Christoph Thomann · Friedemann Schulz von Thun

Klärungshilfe 1

Handbuch für Therapeuten, Gesprächshelfer und Moderatoren in schwierigen Gesprächen

Unter Mitarbeit von Christiane Naumann-Bahayan

Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

1. Was ist «Klärungshilfe»?

2. Zum Hintergrund unserer Erkenntnisse

Schwierige Gespräche mit Paaren und Kleingruppen

II Das Vier-Felder-Modell der Klärungshilfe

1. Selbstklärung

2. Kommunikationsklärung

3. Persönlichkeitsklärung

4. Systemklärung

5. Zusätzliche Aspekte

Moderation

Belehrung

III Einige Gesichtspunkte zur Moderation von Gesprächen

1. Grobstruktur eines Gesprächsverlaufs

1. Phase: Kontakt und Situationsklärung

2. Phase: Thema herausfinden

3. Phase: Die Sichtweise jedes Einzelnen

4. Phase: Gestalteter Dialog und Auseinandersetzung

5. Phase: Vertiefung, Prägnanz der Gefühle oder: sachliche Problemlösung

6. Phase: Verstandesmäßiges Nachvollziehen und Einordnen, Vereinbarungen und Hausaufgaben

7. Phase: Die Situation abschließen

2. Einige generelle Leitprinzipien der Moderation

Hier und Jetzt hat Vorrang

Die Beziehung zum Klärungshelfer hat Vorrang

Widerstände haben Vorrang

Störungen haben Vorrang

Dem Klärungshelfer muss wohl in seiner Haut sein

Mitfließen

3. Methoden der Moderation

Starten und Steuern

Unterbrechen und Abbremsen

Abschließen und Stoppen

4. Zwei grundsätzliche Aspekte der Moderation

Strukturierung und Oberhandsicherung

IV Selbstklärung

1. Einleitung

2. Beispiel 1: Ein unverheiratetes Paar kommt zum ersten Gespräch

3. Beispiel 2: «Ich weiß auch nicht, wie ich das sagen soll»

4. Einige allgemeine Leitprinzipien für die Hilfe zur Selbstklärung

Empathie

Den Klienten Glauben schenken

Sich mit dem Widerstand verbünden

5. Methoden und Interventionen zur Förderung der Selbstklärung

«Einfache» Fragen

Aktives Zuhören

Zusammenfassen

Drastifizierendes Zuhören

Kontrasuggestion

Auf die Ebene der konkreten Erfahrung wechseln

Die Botschaft des Körpers ermitteln

Verbale Hinweise aufgreifen

Schlüsselsätze als Ausgangspunkt der Selbstklärung

Dialog der Ambivalenzen

Symptome als Ausgangspunkt der Selbstklärung

Bildersprache, Analogien und Metaphern

V Kommunikationsklärung

1. Einleitung

2. Interventionsmethoden

Zur Aussage auffordern

Zur Reaktion auffordern

Den direkten Kontakt wiederherstellen

Doppeln

Verständnisüberprüfung

Zuhörübung

Gesprächsdiagnose

Ich-Du-Kernsätze austauschen

Das «Lehrgespräch» anhand exemplarischer Probleme

Rollenspiele

Kommunikationstheater mit Zuschauern

VI Persönlichkeitsklärung

1. Einleitung

2. Persönlichkeitstheoretischer Wegweiser

Die vier Grundstrebungen: Nähe – Distanz, Dauer – Wechsel

Sonnen- und Schattenseiten der Grundstrebungen

Ansichten vom Menschen und der Welt

Pathologische Übersteigerungen

Gesellschaftlich betonte Werte

Umgang mit Verstimmungen und Krisen

3. Vom Persönlichkeits- zum Beziehungsmodell

«Heimatgebiet» und aktueller «Standort»

Färbung der Gefühle in den verschiedenen Quadranten

Faszination des Gegenpoles bei der Partnerwahl

Schattenprojektion auf den Partner

Verkraftungsprinzip

Polarisierung

Annäherung über «Umwegschlaufen»

Umgang mit antisymbiotischen Tendenzen

Nebenbeziehungen

4. Diagnose und Interventionsmethoden

Unterschiedliche Arten, Kontakt zum Klienten zu gewinnen

«So kann überhaupt kein Klima entstehen»: Prozessbegleitende Diagnose während der ersten Sitzung

«Ich will immer machen, dass die anderen zufrieden sind»: Beispiel für eine Persönlichkeitsklärung

VII Systemklärung

1. Einleitung: Der zwischenmenschliche Teufelskreis

2. «Und das geht jetzt rundherum, rundherum . . . bis die 30 Jahre voll sind.»

Die erste Sitzung: Die ehelichen Teufelskreise

Die zweite Sitzung: Zusätzliche Motoren und Hausaufgaben

Die dritte Sitzung: Der Versuch, einen Teufelskreis aufzulösen

3. Diagnose von dyadischen Beziehungssystemen

Symptome von Teufelskreisen erkennen

Fallen rechtzeitig erkennen

Das Grundschema

Systemisch zuhören, einordnen und nachfragen

Teufelskreis zusammenfassen, aufzeichnen und bestätigen lassen

4. Systemische Interventionen

Die Bearbeitung eines Teufelskreises durch Gespräche und Skulpturen

Paradoxe Ansätze

Hausaufgaben

Das Umklappen in einen Engelskreis

VIII Aufklärung und Wertevermittlung

1. Einleitung

2. Methoden der Aufklärung und Wertevermittlung

«Angereichertes Doppeln»

Aktives Zuhören und Zusammenfassen mit verändertem Bezugsrahmen

Umdeutungen

Kleine Lektionen am Rande des Gespräches

Bilder und nonverbale Demonstrationen

3. Die drei Ebenen der Klärungshilfe

Literatur

I Einleitung

1. Was ist Klärungshilfe?

«Das Gespräch ist aus, wir brauchen den dritten Mann dazu» – Resignation und Hoffnung zugleich liegen in diesem Satz eines Ehemannes, der damit das Thema des Buches formuliert: Wie verhält sich ein kundiger und neutraler Gesprächshelfer1, wenn zwei oder mehrere Personen erklärtermaßen in einer Sackgasse der Kommunikation und ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen gelandet sind und aus eigenen Kräften nicht mehr herauskommen; die «eigenen Kräfte» häufig gar alles zu verschlimmern drohen?

Sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich tritt der «Klärungshelfer» in Aktion, wenn das «Miteinander» von Menschen gestört ist, die im täglichen Leben miteinander zu schaffen haben (und einander ebenso zu schaffen machen!). Was dabei die Störung ausmacht und wodurch sie bedingt ist, ist in jedem Fall sehr verschieden und bereits Teil der Klärungsarbeit. Fast immer spielen undurchschaute und unausgedrückte Gefühle und Werthaltungen eine Rolle, oft aber auch eine komplizierte oder verworrene sachstrukturelle Lage, besonders bei Arbeitsgruppen im beruflichen Bereich. Beziehungs- und Kooperationsgruppen durch Klärungshilfe – dies scheint in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens mehr und mehr geboten und auch zunehmend akzeptiert.

 

Dabei vermeidet das Wort «Klärungshilfe» den Begriff der «Therapie», um Beziehungs- und Sachprobleme aller Art mit einzuschließen. Die Praxis, die wir mit diesem Handbuch anvisieren, betrifft nicht nur den fast klassischen Bereich der Ehe und Familie, sondern ebenso Wohngruppen, Gremien und Kollegien, Arbeitsgruppen und teilweise politische Fraktionen.

Nicht immer ist das Kind schon halb in den Brunnen gefallen. Besonders in größeren Unternehmen wird es zunehmend üblich, bei gewichtigen Zusammenkünften aller Art, wo die zielführende Bewältigung organisatorischer, sachlicher, menschlicher und zwischenmenschlicher Angelegenheiten nötig ist, einen «Externen» hinzuzuziehen, also jemanden, der außerhalb des Systems steht und nicht selbst in das Netzwerk von Interessen und Meinungen, Gefühlen und Beziehungen verstrickt ist. Die hier zu leistende Prozesssteuerung ist die Aufgabe von Moderatoren oder Organisationsentwicklungshelfern – wenn sie ihre Sache gut machen, so kann es für die Sache und für die Menschen ein wahrer Segen sein. Denn wer hat nicht schon erlebt, dass solche Sitzungen unerquicklich verlaufen sind: zäh und langatmig, turbulent und durcheinander, endlos und ineffektiv –, sodass auch diejenigen immer wieder Recht zu bekommen scheinen, die jegliche Mitbestimmung und Mitbeteiligung als «endloses Gequassel, bei dem sowieso nichts herauskommt» abtun. Tatsächlich scheint uns, dass «Basisdemokratie» ohne professionelle Moderation wenig Überlebenschancen besitzt.

Die Gesprächshelfer und Moderatoren, Organisationsberater und Vermittler (wie immer sie sich angesichts des jeweiligen sozialen Kontextes nennen mögen) kommen bei ihrer Arbeit notwendigerweise in die Situation, dass Menschen aneinander geraten oder den klärenden Kontakt vermeiden.

Zuweilen mag sich der Gesprächshelfer dabei fühlen wie ein hypnotisiertes Kaninchen, das zwischen zwei sich anzischenden Giftschlangen sitzt. Ein Teil der Lähmung, die das Kaninchen spürt, mag aus der Kinderzeit herrühren, wenn Vater und Mutter sich gestritten haben.

Der erwachsene Klärungshelfer kann lernen, nun nicht gleich den Kopf einzuziehen oder sich als Schiedsrichter zu versuchen, sondern mit Menschenkenntnis, Einfühlung und gut sortiertem Pannenwerkzeug den Kontrahenten zu helfen, miteinander «klar»zukommen. Diese Rolle stellt hohe Anforderungen an seine menschliche Integrität und seine professionelle Kompetenz. Ein Handbuch wie dieses ersetzt keine umfassende berufsbegleitende Weiterbildung, die nach ganzheitlichen Prinzipien auszurichten wäre – das heißt zum einen «Kopf, Herz und Hand» gleichermaßen anzusprechen hätte und zum anderen sehr viel Gewicht darauf legen müsste, das geeignete Vorgehen und das angemessene Kommunikationsideal aus dem Charakter einer jeweiligen Gesamtsituation abzuleiten: Die Moderation einer Vorstandsbesprechung ist keine Familientherapie, die Begegnung von Stadträten und gewählten Politikern im Kommunalbereich erfordert anderes als die Teamentwicklung in einem Krankenhaus mit ärztlichem, psychologischem und pflegerischem Personal.

Seit Erscheinen dieses Buches hat einer von uns, Christoph Thomann, viele Konfliktmoderationen speziell im beruflichen Bereich durchgeführt und erforscht. Diese Erfahrungen und Konzeptionen wurden 1998 von ihm in einem zweiten Band, «Klärungshilfe: Konflikte im Beruf» (rororo sachbuch 60462) veröffentlicht.

Wie gliedert sich das Gesamtwerk «Klärungshilfe» in diesen beiden Bänden? Im vorliegenden Band 1 demonstrieren wir die wichtigsten Prinzipien und Methoden an der «klassischen» Grundsituation: ein Paar, eine Frau und ein Mann, beim Klärungshelfer. Dies ist ein didaktisch überschaubarer Rahmen, um das kleine und große Einmaleins der Klärungshilfe darzulegen. Der Folgeband 2 von Christoph Thomann basiert auf Konfliktmoderationen in beruflichen Teams. Er stellt somit eine konzeptuelle und methodische Erweiterung in doppelter Hinsicht dar, nämlich Berufskontext (statt privat) und mehrere Konfliktbeteiligte (anstatt nur zwei).

Seit dem Erscheinen dieses Buches 1988 hat sich auf dem Gebiet der Gesprächshilfe bei Konflikten viel und Erfreuliches getan. In Deutschland hat die Mediationsbewegung an Boden gewonnen und Publikationen und Ausbildungsgänge hervorgebracht, die von der vorliegenden «Klärungshilfe» profitiert haben (s. z. B. Besemer, 1995).

Alexander Redlich veröffentlichte 1996 seine «Konfliktmoderation» (Redlich, 1996) mit besonderer Berücksichtigung der Gruppe (des Teams) bei der Bearbeitung von Konflikten.

Klärungshilfe, Mediation, Konfliktmoderation: all diese Ansätze kreisen um ein gemeinsames Anliegen und weisen in Bezug auf ihre Entwicklungsgeschichte und ihre Eigenarten durchaus relevante Unterschiede auf. Einen systematischen Vergleich finden Sie in dem ausgezeichneten Aufsatz von Redlich und Mironov (2003). Unsere «Klärungshilfe» geht zweifellos am weitesten, was die Bearbeitung innerseelischer und zwischenmenschlicher Hintergründe des Konfliktgeschehens angeht: (Innere) Wahrheit geht vor Schönheit (im Gesprächsverhalten). Was richtiger und «besser» ist, entscheidet sich nicht zuletzt an den Umständen (dem Setting), den Eigenarten des Klienten und des Gesprächshelfers. Gut, wenn er/​sie nicht (allzu) festgelegt ist.

Und für den Leser gilt hier wie auch sonst: Prüfet die Geister und behaltet das Beste!

2. Zum Hintergrund unserer Erkenntnisse

Wie sind wir zu den Erkenntnissen gelangt, die wir in diesem Handbuch zusammengetragen haben?

Beide waren wir jahrelang als Kommunikationshelfer unterwegs gewesen, in Schulkollegien und wirtschaftlichen Arbeitsgruppen, im Kommunalbereich, Krankenhaus und in der Erwachsenenbildung. Einer von uns, Christoph Thomann, hatte in seiner Praxis zusätzlich viel mit Paaren zu tun. Der andere, Friedemann Schulz von Thun, war als Professor an einer Universität zusätzlich theoretisch interessiert: Lässt sich eine «Theorie der Klärungshilfe» entwickeln, die das Handeln eines kompetenten Gesprächshelfers zu erklären in der Lage ist und zugleich einen Orientierungsrahmen für einen Ausbildungsgang bieten kann?

So haben wir uns für ein Forschungsprojekt zusammengetan. Thomann kam für mehrere Monate von Bern nach Hamburg, um dort am Psychologischen Institut Gespräche mit Paaren, Familien und Wohngemeinschaften zu führen, die aufgrund eines Hinweises in der «Bild-Zeitung» dieses Sonderangebot der Universität wahrnahmen:

 

«Wer hat Ärger in der Familie oder im Arbeitsteam? – Uni-Psychologen wollen im Rahmen ihrer Forschung Hilfe bieten. Wer Gespräche über gestörte Beziehungen sucht, kann sich … anmelden.»

 

Wir haben die «Bild-Zeitung» um diese redaktionelle Notiz gebeten, da wir an einer Klientel interessiert waren, die möglichst wenig mit Universität und «Psychoszene» zu tun haben sollte. Tatsächlich meldeten sich überwiegend Paare und Familien, die in sehr einfachen Verhältnissen lebten.

 

Unsere Rollenaufteilung war meist derart, dass Christoph Thomann die Gespräche führte und Friedemann Schulz von Thun im selben Raum am Schreibtisch saß, sich Notizen machte und nach Ende des Gesprächs eine gemeinsame Auswertung leitete: Wie haben die Klienten, wie der Gesprächshelfer selbst das Gespräch erlebt, was schien dabei besonders günstig oder auch ungünstig, was ist den anderen anwesenden Forschern während des Gesprächs in den Sinn gekommen?

 

Auf diese Weise wurden nahezu 50 Sitzungen auf Tonband und (überwiegend auch) auf Video gespeichert, zusätzlich wurden Protokolle angefertigt und später Nachbefragungen durchgeführt (Koliha, 1983). All diese Aufzeichnungen dienten als Grundlage für die weitere Auswertungsarbeit, die Herr Thomann im Rahmen seiner Dissertation in den nächsten beiden Jahren, zusammen mit vielen Studenten und Praktikanten1, vorgenommen hat. Der wissenschaftlich interessierte Leser möge die Originalarbeit einsehen (Thomann, 1985).

Schwierige Gespräche mit Paaren und Kleingruppen

In allen Gesprächen wurde harte Beziehungsarbeit geleistet, und manchmal waren alle Beteiligten nahe daran, «die Flinte ins Korn zu werfen». Die Gespräche waren so schwierig, wie die Menschen es waren und die Situationen, in die sie sich verstrickt hatten. – Zuerst kommt ein junges Paar, unverheiratet und etwas freudlos an jenem Alltag leidend, der der ersten Verliebtheit gefolgt ist, sodass nun «gar nichts mehr läuft». Sie kommen einander nicht mehr näher und voneinander nicht mehr los.

 

Dann kommt eine Familie mit zwei Kindern. Die Frau ist ausgezogen, der Mann hat immer wieder getrunken – nun ist es nach einigen Wochen die erste Zusammenkunft auf «neutralem Boden». «Wir kriegen kein Gespräch zustande!», sagt die Frau, und er fragt skeptisch den Klärungshelfer: «Wir sind ja hier so eine Art Versuchskaninchen – können Sie uns überhaupt helfen?» – Alle vier wünschen sich ein «richtiges Familienleben», der Weg dorthin scheint noch weit.

Oder dann kommt ein älteres Ehepaar. Für den Mann ist es etwas ehrenrührig, sich zu «so etwas» hinzubegeben: «Wenn ich 35 wäre, würde ich eher das Haus hier abbauen, als mich hier hinsetzen!» Doch er ist entschlossen, diese Gespräche zu Stunden der Wahrheit werden zu lassen: «… dass man wirklich mal das ausspricht, was man sonst nicht ausspricht!» Die Frau sagt, sie weine oft aus heiterem Himmel und möchte nur «nett und ruhig und lieb leben» – weiter wollte sie nichts im Leben, aber dazu brauche sie Verständnis. Der Mann:

 

«Wenn ich zu dir spreche, spreche ich immer Klartext – nur du kriegst es in den falschen Hals – und zwar in den negativen Hals.»

 

Beide fürchten um die Harmonie ihres gemeinsamen Lebensabends. Er hat angefangen, heimlich zu trinken – und sie wird immer verbitterter:

 

«Und wenn Sie jetzt mit so einer Frau Jahrzehnte zusammenleben: Es ist bei uns kein Flöten, kein Lachen, kein Singen, da lässt man die Unterlippe hängen bis auf die Holzschuh.»

 

Den Klärungshelfer nimmt der Mann im ersten Gespräch genauestens unter die Lupe.

 

«Wenn Sie einen Patzer gemacht hätten, hätten Sie einen Backs gekriegt!»,

 

sagte er in der Nachbesprechung. – Was denn so ein Patzer gewesen wäre? Neugierige, intime Fragen zum Beispiel.

 

Beim nächsten Paar hegen Mann und Frau abgrundtiefes Misstrauen gegeneinander. Eifersüchtig hat er sie kontrolliert. Umso mehr hat sie ihm verheimlicht. Bis er eines Tages heimlich eine Abhöranlage in das Telefon einbaut, um ihre Gespräche abhören zu können. Sie möchte nun mit den Kindern ausziehen, er droht ihr mit Selbstmord.

 

«Ihr seid beide gute Streiter!», sagt der Klärungshelfer, und etwas später zum Mann:

«Sie müssen in Ihr Herz schauen lassen, um sie zu überzeugen.»

 

Auch beim nächsten Paar sieht es bös aus:

Er trinkt und verspielt Geld ins Uferlose, sie nimmt in ihrer Empörung kein Blatt vor den Mund. In die Spielhallen sei sie ihm nachgelaufen, immer wieder. Er hingegen beklagt sich mit vehementen Anklagereden, dass sie ihm das Leben zur Hölle mache: ewig diese Vorschriften, und der letzte Kuss vor viereinhalb Jahren: «Was soll ich mit so einer Frau – sie gibt mir nichts!»

 

Beim nächsten Ehepaar klagt der Mann;

«Wir sind uns im Prinzip völlig einig, aber wir können uns nicht verstehen.»

Während sie sich berufsmäßig «nach oben gearbeitet» haben, rutscht die Beziehung nach unten ab.

«Ich schlucke lieber zehnmal runter, als dass ich aus der Haut fahre», sagt er, aber alle vier Monate gibt es eine Großexplosion. Wie ist das, wenn der Mann abends nach Hause kommt? Der Klärungshelfer spielt die Szene mit der Frau einmal im Rollenspiel durch. Beim ersten Mal spielt sie ihren Mann, beim zweiten Mal sich selbst (laut denkend), beim dritten Mal wieder ihren Mann, nur, wie sie sich ihn wünscht.

 

Wer all diesen Sitzungen beiwohnt oder sie auf Videoband anschaut und dabei dem Klärungshelfer über die Schulter sieht, dem mag zunächst der Kopf schwirren angesichts der Vielfalt der Ereignisse: Mal hört der Helfer lange geduldig zu, mal unterbricht er sogleich und schlägt etwas ganz Neues vor. Dann wieder lässt er die beiden miteinander reden, ohne einzugreifen. Plötzlich macht er kleine Zeichnungen oder nimmt herumliegende Gegenstände, um etwas aufzubauen. Meistens sitzt er zwischen den Klienten, in Form eines «Mercedessterns», dann aber hockt er sich vorübergehend neben den einen Klienten, später auch neben den anderen, um stellvertretend für sie etwas zu sagen. – Die Vielfalt verwirrt, solange wir uns keinen Reim darauf machen können, solange wir kein ausgereiftes Verständnis davon haben, worin «Klärungshilfe» in ihrem Wesen besteht. Um zu diesem Verständnis zu gelangen, scheint es zunächst geboten, die Vielfalt theoriegeleitet zu ordnen. Nach eingehender Analyse der Sitzungen sind wir zu einem Ordnungsschema gelangt, das wir unter der Überschrift «Vier-Felder-Modell der Klärungshilfe» im nächsten Kapitel vorstellen. Dieses Schema dürfte allgemeine Gültigkeit beanspruchen, obwohl wir nur einen einzigen Klärungshelfer detailliert untersucht haben. Aber dieser darf durch seine Ausbildung und seine langjährige Praxis als ein typischer Repräsentant jenes verinnerlichten Wissensbestandes gelten, der im Rahmen der Humanistischen Psychologie und der Systemischen Kommunikationstherapie handlungsleitend geworden ist. Es gibt noch viele andere Wege nach Rom, aber auf diesem lässt sich bereits einiges entdecken und lernen.

II Das Vier-Felder-Modell der Klärungshilfe

Was tut der Klärungshelfer in all den schwierigen Gesprächen? Dem unbedarften Zuschauer solcher Sitzungen begegnet eine verwirrende Vielfalt von Verhaltensweisen und Interventionen des Klärungshelfers. Mal ist er mehr auf den Einzelnen konzentriert, und das Geschehen erinnert streckenweise an eine Einzeltherapie, freilich im Beisein des oder der anderen; ein anderes Mal mehr auf die Beziehung, das System, wobei der Brennpunkt der Aufmerksamkeit auf der Art des «Miteinanders» liegt. Mal werden Regeln und Gesetzmäßigkeiten herausgearbeitet, nach denen sich im täglichen Leben die individuellen Reaktionen und Interaktionsmuster bestimmen, dann wieder wird direkt im «Hier und Jetzt», am Prozess des Gegenwärtigen, gearbeitet.

Diese Sichtweise legt eine Einteilung der Arbeitsschwerpunkte in vier Felder nahe:

Vier-Felder-Tafel der Klärungshilfe

In den Zeilen werden die Aspekte Individuum – System, in den Spalten die Aspekte Prozess – Struktur unterschieden. Unter dem Stichwort «Prozess» werden solche Vorgänge zusammengefasst, die sich punktuell ereignen, sei es im «Hier und Jetzt» oder in der Rückbetrachtung wichtiger Schlüsselszenen «Dort und Damals». Mit «Struktur» sind die über Jahre hinweg «geronnenen» Prozesse gemeint, die sich in Persönlichkeitscharakteristika und Interaktionsmustern verfestigt haben. Aus dieser Zwei-mal-zwei-Zuordnung ergeben sich vier Felder, die wir im Folgenden genauer betrachten wollen und die das Gliederungsprinzip für das vorliegende Buch abgeben.

1. Selbstklärung

Der erste Quadrant betrifft den Prozess des einzelnen Klienten, sei es im Hier und Jetzt oder im Dort und Damals. Zum Beispiel: Was geht hier und jetzt in mir vor? Was genau will ich eigentlich? Oder: Was war damals mit mir los, als ich sagte: «Das ist ja nicht zum Aushalten mit dir!»? Wo «inneres Kuddelmuddel» herrscht, oder wo der Mensch verstummt ist und selbst nicht mehr weiß, was mit ihm los ist, da ist es Aufgabe des Klärungshelfers, ihn wieder in Kontakt mit sich selbst zu bringen. Nicht nur beim Neurotiker steht das Gesagte in einem fraglichen Verhältnis zum Gemeinten, also zu dem, was innerlich noch unausgedrückt vorhanden ist. Die «Sprechblase» ist nicht selten ein Kompromissprodukt zwischen dem, was ich sagen möchte, was man sagen sollte und dem, was man besser nicht sagt. Und während wir sprechen, haben wir manchmal ein Gefühl dafür, ob das, was wir von uns geben, wirklich «stimmt» – aber nicht im moralischen Sinne der Wahrheit und Lüge, sondern im Sinne der inneren Stimmigkeit. Ist diese vorhanden, treten an die Seite der Worte nicht selten starke Gefühle (der Rührung, der Verletztheit, der Traurigkeit, des Zorns usw.). Es ist, als ob diese Gefühle sagen wollten: Ja, genauso ist es, jetzt ist es aus dem Herzen gesprochen! Da wir vielfach auch Angst haben vor solchen Gefühlen (und der damit verbundenen Verletzlichkeit), haben wir uns oft eine Art zu reden angewöhnt, die uns diese Gefühle erspart – dann geben wir Sprechblasen als leblose Kunstprodukte von uns, die innerlich nicht gedeckt sind und auch beim Gegenüber nichts bewegen.

Hilfe zur Selbstklärung ist Hilfe zur Authentizität. Und Authentizität ist in nahen Beziehungen sowohl ein Ziel in sich selbst als auch eine Voraussetzung für Beziehungsklärungen.

2. Kommunikationsklärung

Betrachten wir nun den zweiten Quadranten, wo der punktuelle Prozess sich nicht mehr bloß auf den Einzelnen richtet, sondern die Beziehung, das «System» in seinem dialogischen Hin und Her betrifft. Hier stellt sich die «Transportfrage»: Wie kann ich das, was ich für mich selbst (mehr oder minder) klar habe, auch vermitteln? Zuweilen wissen die Klienten ganz genau, was in ihnen vorgeht und was sie sagen möchten (Hilfe zur Selbstklärung also überflüssig), aber sie haben Mühe, es «herauszubringen» und dem anderen so zu vermitteln, dass es ihn wirklich erreicht und dass er es nicht in den falschen Hals bekommt. Wörtlich sagte eine Klientin: «Innerlich habe ich einen klaren Fluss, aber heraus bringe ich ein trübes Rinnsal!»

Ist der Klärungshelfer im ersten Quadranten gleichsam die Hebamme einer klaren Aussage, so geht es nun darum, die zutage geförderte Botschaft zu transportieren und in den «richtigen Hals» gelangen zu lassen. Es geht also um Förderung des Kontaktes und des zwischenmenschlichen Dialoges.

3. Persönlichkeitsklärung

Im dritten Quadranten (Individuum/​Struktur) geht es um die Aufhellung der Persönlichkeitsstruktur und der individuellen Eigenarten; im therapeutischen Kontext ebenso um die Aufhellung und Nachbearbeitung biographischer Schlüsselszenen. Die Frage lautet für jeden Gesprächspartner: Was bin ich für einer, wie bin ich zu dem geworden, welche persönlichen Gesetze sind mir eigentümlich? Diese Aufhellung der Persönlichkeit hat nicht erstrangig den Selbstzweck, dass sich der Klient besser kennen lernt; sondern es hat – durch das ständige Dabeisein des oder der anderen – hauptsächlich den kommunikativen Aspekt «Wisse, dass ich so einer bin und so und so ‹funktioniere›!». Das Wissen um die persönlichen Eigenarten, Bedürfnisse und «Macken» des anderen erleichtert es dem Partner, nicht alles auf sich zu beziehen (und dann unter Umständen sehr verletzt zu sein), sondern die Verhaltensweisen, die ihm widerfahren, auch als Ausdruck der persönlichen Eigenarten des anderen zu begreifen; kommunikationspsychologisch ausgedrückt: Er wird in die Lage versetzt, mehr mit dem «Selbstoffenbarungs-Ohr» zu hören und weniger mit dem empfindlichen «Beziehungs-Ohr» (Schulz von Thun, 1981).

Ging es beim ersten Quadranten um die Klärung der Innenwelt zu einem gegebenen Zeitpunkt, so geht es im dritten Quadranten um die regelhaft wiederkehrenden Muster einer gewordenen Persönlichkeit.

Im Kontext der Berufswelt liegt der Akzent statt auf der Persönlichkeitsklärung mehr auf der Rollenklärung: Wie definiere ich meine Rolle, was sehe ich als meine Aufgabe an (und was nicht), und wie ist meine Art, diese Rolle zu gestalten?

4. Systemklärung

Im vierten Quadranten (System/​Struktur) geht es um die Interaktionsstruktur, die sich im Laufe der Zeit eingespielt und zu Regelhaftigkeiten verfestigt hat. Was passiert also, wenn die im Quadranten drei ermittelten Persönlichkeitsstrukturen aufeinander prallen? Hier geht es um die Klärung der Frage: Was läuft bei uns ab? Oft sind es Teufelskreise, die ein leidvoll gewordenes System aus sich selbst heraus am Leben erhalten. Aufgabe des Klärungshelfers ist es hier, solche regelhaft wiederkehrenden Interaktionsstrukturen zu erahnen, herauszuarbeiten und sie unter Umständen in einer prägnanten Form zu präsentieren. Ging es im Quadranten zwei um die Förderung eines klaren Dialoges, um die Ermöglichung eines authentischen Gespräches im Zustand der Betroffenheit, so geht es im Quadranten vier eher darum, sich zu distanzieren und die täglichen Abläufe gleichsam vom «Feldherrenhügel» aus zu betrachten. Diese Betrachtung kann dazu dienen, den eingeschliffenen Gesetzmäßigkeiten der Interaktion nicht mehr blind zu unterliegen, sondern ihrer Herr zu werden.

Wir sind nun in der Lage, das Vier-Felder-Schema der Klärungshilfe inhaltlich zu füllen und damit die vier hauptsächlichen Klärungsbereiche zu benennen, mit denen es der Helfer zu tun bekommt:

Die vier Klärungsfelder

5. Zusätzliche Aspekte

Moderation

Im Verlauf des Forschungsprojektes hat es sich gezeigt, dass mit diesen vier Feldern der Klärungshilfe das Handeln des Klärungshelfers in seinen wichtigen Ausschnitten noch nicht hinreichend beschrieben ist. Wir haben uns deshalb veranlasst gesehen, zwei weitere Aspekte (und entsprechend zwei weitere Kapitel) hinzuzunehmen: die Moderation und die Belehrung.

Zunächst einige Worte zur Moderation. Um überhaupt zu den beschriebenen Klärungsaktivitäten zu kommen, ist es unerlässlich, dass die Steuerung des Geschehens vom Anfang bis zum Ende in der Hand des Klärungshelfers liegt. Dieser setzt den Anfang, definiert das Ende und strukturiert mehr oder weniger das Dazwischenliegende. Uns ist aufgefallen, dass unerfahrenen Gesprächshelfern die Situation leicht entgleiset – es fehlt dann nicht an Einfühlsamkeit, sondern an der ordnenden Hand! Für eine klare Struktur zu sorgen, ist besonders am Anfang wichtig: Wie ist der zeitliche, örtliche, inhaltliche und finanzielle Rahmen? Wie lautet der Auftrag? Welche Vorgehensweisen scheinen angesichts dieser Vorbedingungen angemessen? Es wird bereits deutlich, dass Moderation der inhaltlichen Klärungsarbeit vorgeordnet ist. Wie wir sehen werden, hat sie einen strukturellen und einen beziehungsmäßigen Aspekt.

Indem der Klärungshelfer die Situation strukturiert, hat er die Oberhand über das Geschehen – und sollte sie nach unserer Auffassung auch haben! Immer wieder kommt es vor, dass ihm die Oberhand von einem oder mehreren Klienten streitig gemacht wird. Dagegen muss er sich wappnen, um seinen Auftrag erfüllen zu können.

Wir werden im nächsten Kapitel mit den Prinzipien und Leitgedanken beginnen, die für die Moderation eines Sitzungsverlaufes bedeutsam sind.

Belehrung (humanistische und systemische Neuorientierung)

Je länger wir die Sitzungsprotokolle studierten und je mehr wir in das Material eindrangen, umso weniger ließ sich – wenn sie je vorhanden war – die Fiktion des wertfreien Moderators und Klärungshelfers aufrechterhalten. Überdeutlich trat zutage: Der Klärungshelfer ist auch Lehrer, Belehrer und Wertvermittler. Das Wort Neuorientierung besagt also, dass es in der Klärungshilfe nicht einfach um ein rein formelles, sozusagen technisch wertfreies Herstellen und Wiederherstellen von Kommunikation, Klarheit und Kontakt geht. Es geht um Werte, Weltanschauungen und Lehrinhalte, die mal «hinter» den einzelnen Interventionen stehen und das gesamte Klima beeinflussen und auch mal direkt gesagt werden.

Wir gehen davon aus, dass viele Überzeugungen, Werthaltungen und Alltagstheorien (zum Beispiel «Ein Mann weint nicht») leiderzeugend sind, das heißt den Umgang mit sich selbst und anderen Menschen erschweren. Solche falschen Vorstellungen sind im Laufe der Lebensgeschichte per Indoktrination in die Menschen hineingekommen; deswegen haben wir im Projektteam – mit ein wenig Augenzwinkern und Ironie – von «humanistischer Re-Indoktrination» gesprochen, um den Bereich der Belehrung und Wertevermittlung vonseiten des Klärungshelfers sprachlich zu markieren.

Zum Teil sind es wirklich kleine Lektionen und «Predigten», die der Klärungshelfer bei Gelegenheit von sich gibt. Zum großen Teil aber ist seine Wertewelt als heimliches Begleitgepäck in allen seinen Interventionen enthalten! «Klären und Lehren» erweisen sich als untrennbare Einheit. Deswegen halten wir es für eine wichtige Voraussetzung für jeden Klärungshelfer, dass er seine «missionarische» Seite kennt, seine Wertewelt und sein «Lehrgebäude» in Sachen der Zwischenmenschlichkeit entwickelt und bewusst verfügbar hat. Darin eingeschlossen sei die Bewusstheit, dass allzu viel «Predigen» auch ein Hinweis darauf sein kann, dass der Klärungshelfer, indem ihm die missionarischen Pferde durchgehen, unbewusst seine eigenen Angelegenheiten verfolgt und dem Klienten aufdrückt. Diese Gefahr im Auge, halten wir jedoch ein gewisses Maß an Einflussnahme, Belehrung und «Re-Indoktrination» nicht nur für unvermeidlich, sondern auch für wünschenswert. Im Kapitel VII haben wir einige missionarische Inhalte zusammengestellt sowie Beispiele für die expliziten und impliziten Vermittlungsformen.

So hat sich das Vier-Felder-Schema der Klärungshilfe zu einem dreistöckigen Gebäude erweitert. Das Fundament bildet die Vermittlung der Wertewelt, im Erdgeschoss sind die vier Felder der Klärungshilfe, und das Dach ist für die Moderation reserviert. Dieses «Klärungshilfehaus» bildet von nun an die Grundstruktur des vorliegenden Handbuchs, mit folgender Kapitelfolge:

Das «Klärungshilfehaus» und die Kapitelfolge