Eine ganz kleine Welt unter Millionen anderer wärmerer oder kälterer kleiner Welten; ein winziges Individuum, das bald nur noch eine leere Hülle sein wird, derer man sich mit Ekel entledigt, macht sich ernsthaft daran, die Geschichte seines Lebens zu schreiben.
Welches Lebens? Seines eigenen eben! Dessen, was in dem vor sich geht, was es für sein Hirn hält.
GEORGES SIMENON
Die Gegenwart, das ist doch nicht einfach bloß jetzt!
PETER KURZECK
1
AN DEM TAG, an dem seine Mutter ins Krankenhaus kam, packte Jürgen alles, was er für wichtig hielt, in zwei große Taschen und hievte sie in den Wagen. Im Rückspiegel strich er sein graues Haar noch einmal glatt, dann ließ er den Motor an.
Er fuhr zu schnell. Er machte keine Pause. Sein Kopf war leer, und er war froh, dass es so war. Er war im Begriff, wieder bei seinem Vater einzuziehen.
DAS IST ES ALSO, dachte Walther. So fängt die Ewigkeit an. Die Infusionsflasche tropfte, das EKG piepste schwach. Und piepste. Und piepste und er kauerte an Grethes Bett und kauerte sich immer kleiner zusammen. Ganz fest hielt er ihre Hand, die, aus der kein Infusionsschlauch ragte, und das EKG piepste und seine Gedanken kreisten, langsam, dann immer schneller, er drückte ihre Hand noch fester. Als müsse er nicht sie festhalten, sondern sich selbst an ihr.
Er sah sie an. Zwischen all den Schläuchen wirkte sie noch kleiner, als sie ohnehin schon war, ein Bündel Mensch, das in den Armen der Maschinen lag. Wie glatt ihr Gesicht plötzlich war. Die Stirn ganz entspannt. Als hätte man einen Brief zerknüllt und wieder glatt gestrichen, und zwischen den kleinen Linien über den dünnen Augenbrauen stünde ein ganzes Leben geschrieben.
Die Tür ging auf. Walther ließ Grethes Hand los wie ertappt und sah auf. Eine Schwester steckte den Kopf herein, sie sagte etwas, das er nicht verstand. Er fühlte sich zu schwach, um nachzufragen. Die Schwester kam näher. Als sie neben ihm stand, stellte er sich vor, seinen Kopf an ihre Taille zu lehnen, aber er blieb ganz aufrecht sitzen.
Alles in Ordnung mit Ihnen? Kann man Ihnen irgendetwas bringen?
Einen doppelten Cognac vielleicht, sagte er, ohne aufzublicken. Er konnte spüren, wie der Schwester ein Grinsen misslang. Ein paar Sekunden blieb sie noch neben ihm stehen, dann kontrollierte sie den Schlauch, der unter Grethes Nase lag. Zum Abschied streichelte sie ihm tröstend über das Haar, das noch immer weich war wie das eines Kleinkindes.
Wenn Sie etwas brauchen, sagte die Schwester, und schloss leise hinter sich die Tür.
An der Stelle über der Tür, an der normalerweise ein Kreuz hing, war eine Uhr angebracht, groß wie ein Vollmond, zum ersten Mal nahm Walther ihr Ticken wahr. Er versuchte zu erkennen, wie spät es war, aber die Zahlen waren verschwommen, der Zeiger tauchte im weißen Ziffernblatt ab, und Walther versank in einem Raum, in dem nur noch Ticken und gleißende Helligkeit war. Es dauerte einige Sekunden, bis er wieder zu sich kam und die Lesebrille abnahm. Kurz vor vier. Fast einen ganzen Tag saß er schon hier. Er blickte wieder zu Grethe, und jetzt verschwamm auch sie, ihr Kopf zwischen den weißen Laken war ein rosafarbener Fleck, eine verwackelte, überbelichtete Fotografie, aber dann wurde das Bild plötzlich schärfer, er sah Grethes weit aufgerissene Augen, ihre starren Pupillen, ein stummer Blick. Er blinzelte, und Grethe war wieder verschwommen. Er setzte die Lesebrille auf. Keine Bewegung in ihrem Gesicht.
Er hatte nur einmal in seinem Leben im Krankenhaus gelegen, damals, nach der Hüft-OP. Grethe hatte neben seinem Bett gesessen, er hatte seine Schmerzen mit so viel Kraft verdrängt, dass auch das schon wieder wehtat. Um nichts auf der Welt hätte er nach der Schwester und mehr Schmerzmitteln gerufen, um nichts auf der Welt hätte er vor Grethe gejammert, aber er war auch zu schwach gewesen, um irgendetwas anderes als Wehlaute hervorzubringen, und so saß Grethe neben ihm und litt mit. Sie sprachen nicht, ganze Nachmittage lang. Und jetzt saß er bei ihr.
Das Krankenzimmer wurde immer weißer, zumindest kam es Walther so vor. Grethes Gesicht veränderte sich nicht, ein leere Maske, auf die er blickte. Es ist uns auf Erden doch nicht schlecht ergangen, hatte sie immer gesagt, der Tod ist nur die Ziellinie des Lebens, da müssen wir alle hinüber. Er erinnerte sich gut, wie Grethe reagiert hatte, wenn wieder einmal eine schwarz umrandete Karte gekommen war: Der Lehmann Paul, jetzt ist der auch schon tot. Sie schüttelte den Kopf, wenn sie das sagte, und steckte die Karte zu den anderen, in die Schublade, in der auch das Telefonbuch, das Adressbuch und die Holzschatulle mit den Briefmarken lagen. Und er hatte genickt und sich klein gemacht.
All die Jahre hatte es so ausgesehen, als sei sie die Gesündere, die Robustere von beiden. Er hatte früher begonnen, seine Schlüssel zu verlegen, das Portemonnaie, die Lesebrille, und als er schon zu schlecht sah, um eine Münze, die ihm aus der Hand gefallen war, jemals wiederzufinden, da wieselte sie noch sicher auf beiden Beinen zwischen Küche, Wohnzimmer und Bad herum. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie nie in Rente gegangen war. Sie hatte den Haushalt noch aufrechterhalten, als er schon fast nicht mehr allein vom Sofa hochkam, hatte noch die Fenster geputzt, durch die er oft nur noch völlig leer ins Tal starrte. Kampfameise nannte er sie manchmal, wenn sie mal wieder nicht zu bremsen war und er sich nach ein bisschen Aufmerksamkeit sehnte. Kampfameise, setz dich her zu deinem alten Ameisenbär, der hat nicht mehr lang.
Sag nicht so was, antwortete sie dann in leiser Wut, sag so was nicht. Und sie nahm einen Moment lang neben ihm Platz, strich über den Rücken seiner Hand und sah mit ihm in die Ferne, links oben der Wald, rechts unten das Dorf, die Wipfel der Obstbäume im Garten. Sie saßen nebeneinander wie Liebende, die auf einen Zug warten, der Verspätung hat, und die es nicht wagen, noch etwas anzufangen in der zusätzlichen Zeit, die bis zum Abschied bleibt.
JÜRGEN DROSSELTE kaum das Tempo, als er die Ausfahrt nach Ebersbach nahm. Bis hierher waren seine Gedanken im Leerlauf gewesen. Erst jetzt, nachdem er 350 Autobahn-Kilometer von München in Richtung Frankfurt gefahren war, näherte er sich auch innerlich dem Ziel seiner Reise. Noch eine halbe Stunde durch die Dörfer, in Ebersbach dann den Wolfsweg hinauf, wo ganz oben auf dem Hügel, als das letzte in der Straße, das Haus seiner Eltern stand, dahinter nichts als Wald. Jürgen dachte an das Wohnzimmer, in dem es so oft laut und lustig zugegangen war, wenn er mit Nicki zu Besuch war und mit Colette, als sie noch verheiratet waren. Manchmal war noch sein Vetter Volli aus Biesenberg gekommen oder Onkel Albert, der nach der Pensionierung in die Nähe seines Bruders gezogen war. Und sie erzählten und konnten nicht aufhören zu lachen, bis ihnen die Tränen in den Augen standen, lachten sie, bis sie ganz leer waren und die Wangen schmerzten und sich ihre Blicke in den Reflexionen auf den Fensterscheiben verfingen, hinter denen es dunkel war. Und dann dachte Jürgen an den Abend, der vor ihnen lag, wie die Fenster sie spiegeln würden, seinen Vater und ihn, im Schein der alten Stehlampe auf dem Sofa. Er versuchte, sich die Ruhe vorzustellen, das matte Licht. Es gelang ihm nicht. Es wäre keine Ruhe, sondern Stille, ein Schweigen, ein Ziehen.
Man sieht der Welt nichts an, dachte Jürgen, als er endlich nach Ebersbach kam. Das Ortsschild, die Hauptstraße, der Marktplatz. Das Schreibwarengeschäft, der Blumenladen, der Metzger Moser. Schweinenacken im Angebot. Die Häuser standen, wie sie immer standen, kein Krater tat sich auf.
Ebersbach war eine kleine Gemeinde mit vielleicht 4000 Einwohnern, die im Durchschnitt über siebzig zu sein schienen – wer jünger war und die Chance dazu hatte, verließ den Ort, um irgendwo in der weiten Welt, in Hanau, Fulda oder Kassel eine Lehre zu machen. Wo nichts nachwächst, bleibt das Alte stehen. Ebersbach war ein Ort, der fertig war – verputzt, umzäunt und abgeschlossen. Colette hatte das Dorf gehasst, jedes Mal, wenn sie seine Eltern besucht hatten, hatte sie es wiederholt: Ein Glück, dass wir hier nicht gelandet sind. Jürgen hatte immer zustimmend gebrummt, wenn sie das sagte. Als seine Eltern nach der Flucht das Haus bauten, hatte er bereits eine Stelle als Ingenieur in München angetreten, aber zurechtgekommen wäre er auch hier. Während Colette auf Freunde, Restaurants und Boutiquen Wert legte, benötigte er bloß eine Umgebung, die funktionierte: ein paar Läden, einen brauchbaren Baumarkt und eine Tankstelle, die günstig gelegen war. Er hatte vom Leben nie etwas erwartet; es war eine Aufgabe, die es zu bewältigen galt.
Er stellte den Motor ab und sah zum Küchenfenster, aber die Spitzengardine bewegte sich nicht. Ein paar Atemzüge lang blieb er angeschnallt sitzen. Jetzt müsste sie im Flur sein, jetzt an der Haustüre, jetzt müsste ihr Gesicht, jetzt ein Lächeln im Türrahmen erscheinen. Alles blieb still.
Die Steinplatten, die durch den Vorgarten führten, waren schmutziger als sonst. Ein Springkraut kroch dazwischen hervor, er riss es samt Wurzel aus und warf es achtlos in die Büsche. Als er eine Efeuranke beiseitezog, um die Klingel zu finden, bröckelte etwas Putz ab. Er drückte den Knopf und lauschte ins Haus. Nichts. Er fingerte nach dem richtigen Schlüssel am Bund, fand ihn und sperrte auf. Er stellte die Taschen im Gästezimmer ab, ging ins Wohnzimmer, in dem niemand saß. In der Küche fand er nur eine leere Kartoffelsuppendose, die mit Wasser gefüllt in der Spüle stand. Der Büchsenöffner lag auf dem Küchentisch. Das Ehebett seiner Eltern war leer, die zerwühlten Daunendecken bauschten sich. Im Bad roch es nach Urin und dem Duftspender, der auf dem Fensterbrett stand. Jürgen sah die Speichertreppe nach oben, dann die Kellertreppe hinab. Obwohl sein Vater dort kaum mehr hinunterging, seit das mit seiner Hüfte war, sah er nach. Im Wohnzimmer war das Telefonbuch bei T aufgeschlagen. Taxi Neuweiner. Verrückt. Noch nie hatte er erlebt, dass sein Vater ein Taxi rief.
Er nahm den Hörer ab, um es noch einmal bei Nicki zu versuchen. Niemand ging ran. Er suchte die Mobilnummer heraus. Nicht erreichbar. Wo der Junge nur immer war. Er seufzte. Er fühlte sich verpflichtet, seinen Sohn nach Ebersbach zu holen. Es könnte die letzte Gelegenheit sein. Dennoch erleichterte es ihn irgendwie, dass er Nicki nicht erwischte. Das alles würde anstrengend genug werden, auch ohne ihn.
DIESES GESICHT. Dieses Gesicht, aus dem plötzlich etwas gewichen war, die alte Entschlossenheit, der eiserne Wille, aber da war noch etwas anderes, das fehlte. Lange starrte Walther sie an, ohne darauf zu kommen, was es war.
Grethe?
Er fragte so leise, als wollte er sie nicht wecken. Aber natürlich wachte sie nicht auf, sie schlief ja nicht.
Manchmal war er nachts aufgeschreckt, Schweiß im Nacken, er musste geschrien haben, er wusste, dass es so war. Aber wenn er sich zu Grethe umdrehte, um zu sehen, ob sie etwas bemerkt hatte, atmete sie immer nur, leise und gleichmäßig. Er hatte gewusst, dass sie nur vorgab zu schlafen. Er war immer dankbar dafür gewesen, dass sie das tat. Er hatte sein Gesicht ins Kopfkissen gepresst, in die Daunen geatmet, bis es im Herzen wieder ruhiger wurde und im Kopf wieder dunkel und er endlich schlief.
Und jetzt, plötzlich, war die Dankbarkeit verschwunden, und alles, was blieb, war eine Wut auf sie, eine Wut, weil sie ihn damit allein gelassen hatte, weil sie ihm und sich selbst etwas ersparen wollte, das nicht verging. Und er spürte den Impuls, ihr alles zu sagen, ihr alles ins Gesicht zu spucken, in dieses Gesicht, das sich so oft nichts anmerken ließ, damit nur ja der liebe Frieden in der guten Stube nicht verging.
Aber dann kam die Scham, und die Wut verging, und er nahm noch einmal ihre Hand und drückte sie.
JÜRGEN ERSCHRAK, als er am Zebrastreifen vor dem Tengelmann die alte Frau winken sah. Sie winkte schon von Weitem, obwohl die Straße leer war, kein Auto vor, kein Auto hinter ihm, sie winkte, hilflos, bis er angehalten hatte, starrte ihn an, bis er ihr ein höfliches Zeichen gab. Sie machte einen vorsichtigen Schritt von der abgeflachten Bordsteinkante und ging langsam über die Straße. Die festen Schnürschuhe. Die dünnen Beine. Der Plastikbeutel, den ihre Hand umkrallte.
Ganz in der Nähe hatte sein Vater den Unfall gehabt. Um ein Haar hätte er hier vor diesem Supermarkt die Enkelin der Gilmers überfahren, stattdessen hatte er mit seinem nagelneuen Mercedes den Wagen der Winters gerammt, die in der Eisdiele um die Ecke gewesen waren. Acht oder neun Jahre war das jetzt her, danach hatte sein Vater den Führerschein abgegeben, widerwillig. Mobilität war Freiheit, das galt für ihn, das galt für fast alle seiner Generation. Jürgen schüttelte den Kopf, als er daran dachte, wie entrüstet sich seine Eltern gegeben hatten, als er ihnen damals mit dem Vorschlag gekommen war. Der steile Weg vom Dorf hoch zum Haus, wie sollten sie denn, und ohne Auto? Jürgen hatte eine Haushaltshilfe vorgeschlagen, aber sein Vater hatte nur wütend geschimpft, er bräuchte ein Auto, keinen Pfleger. Das Gefühl, nun völlig abgeschnitten zu sein, hatte sein Vater nur schwer ertragen, genauso wie die Schmach, zu Fuß ins Dorf zu gehen.
Bloß keine Hilfe. Seine Eltern hatten immer im Leben gestanden, wie Ebersbach am Fuße des Hügels lag: Stein auf Stein, ein bisschen geduckt, aber ausharrend. Und kaum kam er ein paar Monate lang nicht zu Besuch, stürzte die sonst so langsam verrinnende Zeit wie ein Erdrutsch herab.
Er bog auf die Landstraße nach Allersköbel ab, die Sonne blendete ihn, als meinte sie es böse. Er kniff die Augen zu, klappte die Sichtblende runter und hielt sich schließlich den Arm vors Gesicht, aber es half nichts, er musste sich am rechten Fahrbahnrand orientieren, an der weißen Linie auf dem Asphalt, die die Straße vom Graben trennte, bis endlich die Einfahrt zum Parkplatz des Kreisklinikums vor ihm erschien.
Es lag nicht am Geruch, dass Jürgen Krankenhäuser hasste, nicht an den Fluren, nicht am Licht. Es waren die Menschen, die sich, kaum dass sie ihre Diagnose erhalten hatten, ablegten, hängen ließen, im Aufenthaltsraum, vor dem Fernseher oder auf einer der Parkbänke draußen, in Betten und Rollstühlen, als sei ein Klinikaufenthalt Urlaub und sie hätten ihn sich verdient. Er selbst war bislang ganz gut durchgekommen, keine Krankheiten, stabiler Kreislauf, er hatte nie geraucht, nie getrunken, keine Laster, nichts, und wenn es hin und wieder einmal ziepte, war es erträglich gewesen, zu ertragen, irgendwie. Seit Jahrzehnten hatte er allenfalls einen Zahnarzt konsultiert, und auch das nur, wenn es wirklich sehr wehtat. Colette hatte ihm das immer vorgeworfen: dass er zu nachlässig mit sich selbst umging, dass er keine Beziehung zu sich hätte, kein Gespür für die Zeichen, die ihm sein Körper gab. Er selbst hätte es als Niederlage empfunden, sich einer Krankheit zu beugen. Er war auch dann noch ins Büro marschiert, wenn er Fieber hatte und sein Puls so heftig gegen die Schläfen pochte, dass er davon Kopfschmerzen bekam.
Die Fahrstuhltür öffnete sich. Er ging den Flur entlang, 319, 321, seine Mutter lag in 314. Er schlich an der offenen Tür des Schwesternzimmers vorbei, er wollte niemanden fragen. Er sah Kunstdrucke an den Wänden, ein Informationsplakat zum Pflegeleitbild, Zettel, die an allen Türen hingen: Händeschütteln überträgt Grippe – wir verzichten darauf!
Sein Vater fuhr auf, als er den Raum betrat.
Jürgen, Junge, du schleichst dich ja an, als wolltest du heute noch Braten aus mir machen! Mann, Mann, Mann.
Du bist mir ein bisschen zu zäh, Vater.
Ach, mit ordentlich Sauce, weißt ja.
Sie sahen sich an und grinsten wieder ihr altes Grinsen, und kurz war alles, wie es immer gewesen war.
Dann fiel ihnen nichts mehr ein.
Eine Weile verharrten sie so, Jürgen stehend, sein Vater sitzend, das EKG piepste, die Flüssigkeit im Tropf war durchsichtig; Jürgen versuchte, den Blick auf seiner Mutter ruhen zu lassen, liebevoll, besorgt, zärtlich. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Er faltete die Hände vor dem Schoß. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus.
Komm, das hat doch keinen Sinn.
Er wandte sich vom Bett ab und ging ein paar Schritte in Richtung Tür. Sein Vater sah erstaunt zu ihm auf, seine Pupillen sahen gefroren aus.
Komm, Vater. Mutter braucht ihre Ruhe. Hier rumzusitzen hilft ihr auch nicht weiter, außerdem ist die Besuchszeit sowieso bald vorbei.
Ja, ja, hast ja recht, sagte Walther, ohne aufzustehen. Hast ja recht.
Also, ich geh schon mal raus, sagte Jürgen, als sein Vater sich immer noch nicht bewegte, und schloss hinter sich die Tür.
WALTHER LEGTE seine Hand auf das Laken, ihm fiel erst jetzt auf, wie kühl es war. Er wusste, dass er seinem Sohn folgen sollte, aber dann dachte er an die Küche, das Wohnzimmer, das Bett, in dem niemand lag –
Er schloss die Augen, schloss sich im Dunkeln ein und dachte an den Moment vor drei oder vier Jahren, als Jürgen angerufen und erzählt hatte, dass er nun ebenfalls in Rente war. Ihn selbst hatte eine Angst ergriffen damals, eine Angst, die er abschüttelte, so schnell es ging. Grethe jedoch war nur still geworden, auf eine innige Weise, wie ein Mensch, der eine leere Kirche betritt. Damals hatte er wieder gespürt, wie nah sie Jürgen war. Sie war ihm immer nah gewesen. Nah, als er zum Studium in den Westen verschwand, nah, als sie in verschlüsselten Briefen die Flucht vorbereiteten, nah, als er Colette heiratete, nah, als die Ehe wieder in die Brüche ging. Walther erinnerte sich noch gut an die Hochzeit, ein Fest war das gewesen, und was für eines, und dieser verrückte Schwiegervater, Jacques oder Pierre oder wie der hieß, und diese Schwiegermutter, Marie, nie wieder hatte er solch eine Frau gesehen, sie schien ihr Leben nicht zu führen, sondern ein Bad darin zu nehmen. Sie hatten ihm Lust auf das Leben gemacht, ja, endlich hatte er wieder das Bedürfnis gehabt zu leben, er wollte Grethe mit beiden Händen greifen und mit ihr in die Zukunft stürmen, aber Grethe hatte misstrauisch in die Runde geschaut, die Völlerei, der Wahnsinn, und ihr Blick hatte seinen verändert, sie hatte ja recht, die Völlerei, der Wahnsinn, wohin sollte das führen. Dass sie zu Recht besorgt gewesen war, stellte sich schon nach ein paar Jahren heraus, als Jürgen auf einmal mit dem kleinen Nicki an der Hand vor der Türe stand; bis die schlimmsten Scheidungsstreits vorbei waren, blieb der Enkel bei ihnen. Grethe hatte ihn wie einen Sohn geliebt, von ganzem Herzen, und obwohl Walther es sich nie hätte anmerken lassen, verletzte ihn die Freude, die der Junge Grethe bereitete. Jürgens Kindheit hatte er im Krieg verbracht – er hatte seinen Sohn nicht aufwachsen sehen.
Sechzig Jahre lang waren Grethe und er jeden Abend nebeneinander eingeschlafen und jeden Morgen zur selben Zeit aufgestanden, ohne Wecker, das hatten sie immer gerne erzählt: dass ihre Uhren ganz aufeinander eingestellt waren, seit sechzig Jahren genau gleich gingen. Und nun, da Grethes Uhr immer schneller lief, spürte er plötzlich das Ziehen der Zeit, die ihnen fehlte.
DRAUSSEN FÄRBTE die Sonne den Horizont orange und rot ein. Die Wolken türmten sich imposant, ein Hintergrund, vor dem sogar der traurige Sechzigerjahre-Bau des Kreisklinikums fast herrschaftlich aussah. Jürgen lehnte sich mit verschränkten Armen gegen sein Auto und sog die Luft durch die Nase ein.
Endlich schob sich die Automatiktür auf. Sein Vater hatte sich bei einer Krankenschwester eingehängt, Jürgen eilte den beiden entgegen, aber mit der freien Hand scheuchte Walther ihn beiseite.
Kannst du mich nicht ein einziges Mal alleine lassen, wenn ich mit ’ner schönen Frau eine Runde dreh?
Na na, Herr Augustin, sagte die Schwester, es ist schon besser, wenn Sie jetzt mit Ihrem Sohn mitgehen.
Da wär’ ich mir nicht so sicher, erwiderte Walther. Wenn Sie wüssten, was mich daheim erwartet!
Wir sehen uns ja morgen wieder.
Ja?, fragte Walther, als hätte sie ihm einen Tag schulfrei versprochen.
Sie nickte zuversichtlich. Und Walther, der sich nun bei seinem Sohn einhängte, sagte: Dann danke ich für diesen Tanz.
Entschuldigen Sie bitte, murmelte Jürgen, mein Vater ist manchmal ein bisschen witziger als nötig. Aber die Krankenschwester kicherte nur, machte winke, winke und ging zum Gebäude zurück. Walther seufzte, Jürgen auch.
Sein Vater war immer manisch darin gewesen, Frauen Komplimente zu machen. Er war dabei nie abstoßend geworden oder auch nur unangenehm, im Gegenteil, irgendetwas an ihm schien Frauen anzuziehen. Schon seine Kundinnen in der Werkstatt damals hatten seinen Charme geliebt, sie waren froh gewesen, dass es im Landkreis einen Mechaniker gab, dem egal war, dass ihnen egal war, was genau ihrem Auto eigentlich fehlte, der es einfach wieder in Ordnung brachte und ihnen obendrein nicht nur einen Freundschaftspreis, sondern auch ein paar Komplimente machte. Auch Grethe tätschelte Walther mit kleinen Scherzen, er erfand Kosenamen für sie und begründete seine Liebe mit so abstrusen Formulierungen, dass sie ihn regelmäßig aus der Küche schicken musste, lachend, so könne sie sich wirklich nicht konzentrieren. Betrogen hätte Walther seine Frau nie, niemals, seine Ehe war ihm immer heilig gewesen, die Flirterei war nur ein Spiel, nicht anders als die Witze, die er ständig machte. Normalerweise hätte Jürgen ihn jetzt aufgezogen: Und wenn du schon beim Bestatter lägest, wenn eine Frau die Leichenwäsche vornähme, du kämest noch einmal zu dir! Aber nun, da er neben seinem Vater im Wagen saß, schwieg er.
Auch Walther war verstummt, als hätte man einem Springbrunnen das Wasser abgedreht. Jürgen startete den Motor, rollte vom Parkplatz und zurück auf die Straße. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sein Vater die Augen schloss. Er dachte an Colette, die sich immer dann, wenn ihr alles zu viel wurde, die Fingernägel in die Stirn bohrte, um sich hinter gesenkten Lidern in Kopfschmerzen zu fliehen.
Alles in Ordnung?, fragte Jürgen vorsichtig.
Ja, ja, nur müde.
Sind ja gleich zu Hause.
Ach was. Walther öffnete die Augen und tat überrascht. Seit der Sache mit der Hüfte damals kannte er die Strecke zum Kreiskrankenhaus auswendig.
Das kann ja was werden, dachte Jürgen. Das kann ja was werden. Er wusste, dass er seinem Vater sagen sollte, dass er gekommen war, um bei ihm zu bleiben, fürs Erste zumindest, bis –
Bis es eine andere Lösung gab.
Er brachte es nicht über sich.
Ich ruf jetzt erst mal Nicki an, sagte er.
Wen?
Deinen Enkel, antwortete Jürgen bissig.
Walther nickte. Jürgen sagte nichts mehr, sondern schaltete das Radio an.
Er sagte nichts, als er den Wagen parkte, sagte nichts über den Vorgarten, sagte nichts zu der Efeuranke, die wie ein gelähmter Arm von der Hauswand hing. Erst als sie sich ins Wohnzimmer setzten, fragte er seinen Vater, ob er hungrig sei, doch der starrte auf das dunkle Fenster und schüttelte den Kopf.
Du musst doch was essen.
Im Kühlschrank fand Jürgen ein paar Becher Joghurt. Der Käse begann zu schimmeln, der Schinken in der Packung sah grünlich aus. Im Brotfach lag ein angebrochenes Päckchen Buttertoast und ein Eck Graubrot, das noch gut zu schneiden war. Er aß zwei Scheiben davon mit Butter und der Blutwurst, die zwischen einigen Dosen Kompott bei den Konserven stand. Er räumte die Sachen wieder weg, goss das Wasser aus der Suppendose in der Spüle, stopfte das Brotpapier hinein und legte die Dose in den Müll. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand.