei denen wir Wörter einer fremden Sprache umdeuten, mit dem japanischen Ausdruck Soramimi. Verhaspelt sich unser Gehirn in der eigenen Sprache, nennen sie das Mondegreen. Ein Klassiker ist sicherlich die Zeile «Der Wald steht schwarz und schweiget,/und aus den Wiesen steiget/der weiße Nebel wunderbar» aus dem Abendlied von Matthias Claudius, dessen letzter Vers zu «Der weiße Neger Wumbaba» wurde und den Autor Axel Hacke dazu angeregt hat, unter diesem Titel ein Buch voller Verhörer zu veröffentlichen. (Ich weiß, das Wort «Neger» ist diskriminierend und sollte nicht verwendet werden. Aber sagen Sie das mal einem Gehirn, das verzweifelt nach einem passenden Wort zu einem unverständlichen Klangbild sucht.)
Immerhin hören wir beim Verhören noch alles. Das ist keineswegs selbstverständlich. Wenn unser Gehirn nämlich trainiert, die wichtigen Informationen zu erkennen, übt es sich zugleich darin, alles Unwichtige zu ignorieren. Das geht so weit, dass wir objektiv vorhandene Laute überhaupt nicht wahrnehmen, so, als würde es sie gar nicht geben. Auf einer abgelegenen Pazifikinsel lebten Urvölker, deren Sprache für uns unhörbare Vokale enthielt. Ich meine damit nicht etwa «unaussprechliche» Vokale oder Konsonantenkombinationen, wie sie in vielen Sprachen vorkommen. Nein, die Laute dieser Völker lösten in den Gehirnen der Anthropologen und Kulturwissenschaftler, die dort ihre Forschungen durchführten, absolut keine Reaktion aus. Dabei dürften ihre Ohren durchaus etwas registriert haben, denn die Schallmessgeräte der Wissenschaftler schlugen eindeutig an. Aber die Gehirne der Forscher waren einfach nicht darauf konditioniert, diese Informationen ins Bewusstsein dringen zu lassen.
Es ist eine Kuh!
Denn die Ohren empfangen beim Hören nicht nur Signale von außen in Form von Schallwellen, sondern gleichzeitig Anweisungen vom Gehirn, über welche Anteile das Hörzentrum überhaupt informiert werden soll. Diese Filterbefehle gehen an die äußeren Haarzellen im Innenohr, von denen wir rund viermal mehr besitzen als innere Haarzellen, die auf den Schall reagieren. Mit den äußeren Haarzellen stellt das Ohr seinen Empfindlichkeitsbereich ein. Dadurch selektieren wir Laute und Geräusche, die sich in der Vergangenheit als wichtig erwiesen haben. Für alles andere stellt das Gehirn die Ohren auf taub. Die westlich denkenden Gehirne der Forscher wollten also partout nichts von den seltsamen Vokalen der Inselbewohner wissen – sie kannten sie nicht aus eigener Erfahrung, also waren sie fest von deren Unwichtigkeit überzeugt (kenn ich nicht – gibt es nicht) und filterte sie bereits in den Ohren aus. (Hatte ich schon erwähnt, dass Gehirne unglaublich rechthaberisch und dickköpfig sein können?)
Etwas Ähnliches lässt sich an Babys beobachten, die mit Amerikanisch und Japanisch aufgewachsen sind. In den ersten Monaten hat sich ihr Gehirn noch so offen und flexibel gezeigt, dass sie jede der beiden Sprachen aufnehmen und lernen konnten. Hörten die Babys später aber nur die Laute der einen Sprache, stellten ihre Gehirne ihre Filter so ein, dass sie für die Feinheiten der anderen Sprache regelrecht taub wurden. Deshalb konnten Kinder, die ausschließlich Japanisch hörten, nach einiger Zeit den Unterschied zwischen «L» und «R» kaum hören. Für Japaner klingen das L und das deutsche R fast gleich. Das japanische R hat dagegen für uns Deutsche einige Besonderheiten, mit denen unser Gehirn nichts anfangen kann. Deshalb raten Japanischlehrer ihren deutschen Schülern gerne, einfach alle Rs als Ls auszusprechen. Damit fällt man in Japan nicht weiter auf, während das deutsche R zusammen mit der langen Nase den Ausländer verrät. (Falls Sie geglaubt haben, Japaner hätten überhaupt kein R, dann haben Sie eigentlich Chinesen gemeint. Aber Asiaten sehen ja sowieso alle gleich aus, oder? Darum wird es aber erst im nächsten Kapitel gehen.)
Wir stellen also fest, dass Wahrnehmen ein aktiver Prozess ist, bei dem die einprasselnden Informationen gleich doppelt gefiltert werden: durch unsere Sinne und vom Gehirn, wenn es anhand seines erworbenen Vorwissens die vermeintlich relevanten Signale auswählt und interpretiert. Mit dieser Erkenntnis können wir nun eine Frage beantworten, mit der sich die Menschheit schon seit Jahrhunderten herumquält: Was würde ein Blinder sehen, wenn er plötzlich sehen könnte?
Erwachsene sehen ein Liebespaar, Kinder sehen … neun Delfine!
Nicht dasselbe wie wir! Seine Augen würden zwar dieselben Lichtstrahlen mit denselben Wellenlängen und denselben Intensitäten im selben Muster empfangen. Aber sein Gehirn wüsste – zumindest am Anfang – nicht, was es damit anfangen sollte. Es würde untergehen in einem Wust von Farben und Formen. Ja, es würde die Formen nicht einmal als solche erkennen, denn schon um eine Kante als Kante zu sehen, muss das Gehirn lernen, worin sich Kanten von Flächen unterscheiden. In Bezug auf das Sehen müsste das Gehirn eines ehemaligen Blinden ganz von vorne anfangen, auf der gleichen Stufe wie ein Neugeborenes. Erst mit der Erfahrung käme langsam Sinn in das bunte Durcheinander der Welt – und bei manchen käme er nie, weil die entsprechenden Nervenbahnen im Gehirn, trotz seiner bewundernswerten Plastizität, seiner Anpassungsfähigkeit (siehe auch Kapitel 4), nicht mehr vollständig neu gebildet werden können.
Wie die Erfahrung den Sinn und das Sehen beeinflusst, zeigt Bild 8 auf besonders schöne Weise. Wenn Sie erwachsen sind, sehen Sie vermutlich ein Liebespaar in inniger Umarmung. Falls Sie gerade ein Kind greifbar haben, das noch nicht durch unbeaufsichtigtes Surfen auf dubiosen Internetseiten einschlägig geprägt ist, erkennt dieses Kind etwas ganz anderes: Es sieht eine Gruppe von Delfinen! Wir sehen eben, was wir gewohnt sind zu sehen.
Soll ich Ihnen verraten, was uns Neurowissenschaftler noch nicht gelungen ist? Wir wissen zwar, dass unser Gehirn besonders am Anfang eine wissbegierige Lernmaschine ist – aber wir haben bislang nur oberflächlich herausgefunden, wie dieses Lernen funktioniert. Nun, wie wäre es dann, wenn wir uns das Lernen bei Maschinen abgucken, die wir selbst gebaut haben? Computer mit künstlicher Intelligenz haben den Menschen immerhin schon in allen möglichen Wettbewerben für kluge Köpfe geschlagen: Dame, Jeopardy, Schach und vor kurzem sogar in Go, das asiatische Brettspiel, von dem man bis dato überzeugt gewesen war, kein Computer würde jemals die Kunst dieses Spieles beherrschen.
Wie im Bild 9 können Computer Bilder im Stil von Kandinsky, Picasso oder van Gogh produzieren, sie können vorhersagen, wie das Wetter wird, und werden demnächst sogar unsere Autos steuern. Kurz gesagt: Computer können vieles besser als wir! Können wir da nicht einfach nachschauen, wie wir den Elektronenrechnern das Lernen beigebracht haben?
Ein Computer kann sogar Tübingen im Stil von Kandinsky, Picasso oder van Gogh malen!
Die Antwort ist auch hier etwas zweigeteilt. Wir haben zwar schon früh Wege gefunden, wie wir die neuronalen Netze im Gehirn simulieren und Computer-Algorithmen so einsetzen können, dass eine Maschine das Lernen von Menschen «nachahmen» kann, aber genau verstanden, wie das dann wirklich funktioniert, haben wir es auch bei Computern nicht wirklich. Vor allem sind Computer keineswegs die besseren Gehirne! Sie versagen oft bei Aufgaben, deren Lösung für uns Menschen überhaupt kein Problem ist.
Zugegeben, die Erfolge der modernen Informatik und Robotik sind beeindruckend. Aber nur, solange der Computer oder der Roboter seine Fähigkeiten auf sein Spezialgebiet beschränkt. Um Sie im Schach zu schlagen, braucht Ihr Smartphone sich nicht sonderlich anzustrengen. (Das gilt sogar, wenn Sie ein Supergroßmeister mit einer ELO-Wertung jenseits der 2700 sind und damit unendlich mal besser spielen als ich.) Aber wehe, das Spiel findet auf einem richtigen Brett und mit echten Figuren statt! Dann gerät Ihr Handy plötzlich heftig ins Schwitzen. Schon bei für uns einfachen Aufgaben wie «Wo ist eigentlich das Spielfeld?» und «Welche Figur ist nun der Läufer?» (bei besonders kunstvoll geschnitzten Exemplaren) laufen seine Chips heiß. Besser, wir tauschen es aus gegen einen Hochleistungsrechner. An den schließen wir einen Industrieroboter mit sieben Achsen an, damit Robbi seine Züge selbst ausführen kann. Geht doch! Oder nicht? Mir ist nämlich danach, zwischen den einzelnen Spielzügen ein bisschen spazieren zu gehen. Oh, bevor ich es vergesse: Auf dem Weg gibt es ein paar Treppen, ein kleiner Abstecher über den Rasen wäre nicht schlecht, und vielleicht ist das Gras noch ein wenig schlüpfrig vom Regen. Wissen Sie, was dann passiert? Robbi gibt auf! Egal, wie groß und schnell der Computer im Rechnen ist und wie gut er vielleicht eine Schach- oder Mathe-Aufgabe meistert – viele kleine Aufgaben in einer sich ständig ändernden Welt ohne feste Regeln zu lösen ist einfach zu viel für ihn. Und dabei reden wir noch gar nicht von Dingen wie Sprache, Interpretation, Ironie oder Witz. Sobald viele verschiedene Fähigkeiten in einer unvorhersehbaren komplexen Kombination verlangt werden, entpuppen sich Computer und Roboter als das, was sie eigentlich immer noch sind: kleine Kinder, die in der Entwicklung noch einen weiten Weg vor sich haben. Vielleicht besitzen sie bereits Inselbegabungen, aber insgesamt müssen sie sehr viel dazulernen.
Der Mensch ist dagegen eine Art dilettantisches Universalgenie. Wir können fast alles und schaffen sogar, die ungewöhnlichsten Kombinationen von Aufgaben zu meistern. Bitten Sie ein zehnjähriges Mädchen, seilzuspringen und dabei das Einmalsieben aufzusagen, wird es das wahrscheinlich ebenso meistern wie ein fünfjähriger Junge, der schaukeln und nebenher erzählen soll, was er heute im Kindergarten erlebt hat. Gut, vielleicht kommt bei acht mal sieben (das ist die schwierige Stelle) fälschlicherweise 54 heraus, und der Zwischenfall mit dem fiesen Nachbarsjungen hat bereits gestern stattgefunden – aber das ist nichts gegen die Fehlleistungen, die derartiges Multitasking bei Ihrem PC auslösen würde!
Und selbst wenn Computer dazu fähig wären – und eines Tages wird die Technik sicherlich so weit sein –, würde ihnen immer noch etwas Entscheidendes fehlen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Roboter als Kollegen. Er sieht ziemlich menschlich aus, mit zwei Armen und Beinen, einem Gesicht und einer modischen Frisur. Seine künstlichen Augen sehen so gut wie unsere natürlichen, seine Ohren sind den unseren ebenbürtig, und sein Duftanalysator kann sogar erraten, welches Eau de Toilette Sie heute aufgelegt haben – vorgetragen natürlich mit einer perfekten, angenehmen Stimme. Würden Sie sich von ihm täuschen lassen oder ihn als Roboter erkennen? Und hätten Sie gerne ein Date mit ihm? (Oder mit ihr? Es soll ja auch weibliche Roboter geben.)
Diese Fragen sind vermutlich nicht einfach zu beantworten. Die erste, ob wir einen Roboter immer als solchen identifizieren könnten, ist eine Erweiterung des Turing-Tests, den der britische Informatiker Alan Turing 1950 vorgeschlagen hat, um zu überprüfen, ob ein Computer denken kann. Dafür unterhält sich der Tester über Tastatur und Bildschirm mit zwei Gesprächspartnern, die er nicht sehen kann. Durch geschicktes Fragen soll er herausfinden, welcher der Partner menschlich und welcher ein Rechner ist. Solange das Gespräch kurz bleibt, schlagen sich selbst einfache Programme wie ELIZA ziemlich gut, indem sie einzelne Stichwörter aus den Sätzen des Testers herausgreifen und in eigene Sätze einbauen. Ein Dialog sieht damit in etwa so aus:
Tester: Wie geht es dir?
ELIZA: Warum fragst du, wie es mir geht?
Tester: Weil mich das interessiert.
ELIZA: Es ist schön, dass du dich dafür interessierst.
Tester: Und wie geht es dir nun?
ELIZA: Mir geht es gut.
Zugegeben, das ist keine besonders tiefgründige Unterhaltung. (Mich erinnert sie frappierend an einige der Meetings, an denen ich gelegentlich teilnehmen muss.) Dementsprechend scheitert ELIZA in der Regel auch nach wenigen Minuten daran, sinnvolle Antworten zu geben – obwohl manche Menschen angaben, sich nach dem Gespräch mit ELIZA zum ersten Mal verstanden gefühlt zu haben. Erfolgreicher waren dagegen die Computerprogramme, die 2008 an der Universität von Reading angetreten waren und immerhin ein Viertel der Tester reinlegen konnten. Wirklich überzeugend ist aber bis heute noch kein Programm. (Ja, auch ihr nicht, Siri und Cortana!)
Der originale Turing-Test ist im Vergleich zu einem Test, bei dem sich Mensch und Roboter Auge in Sensor gegenüberstehen, sowieso recht simpel. Denn zwischen echten Menschen passiert in solchen Situationen eine ganze Menge. Hat er gerade geblinzelt? War das ein Anflug eines Lächelns? Ich wette, sie sieht gerade her! Oh, ich werde rot!
Wir Menschen beschäftigen uns ständig mit derartigen Gedanken. Den größten Teil unserer Zeit verbringen wir damit zu überlegen, was andere Menschen glauben oder meinen. Was hat er damit bezweckt? Wie fühlt sie sich wohl gerade? Ob das auch in seinem Sinne ist? Rechnet sie vielleicht damit?
Kommunizieren, diskutieren, gemeinsam handeln, kurz: Interaktion auf allen Ebenen macht einen Gutteil des Menschseins aus. Wir denken uns nahezu pausenlos in andere hinein und interpretieren selbst kleine Gesten, häufig unbewusst. Schon ein Blick genügt, um wahre Glückswellen in uns auszulösen oder uns vor Furcht zusammenzucken zu lassen.
Könnte ein Roboter das auch?
Mit der richtigen Programmierung wäre es sicherlich möglich, ein ähnliches Verhalten vorzutäuschen. Aber es wäre eben das: vorgetäuscht. Ich bin davon überzeugt, dass man mit einem Roboter niemals so gut den Samstagnachmittag im Café verbringen könnte wie mit der besten Freundin und der Kneipenabend mit einem Roboter nicht so hemmungslos locker wäre wie mit einem alten Kumpel. Und welche Geschichten hätte Robbi schon zu erzählen? Ein Date mit Robocop wäre daher sicherlich eher eine skurrile Erfahrung. Und für eine richtige Freundschaft oder Beziehung ist unser gutes, altes Gehirn allemal besser geeignet.
Das soziale Miteinander ist eben ein echtes Spezialgebiet unseres Gehirns, auf dem es nicht so leicht zu schlagen ist.
Nun sind wir Menschen nicht die einzigen Wesen mit einem Gehirn. Trotzdem bilden wir uns ein, unseren tierischen Vettern überlegen zu sein, und zwar gerade aufgrund unseres Gehirns. Was ist also so besonders an unseren grauen Zellen? Haben wir vielleicht das größte Gehirn im Tierreich? Mitnichten. Ein Blick auf Abbildung 10 zeigt, dass unser Gehirn in Sachen Volumen im Mittelfeld rangiert. Immerhin nicht auf einem Abstiegsplatz – aber Meister werden wir damit sicherlich nicht. Im Schnitt bringt es ein menschliches Gehirn auf rund 1450 Kubikzentimeter und wiegt 1,5 Kilogramm – das entspricht dem Inhalt von zwei Flaschen Wein oder anderthalb Packungen Milch. Ein ausgewachsener afrikanischer Elefant trägt gut und gerne das Dreifache an Hirnmasse herum, und beim Pottwal ist es sogar sechsmal so viel. Da kommt man sich plötzlich ganz mickrig vor.
Unser Gehirn ist absolut betrachtet allenfalls mittelgroß.
Nun gut, Elefant und Pottwal sind auch insgesamt viel größer als wir. Wer so große Ohren hat oder so viele Stunden in der Tiefsee nach Riesenkalmaren jagt, benötigt dafür bestimmt eine Menge spezialisierter Nervenzellen. Wie sieht es jedoch aus, wenn wir die Größe des Gehirns mit der Körpergröße vergleichen, also die relative Größe des Gehirns ins Rennen schicken? Stehen wir dann ganz oben auf der Liste?
Nein, wieder nicht! Wie Abbildung 11 zeigt, haben dieses Mal die kleinen pelzigen Zeitgenossen wie Maus und Eichhörnchen die Nasen, pardon, das Gehirn vorne. Bei Menschen trägt es bescheidene zwei Prozent zur Gesamtmasse bei. Den Elefanten mit 0,2 Prozent lassen wir damit weit hinter uns, und auch der Schimpanse ist mit 0,9 Prozent deutlich abgeschlagen. Die Spitzmaus verfügt dagegen über etwa vier Prozent relative Gehirnmasse und damit doppelt so viel wie wir. Selbst einige kleinere Primaten wie beispielsweise Kapuzineraffen schlagen uns in dieser Disziplin.
Auf die Körpergröße bezogen, haben Nagetiere das größere Gehirn.
Sind wir mit unserem Gehirn also nichts weiter als universeller Durchschnitt? Immer und überall im Na-ja-geht-so gefangen? Können wir denn gar nichts am besten?
Doch, wir können!
In einer Hinsicht sind der Mensch und sein Gehirn einsame Spitzenklasse. Und weil wir darauf so unheimlich stolz sind, haben wir unsere persönliche Paradedisziplin mit einem besonders schönen und ehrfurchtgebietenden Namen versehen: Unter allen Tieren haben wir den größten Enzephalisationsquotienten! (Der Begriff ist eigentlich Beweis genug dafür, dass diese Aussage richtig sein muss. Oder kennen Sie ein Tier, das dieses Wort hätte erfinden oder auch nur aussprechen können?)