Die Tür ihrer Nachbarin war nicht verschlossen, nur angelehnt, und als sie sie aufdrückte, spürte sie es sofort.
Hier war etwas Schreckliches geschehen.
Sie hörte das Summen der Fliegen und roch den Gestank. Die Wärme der letzten Tage hatte sich in der Wohnung festgesetzt, die Luft erschien ihr wie eine dickflüssige Masse, die sie unmöglich einatmen konnte.
Geh nicht hinein, warnte eine Stimme in ihrem Inneren.
«Beatrix?», fragte sie leise.
Als Antwort schwoll das Summen an. Irgendwo in der Wohnung war ein Schwarm Schmeißfliegen aufgestoben. Einige davon fanden den Weg in den Flur. Trunken von dem, was sie gefressen hatten, taumelten sie brummend an ihr vorbei in den Hausflur. Sie wich ihnen aus. Auf keinen Fall wollte sie, dass sich eine auf ihre Haut setzte.
Ein besonders fettes schwarzes Exemplar drehte direkt vor ihrer Nase ein paar Runden und flog dann zurück in die Wohnung, als wollte es sie auffordern, ihr zu folgen.
Komm mit, ich zeig dir etwas, du wirst begeistert sein.
Sie trat ein. Sie war hergekommen, um nach ihrer Nachbarin Beatrix zu schauen, die sie so lange nicht mehr im Hausflur gesehen hatte, und sie würde nicht kneifen, nur weil es in der Wohnung so stank. Dafür konnte es viele Gründe geben, nicht nur den einen.
Die Fliege taumelte durch den Flur, stieß gegen die Wände, die Lampe, den Spiegel. Fand nach mehreren Versuchen den Weg ins Wohnzimmer, wohin sie ihr folgte.
Sie legte die Hand über Mund und Nase und atmete flach. Die zähe Luft, der widerliche Gestank – ihr wurde schwindelig. Sie riss die Augen weit auf, und ihr Blick fiel auf den niedrigen Wohnzimmertisch mit Glasplatte, der neben der Ledercouch stand.
Darauf lag ein weißer Pizzakarton.
Der Deckel war bis auf einen schmalen Spalt geschlossen. Und aus diesem Spalt krochen sie hinein und hinaus, die fetten Fliegen. Emsig, nachdrücklich, gierig, wie Bienen an einem Bienenstock.
Sie rief noch einmal nach ihrer Nachbarin, bekam aber wieder keine Antwort, und dann ging sie, obwohl sich alles in ihr dagegen sperrte, auf diesen Pizzakarton zu. Er war weiß, auf dem Deckel stand in großen roten Lettern Pizza, über die Schrift beugte sich ein Pizzabäcker und kredenzte eine Pizza, von der warmer Duft aufstieg.
Was waren das für Flecken daneben?
Die gehörten nicht dahin.
War das Blut? Oder nur Fliegendreck?
Sie nahm das Messer, das auf dem Tisch lag, schob die Klinge vorsichtig unter den Rand des Deckels und klappte ihn mit Schwung hoch.
Eine schwarze Wolke erhob sich, und sie schrie auf.
Da!
Schon wieder!
Regina Hesse hatte sich nicht getäuscht.
Sie war keine ängstliche Frau, sonst wäre sie nicht in der Dämmerung allein im Wald, aber jetzt lief ihr doch ein Schauer den Rücken hinab.
Mit einer geübten Bewegung drückte sie sich den Gewehrkolben in die Schulter, legte den Schaft auf der Holzbalustrade ab und visierte durch das Zielfernrohr die Stelle an, an der sie die Bewegung wahrgenommen hatte.
Regina wusste: Dort vorn, in fünfzig Meter Entfernung, führte ein schmaler, gewundener, dicht bewachsener Trampelpfad an der Lichtung vorbei, die sie beobachtete. Es war beschwerlich, diesem Weg durch die Schwarzen Berge nahe Hamburg in der Dunkelheit zu folgen. Man musste sich schon sehr gut auskennen, um das zu wagen.
Wer also war da um diese Zeit unterwegs?
Sie ließ den kreisrunden Ausschnitt der Zieleinrichtung ihres Jagdgewehrs von rechts nach links übers Dickicht wandern und wieder zurück, doch er blieb leer. Regina war sich aber sicher, jemanden oder etwas gesehen zu haben.
Konnte das ein Mensch gewesen sein?
Die Waldlichtung lag im silbrig bleichen Schein des zunehmenden Mondes. In diesem Licht sah alles anders aus als am Tage.
Und dennoch …
Die Gestalt hatte ausgesehen wie die Weiße Frau, jene mystische Geistererscheinung, die immer mal wieder durch die Medien spukte. Im 17. Jahrhundert war der Glaube an die weiße Frau weit verbreitet gewesen, aber natürlich war das alles totaler Unfug. Niemand glaubte heute noch an Geister.
Als bodenständiger, vernunftbegabter Mensch, dessen Leben strukturiert und …
«Shit!»
Regina zuckte vom Zielfernrohr zurück.
Die Erscheinung war ihr direkt vors Visier gelaufen! Sie hatte das Gesicht deutlich erkennen können, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Schreck ihre unprofessionelle Reaktion hervorrief. Eine erfahrene Jägerin wie sie gab beim Ansitzen keine Geräusche von sich! Ganz gleich, was ihr vor die Flinte lief.
Zögernd presste Regina ihr rechtes Auge erneut ans Visier und bereitete sich innerlich auf einen schockierenden Anblick vor.
Die Weiße Frau stand noch an derselben Stelle zwischen den beiden jungen Fichten. Ihr Gesicht war eine grauenerregende, verzerrte Fratze, wie Regina noch keine zuvor gesehen hatte. Ihr Puls raste, und sie musste gegen den Drang ankämpfen, sich auf dem Hochsitz zusammen zu kauern, um sich zu verstecken.
Denn jetzt kam die Gestalt über die langgestreckte, mit hohem trockenem Gras und Fichten bestandene Lichtung auf sie zu. Taumelte hin und her, strauchelte, ging zu Boden, richtete sich wieder auf. Dabei zuckte ihr Kopf hin und her wie der eines Raubvogels, und sie fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, als versuchte sie, irgendwo Halt zu finden.
Regina senkte das Gewehr, griff nach ihrem Handy und schoss ein Foto von der Erscheinung, auf dem wegen der Entfernung und des schlechten Lichts jedoch nicht allzu viel zu erkennen war, schickte es per SMS an ihren Freund und rief ihn gleichzeitig an.
Georg war sofort dran. Er blieb immer wach, wenn sie Jagen ging, egal, wie lang es dauerte. Wirklich einverstanden war er nicht mit ihrem Hobby. Aber gegen die alte Familientradition kam er nicht an – sie selbst auch nicht.
«Hey, ich bin’s», flüsterte sie ins Telefon. Das blaue Licht des Displays blendete sie. «Ich hab dir was geschickt … hier läuft eine Frau durch den Wald … ich glaube, die braucht Hilfe.»
«Was? Moment … ich kann nicht viel erkennen, nur etwas Bleiches …»
«Das ist sie.»
«Sieht aus wie ein Geist.»
«Ich weiß.»
«Okay, wo bist du?
«Auf dem Hochsitz zweihundert Meter östlich des Hasselbrack.»
«Bleib da oben, hörst du! Geh auf keinen Fall runter! Ich komme zu dir.»
«Du brauchst mindestens eine Dreiviertelstunde, bis dahin ist sie verschwunden. Ruf die Polizei und bring sie hierher. Ich versuche, der Frau zu helfen.»
«Nein, warte … bring dich bitte nicht in Gefahr!»
Georg mit seiner Fürsorge – einer der Wesenszüge, die sie an ihm liebte.
«Ich bin ein großes Mädchen und bewaffnet!»
«Wenn du nur einmal auf mich hören würdest …»
«Mach dir keine Sorgen, ich hab das im Griff. Bring die Polizei her, ja? Hab dich lieb!»
Regina legte auf und steckte das Handy weg. Georg hatte natürlich recht, sicherer war es auf dem Hochsitz. Die Klappe im Holzfußboden war stabil und ließ sich verriegeln, und tatsächlich dachte Regina darüber nach, sich hier zu verschanzen und auf Georg zu warten. Doch sie konnte die bleiche Frau da unten nicht sich selbst überlassen. Und was sollte schon passieren? Sie hatte ja ein Gewehr.
Regina hob die Klappe an, lehnte sie gegen die Balustrade, nahm ihre Waffe und stieg die einfache Holztreppe aus Fichtenstämmen hinunter. Im tiefen Schatten unter dem Hochsitz verharrte sie. Über das hohe Gras hinweg sah sie nur noch den bleichen, fast schon bläulich leuchtenden Schädel der Frau ragen, ihr Körper blieb verborgen. Der Eindruck, ein Geist schwebe auf sie zu, verstärkte sich dadurch noch.
Regina spürte ihr Handy vibrieren, wurde unsicher, schaute zur offenstehenden Klappe, wünschte sich dort wieder hinauf oder am besten gleich nach Hause, aber dann nahm sie ihren Mut zusammen und trat drei Schritte auf die Lichtung hinaus.
In diesem Moment beschattete keine Wolke den Mond, die Sicht war gut, die Luft erfüllt von silbrig blauem Licht.
Zwanzig Meter vor ihr teilte sich trocken raschelnd das Grasmeer. Regina packte ihr Gewehr, hielt die Mündung aber zu Boden.
«Hallo … kann ich Ihnen helfen?»
Ihr Ruf ließ die Frau abrupt stehen bleiben, so als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Wieder zuckte ihr Kopf raubtierartig hin und her. Beinahe wirkte es, als müsste sie anhand der Geräusche herausfinden, woher der Ruf gekommen war. War die Frau blind?
Regina trat noch einen Schritt vor und stellte sich auf einen kleinen Erdwall, der entstanden war, als ihr Vater damals die Fundamente für die Füße des Hochsitzes ausgehoben hatte. Er schenkte ihr zusätzliche zehn Zentimeter Körpergröße.
Sie wollte sich noch einmal bemerkbar machen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie aus dieser Entfernung und Position Details des Gesichts erkannte.
Auf der linken Seite des Schädels fielen kurze, fransige Haare herab, die rechte Seite war kahl rasiert. Die Haut schien straff über den Schädel gespannt zu sein, Wangenknochen und Nase stießen beinahe hindurch, die Ohren standen weit ab. Zudem war die Haut bleich, fast schon durchscheinend, wie bei einem Albino.
Die Frau sagte etwas, das Regina auf die Entfernung nicht verstand, dabei taumelte sie weiter auf sie zu. Zum Ende der Lichtung hin stand das Gras im Schatten des Waldes flacher, der nackte Körper der Frau ragte daraus empor. Er war bleich, wächsern und ausgemergelt, die Rippen standen deutlich hervor, ebenso Hüftknochen und Schultergelenke.
Hau ab!, rief eine Stimme in Regina. Lauf weg, solange du noch kannst!
Sie konnte es nicht, denn die Frau tat ihr leid.
«Kommen Sie, ich helfe Ihnen.»
Kaum hatte Regina die Worte ausgesprochen, wurde die bleiche Frau schneller, stürzte auf sie zu, die Arme ausgestreckt, die Hände zu Klauen geformt, und mit einem grotesk aufgerissenen Mund formte sie immer wieder die gleichen Worte, die Regina nicht verstand.
Dann war sie heran. Aber sie wurde nicht langsamer, sie rannte einfach weiter.
Regina riss das Gewehr hoch, doch es war zu spät.
Viola May fürchtete sich – wieder einmal.
Den ganzen Tag über war die Angst weg gewesen, aber jetzt, am späten Abend, hockte sie wieder wie ein gefräßiges Tier tief in Bauch und Kopf und spielte ihr Dinge vor, die vielleicht gar nicht passieren würden.
Vielleicht aber auch doch!
Draußen lastete die schwüle Hitze des Tages auf den Häusern Hamburgs, kein Wind regte sich, und in ihrer Sechzig-Quadratmeter-Dachgeschosswohnung war es stickig und warm, kaum auszuhalten. Trotzdem blieben die Fenster gekippt statt weit geöffnet und die Vorhänge zugezogen. Niemand konnte im dritten Obergeschoss durchs Fenster einsteigen, Viola wusste das, aber Fakten verloren schnell den Kampf gegen die Angst, wenn man allein war.
Viola war nicht gern allein, und in diesem Moment sehnte sie sich nach ihrer besten Freundin.
Sie griff zum Handy und rief Sabine an. Die nahm auch sofort ab, trotz der späten Stunde.
«Hey, Süße! Wie geht’s?»
«Ich wollte nur kurz fragen, ob es bei morgen bleibt.»
Die Verabredung zum Shoppen hatten sie erst gestern ausgemacht, natürlich würde es dabei bleiben, und Sabine wunderte sich wahrscheinlich über die Frage. Viola hatte ihr noch nichts von ihrer Angst erzählt.
Zum einen, weil sie diffus und nicht greifbar war und möglicherweise aus nur eingebildeten Schritten, Schatten und Geräuschen bestand. Zum anderen aber auch, weil Sabine sofort Marius verdächtigen und in ihrer impulsiven Art auf ihn losgehen würde. Das wollte Viola nicht, es würde alte Wunden aufreißen, deren Schmerz nach einem Jahr gerade eben abgeklungen war.
«Na klar bleibt es dabei!», antwortete Sabine auf ihre gewohnt fröhliche Art.
Sie war der Typ Mensch, den man nachts um drei wecken konnte, weil man sich aus der Wohnung ausgesperrt oder eine riesige Spinne an der Decke über dem Bett entdeckt hatte. Ganz egal was war, Bine war sofort für einen da. Die Welt brauchte Menschen wie sie, die bewiesen, dass es keine Probleme gab, die durch Lachen nicht leichter, unbedeutender, lösbarer wurden. Viola liebte ihre beste Freundin, sie war die große Schwester, die sie nie gehabt hatte.
«Es sei denn, du hast keine Lust mehr», fuhr Sabine fort. «Stimmt was nicht? Du klingst so komisch.»
«Ja … nein, es ist nichts, nur … ach, ich erzähl dir morgen davon, ist nichts fürs Telefon.»
«Na super! Jetzt macht sie einen auf geheimnisvoll, und ich finde die ganze Nacht keinen Schlaf, weil ich grüble, was sie mir wohl erzählen wird.» Bine lachte. Laut und herzlich. Sie lachte oft, dabei war ihr Leben hart und ernst, voller Krankheit und Verfall, und sie schulterte ganz allein eine Bürde, die ein Mensch kaum tragen konnte. Viola war froh, ihr hin und wieder ein wenig davon abnehmen zu können.
Sie redeten noch eine Weile über Gott und die Welt, dann beendeten sie das Gespräch, und als Viola ihr Handy ablegte, fühlte sie sich besser. Doch dann schaute sie sich in ihrer leeren Wohnung um, nahm die Stille wahr, und sofort war die Angst wieder da.
«Scheiße, jetzt reicht es aber!», sagte sie laut zu sich selbst.
Viola war ein Einzelkind. Früher, wenn ihre Eltern zur Arbeit mussten und sie allein in der Wohnung war, hatte sie oft mit ihrer eigenen Stimme gegen all die Geister und Dämonen angekämpft, die sich so gern an kleinen Kindern schadlos hielten.
Heute, als Erwachsene, waren die Dämonen andere. Weit gefährlichere!
Aber weil Viola sich nicht unterkriegen lassen wollte, nahm sie ihren Mut zusammen, trat ans Fenster, zog den Vorhang beiseite und öffnete es weit. Zwar war die Luft, die hineinströmte, nicht kühl, aber es war immerhin Luft, und der Eindruck, in einem Gefängnis zu leben, ließ ein wenig nach.
Um den Luftwechsel zu erleichtern, öffnete sie auch noch die Fenster in Küche und Bad und sorgte so für Durchzug. Da sie nun schon einmal im Bad war, schnappte sie sich die Zahnbürste und putzte im ersten Akt der Zu-Bett-geh-Routine ihre Zähne. Dabei wanderte sie in der Wohnung hin und her. Das tat sie immer.
Als sie am großen Wohnzimmerfenster entlangkam, stoppte sie.
Draußen auf der Straße war jemand!
Die Laternen standen in dieser Wohnstraße zwar dicht beieinander, aber zwischen den voll belaubten Büschen und Bäumen gab es dennoch genügend Bereiche, in denen die Schatten tief und lang waren.
Genau in so einem Bereich stand er.
Oder sie? Das konnte Viola nicht erkennen, dafür war die Person zu weit entfernt und das Licht zu schlecht. Wer auch immer das war, stand einfach nur da, reglos, die Hände in den Taschen, so viel verriet die Körperhaltung, und der helle Fleck des Gesichts war in ihre Richtung gewandt.
Viola trat vom Fenster weg.
Die Zahnbürste in ihrem Mund stand still, sie spürte Flüssigkeit an ihrem Kinn hinabrinnen, wischte sie abwesend fort, sah sich aber außerstande, ins Bad zu gehen. Ein feiger Teil ihres Wesens riet ihr, still zu verharren und darauf zu hoffen, dass die Gefahr einfach so verschwand. Erst als die weiße, schaumige Flüssigkeit sich nicht mehr mit dem Handrücken wegwischen ließ, ging Viola ins Bad, spuckte aus und spülte sich den Mund. Dann eilte sie ins Wohnzimmer und nahm ihr Handy vom Tisch. Sie wollte ein Foto von der Gestalt schießen, um beweisen zu können – jetzt sich selbst, und morgen Sabine –, dass ihre Angst nicht grundlos war. Doch noch bevor sie dazu kam, hörte sie ein Geräusch im Treppenhaus.
Die Tür ist verriegelt, dir kann nichts passieren, du bist hier sicher, sagte sich Viola.
Ihr Blick fiel auf die Gegensprechanlage mit dem Türöffner und der Klingel. Sie erwartete, sie klingeln zu hören, und als das nicht geschah, schlich sie mit dem Handy in der Hand auf die Tür zu, setzte ihre nackten Füße vorsichtig und mit Bedacht, um ja kein Geräusch zu erzeugen. Das kleine Rund des Türspions zog sie geradezu magisch an. Sie stützte sich mit beiden Händen gegen das Türblatt, beugte sich vor und presste das rechte Auge auf den Spion.
Das Vergrößerungsglas des Spions verzerrte das Treppenhaus, Wände und Türen schienen sich zu wölben. Auf dem billigen Linoleum spiegelte sich hart das Licht. Auf den ersten Blick war niemand zu sehen, aber dann glaubte Viola, einen Schatten unter der Treppe zu erkennen, die in die vierte Etage hinaufführte.
Sie zuckte vom Türspion zurück.
Taumelte rückwärts vom Flur ins Wohnzimmer, bis sie nicht noch mehr Entfernung zwischen sich und die Tür bringen konnte.
Sie wollte Sabine anrufen, doch kaum erweckte sie das Display zum Leben, entdeckte sie einen Anruf in Abwesenheit. Sie hatte ihn nicht hören können, da ihr Telefon stumm gestellt war.
Die unbekannte Nummer endete auf 456.
Eine Nachricht wartete auf der Mailbox.
Viola rief sie auf.
Rauschen … Knistern … und dann ein Geräusch.
«Ich hab sie aus den Augen verloren!»
Jens Kerner stand mit dem Handy am Ohr da und drehte sich im Kreis. Um ihn herum war nur dunkler Wald. Kiefern, Fichten, hin und wieder Buchen, Ahorn und Eichen. Selbst jetzt, mitten in der Nacht, roch es nach Zunder, denn seit Wochen fehlte der Regen, und die ungewöhnlich große Hitze dieses Jahrhundertsommers trocknete die Böden aus.
Jens presste sie auch noch die letzte Feuchtigkeit aus den Poren. Er war verschwitzt und klebrig nach seinem eiligen Marsch durch den dichten Wald der Harburger Berge. Die Forstwege und Trampelpfade bildeten hier ein verschlungenes Netz, dem sein Orientierungssinn in der Dunkelheit nicht gewachsen war. Man konnte nicht sagen, er habe sich verlaufen, immerhin wusste er noch, in welcher Richtung es zurück zu seinem Wagen ging, aber dennoch war die letzte halbe Stunde mehr ein Umherirren als eine strukturierte Suche gewesen.
Shirt und Jeans klebten an seinem Körper, Nadeln in seinem Haar, das Handy an seiner Wange, damit er den Kontakt zu Regina Hesse nicht verlor.
Mittlerweile waren zwölf Polizisten unterwegs in den Harburger Bergen auf der Suche nach dieser ominösen Weißen Frau, aber Regina Hesse war immer noch die Einzige, die sie gesehen hatte und an ihr dran war – bis eben. Und jetzt hatte sie sie auch aus den Augen verloren.
Diese Jägerin war cool, fand Jens. Klare, knappe Sätze, keine Panik, dabei lief sie allein durch den Wald. Jens hatte bisher nur ein verschwommenes Foto von der geisterhaften Frau gesehen, das die Jägerin ihm auf sein Handy gesendet hatte.
Gruselig sah das aus. Ohne diesen Schnappschuss hätte Jens angenommen, Regina Hesse hätte einen an der Waffel und führte die Polizei mit ihrer angeblichen Geistersichtung an der Nase herum.
Aber es war eindeutig eine Frau und kein Geist, die durch das hohe Gras auf die Jägerin zugekommen war. So bleich und ausgezehrt wie eine perfekt geschminkte Figur aus einem Hollywood-Horrorstreifen. Dazu noch nackt und beinahe kahlköpfig. Die Jägerin hatte ihm den Zusammenprall zwar ruhig und sachlich geschildert, doch Jens konnte sich vorstellen, wie viel Angst sie gehabt haben musste. Es stand nicht fest, ob die Frau gefährlich war, immerhin hatte sie die Jägerin nicht wirklich angegriffen, sondern nur aus dem Weg geschubst – Vorsicht war dennoch geboten.
«Können Sie etwas hören?», fragte Jens nach.
«Nein, nichts. Sie muss aber weiterhin in Ihre Richtung unterwegs sein. Leider hält sie sich nicht an die Wege und läuft immer wieder durchs Unterholz.»
«Okay, ich warte hier. Rufen Sie bitte wieder an, wenn Sie die Frau sehen. Und kein Risiko eingehen!»
«Ist gut.»
Umgehend rief Jens seinen Kollegen Rolf Hagenah an, der ebenfalls an der Suche beteiligt war. Er streifte nördlich von Jens durch den Wald. Hagenah hatte mit vier Beamten so etwas wie eine Kette gebildet, eine weitere grenzte den Bereich nach Süden ein, rechts und links von Jens hielten sich die restlichen vier Kollegen und Kolleginnen bereit, um den Wald nach Osten hin abzuschotten. Jens konnte keinen von ihnen sehen oder hören.
Hagenah ging sofort ans Telefon.
«Rolf, pass auf, die Jägerin hat sie aus den Augen verloren, glaubt aber, sie läuft immer noch nach Osten. Kommt doch bitte in meine Richtung, dann ziehen wir den Ring enger zusammen.»
«Geht klar. Aber das ist große Kacke hier im Dunkeln. Ich sehe ja die Hand vor Augen nicht. Wie wäre es mit einem Heli?»
Natürlich hatte auch Jens schon an den Einsatz eines Hubschraubers mit Suchscheinwerfern gedacht, und wenn sie die Frau nicht in einer halben Stunde eingefangen hatten, würde er den auch anfordern, bevor sie irgendwo auf eine Straße lief, vielleicht sogar den Weg an ihnen vorbei bis zur A7 fand und sich und andere in Gefahr brachte. Aber ein Hubschrauber war teuer und sein Erfolg für den Einsatz hier draußen in den Harburger Bergen nicht garantiert. Es war Anfang Juli, das Blätterdach entsprechend dicht, da nützten die stärksten Suchscheinwerfer nichts.
«Nur wenn es gar nicht anders geht», antwortete Jens, beendete das Gespräch, rief seine Kollegin Carina Reinicke an, die für die Kette zuständig war, zu der Jens gehörte, und sagte ihr, sie und ihre Kollegen sollten sich still verhalten und auf Geräusche achten.
Dann steckte er das Handy weg.
Ohne das Licht des Displays war es plötzlich stockdunkel um ihn herum. Erst als seine Augen sich daran gewöhnt hatten, erkannte er Details: Stämme, Äste, Wurzeln, die aus dem Boden ragten – ein schwieriges Terrain.
Seine Ohren wurden spürbar empfindlicher und nahmen noch die kleinsten Geräusche wahr.
Immer wieder fiel etwas aus den Bäumen, Kiefernzapfen vielleicht, die ein leises, aber deutlich vernehmbares Plumpsen erzeugten. Dazu ein Scharren und Kriechen im Unterholz, flink, hastig, mal hier, mal dort. Mäuse oder Füchse, irgendwas Kleines jedenfalls. Jens fürchtete die Wildschweine, die es hier gab. Einer Mutter mit ihren Kleinen wollte er nicht ins Nachtlager stolpern, und er hoffte, dass es den Kollegen auch nicht passierte.
Da Jens zu unruhig war, um stillstehen zu können, ging er den schmalen, halb eingewachsenen Weg nach rechts hinunter. Den Drang, nach seinen Kollegen zu rufen, die nicht weit entfernt sein konnten, musste er mühsam unterdrücken. Nachts im Wald zu sein, war auch für ihn ungewöhnlich, und es fühlte sich alles andere als gut an. Obwohl er wusste, dass bestimmte Bezirke in Hamburg nachts viel gefährlicher waren, war er lieber dort unterwegs als hier.
Ein Geräusch näherte sich von irgendwoher. Schwierig, die Richtung in diesem dichten Wirrwarr aus Stämmen, Ästen und Blättern genau auszumachen.
Jens blieb stehen, verhielt sich still und fragte sich, was er tun sollte, falls diese bleiche Frau aus dem Dickicht auf ihn zustürzte. Sie würde sich wohl nicht einfach so aufhalten lassen, und Verrückte – es konnte sich ja nur um eine Verrückte handeln – waren in der Lage, enorme Kräfte zu mobilisieren. Handschellen hatte Jens keine dabei, nur seine Waffe, doch deren Einsatz wäre in diesem Fall unverhältnismäßig.
Das Geräusch wurde lauter und eindeutiger. Da brach jemand in hoher Geschwindigkeit durchs Unterholz. Noch war die Person ein Stück entfernt, und nur der absoluten Stille hier draußen war es zu verdanken, dass Jens sie überhaupt hörte. Wenn er es hören konnte, konnten seine Kollegen und Kolleginnen es auch und mussten in diesem Moment ebenso alarmiert sein wie er.
Er unterließ es, sie anzurufen. Selbst wenn alle Handys stumm gestellt waren, barg das plötzlich aufflammende Licht der Displays ein Risiko, zudem lenkte es ab und störte die Konzentration.
Was war das nur, das der nächtliche Wald mit dem Menschen machte?
Ein Schrei!
Kurz und grell – und eindeutig weiblich.
Nicht weit entfernt, vielleicht dreißig Meter.
Jens machte sich bereit, stellte sich breitbeinig auf den Weg und ließ den Blick von rechts nach links wandern, um es auf keinen Fall zu verpassen, wenn die Frau aus dem Unterholz brach.
Sein Herz raste, er schwitzte noch stärker. Die gleichen Symptome zeigte er, sobald er seine Dienstwaffe zog, deshalb ließ er sie immer öfter im Holster, auch in Situationen, in denen es sinnvoll wäre, sie zu ziehen. Vor dieser Dirty-Harry-Scheiße hatte er das nicht gehabt …
«Hey … Halt!»
Das kam von rechts. Einer seiner Männer, ziemlich nah dran.
Sofort darauf krachte es laut im Unterholz, beinahe so, als breche ein Braunbär hindurch. Jens hatte während eines Angelurlaubs in Kanada mal erlebt, wie so etwas klang: Beängstigend.
«Nein … nicht …»
Ein weiterer Schrei, diesmal panisch. Gleich darauf ein Stöhnen und Grunzen und Poltern.
Jens’ Hand glitt zur Waffe, schwebte über der Lasche, die sie an Ort und Stelle hielt. Den Riemen zu lösen war, als ließe er den bösen Geist aus der Flasche. Er wollte das nicht, aber wenn man ihn zwang, war es so einfach wie Atmen.
Plötzlich eine Bewegung, rechts von ihm.
Jemand rannte den schmalen Weg hinunter.
Hell hob sich die bleiche Frau von der Umgebung ab. Sie hielt direkt auf ihn zu.
Und sie war schnell! Scheiße, war die schnell!
Die Arme vorgestreckt, die Hände zu Klauen geformt, überwand sie mühelos die Distanz zu ihm. Er sah Blut an ihrem nackten, bleichen Körper, überall Blut. An den Händen, den Armen, den Brüsten, im Gesicht, aus unzähligen kleinen Wunden rann es an dem ausgemergelten Körper hinab. Eine Dokumentation der Tortur, die ihr Weg durch den Wald bis hierher gewesen sein musste.
Jens machte sich ganz breit und streckte die Arme aus.
«Halt!», rief er laut.
Die bleiche Frau reagierte nicht, hielt einfach weiter auf ihn zu.
Ein Schritt zur Seite brachte Jens aus ihrer Bahn, aber er ließ seinen Fuß stehen, über den sie prompt stolperte und fiel. Sie aus vollem Lauf fliegen und aufprallen zu sehen tat Jens weh, und er verzog das Gesicht, als litte er selbst Schmerzen.
Ungelenk und steif prallte sie auf Brust und Gesicht und rutschte zwei Meter über den trockenen Waldboden.
Jens sprang ihr hinterher, wollte sie festhalten, bis einer der Kollegen mit Handschellen kam. Doch unversehens bekam er ihren Fuß in den Bauch, die Luft wurde ihm aus dem Körper gepresst, er taumelte zurück und landete so hart auf dem Hintern, dass seine Kiefer aufeinanderprallten und er sich auf die Zunge biss.
Sofort füllte warmes und metallisches Blut seinen Mund.
Der Schmerz war heftig, aber Jens schrie nicht, sondern schluckte sein Blut hinunter.
Gleichzeitig mit der Frau rappelte er sich auf, ging diesmal auf Nummer sicher und warf sich einfach auf sie – mit seinem gesamten Gewicht von etwas über hundert Kilo und der ganzen ungebremsten Wucht, die in dieser von Schmerz und Wut befeuerten Bewegung steckte. Sein Körper begrub den der bedauernswerten Verrückten unter sich. Er hörte mindestens eine Rippe brechen.
Blut lief ihm zwischen den Lippen hindurch das Kinn hinunter und tropfte auf den nackten bleichen Rücken der Frau.
Jens blickte direkt auf ihren Hinterkopf. Kahl geschoren, aber nicht glatt, sondern eher wie abgehackt. Als wäre jemand mit einer Machete zu Werke gegangen.
Sie riss ihren Kopf zurück, doch er hatte die Bewegung erwartet und wich dem gewölbten Schädelknochen aus. Ihr erschreckend dünner, knochiger Körper wand sich unter ihm wie der einer Schlange, verschaffte sich ein wenig Freiraum, doch entkommen konnte er ihr nicht.
«Hören Sie auf, ich will Ihnen doch nur helfen!», stieß Jens aus. Blut spritzte dabei aus seinem Mund.
War das ein Stück seiner Zunge, was er da gerade hinuntergeschluckt hatte?
Die Frau begann zu schreien. Zuerst war es ein Quieken, doch dann formte sie Worte.
Immer wieder dieselben Worte.
«Darling, Licht meines Lebens … Darling, Licht meines Lebens …»
Vor einiger Zeit
Ihr qualvolles Gewürge nervte ihn, und er war froh, als es mit dem Zuschlagen der Autotür verstummte.
Wie wunderschön dagegen das Rauschen des Windes in den Fichten klang. Verharrte er lange genug, veränderte es sich, und manchmal gelang es ihm, Stimmen herauszufiltern, die für die meisten Menschen nicht zu hören waren.
Wegen der Wälder war er hierhergekommen. Sie gaben ihm all das, was er in der Stadt nicht fand. Ohne die Wälder wäre er längst zugrunde gegangen. So konnte er regelmäßig in sein eigentliches Zuhause fliehen, und er war dankbar dafür, dass die Menschen es verlernt hatten, diesen Ort für ihre Heilung zu nutzen. So hatte er ihn für sich allein.
Er ließ den Wagen vorn am Weg stehen und ging die letzten hundert Meter zu Fuß. Er wollte die Atmosphäre langsam in sich aufnehmen, und das ging nicht in einem Wagen – schon gar nicht, wenn hinten im Laderaum jemand in einem fort würgte und jammerte.
Jeden Schritt nahm er bewusst wahr und sog alle Eindrücke in sich auf. Das Federn des Waldbodens unter seinen Füßen, die kühle Waldluft, den harzigen Geruch der Fichtenstämme und den lebendigen Duft der Pilze, die sich durch das Moos schoben. Im Mondlicht glänzten ihre Hüte wie kleine Kathedralen.
Die dunklen Gebäude tauchten erst im allerletzten Moment vor ihm auf.
Er blieb stehen, lächelte versonnen.
Dass es ihm überhaupt einmal möglich sein würde, bei diesem Anblick zu lächeln, hätte er nicht gedacht. Damals hatte er nur Angst, Panik und den Gedanken an Flucht gehabt. Und Wut natürlich, immer wieder Wut. Aber damit hatte er abgeschlossen. Diesem Ort sein wahres Selbst zurückzugeben half dabei, vergessen zu machen, wofür die Menschen ihn jahrelang missbraucht hatten.
Er freute sich auf die vor ihm liegende, spannende Zeit, aber weil er ein strukturierter Mensch war, gab er sich dieser Freude nicht kopflos hin. Leidenschaft und Verlangen waren noch jedem zum Verhängnis geworden. Wer nicht verstand, dass er beides fesseln musste, sollte besser nicht antreten im Spiel um Leben und Tod.
Er ging einmal um die Gebäude herum und überprüfte sie sorgfältig. Obwohl es hier reichlich Stolperfallen gab, benötigte er dafür kein Licht. Er kannte die Stellen, an denen noch Bauschutt herumlag, Löcher und Gräben mit Brettern abgedeckt waren oder der Boden so abschüssig verlief, dass man leicht den kompletten Hang hinabrutschen konnte.
Nach dem Rundgang war er beruhigt. Alle Fenster und Türen waren intakt. In den vergangenen zwei Jahren hatte es hier keinen Vandalismus mehr gegeben, aber die Idioten konnten jederzeit zurückkehren, auch deshalb war es notwendig, sich davon zu überzeugen, dass er allein war.
Hangaufwärts stapfte er zurück zum Wagen, und sein Herz klopfte schneller. Irgendwo rief ein Käuzchen. Im Unterholz krabbelte etwas Großes umher, ein Marder vielleicht oder ein Waschbär. Vertreter beider Gattungen lebten bei ihm zu Gast auf dem Dachboden, und es gab nicht wenige Nächte, da hörte er sie im ganzen Haus.
Am Wagen angelangt, klopfte er gegen die Seitenwand aus Blech.
Sofort regte sich drinnen etwas, und er stellte sich vor, wie sie zusammenzuckte und von der Wand fortkroch, gegen die er geklopft hatte.
«Hier beginnt dein neues Leben», sagte er laut genug, damit sie es drinnen hören konnte.
Dann stieg er ein, startete den Motor und fuhr zum Haus hinunter. Die Scheinwerfer schnitten Lichttunnel in den Wald und erfassten schließlich die eindrucksvolle Wand aus braun gestrichenen Fichtenbrettern mit den darin eingelassenen weißen Fenstern. Die Scheiben reflektierten das Licht. Für einen Moment wirkte es, als blendete ihn aus dem Inneren heraus jemand mit einer Taschenlampe.
Er fuhr an der rechten Seite des Hauptgebäudes vorbei und die Rampe hinunter, die zum ehemaligen Lieferanteneingang führte. An der Rückseite ragte das in den Hang gebaute Untergeschoss aus dem Boden, das von vorn nicht zu sehen war. Ein zweiflügliges weiß gestrichenes Tor diente als Zugang. Es war gerade hoch genug, um mit dem Lieferwagen hineinfahren zu können. Er stieg aus, öffnete das massive Vorhängeschloss und parkte den Wagen rückwärts ein. Dann schloss er die Tore, verriegelte sie von innen und machte Licht. Da es sich um einen zweckdienlichen Raum handelte, der nicht schön sein musste, wurde er von praktischen LED-Röhren erhellt, die kaltes, hartes Licht abgaben.
Er trat vor die seitliche Schiebetür des Wagens und atmete so lange tief ein und aus, bis er ganz und gar im Jetzt angekommen war. Dann öffnete er die Tür.
«Wir sind da!»
Sie krümmte sich in der hintersten Ecke der Ladefläche zusammen. Da er zuletzt Zementsäcke transportiert hatte und ihm beim Entladen einer von ihnen zerrissen war, war sie mit dem grauen, ätzenden Staub überpudert. Auch eine Art von Schminke, dachte er. Nur nicht die, für die sie sich so begeisterte. Schreien oder gar wehren konnte sie sich nicht; sie trug einen Knebel im Mund und Fesseln an den Hand- und Fußgelenken.
Er betrachtete sie.
Die Schönheit. Schwarm aller Jungs.
«Komm her zu mir, Darling. Ab heute wird alles gut. Ich verspreche es dir.»
Natürlich kam sie nicht zu ihm, sondern drückte sich an die Blechwand des Wagens. Hatte er sich eine andere Reaktion erhofft? Ein bisschen schon, ja, aber er wusste, er musste geduldig sein mit ihr. Gutes geschieht nur den Geduldigen, das hatte er mal irgendwo in den sozialen Netzwerken gelesen, wo die Menschen pausenlos Sinnsprüche posteten, nach denen sie sich selbst nicht richteten.
«Muss ich wirklich zu dir kommen?»
Er wusste, sie war nicht dumm und verstand die Warnung, und er behielt recht. Endlich bewegte sie sich. Zögerlich und ungelenk robbte sie über den staubigen Ladeboden zu ihm heran. Er nahm sich die Zeit und wartete, bis sie die Distanz auf weniger als einen halben Meter verringert hatte. Aus ihren großen, eindrucksvollen Augen starrte sie ihn angstvoll an. Er konnte erkennen, dass sie während der Fahrt geweint hatte.
Er streckte die Hand aus, und sie zuckte zurück.
«Du musst keine Angst mehr haben. Lass mich dich von deinen Fesseln befreien.»
Sie ließ es zu, also drehte er sie herum und löste den Knoten des Knebels in ihrem Nacken. Sobald das derbe Tuch aus ihrem Mund heraus war, atmete sie gierig ein, so als sei sie kurz davor gewesen zu ersticken. Dabei streckte sie den Rücken durch und reckte das Kinn zum Wagendach. Sie schien sehr unter ihren Fesseln gelitten zu haben. Den physischen wie den psychischen.
Er löste den Strick von ihren Hand- und Fußgelenken und trat einen Schritt zurück.
Schwer zu sagen, wie sie beim ersten Kontakt reagierte. Steckte noch genug Kraft in ihr, um sich zu wehren? War noch genug von der alten Arroganz in ihr?
Sie blieb im Wagen hocken und schaffte es, ihn anzuschauen.
«Warum?»
Nur ein Wort, durch Tränen gemurmelt. Ein Wort, das seine Vorfreude und Erwartung dämpfte. Sie hatte nichts verstanden.
Er streckte abermals die Hand aus.
Gib sie nicht auf, sagte er sich. Denn dann bist du wie alle anderen.
«Du wirst es noch verstehen», sagte er gnädig und unterdrückte seinen Ärger.
Nichts war je so einfach, wie man es sich vorstellte oder wünschte, und die wirklich süßen Früchte wuchsen ganz oben in der Krone, nur für die Mutigen, Furchtlosen erreichbar.
«Komm, lass uns hineingehen.»
«Ich will nach Hause.»
«Aber du bist zu Hause. Ab heute gibt es kein anderes Zuhause mehr für dich.»
Plötzlich schnappte sie zu. Wie ein Hund. Nicht so fest, dass es ihm die Knochen durchtrennt hätte, aber für das Fleisch an den Kuppen von Zeige- und Mittelfinger reichte es. Nur weil er seine Hand nicht zurückzog, sondern nachgab, riss sie ihm die Kuppen nicht ab. Der Schmerz war irrsinnig, und er schrie laut auf, gleichzeitig schlug er ihr mit der Faust in den Bauch, so hart er nur konnte.
Ihre Kiefer öffnete sich, aber anstatt jetzt aufzuhören, sprang sie nach vorn, aus dem Wagen heraus, und riss ihn dabei von den Füßen. Dabei schrie sie wie eine Furie und schlug um sich. Sie traf ihn an Kopf, Hals und Oberkörper, und er war derart überrascht von dem Angriff und ihrer Wut, die schier übermenschliche Kräfte in ihr freisetzte, dass er sich zusammenkrümmte und mit den Armen schützte.
Schließlich ließ sie von ihm ab.
Während er am Boden lag und mühsam zu sich fand, hörte er sie in der Tiefgarage rumoren. Sie rüttelte am Tor, das er zuvor mit einem Riegel verschlossen hatte, aber eben nicht mit einem Schlüssel.
«Nein … warte!», rief er.
Doch sie wartete nicht. Er hörte den Riegel zurückschnappen, und dieses Geräusch half ihm dabei, auf die Beine zu kommen. Wenn sie entkam, würde er sie da draußen in den dunklen Wäldern nicht wiederfinden. Dann müsste er all das hier aufgeben.
Das durfte einfach nicht passieren!
Er sah sie in die Dunkelheit hinausstolpern, nach links torkeln. Dort prallte sie gegen einen Baum, ging zu Boden, rappelte sich auf und lief weiter. Große Anstrengung würde es ihn nicht kosten, sie einzuholen, es sei denn …
Kaum stellte der Gedanke sich ein, wurde er auch schon Realität. Sie war zu schnell, sah den Hang nicht, verlor die Kontrolle und stürzte hinunter. Sie rollte und kullerte, sie schlug gegen die Baumstümpfe, die nach dem Fällen der kranken Fichten stehengeblieben waren. Nach dem zweiten heftigen Aufprall hörte er keine Schreie mehr. Nur wenige Sekunden danach verklangen die Geräusche völlig.
Heiß fuhr ihm die Angst in die Glieder, sie könnte sich den Hals gebrochen haben. Dann wäre all die Arbeit der letzten Wochen umsonst gewesen.
Vorsichtig stieg er ihr hinterher.
Sie lag verkrümmt an einer Birke, die ihren Fall gestoppt hatte. Das ehemals schöne lange Haar klebte wild um ihren Kopf, Nadeln und Dreck klebten darin. Und Blut.
Er ging hangabwärts neben ihr auf die Knie und drehte sie vorsichtig herum. Ihr Gesicht war verschrammt und blutig, die Augen geschlossen, doch an ihrem Hals spürte er deutlich den Puls.
Sie lebte!
Vielleicht hatte sie sich etwas gebrochen, das konnte er jetzt nicht feststellen, und es war auch nicht so wichtig.
Aber wie sollte er es schaffen, ihren bewusstlosen Körper den Hang wieder hinaufzubekommen? Das überstieg seine Kräfte.
Er musste nicht lange nachdenken, bis ihm die Lösung einfiel. Weit vorgebeugt, auf allen vieren, krabbelte er den Hang hinauf, öffnete die Garagentore und fuhr den Wagen rückwärts bis an die Kante des Hanges. Dann holte er aus dem Geräteraum ein kräftiges Kunststoffseil, befestigte die eine Seite mit einer Schlaufe an der Anhängerkupplung des Wagens und stieg mit der anderen zu ihr hinunter.
Sie war noch immer bewusstlos. Hoffentlich nur bewusstlos! Wenn sie sich den Kopf so stark angeschlagen hatte, dass sie ins Koma gefallen war, war sie wertlos für ihn. Sie sollte schließlich jede Sekunde der kommenden Jahre genießen können.
Er band das Seil um ihre Fußgelenke und überprüfte noch einmal ihren Puls. Der war gleichmäßig und kräftig.
Beim Hinaufsteigen inspizierte er bei jedem Schritt den Hang, entfernte spitze Äste und aus dem Boden ragende Steine. Dennoch würde die Bergungsaktion weh tun, keine Frage, aber diese Wunden hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Niemand hatte sie gezwungen wegzulaufen.
Oben angekommen setzte er sich in den Wagen, legte den ersten Gang ein, spielte gefühlvoll mit Kupplung und Gas und fuhr die sechs, sieben Meter zurück in die Garage. Dabei behielt er den Seitenspiegel im Blick, konnte aufgrund der Dunkelheit aber nicht erkennen, ob der Körper schon oben angekommen war.
Als er nicht mehr weiterfahren konnte, stellte er den Motor ab, stieg aus und ging zum Hang hinüber.
Ihre Beine lagen auf ebenem Boden, ihr Oberkörper hing hangabwärts. Ein schmutziges Bündel, mehr Erde als Mensch.
Jens Kerner hatte die Schnauze voll, im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Wunde an seiner Zunge blutete seit einer halben Stunde. Kinn, Hals und Shirt sahen aus, als hätte ihm jemand den Hals aufgeschnitten, aber die Sanitäterin hatte nichts weiter getan, als ihm ein halb gefrorenes Kühlpad auf die Wunde zu legen, und ihm befohlen, es mit dem Finger an Ort und Stelle zu halten.
«Halb so wild, wird schon wieder. Schmerzmittel braucht ein Kerl wie Sie doch nicht, oder?»
Ihr Lächeln war Essig mit Zuckerguss, und Jens hatte sich gefragt, wo und wann er ihr eigentlich auf die Füße getreten war. Natürlich hatte er kein Schmerzmittel gewollt. Jetzt bereute er es aber schon.
Mit Kühlpack und der Hand im geöffneten Mund stand er noch am Rettungswagen, als Rolf Hagenah eintraf.
Sein Kollege bemühte sich erst gar nicht, sein Grinsen zu verkneifen. Zu allem Überfluss zog er auch noch sein Handy hervor und schoss ein Foto. Das Blitzlicht blendete Jens.
«Schick ich dir für deine Annalen! Gegen dich sieht die bleiche Frau noch gut aus», sagte er und ließ seine Pranke auf Jens’ Schulter fallen. Dass eine solche Berührung auch im Mund weh tun konnte, hätte Jens nie gedacht.
«Muss der Lappen nicht genäht werden?», fragte Hagenah.
Die Sanitäterin hatte Jens geraten, das Eispack nicht länger als eine Minute auf der Wunde zu belassen und dann eine Pause einzulegen, daran hatte er sich nicht gehalten, weil die Kälte so guttat und den Schmerz linderte, aber um Hagenah zu parieren, nahm er es jetzt weg, und es fühlte sich an, als ob ein weiteres Stück Zunge daran hängen geblieben wäre.
«Heilt auch so», antwortete Jens mit gefrorener, angeschwollener Zunge, die sich wie vorzeitig verstorben angefühlt hätte, wäre da nicht der pochende Schmerz gewesen. «Was ist mit der Frau?»
«Auf dem Weg in die Klinik. Sie haben sie auf die Trage fesseln müssen, die war einfach nicht zu bändigen. Und … Scheiße …»
Rolf Hagenah, dieses Urgestein eines Hamburger Straßenpolizisten, stockte kurz. Jens hatte ihn noch nie stocken hören. «… so etwas habe ich noch nie gesehen. Was ist mit dieser Frau bloß passiert? Die sieht aus wie von einem anderen Planeten.»
«Hat sie was gesagt?»
«Nee, immer nur diesen einen Satz. Darling, Licht meines Lebens, Darling, Licht meines Lebens … was soll das?»
Hagenahs rundes Gesicht mit der dicken Knollennase darin war ein einziges Fragezeichen. Jens verstand genauso wenig wie er, was es mit dieser Frau auf sich hatte. Er antwortete nicht auf die Frage, stopfte sich stattdessen das Kühlpack wieder in den Mund und sah sich vorsorglich nach der Sanitäterin um. Vielleicht waren Schmerztabletten doch nicht so schlecht.
«Die hat nicht ein Gramm subkutanes Fett am Körper, total abgemagert, ich sage dir, die war irgendwo …»
Jens brachte Hagenah mit einer Handbewegung zum Schweigen, denn aus dem Dunkel des Waldweges kam eine Frau auf ihn zu. Drahtig, hochgewachsen, streng gescheiteltes blondes Haar, grüne Baumwollhose, Lederstiefel, Jacke in Tarnoptik. Eine Langwaffe über der Schulter.
Das konnte nur die Jägerin sein.
An ihrer Seite ging Jens’ junge Kollegin Carina Reinicke, die an der Suche beteiligt gewesen war. Sie zeigte auf Jens, und die Jägerin kam auf ihn zu. Ihr Gesicht verzog sich, als litte sie Schmerzen.
«Sieht ja scheußlich aus», sagte sie. «Sie sind Kommissar Kerner?»
Jens nickte, bekam aber Hand und Kühlpack nicht schnell genug aus dem Mund für eine vernünftige Antwort.
Hagenah übernahm.
«Ist er. Hat sich ein Stück von der Zunge abgebissen, wahrscheinlich ist die Diät doch zu hart, die er gerade durchzieht.»
«Ich geb Ihnen lieber nicht die Hand», nuschelte Jens. «Sie sind Regina Hesse?»
«Ja, bin ich.»
«Das haben Sie großartig gemacht», sagte Jens, bemüht, den Schmerz zu ignorieren und halbwegs normal zu klingen. «Nicht jeder wäre so ruhig geblieben.»
Sie zuckte mit den Schultern.
«War eigentlich genauso wie bei einer Treibjagd.»
Jens konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die Frau war wirklich so cool, wie sie am Telefon geklungen hatte.
«Allerdings hatte ich ganz schön Angst», schob sie nach. «Das Mädchen war vollkommen außer sich. Die ist doch vor irgendjemandem geflohen, oder?»
Jens sah Rolf Hagenah an und erkannte, dass sein Kollege daran auch noch nicht gedacht hatte – genauso wenig wie er selbst.
«Ich muss jetzt dringend nach Haus, noch ein paar Stunden schlafen», sagte Regina Hesse. «Oder brauchen Sie mich noch?»
«Nein, heute nicht mehr. Ich rufe Sie in den nächsten Tagen wegen einer Aussage an. Vielen Dank noch mal!»
Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln und verschwand.
«Scheiße», sagte Hagenah, kaum, dass sie außer Hörweite war. «Sie könnte recht haben! Was, wenn da noch jemand im Wald unterwegs war, vor dem sie abgehauen ist?»
«Dann ist es jetzt zu spät.»
Jens’ Blick ging zum Waldrand der Schwarzen Berge, jenes ausgedehnten Areals vor den Toren der Stadt mit mehreren Erhebungen über hundert Meter, das zum größten Teil in Niedersachsen lag. Auf ihrer wilden Flucht war die Frau sicher mehrmals ins benachbarte Bundesland gelaufen, und Jens war sich nicht einmal sicher, ob die Festnahme auf Hamburger Gebiet stattgefunden hatte. Um solche Dinge kümmerte er sich nur ungern, und schon gar nicht, wenn Not am Mann war.
Und ganz egal, ob hüben oder drüben, die Sache interessierte ihn, auch wenn sie womöglich nicht in sein Ressort fiel.