Fräulein Nettes kurzer Sommer

Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Die Bemerkung von Friedrich Hebbel ist ein Originalzitat, die Bemerkungen davor wurden von Annette von Droste-Hülshoff in einem Brief kolportiert.

 

 

 

 

Besonderer Dank gilt dem Literaturfonds Darmstadt, der die Arbeit an diesem Roman mit einem einjährigen Stipendium gefördert hat.

(Die Verwandtschaft von der Hinnenburg, nachdem 1838 Annette von Droste-Hülshoffs erster Gedichtband erschienen war.)

»Reiner Plunder, unverständlich, confus. Ich begreife nicht, wie eine scheinbar vernünftige Person solches Zeug hat schreiben können.«

(Ferdinand von Galen zum selben Buch.)

»Es ist ein Glück für dich, dass du diesen Leuten ein besseres Urteil zutraust als allen Hinnenburgern und Ferdinand Galen.«

(Sophie von Haxthausen zu Annette von Droste-Hülshoff, nachdem die ersten guten Rezensionen eingetroffen waren.)

»Unangenehm ist mir, dass die Allgemeine Zeitung, die ja allein im Ausland gelesen wird, mich noch immer ignoriert, als ob ich weniger wäre als Annette von Hülshoff, an die neulich ein Referent ein neues Stadium der Literatur anknüpfte.«

(Friedrich Hebbel am 16. Januar 1845 in einem Brief an Felix Bamberg.)[*]

Was tatsächlich im Sommer 1820 auf dem Bökerhof vorgefallen ist, liegt im Dunkeln. Nur wenige Hinweise sind vorhanden. Um mich den historischen Ereignissen anzunähern, habe ich den beteiligten Personen Meinungen in den Mund gelegt, die sie in Tagebüchern, Lebensbeichten und Briefen selber geäußert haben. Meistens jedoch zu anderen Zeiten, anderen Anlässen oder gegenüber ganz anderen Personen. Denkweisen und Einstellungen sind nicht nur inhaltlich eingeflossen. Häufig habe ich auch die Sprache übernommen, manchmal nur einen Ausdruck, manchmal gleich mehrere zusammenhängende Sätze, wörtlich oder fast wörtlich. Einmal gleich einen ganzen Brief.

Wilhelm Grimm war in jenem Sommer aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vor Ort, und ich habe mir noch weitere Freiheiten herausgenommen. Aber nicht sehr viele. Da, wo ich richtigliege, habe ich das Generationen von Historikerinnen und Droste-Forschern zu verdanken, die selbst kleine und kleinste Details über Annette von Droste-Hülshoff, ihre Zeitgenossen oder einzelne oft abgelegene Aspekte des frühen 19. Jahrhunderts wie fleißige Hamster in die Vorratskammer menschlichen Wissens getragen haben.

Ohne sie wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.

 

 

 

 

 

Bodennebel, dicht und grau wie die Wolken am Himmel, wanden sich um ihre Füße. In Fräulein Nettes Gürtel steckte ein leichter Berghammer. Straubes Taschen beutelten sich von all den Kieseln, Feuersteinen und sonstigen mineralischen Raritäten, die Nette und er bei Sonnenaufgang abwechselnd aus einem Steinbruch gelöst hatten. Auch sein Tornister war bis obenhin mit Geröll vollgestopft und die Pfeife darin inzwischen wohl hoffnungslos verschrammt. Schweigend durchquerten sie ein Wiesental, stapften durch hohes Gras und riesige Farne, von denen Tautropfen schwer ins Moos rannen. Der Saum von Nettes blauem Kleid wurde klatschnass. Straube musste sich vorbeugen, das Gewicht des Tornisters zerrte unangenehm an seinen Schultern.

Das ist die Liebe, dachte Straube. Nun hat sie mich erwischt, und es muss ausgerechnet ein Freifräulein sein. Doch warum eigentlich nicht?

Man schrieb das Jahr 1819. Die Lebensverhältnisse änderten sich mit bis dahin unbekannter Geschwindigkeit.

Jetzt aber lösten die Nebel sich auf, am Himmel erschien ein Bernsteinstreifen und am gegenüberliegenden Hang wurde der Bökerhof mit seinem blaugrauen Mansardendach und den turmartigen Seitenflügeln sichtbar – das Schloss, ein

Die Morgensonne brach durch, und ihr blendend helles Licht schien allzu nüchtern auf Straubes hochfliegende Hoffnungen. Natürlich, Freund August brachte ihm aufrichtige Bewunderung entgegen, sah in ihm den neuen Stern am Dichterhimmel – nur mit Goethe vergleichbar. Ganz allgemein hielt man große Stücke auf Straubes poetische Talente, und die Haxthausen’schen Mädchen schenkten ihm zu den hohen Feiertagen bestickte Tücher. Alle, alle liebten und bewunderten sie ihn, selbst Fräulein Nettes strenge Mutter, die Freifrau von Droste-Hülshoff, hatte an ihm einen Narren gefressen. Das war vielleicht das größte seiner vielen Talente, dass er so schnell die Zuneigung seiner Mitmenschen zu gewinnen verstand. Allerdings sah die Freifrau in ihm wohl eher einen Beitrag zur Abendunterhaltung als den potenziellen Ehemann für eine ihrer Töchter. Denn zum Mangel seiner Bürgerlichkeit gesellten sich noch der Makel der falschen Religion und das Gebrechen der Armut. Er war der Sohn eines Bankrotteurs. Die Verhältnisse zogen und zerrten von allen Seiten an seinem Glück. Selbst Freund August wäre wohl nicht allzu begeistert von der Aussicht, dass seine Nichte einen Mann heiratete, für den er die Sammelbüchse herumgehen ließ.

Straube warf einen Blick auf das schmächtige Mädchen neben sich, das mit großen unweiblichen Schritten das Tempo vorgab – so groß, wie das schmal geschnittene Kleid es eben noch

Der Morgen war sicherlich die ungeeignetste Tageszeit, um einen Kuss zu versuchen. Aber am Abend zuvor, wo es doch so viel leichter gewesen wäre, sich zu erklären, hatte es vor lauter bürgerlicher Zerstreuung mal wieder keine Gelegenheit gegeben, mit Nette allein zu sein – was letztlich auch der Grund gewesen war, weswegen er sie auf ihre abscheulich frühe Exkursion begleitet hatte. Am selben Tag noch musste er wieder abreisen, und bis zum Bökerhof waren es nur noch ein paar Schritte. Schon hatten sie den rückwärtigen Park erreicht. Um Zeit zu schinden, behauptete Straube, rauchen zu wollen, ließ sich auf einer Bank nieder, setzte seinen Tornister ab und kramte seine Pfeife aus den Mineralien. Er musste einige Fundstücke herausholen und neben sich aufreihen, bevor er die Pfeife zu fassen bekam. Annette setzte sich neben ihn, nahm einen gesprenkelten Porphyr in die Hand und hielt ihn in die Sonne. Sie räusperte sich.

»Wie kommt es bloß, dass wir Steine für etwas Totes halten«, sagte sie und ihre Worte lagen auf der Stille wie zitternde Wassertropfen auf einem Blatt, »schauen Sie nur – wie bunt und funkelnd.«

»Hm, ja«, antwortete Straube, nahm eine Brille aus der Tasche seiner gelben Flausjacke, setzte sie auf und heuchelte Interesse. Dann werkelte er einigermaßen geschickt mit Feuerstein und Zunder. Die Pfeife begann zu qualmen und er tat die ersten Züge, wobei die verglühenden Reste seines Zunderschwamms einen unangenehmen Geruch verbreiteten. Zu spät fiel ihm ein, dass durch die Pfeife in seinem Mund der Versuch eines Kusses

»Wollen Sie mir nicht einmal die Treibhäuser zeigen?«

Seine Stimme war ungewöhnlich hoch für einen Mann. Eine grässliche Stimme, sie hatte ihm den Spitznamen »Wimmer« eingetragen. Aber wenn er mit Gewalt versuchte, männlicher zu klingen, wirkte das furchtbar gekünstelt.

»Jetzt? Wir sind bereits spät dran für das Frühstück«, sagte Annette. »Ich dachte, August hätte sie Ihnen gezeigt.«

Sie legte den Porphyr zurück in den Tornister und griff sich stattdessen einen silberglitzernden Glimmer und einen Amethysten.

»Nein«, sagte Straube, »er hatte es vor, aber es kam uns immer etwas dazwischen.«

Natürlich hatte August ihm die berüchtigten Treibhäuser längst vorgeführt und dabei die beachtliche Anzahl jener Mädchen, Mägde und Kammerkätzchen erwähnt, die er hier bereits geküsst hatte – »geküsst auch, hehe«.

Annette drehte schweigend Amethyst und Glimmer nebeneinander in den Sonnenstrahlen, kniff Lippen und Augen zusammen, um die Lichteffekte besser würdigen zu können. Dann sah sie Straube an und lächelte kopfschüttelnd.

»Ein Amethyst – also wirklich. Ob hier wohl sonst schon jemand einen Amethysten gefunden hat?«

Straube stieß kurz hintereinander mehrere Rauchwolken aus.

»Ich würde ungern abreisen, ohne die Treibhäuser gesehen zu haben.«

Annette legte die Mineralien zur Seite und stand auf. Wortlos

 

Die Luft im Treibhaus war dumpfig. Durch das Glasdach fiel ein grünliches, geheimnisvoll gestreutes Licht. Die Treibhäuser waren erst vor wenigen Jahren erbaut worden, nach englischem Vorbild, und bislang hatte man noch nicht herausgefunden, auf welchem Weg man das Dach von Laub und Moosen befreien konnte. Eine Leiter anzulegen wagte man nicht wegen der fragilen Konstruktion. Das Glashaus war für Pfirsichbäume und Weinreben eingerichtet worden. Mit wenig Enthusiasmus. An der hinteren Mauer zog sich ein dürftiges Pfirsichspalier empor und gleich neben der Tür kümmerte eine Ananaspflanze vor sich hin. Weit schlimmer noch aber stand es um die Weinstöcke, die außerhalb des Treibhauses gepflanzt waren und durch Maueröffnungen nach innen wuchsen, wo sie, statt an den Fenstern emporzuklimmen, über den Boden krochen. Auf einem Holztisch standen einige Kakteen und auf dem Boden fünf größere Pflanzen, Farne vermutlich, aber seltsam struppig, die über den Boden verteilt worden waren.

»Vorsicht«, sagte Fräulein Nette, »treten Sie nicht auf das Papier, es ist mit Kleister bestrichen.«

Straube sah zu Boden. Er stand bereits auf einem Papier. Als er den Fuß hob, blieb es an seiner Sohle haften. Mit spitzen Fingern zog er es ab. Als er wieder aufschaute, stand Fräulein Nette mit dem Rücken zu ihm an dem groben Holztisch und kratzte mit dem Fingernagel etwas Erde aus einem Blumentopf. Dabei hielt sie sich bucklig, die Schultern verkrampft und unvorteilhaft hochgezogen. Straube trat hinter sie.

»Stimmt es, dass ihre Schwester Jenny nicht zum Bökerhof kommen darf, wenn Wilhelm Grimm zugegen ist?«, fragte er.

»Was reden Sie da?«, fauchte sie. »Erst im letzten Jahr haben wir die Grimms in Kassel besucht. Was soll diese Unterstellung?«

Straube wich bestürzt zurück. Er hatte das Thema bloß angeschnitten, um dem Gespräch eine vorteilhafte Richtung zu geben. Gewiss, es war ziemlich kühn gewesen, ungehörig geradezu, aber das rechtfertigte noch lange nicht diese schroffe Art, mit der Fräulein Nette ihn zu brüskieren versuchte.

»Nun verstehe ich etwas besser, warum Ihr Onkel mich vor Ihnen gewarnt hat.«

Seine Worte hatten die beabsichtigte Wirkung.

»August? Was hat August gesagt?«

»Nicht August. Ihr Onkel Werner. Aber ich kann es Ihnen nicht weitersagen. Das wäre ein Vertrauensbruch.«

»Sie müssen!«

Sie stand jetzt dicht vor ihm. Ihre Augen waren weit vor den Lidern hervorgetreten, ihrem Atem hatte sich ein leiser Pfeifton zugesellt.

»Na gut«, gab Straube schneller, als er es vorgehabt hatte, nach, »aber dann müssen Sie mir schwören, es geheim zu halten und keinen Streit deswegen vom Zaun zu brechen.«

Er streckte ihr die Hand hin.

»Wenn herauskommt, dass ich es Ihnen verraten habe, verliere ich einen Freund und Gönner.«

Sie reichte ihm ihre kleine feuchte Hand.

»Ich verspreche es.«

Er hielt ihre Hand fest, drehte und wendete sie behutsam in der seinen, spürte dem Klebrigen und der Körperwärme des Mädchens nach, während er antwortete.

»Werner sagte, Sie wären eitel und impertinent und man

Annette erstarrte; für einen Moment sah es aus, als ob sie weinen würde. Sie versuchte, ihre Hand zurückzuziehen, aber Straube hielt sie fest.

»Die Rohheit dieses Vorschlags hat auch mich entsetzt. Sie dürfen es Ihrem Onkel aber nicht übel nehmen. Er versteht nicht, dass Sie alles Erschaute viel tiefer erfassen, als ihm je vergönnt sein wird. Sie und ich, wir sind ja gleiche Seelen, und wenn ich Sie nach Fräulein Jenny frage, dann geht es mir nicht darum, unpassende Gespräche über Ihre Schwester zu führen – es ist nur, dass ich gern Ihre Sicht der Dinge wüsste«, sagte Straube, holte tief Luft und fasste ihre Hand noch etwas fester. »Ihre Herren Onkel erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Ich kann es mir aber gar nicht vorstellen – der staubige Grimm und ihre liebe, lebhafte Schwester, das Blumenkind.«

»Jenny sagt, dass nichts wäre und nie etwas war, und dabei sollten wir es vielleicht belassen«, antwortete Annette. Ihr Puls hüpfte gegen seine Handfläche.

»Sie hat viel geweint«, fügte sie hinzu, »aber sie kennt ihre Pflichten. Manchmal frage ich mich, warum der Herr so viel Schmerz vor seine Gnade gesetzt hat.«

»Jenny ist ein braves Kind«, sagte Straube, »mir kommt es oft vor, als wären Sie die Ältere und Jenny die Jüngere. Halten Sie denn eine solche Verbindung ebenfalls für aussichtslos? Ich denke, Sie wissen, warum ich das frage.«

Er zog ihre Hand zu sich heran und legte sie sich auf das Herz.

»Es ist primitiv, Sitten und Traditionen zu göttlichen Geboten zu erklären«, sagte Fräulein Nette rasch und sah ihn ängstlich an.

»Denken Sie, dass der arme Wilhelm Grimm genauso leidet?«, rief Annette plötzlich wild. »Zwei Leben zerstört aus Konvention und Vorurteil?«

»Wollen Sie meine ehrliche Meinung?«, fragte Straube. »Ich glaube: nein. Die Grimms leiden nie. Jedenfalls nicht Jacob und Wilhelm. Nicht, solange sie in ihren muffigen Manuskripten herumblättern und Staubwolken auslösen dürfen.

Die sind selber wie die Zwerge in ihren Märchen. Wenn bei denen ein schönes Schneewittchen vor der Tür steht, dann ist das Einzige, was ihnen dazu einfällt« – er blies die Backen auf und imitierte Wilhelm Grimms Stimme beim Märchenerzählen –: »Bist du bereit, unseren Haushalt zu führen, uns die Sachen zu waschen und für uns zu kochen, dann komm nur herein.«

Annette lachte.

»Wissen Sie, warum er das Märchen Sneewitchen genannt hat? Ich meine Snee…, nicht Schneewittchen, wie es ja eigentlich heißt? Er hat gesagt, er will damit einen Anklang an die isländischen Sagas erreichen. Der Grimm ist solch ein Blender …«

»Jenny soll froh sein, dass sie ihn los ist«, sagte Straube, »Grimm ist vor allem eine alte Schlafmütze – langweilig wie der bittere Tod.«

»Nein«, sagte Straube, »so bin ich nicht.«

Er legte ihr den freien Arm um die schmächtige Schulter. Das Fräulein wollte zurückweichen, aber er hielt sie einfach fest. Straube fühlte, wie Nette sich verkrampfte. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah auf den Boden. Sie zitterte. Er zögerte kurz, ob er es nicht doch lieber lassen sollte, aber dann beugte er sich vor und küsste sie auf den geschlossenen Mund. Sie küsste nicht zurück, hielt aber still. Seine Nase war im Weg, wischte plump über Nettes Wange. Ah, diese Nase! Wie ein Entenschnabel! Sie war schuld, dass man ihn nie ganz ernst nahm. Er hielt den Kopf schräg, setzte etwas weiter seitlich an, küsste noch einmal, wobei ihm diesmal die Brille verrutschte. Fräulein Nette stand immer noch erstarrt, die klebrige Hand eiskalt in der seinen, die andere hing leblos herab. Aber Straube hatte auch nicht erwartet, dass sie sich wie die Bedienung einer Studentenkneipe aufführen würde. Er wäre sogar schockiert gewesen, wenn sie das getan hätte. Immerhin war sie ein Freifräulein. Das Freifräulein von Droste-Hülshoff wand sich nicht in den Armen eines dreisten Studenten. Aber sie hatte sich auch nicht gewehrt. Sie hatte es zugelassen. Sein Glück war gemacht.

Zu früh geboren

Annette von Droste-Hülshoff war eine Nervensäge. Schon ihre Geburt hatte den Eltern Kummer bereitet. An einem klirrend kalten Januarmorgen des Jahres 1797 war ihre schwangere Mutter, Therese von Droste-Hülshoff – eine Autorität in Anstandsfragen, die normalerweise jedes auffällige Benehmen, dieses bürgerliche Verhalten, wie den Tod scheute –, auf die fixe Idee gekommen, ganz allein auf dem zugefrorenen Burggraben einmal rund um das Hülshoff’sche Wasserschloss zu schliddern, und prompt gestürzt. Mit hochrotem Kopf nach allen Seiten äugend, ob jemand das peinliche Missgeschick beobachtet haben könnte, rappelte sie sich wieder auf, klopfte sich den Schnee vom Rock und verfügte sich beschämt in ihre Gemächer. Kurz darauf setzten die Wehen ein, zwei Monate zu früh, und Therese gebar ein winziges, kümmerliches Geschöpf mit noch winzigeren Händchen, die Finger wie Spatzenkrallen und die Nägel daran kaum wahrnehmbare Häutchen. Man hatte auf einen Sohn gehofft. Eine Tochter – Jenny – gab es ja bereits, wozu also noch eine? Clemens-August II. von Droste-Hülshoff, der wenig glückliche Vater, durfte das ererbte Schloss samt Teehaus, Parkanlage und Pachteinnahmen von etwa hundert umliegenden Bauernhöfen auf insgesamt 750 Hektar Land nur behalten, wenn er mit einer katholischen Frau einen Sohn zeugte. So waren die Bedingungen. Weswegen er sich nach dem frühen Tod

Als Annette heranwuchs, gesellte sich zu der zerbrechlichen Konstitution ein heftiges und störrisches Wesen. Sie zeigte wenig Neigung, sich mit angemessenen Beschäftigungen aufzuhalten, stromerte in der matschigen Moorlandschaft herum, kam mit verkrusteten Stiefeln und Kleidersäumen zurück und schwänzte den Unterricht, den sie gemeinsam mit ihrer Schwester und den beiden zur allseitigen Erleichterung schließlich doch noch geborenen Brüdern bei einem Hauslehrer nehmen durfte. Mathematik, Latein, Griechisch und Französisch waren keine selbstverständliche Ausbildung für junge Damen – Französisch ging gerade noch durch, Mathematik aber auf gar keinen Fall. Der Unterricht von Mädchen bestand normalerweise darin, sie in sittsamer Langeweile aufwachsen zu lassen und durch möglichst stumpfsinnige Handarbeiten geistig zu verstümmeln. Schon Rousseau hatte das empfohlen. Frömmigkeit und Unschuld anstelle von Wissen, Sanftmut statt Algebra. Außerdem sollte man ihnen so viel wie möglich verbieten. So kamen die jungen Damen gar nicht erst auf dumme Ideen und entwickelten jene vollkommene Gefügigkeit und allduldende Schicksalsergebenheit, die sie ein Leben lang benötigen würden. Doch der

»Nein, das dürfen Sie nicht zulassen. Auf gar keinen Fall!«

Er stellte die Kaffeetasse energisch, aber geräuschlos auf dem Hülshoff’schen Tisch ab und versenkte das Kinn im Stehkragen seines rabenschwarzen Rocks.

»Halten Sie Ihre Tochter von jedem Lob ferne, ganz gleich wie vorzüglich die Fähigkeiten sind! Nicht einmal Sie selber dürfen sie loben – sonst wird sie hochmütig und träge.«

»Ich möchte nur wissen, wer diesem Raßmann von meiner Tochter erzählt hat«, schnaubte die Freifrau. »Wenn Gäste sich

»Ganz gewiss nicht«, echote Overberg, hob seine Tasse wieder an den Mund und spitzte schon mal die Oberlippe.

»Annette muss vor den Enttäuschungen, die eine solche Einbildung unweigerlich nach sich zieht, bewahrt werden.«

 

Doch dann trat Werner von Haxthausen auf den Plan. Werner war einer von Therese von Droste-Hülshoffs Stiefbrüdern. Ihre eigene Mutter war kurz nach der Geburt erst achtzehnjährig verstorben, aber ihr Vater, der alte Freiherr von Haxthausen – damals natürlich noch ein junger Freiherr von Haxthausen –, hatte kurz darauf wieder geheiratet und mit der neuen, robusteren Frau Jahr für Jahr Kinder in die Welt gesetzt, von denen vierzehn das Erwachsenenalter erreicht hatten. Sieben Schwestern und sieben Brüder.

Der zweiunddreißigjährige Werner war der vierte Sohn und galt als das Familiengenie, auch wenn er etwas zappelig war. Er hatte in Münster und Prag die Rechte studiert, in Paris und Göttingen die Klassischen und Orientalischen Sprachen und in Halle Medizin. Und weil er sich damit immer noch nicht ausgelastet gefühlt hatte, war er nebenher auch noch zu philosophischen und naturwissenschaftlichen Vorlesungen gegangen. Als Werner von Haxthausen sich nun von dem Talent seiner frühreifen Nichte beeindruckt zeigte, sie gar eine zweite Sappho nannte – »Aber ja doch, wir müssen das fördern, es gibt da kein Beispiel, nicht von den größten Dichtern, dass bereits in diesem Alter …« –, räumte Therese schließlich ein, dass es möglicherweise doch etwas mit dem poetischen Talent ihrer jüngsten Tochter auf sich haben könnte. Zwar vermied sie es auch

 

Sprickmann empfing Annette in seinem Arbeitszimmer, dessen Wände vom Boden bis zur Zimmerdecke mit Büchern tapeziert waren. Zumindest drei der vier Wände waren vollständig mit Wissen gefüllt, die vierte war es nur zu drei Vierteln. Auf dem letzten freien Streifen Putz hing in einem schlichten schwarzen Rahmen ein Kupferstich, der einen Strand voller Palmen und halb nackter Eingeborener zeigte. Die Eingeborenen schoben ein Boot ins Meer. Annette blieb davor stehen, und Sprickmann stellte sich sofort neben sie.

»Otaheite«, sagte er. Begrüßt hatten sie sich schon. »Ganz wunderbare Menschen sind das dort auf Otaheite, voll von

Er seufzte tief.

»Nicht so verzogen und überkultiviert wie wir Europäer. Aber, nun ja, es hat nicht sollen sein.«

Annette wusste bereits, dass Sprickmann in jüngeren Jahren vorgehabt hatte, mit Gleichgesinnten eine Poetenkolonie auf Tahiti zu gründen. Und er wusste, dass sie es wusste. Vermutlich kannte halb Münster die Geschichte. Deswegen redete er auch gleich weiter.

»Wären wir damals gereist, meine Dichterfreunde und ich, so hätten die Eingeborenen uns zu ihren Aposteln und Gesetzgebern gemacht, und wir hätten sie im allererfreulichsten Sinne erziehen können.«

»Wovon hätten Sie leben wollen – auf Otaheite?«, fragte Annette.

»Nun, ich bin sicher, diese großzügigen Naturkinder hätten uns den vorzüglichsten Genuss ihrer schwelgerischen Güter zugestanden.«

»Warum hätten sie das tun sollen?«

»Warum nicht?«, erwiderte Sprickmann etwas verärgert über dieses altkluge Mädchen, dieses Kind, das es wagte, seinen tropischen Traum infrage zu stellen.

»Deutsche Dichter, die in Liebe und Wohltat zu ihnen kommen … Wir hätten ihnen die beste Nation unter der Sonne errichtet. Außerdem wachsen einem die Früchte dort in den Mund. Diese lieben Menschen teilen gern. Sie teilen alles.«

Sein Blick verklärte sich, und er gab sich einer Sekundenphantasie hin, in der er mit den Graziengestalten des Landes badete und ein zweites Brahmanengeschlecht auf die Paradiesinsel pflanzte.

»Ist das da eine Frau?«, fragte Annette und beugte sich vor. Oft fiel es ihr schwer, alles klar zu erkennen, erst wenn sie sich

Sprickmann errötete. Warum hatte er sich nur breitschlagen lassen, dieses aufsässige Adelskind zu unterrichten.

»Nein«, sagte er barsch, ging mit zwei großen Schritten zur gegenüberliegenden Wand, zog ziemlich wahllos Bücher aus den Regalen und packte ein halbes Klafter Shakespeare, Schiller, Goethe und Byron auf den Schreibtisch.

»So! Durchlesen! Wiederkommen und Eigenes mitbringen!«

Annette sah ihn etwas ratlos an. Sprickmann ließ seine Hand über den braunen Buchrücken mit den goldenen Buchstaben kreisen, stieß wie ein Habicht auf eines hinunter und überreichte ihr einen Gedichtband von Byron.

»Lesen Sie erst mal, vorher macht es gar keinen Sinn, dass wir uns unterhalten. Auf Wiedersehen.«

Er wusste, dass er unhöflich war. Aber falls seine neue Schülerin sich von seiner schroffen Art brüskiert fühlte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Außerdem war es ihm auch egal. Falls sie den Unterricht abbrechen würde – nun, umso besser. Er konnte seine Zeit sinnvoller verbringen, als sich mit unverschämten Adelstöchtern herumzuplagen.

Aber Annette brach den Unterricht nicht ab. Sie las. Und kam wieder. Und brachte Eigenes mit.

Sprickmann las, lächelte väterlich und tadelte sanft. Gar nicht so schlecht. Vielleicht war das hier doch keine vertane Zeit. Er verordnete das nächste Buch.

Annette konterte mit dem Trauerspiel Bertha oder Die Alpen.

Sprickmann las, runzelte die Stirn und tadelte weniger sanft.

Annette himmelte ihn an.

Von nun an kam sie beinahe jede Woche nach Münster. Wenn niemand sie in der Kutsche mitnahm, ging sie zu Fuß, lief zwei, bei schlechtem Wetter auch schon mal drei Stunden Weg durch Schlamm und Morast über Heiden, Moore und Felder. Ihre

 

Die literarischen Fortschritte seiner Nichte konnte der umtriebige Onkel Werner allerdings nicht mehr verfolgen, da er schon wieder etwas Neues angezettelt hatte. Diesmal hatte er an einer Verschwörung teilgenommen – gegen niemand Geringeren als den König von Westfalen, Jérôme Bonaparte, den Bruder von Napoleon. Die Sache flog auf, und Werner musste nach London fliehen, wo er in einem Krankenhaus als Hilfsarzt Anstellung fand und seine Auswanderung nach Asien vorbereitete. Als Schiffsarzt der Ostindien-Kompanie. In Hülshoff wurde der Name des patriotischen Bruders, Schwagers und Onkels nur noch mit Ehrfurcht geraunt.

An seiner Stelle kam nun August von Haxthausen zu Besuch, den Annette und ihre Geschwister sowieso viel lustiger und interessanter fanden. Er war der Jüngste ihrer Onkel, nur fünf Jahre älter als Annette selber und hatte mit dem Hülshoff’schen Nachwuchs bereits als Kind herumgetollt, war mit ihnen ausgeritten und auf Bäume geklettert. Er hatte riesige Hände, war immer laut und vergnügt, immer hungrig und neigte zur Leibesfülle. In Clausthal-Zellerfeld studierte er die Montanwissenschaften, das Studium der Zukunft. Sobald die Dampfmaschinen sich erst überall durchgesetzt hatten, würden Tonnen von Steinkohle und Eisenerz gebraucht werden und Menschen, die dafür sorgten, dass sie gefördert werden konnten. Auch die Söhne adliger Familien waren ja neuerdings gezwungen, sich in bürgerlichen Berufen zu bewähren – insbesondere, wenn man der Jüngste von sieben Brüdern war.

 

Wenn August in den Semesterferien nach Hülshoff kam, brachte er Mineralien und Versteinerungen mit, worauf Annette ihre Begeisterung für den Lieblingsonkel sogleich auch auf die

»Es ist die Pflicht des Adels, das tradierte Liedgut zu sammeln«, hatte August ihn beschworen. »Meine Brüder Carl und Fritz haben damit schon vor Jahren begonnen. Vor Kurzem habe ich die Sammlung dann übernommen. Wenn Sie wollen, dass diese Lieder nicht in Vergessenheit geraten, dann müssen Sie sie mir einfach anvertrauen. Wenn ich sie abgeschrieben habe, bekommen Sie sie ja wieder.«

 

Sprickmann sah die Lieder nie wieder. Es war nicht mehr die Zeit, in der man sich um die Rückgabe ausgeliehener Dinge kümmerte. Größere Aufgaben standen bevor. Napoleon hatte in

Hinweg jetzt mit allem Französischen. Unterschiede zwischen den Werten der Aufklärung und denen des französischen Absolutismus wurden schon gar nicht mehr gemacht. Das war alles eins, das war alles einfach bloß Unterdrückung, den deutschen Völkern aufgezwungen von diesem abscheulichen kleinen Korsen. Auch Werner gab jetzt seine Auswanderungspläne mit der Ostindien-Kompanie auf und kam aus London zurück, um dem Vaterland beziehungsweise den Vaterländern zur Seite zu stehen. Innerhalb zweier Jahre war Napoleon geschlagen und die französische Besatzung glücklich vertrieben. Die Familienbesuche konnten wieder aufgenommen werden.

 

Annette war inzwischen erwachsen geworden. Das Gesicht des jungen Freifräuleins hatte sich zu einem blassen, schmalen Oval geformt – mit einem kleinen, hübsch geschwungenen Mund, einer langen, feinen, wenn auch etwas schiefen Nase und großen, wässrigen und leider Gottes, es ließ sich nicht beschönigen, auch ziemlich vorstehenden Augen – kurzsichtig wie die eines Maulwurfs. Bereits auf eine Entfernung von zwei Schritten konnte sie die Gesichtszüge ihres Gegenübers nicht mehr erkennen. Deswegen schob sie im Gespräch auch meistens den

Am Klavier beherrschte sie nun das Hauptsächliche des Don Juan, steigerte sich aber oft auf ungute Art hinein. Dann warf sie exaltiert ihren Kopf zurück, ihre Frisur löste sich, Annette kam in Atemnot und keuchte unkontrolliert zwischen den Sätzen, die Wangen glühten, kurz: Sie bot einen Anblick, der ihre geneigte Zuhörerschaft bestürzte. Dabei war das Risiko, eine anerkannte Gesellschaftsnorm zu verletzen, für eine Dame am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts auch so schon enorm hoch. Es genügte bereits, zu laut zu sprechen. Oder zu viel. Oder mit einer zu dunklen Stimme. Wobei die normale weibliche Stimmlage bereits als zu dunkel galt. Adlige Jungfern und aufstrebende Bürgerinnen zwitscherten wie frisch geschlüpfte Vögelchen. Nicht so Fräulein Nette. Ihr Alt dröhnte ungefragt dazwischen, wenn eine Herrenrunde sich ungestört glaubte, beleidigte die sensiblen Ohren der Männer und erschütterte ihr fragiles Selbstbewusstsein. Der Umgang mit Sprickmann hatte womöglich dem Irrtum Vorschub geleistet, auch andere Männer würden Wert auf ihre Meinung legen. Überhaupt war sie zu viel hofiert worden. Eitel gemacht durch zu viel Lob, zu viel Aufmunterung – nun sah man ja, was dabei herauskam. August und Werner von Haxthausen hatten allmählich genug von der aufdringlichen Nichte.

Annette verstand es nicht. Sie wollte so sehr die Anerkennung der bewunderten Onkel, und darum mischte sie sich einfach ein, gab ihre unmaßgebliche Meinung über Kunst, Kultur, den Krieg und die Möglichkeit, nun zu einem von Gemeinsinn

Immerhin war Annette klein und zart, fast geisterhaft durchscheinend. Wenn ihre Lider geschlossen waren, konnte man darunter den Schatten der kurzsichtigen Augäpfel sehen. Außerdem war sie ständig krank: Schwäche und Husten, Druck auf der Herzgrube, Schwindelanfälle, Kopfschmerzen, Magenschmerzen, öftere Hitze und Röte einer Wange, gewöhnlich der Rechten, große Beängstigung, ein innerliches Zittern und Fieberschübe. Wenigstens damit entsprach sie dem Ideal der Zeit, das die Spiritualisierung des Körperlichen ersehnte und sich von allzu robuster Gesundheit bei Frauen schnell abgestoßen fühlte. Die Romane wimmelten damals nur so von zarten, überspannten Persönchen, die dem Tode geweiht waren. Besorgnis erregende Blässe war ein Trumpf.

Annettes schlechter Gesundheitszustand hielt sie allerdings nicht davon ab, sich weiterhin vor Tau und Tag allein aus dem Schloss zu stehlen und erst nach Stunden wieder heimzukehren. Ihre Schürze war dann beschmutzt und entweder mit Steinen und Fossilien oder mit zerknickten und halb zerquetschten Pflanzen gefüllt, je nachdem, ob sie sich gerade wieder mehr dem Mineralisieren oder dem Botanisieren verschrieben hatte. Es würde nicht ganz einfach werden, einen Ehemann für sie zu finden, aber schließlich würde der gute Name es retten.