Der kleine Vampir hat Geburtstag
Bilder von Amelie Glienke
Dieses Buch ist für Burghardt Bodenburg, mit dem (fast) jeder Tag ein Geburtstag ist – und für alle, die wie Rüdiger ihre Geburtstagsgeschenke behalten möchten.
Angela Sommer-Bodenburg
Es pochte. Starr vor Schreck blickte Anton zur Tür. Gleich würde sie aufgehen und Graf Dracula würde eintreten, seine weißen Hände mit den zentimeterlangen Raubtierkrallen nach ihm ausgestreckt …
Wieder pochte es. Plötzlich begriff Anton, dass er gar nicht auf Schloss Dracula war, sondern in seinem eigenen Zimmer. Es war nur ein Traum gewesen!
Und es hatte auch nicht an seiner Tür geklopft, sondern an seinem Fenster! Anton stand auf und zog seine Trainingsjacke über. Leise ging er ans Fenster und schob die Vorhänge zur Seite. Draußen saß eine kleine, schwarz gekleidete Gestalt. Er öffnete das Fenster. Ein schwerer, süßlicher Duft wehte ihm entgegen und dann sagte eine Mädchenstimme: «Guten Abend, Anton!»
«Anna!», antwortete er.
Sie lächelte und im Mondlicht sah er ihre Zähne aufblitzen. Beim Anblick der kräftigen Eckzähne überlief ihn ein Frösteln. Schnell zog er den Reißverschluss seiner Jacke bis oben zu.
«Hast du etwa Angst vor mir?» Annas Stimme klang gekränkt.
«Vor dir? Kein bisschen!», behauptete er. «Ich will mich bloß nicht erkälten.»
«Ja, es ist wirklich ziemlich kalt», gab sie ihm Recht. «Wir tragen inzwischen schon zwei Paar Wollstrumpfhosen übereinander!»
«Möchtest du reinkommen?», fragte Anton.
Anna schüttelte den Kopf. «Heute nicht.» Sie spähte an ihm vorbei ins Zimmer. «Du hast schon geschlafen?»
Anton nickte.
«Und? Hast du auch geträumt?», wollte sie wissen.
«Ja, von Graf Dracula. Nicht von dem echten», fügte er hastig hinzu, denn er erinnerte sich an die schlechten Erfahrungen, die Anna in Transsylvanien mit ihrem Urururahnen gemacht hatte.
«Von welchem dann?», fragte sie.
«Von Bela Lugosi. Er spielt Graf Dracula – im Film.»
«Du solltest lieber von mir träumen!» Anna zupfte an ihren langen, windzerzausten Haaren.
«Das würde ich auch», antwortete er. «Leider kann man sich seine Träume nicht aussuchen.»
«Wenn du sie dir aussuchen könntest … Würdest du dann von mir träumen?»
«Sicher», sagte Anton.
Damit sie sich keine übertriebenen Hoffnungen machte, ergänzte er: «Von dir und von Rüdiger. Aber nicht von Olga.»
Olga von Seifenschwein war die große Liebe des kleinen Vampirs Rüdiger von Schlotterstein. Es handelte sich allerdings um eine sehr einseitige Liebe, denn Olga nutzte Rüdiger nur aus. Leider war der kleine Vampir vor lauter Liebe blind und merkte nichts davon.
«Olga …» Anna gab ein wütendes Zischen von sich. «Die hätte lieber in Paris bleiben sollen! Stattdessen kommt sie hier angeflogen und stellt ohne zu fragen ihren Klappsarg in unserer Gruft Schlotterstein auf! Und nun will sie auch noch, dass wir Vampirkinder unseren Geburtstag feiern!»
«Ich weiß.»
«Olga war bei dir?»
«Nein, Rüdiger hat es mir erzählt. Er war gestern Abend hier.»
Der kleine Vampir hatte am nächsten Samstag, dem 15. Oktober, Geburtstag. Und zum ersten Mal seit mehr als einhundertfünfzig Jahren wollte er seinen Geburtstag feiern. Eigentlich feierten Vampire nur ihren Vampirtag – den Tag, an dem sie Vampir geworden waren.
Aber Olga hatte sich überlegt, dass Vampirkinder zweimal feiern sollten: ihren Vampirtag und ihren Geburtstag! Rüdiger fand den Vorschlag toll, wie alles, was von Olga kam.
«Hat Rüdiger dich eingeladen?», wollte Anna wissen.
«Ja», sagte Anton.
«Und?» Sie schaute ihn prüfend an. «Gehst du hin?»
«Nein!», beruhigte er sie.
Anton wollte vor allem deshalb nicht hingehen, weil Rüdiger angekündigt hatte, Tante Dorothee würde mitfeiern. Und sie war der gefährlichste, blutrünstigste Vampir der gesamten Familie von Schlotterstein.
Anna seufzte erleichtert. «Wenigstens du hast dir einen klaren Kopf bewahrt, Anton!»
Nach einer Pause sagte sie mit düsterer Miene: «Rüdigers Geburtstagsfeier wird in einem Riesenkrach enden!»
«Warum denn das?»
«Meine Verwandten sind äußerst streng, was unsere Vampir-Regeln betrifft. Sämtliche Änderungen müssen bei uns so lange diskutiert werden, bis jeder in der Familie einverstanden ist. Natürlich kann man nur ganz selten alle überzeugen. Darum haben wir auch so viele alte Regeln. Und eine unserer Regeln ist, den Tag zu feiern, an dem wir Vampir geworden sind – aber nicht den Tag, an dem wir geboren wurden. Wäre auch komisch, weil wir immer nur unseren letzten Geburtstag feiern könnten.»
«Euren letzten?» Anton machte ein etwas ratloses Gesicht.
«Ja, unseren letzten menschlichen Geburtstag – bevor wir Vampire wurden», erklärte Anna. «Ich zum Beispiel würde bis in alle Ewigkeit meinen neunten Geburtstag feiern.»
«Ach so.» Anton räusperte sich. Dann sagte er: «Rüdiger findet Olgas Idee mit der Geburtstagsfeier ganz toll.»
«Ja, wegen der Geschenke! Olga hat ihm eingeredet, dass er alle Geschenke behalten darf, die er am Geburtstag bekommt.»
«Stimmt das nicht?»
«Nein. Wenn wir die Geschenke wieder abgeben müssen, die wir am Vampirtag bekommen, müsste dasselbe auch für den Geburtstag gelten.»
«Steht das so in euren Regeln?»
«Für Geburtstagsgeschenke gibt es keine Regeln. Deswegen soll Rüdiger ja auch das Versuchskaninchen für Olgas eigenen Geburtstag abgeben. Sie hat am 21. November Geburtstag. Rüdigers Feier soll die Generalprobe für Olgas eigene Feier sein. Pah!» Anna schnaufte ärgerlich. «An dem Tag, an dem Olga einmal nicht an sich denkt, leg ich mich in die Sonne und werd braun!»
Anton erschrak. «Du willst doch nicht –»
«Keine Sorge, das war nur so dahingesagt. Schon allein deinetwegen würde ich das nie tun. Du weißt doch: Ich kann warten!» Anna lachte leise.
Anton zog es vor, nicht zu fragen, worauf sie warten konnte.
«Weshalb bist du heute Abend eigentlich hergekommen?», lenkte er das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema.
«Ich wollte dich bitten, mit Rüdiger zu sprechen. Vielleicht schaffst du es, ihn von der Geburtstagsparty wieder abzubringen. Ich hab mir schon den Mund fusselig geredet.» Sie hustete. Als würde sie sich an etwas erinnern, fuhr sie einmal rasch mit der Zunge über die Lippen.
«Ich muss fliegen», sagte sie mit ganz veränderter Stimme. «Schlaf gut, Anton. Und träum schön – von mir!»
Eilig flatterte sie davon.
Anton schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu.
Gut, er würde mit Rüdiger sprechen, wenn er bei ihm auftauchte. Aber das war nicht sehr wahrscheinlich, denn in der nächsten Zeit würde der kleine Vampir bestimmt nur Augen und Ohren für seine geliebte Olga haben!
Zu Antons Überraschung erhielt er schon am Abend darauf Besuch vom kleinen Vampir.
«Hallo, Rüdiger!», sagte er freudig, nachdem er das Fenster geöffnet hatte.
«Hallo, Anton», antwortete der kleine Vampir und ließ sich vom Fensterbrett ins Zimmer gleiten.
Er sah noch bleicher aus als sonst und hatte tiefe Schatten um die Augen. Wahrscheinlich hielt Olga ihn dermaßen in Trab, dass er nicht mal im Sarg zur Ruhe kam …
«Hast du einen Augenblick Zeit?», krächzte er.
«Ich hab jede Menge Zeit», sagte Anton. «Meine Eltern sind im Kino.»
«Gehen deine Eltern am nächsten Samstag auch ins Kino?», fragte der kleine Vampir.
«An deinem Geburtstag? Nein. Für den nächsten Samstag haben sie Theaterkarten. Rate mal, wie das Stück heißt, das sie sehen wollen!»
«Woher soll ich das wissen?»
«Es heißt: Die Fledermaus!»
Der kleine Vampir wirkte beeindruckt. «Spielen in dem Stück Vampire mit?»
«Ich glaube nicht. Mein Vater sagt, es geht um einen Maskenball, bei dem jemand eine Fledermausmaske trägt.»
«Und deine Eltern haben schon Karten?»
«Ja.»
«Da fällt mir aber eine Zentnerlast vom Herzen!», rief der kleine Vampir.
«Das kann dir doch ganz egal sein», wunderte sich Anton. «Ich komm ja sowieso nicht zu deiner Geburtstagsfeier.»
Ein Grinsen erschien auf dem Gesicht des kleinen Vampirs. «Hm, das dürfte etwas schwierig werden …»
«Und warum?», fragte Anton misstrauisch.
«Weil wir meinen Geburtstag in deiner Wohnung feiern!»
«Bei mir? Kommt nicht infrage!», erwiderte Anton.
«Und ich dachte, Freunde helfen sich gegenseitig», sagte der kleine Vampir. «Vor allem, wenn einer von ihnen in der Klemme sitzt!»
«Und in welcher Klemme sitzt du?»
Der Vampir schniefte. «Tante Dorothee hat mir verboten, meinen Geburtstag zu feiern!»
«Verboten? Hast du nicht gesagt, dass sie mitfeiert?»
«Ja, das wollte sie auch. Aber plötzlich behauptet sie, Geburtstagsfeiern würden gegen unsere Vampir-Regeln verstoßen. Ha, als ob mich diese alten, verstaubten Regeln interessieren!» Der kleine Vampir gab ein zorniges Schnauben von sich. «Außerdem sind meine Eltern und Großeltern in Transsylvanien. Die merken es gar nicht, wenn ich meinen Geburtstag feiere. Ich wette, das mit den Vampir-Regeln sagt Tante Dorothee nur aus Eifersucht!»
«Aus Eifersucht?», wiederholte Anton. «Auf wen soll sie denn eifersüchtig sein?»
«Auf mich und Olga natürlich, weil wir uns so gut verstehen und weil sie keine Chancen bei Dracula hat – jetzt, wo sie mit ihrer schrumpeligen Haut zehn Jahre älter aussieht!»
«Ihre Verjüngungskur hat nicht gewirkt?», fragte Anton.
Tante Dorothee hatte versucht, durch das Auftragen von Gesichtsmasken aus Friedhofserde eine zartere Haut zu bekommen. Damit wollte sie Graf Dracula beeindrucken, der gesagt hatte, sie sei «zu alt» für ihn.
«Kein bisschen», antwortete der kleine Vampir. «Durch die Gesichtsmasken ist ihre Haut so faltig wie eine Ziehharmonika geworden.»
«Das war bestimmt ein ziemlicher Schock für sie», sagte Anton.
«Nicht nur für sie», knurrte der Vampir.
«Wie meinst du das?»
Mit Leidensmiene ließ sich der kleine Vampir auf Antons Bett fallen.
«Solange Tante Dorothee mit ihrer Verjüngungskur beschäftigt war, hat sie sich überhaupt nicht um uns Vampirkinder gekümmert. Aber neuerdings ist sie ständig hinter uns her.»
Erschrocken blickte Anton zum Fenster. «Sie ist dir doch nicht gefolgt, oder?»
«Nein. Sie und Olga sind auf der Bank.»
«Im Stadtpark?»
Der kleine Vampir lachte heiser. «Sie sind zur Blutbank geflogen!»
Wie immer, wenn es um die Essgewohnheiten der Vampire ging, überlief es Anton eiskalt.
«Warum sagst du deine Geburtstagsfeier nicht einfach ab?», wechselte er schnell das Thema.
«Absagen?», empörte sich der Vampir. «Seit mehr als einhundertfünfzig Jahren warte ich darauf, meinen Geburtstag zu feiern!»
«Na ja … wenn du so lange gewartet hast, kannst du doch leicht noch ein Jahr warten.»
«Eben nicht! Olga ist extra für meinen Geburtstag aus Paris hier eingeflogen. Ich kann sie unmöglich enttäuschen!» Um seine Worte zu unterstreichen, schlug der kleine Vampir ein paar Mal auf Antons Daunendecke ein.
«Aua!», sagte Anton.
«Aua?», wiederholte der kleine Vampir.
«Mein Teddy. Er liegt unter der Decke.»
Der Vampir kicherte.
«Du spielst noch mit Teddys?»
«Ich spiele nicht mit Teddys», sagte Anton würdevoll. «Ich hab nur einen im Bett.»
Rüdiger griff unter die Decke und brachte Antons alten Teddybären zum Vorschein. «He, der wäre ein prima Geschenk für Olgas Geburtstag!»
«Das ist meiner.» Blitzschnell nahm Anton ihm den Teddy ab und setzte ihn ins Bücherregal.
«Olgas Geburtstag wollt ihr bestimmt auch bei mir feiern, oder?», fragte er ironisch.
«Klar!», antwortete der kleine Vampir, der offenbar die Ironie nicht verstanden hatte.
«Ganz klar nicht!», sagte Anton. «Wir werden weder deinen noch Olgas Geburtstag bei mir feiern! Hast du vergessen, was für ein Chaos ihr bei der Transsylvanischen Nacht in unserem Wohnzimmer angerichtet habt?»
«Bei der Transsylvanischen Nacht?», wiederholte der kleine Vampir mit träumerischem Blick. «Die war schön …»
«Sehr schön», zischte Anton. «Meine Eltern waren so sauer – ich dachte, sie geben mich zur Adoption frei!»
«Dann hätten wir dich aufgenommen!» Der kleine Vampir entblößte seine leuchtend weißen Eckzähne.
Anton schluckte. «Was deine Geburtstagsparty betrifft …»
«Ja?»
«Ich glaub, ich hab da eine Idee.»
«Und welche?», fragte der kleine Vampir.
«Also …», begann Anton.
In Wirklichkeit hatte er nicht die leiseste Idee. Aber wenn er sich jetzt nicht auf der Stelle etwas überlegte, würde Rüdigers Geburtstagsparty bei ihm stattfinden! Und das musste er unter allen Umständen verhindern.
Nur – wo um alles in der Welt konnte der kleine Vampir feiern? Nicht in Antons Schule, nicht im Clubhaus seines Sportvereins, nicht im Haus der Jugend – obwohl die einen großen Tanzsaal hatten …
Und da, beim Gedanken an den Tanzsaal, kam Anton der rettende Einfall!