Einkommen für alle

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Inhaltsverzeichnis

Friedrich Schiller

Einleitung

Warum wir über die Funktion von Geld und Arbeit noch einmal neu nachdenken sollten

In unserer Gesellschaft wie auch in der Politik besteht Einverständnis darüber, dass jeder Mensch genug zu essen und zu trinken haben muss, dass er Kleidung, Wohnraum und medizinische Versorgung braucht, dass er Anspruch auf Zugang zu Information und zu einem Minimum an kulturellen Angeboten hat. All dies nicht etwa als Belohnung für gute Führung im Arbeits- und Alltagsleben, sondern weil die Sicherung dieser Grundbedürfnisse ein unveräußerliches Menschenrecht ist. Sieht man von der kleinen Fraktion Radikalliberaler ab, die jede Form sozialstaatlicher Unterstützung ablehnen, dann ist auch weitgehend unstrittig, dass dafür gegebenenfalls die Gemeinschaft (»der Staat«) einstehen muss. Strittig ist nur, ob an ein Geldeinkommen, das eine bescheidene, aber humane Existenz sichert, Bedingungen geknüpft werden müssen oder nicht.

Zwar wird die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) mittlerweile in fast allen im Parlament vertretenen Parteien diskutiert – und findet dort auch mehr oder minder große Fraktionen von teils sehr engagierten, teils eher bedächtigen Befürwortern. Es gibt zahlreiche Gruppen und Initiativen, die sich außerparlamentarisch für ein BGE engagieren. Seit 2016 gibt

Insofern könnte ich, der ich die Idee nun seit fast zwanzig Jahren öffentlich vertrete, einfach sagen: Nur zu! Traut euch endlich! Ich könnte bezüglich der Details einer Einführung und Ausgestaltung des BGE auf die Themenkompetenz in Parteien wie den Grünen oder der Linkspartei setzen, ansatzweise auch in der FDP (dort nennt man das Kind »Bürgergeld«, wohinter sich freilich ein eher rigides Konzept verbirgt) und in der CDU (da gab es vor Jahren immerhin mal eine vom ehemaligen sachsen-anhaltinischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus geleitete Kommission zum Thema). Ich könnte vielleicht noch erzählen, wie ich und andere sogar einige aus der aktiven Politik ausgeschiedene Sozialdemokraten für die Idee erwärmen konnten – während sich ihre Partei beim Thema BGE noch immer recht hartleibig gibt. Und ich könnte mich ansonsten mit meinen 74 Jahren entspannt auf einem meiner Lieblingsbonmots ausruhen: dass nichts mächtiger sei als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Ich weiß, Victor Hugo hat das so nie geschrieben. Trotzdem wahr!

Also: Die Zeit ist fraglos reif für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Es wäre längst notwendig, damit unsere hochgradig arbeitsteilige, durchrationalisierte und internationalisierte Wirtschaft weiter funktionieren kann. Meiner Meinung nach sind auch alle Voraussetzungen für die »Machbarkeit« eines BGE längst gegeben. Die Idee ist in großen Teilen

Denkhürden wider das Telefonieren

Auch die Hersteller toller Produkte verstehen ja manchmal nicht, warum die Kunden es einfach nicht kaufen wollen. Den Menschen dann vorzuhalten, sie seien irgendwie nicht in der Lage, die enormen Vorzüge des Produkts zu erkennen (oder eben eine tolle Idee zu begreifen), das ist allerdings die denkbar schlechteste Form von Werbung. Klar, es gibt einfach auch schlechte Ideen. Und manche Produkte taugen schlicht nichts. Da kann man sich den Mund fusselig reden, mit den einen wie den anderen wird es nie was werden. Manchmal ist es aber auch so, dass Ideen, Produkte oder Dienstleistungsangebote völlig quer zu sehr gefestigten – um nicht zu sagen: eingefahrenen – Erfahrungen und Erwartungen der Menschen stehen. Die dann zum Beispiel annehmen, dass sich mehr Transportkapazitäten einzig und allein mit mehr Pferden, Ochsen und Kutschen schaffen ließen. Und man dann des vielen Pferdemistes in den Städten nicht mehr Herr werden könne.

Ein anderes Beispiel ist das Telefon. Auch da gibt es eines dieser schönen Zitate, die sich zwar nicht belegen lassen, die sich

Wie auch immer. Dass eine möglichst schnelle Übertragung von Informationen über weite Strecken entscheidend sein kann, das war den Militärs schon seit der Antike, den Kaufleuten seit der frühen Neuzeit bekannt. Das Telefon war darum auch alles andere als die erste technische Erfindung zu diesem Zweck. Optische Telegrafie war schon in der Antike bekannt, die Entwicklung der elektrischen Telegrafie reicht bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Und der Telegraf von Samuel Morse ist vierzig Jahre älter als Bells Telefon. Was zeigt: Datenfernübertragung, wie man das heute nennen würde, war anfangs nur was für Spezialisten. Könige, Kommandeure und Kaufleute aber lebten seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden im Bewusstsein: Wenn es wichtig ist, dann muss man es aufschreiben (gr. gráphein = schreiben, zeichnen). Und dann das Schriftstück möglichst schnell in die Ferne (gr. tēle = fern) transportieren. So gesehen würde ein gewisses Misstrauen gegen Telefone auch noch zu einem US-Präsidenten des Jahres 1877 passen.

Für den Durchschnittsmenschen des 19. Jahrhunderts dagegen war die Frage nicht, wer vielleicht ein Telefon nutzen wolle. Für ihn war völlig klar, dass niemand ein Telefon braucht. Warum? Weil die erdrückende Mehrheit aller Menschen dieser Zeit

Kaum weniger kritisch, sondern nur viel schneller erledigt war die »Wer-braucht-denn-so-was«-Debatte bei der Einführung des Internets oder des Mobilfunks. Auch das Handy galt lange als kurzlebige Mode, als reines Statussymbol für Wichtigtuer. In den 1990er-Jahren löste man keineswegs Lachanfälle aus, wenn man behauptete, das werde sich nicht durchsetzen. 1995 gab es hierzulande gerade mal 3,7 Millionen Mobilfunkanschlüsse. Würde ich heute, wo jeder Bundesbürger vom Säugling bis zum Greis statistisch gesehen 1,7 Handys besitzt, jemanden fragen, wozu er das brauche, könnte ich mich auch nach dem Nutzwert von Wasserleitungen erkundigen.

Will sagen: Wenn das Bedürfnis, mit anderen Menschen an jedem Punkt eines Landes oder auf der ganzen Welt sprechen zu

Die BGE-Denkhürden: unsere Begriffe von Arbeit und Geld

Beim Telefon, einer bahnbrechenden technischen Innovation, war die zumeist fehlende räumliche Distanz zu Menschen, mit denen es etwas zu bereden gab, die entscheidende Denkhürde. Beim Grundeinkommen, einer sozialen Innovation, haben wir es mit zwei Denkhürden zu tun, die ebenfalls unser soziales Beziehungsgeflecht betreffen. Erstens mit einem verbreiteten Missverständnis des Sinns, der Funktion und der Organisation von Arbeit. Und zweitens mit verbreiteten Missverständnissen des Sinns und der Funktion von Geld. Meines Erachtens beruhen sämtliche gängigen Einwände gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen darauf, dass unser Denken über Arbeit und Geld schon eine ganze Weile nicht mehr zu den Realitäten unserer Arbeitswelt und unseres Wirtschafts- und Geldsystems passen. Aber das ist wohl noch nicht ganz so offensichtlich, wie ich selbst bisweilen annehme.

Seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe dieses Buches 2007 mag

Vielleicht sollte man spaßeshalber mal Pamphlete danebenlegen, die einstmals zur Rechtfertigung der Sklaverei, der Leibeigenschaft oder des Dreiklassenwahlrechts verfasst wurden. Auch Dinge, die ziemlich lange funktioniert haben. Und die bis zu ihrem Untergang Verteidiger gefunden haben, die keineswegs alle Deppen waren. Oder nehmen Sie das Frauenwahlrecht. Es ist gerade mal hundert Jahre her, dass Frauen in Deutschland erstmals wählen durften. Bis dahin war es unter Herren

Dass die Denkhürden beim Thema Grundeinkommen nach wie vor sehr hoch sind, das merke ich in Diskussionen und beim Lesen einschlägiger Artikel unter anderem daran, dass die Argumente der Kritiker in den letzten zehn Jahren nicht wirklich besser geworden sind. Kaum hatte man die Hoffnung, dass wenigstens ein paar der teils wirklich nur absurden, teils schon x-mal widerlegten Einwände vom Tisch seien, schon spielte jemand wieder eins der alten Lieder: Wiewollensiedasdennfinanzieren. Dagehtjakeinermehrarbeiten. Werholtdenndannnochdenmüllab. Dannwerdendieleistungsträgerabwandern. Und. So. Weiter.

Darum habe ich mich denn doch noch einmal hingesetzt und mein zehn Jahre altes Buch überarbeitet. Nicht so sehr, um alte Zahlen zu aktualisieren, um gegen amtierende anstelle von pensionierten Politikern zu wettern oder um mich nunmehr an Professor Clemens Fuest statt an Professor Hans-Werner Sinn, am leidgeplagten John Cryan statt am seinerzeit im Buch allzu penetrant angegangenen Josef Ackermann abzuarbeiten. Sondern um möglichst alles wegzulassen, was der Wahrheitsfindung offensichtlich nicht gedient hat. Um meine Argumente gegen die bekannten Standardeinwände womöglich noch einmal zu schärfen. Um meine eigene Position (hoffentlich) noch klarer und plastischer zu formulieren. Und um über ein paar Punkte auch noch einmal gründlicher nachzudenken.

Was bringt ein Grundeinkommen für Normalverdiener?

Talkshows zum Thema beginnen ja gern mit einem Schlagwort, das auf »…)ierung« endet: Rationalisierung, Globalisierung,

Nun lässt sich – Digitalisierung hin, Niedriglohnsektor her – kaum bestreiten, dass die Erwerbsquote in Deutschland mit aktuell 54 Prozent recht hoch ist. Jeder Zweite zwischen 15 und 74 hat damit einen Job. Jetzt mache spaßeshalber mal ich eine Milchmädchenrechnung auf, und zwar um eine nicht ganz unerhebliche Denkhürde auszumessen. Über wen reden wir eigentlich beim Thema BGE, wenn wir das ebenso richtige wie banale »über alle« mal für einen Moment in der Tüte lassen? 44,7 Millionen Erwerbstätige plus 21 Millionen Rentner plus 11 Millionen Schüler plus 2,8 Millionen Studierende – macht 79,5 Millionen Menschen. Zählen wir noch die offiziell knapp 2,4 Millionen Arbeitslosen dazu (und lassen die statistischen Kinkerlitzchen beiseite), dann haben wir all unsere Einwohner schon beisammen. Dass darunter ziemlich viele sind, die von ihren Teilzeitgehältern, Minilöhnen und Renten nicht leben, die auch mit zwei oder drei Jobs ihre Familien nicht ernähren, die als alleinerziehende Mütter oder Väter ihre Kinder erst recht nicht auskömmlich ins Leben führen können, übergehe ich hier ebenfalls für einen Moment. Ebenso die Tatsache, dass es in Deutschland einen ganzen Strauß mehr oder minder rigide bedingter Transfereinkommen gibt. Mir geht es um Folgendes:

Vor einiger Zeit fragte mich bei einer Podiumsdiskussion jemand aus dem Publikum, was dieses ominöse Grundeinkommen

Dass ein BGE mittelfristig die bis dato gezahlten Löhne und Gehälter teilweise ersetzen würde, das habe ich stets betont, wenn die als »Gegenargument« gemeinte Frage im Raum steht, wie denn bitte ein Grundeinkommen von 1000 oder 1000 Euro für 82 Millionen Bundesbürger »finanziert« werden solle. Im Kapitel über »Grundeinkommen und Erwerbseinkommen« gehe ich noch einmal darauf ein. Grundsätzlich: Wer ein Arbeitseinkommen bezieht, welches das Grundeinkommen übersteigt, der hat nach dessen Einführung nicht allein schon deswegen »mehr Geld in der Tasche«. Dabei geht es nicht um eine präzise »Anrechnung« des BGE – in welcher Höhe auch immer – auf Löhne und Gehälter ab irgendeinem 1. Januar, null Uhr. Es geht lediglich darum, dass jeder Bürger dann ein Grundeinkommen vom Staat, das heißt von der Gesellschaft als Ganzes bekommt. Und dass jeder darüber hinaus nach Belieben Einkommen aus Festanstellungen oder Freiberuflichkeit,

Doch selbstredend wäre es noch naiver, davon auszugehen, ein künftiges BGE gebe es einfach obendrauf. De facto wird »nur« Folgendes geschehen: Die Sicherung eines Grundeinkommens für jeden wird von einer betriebswirtschaftlichen zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, finanziert aus den Steuern aller Bürger (zum Thema Steuern kann ich hier nur auf Teil II des Buches verweisen). Dieses Einkommen hat jeder Bürger – anders als heute – ein Leben lang sicher. Sollte also die Firma des oben erwähnten Fragestellers, aus welchen Gründen auch immer, eines Tages doch ins Schlingern geraten, dann hätten der Mann, seine Frau und seine beiden Kinder zwar wohl erst mal weniger Geld zur Verfügung. Doch eine bescheidene Existenz wäre für alle gesichert. Jeder darüber hinausgehende Lebensstandard müsste natürlich auch weiterhin aus individuell erzielten Markteinkommen finanziert werden.

Was also hat unser gut situierter Durchschnittsverdiener vom BGE? Kürzestmögliche Antwort: Er und die Seinen fallen immer in ein Netz, nie in ein Loch. Auch dann nicht, wenn eine

Erst später wurde mir klar, dass diese Antwort, so richtig sie ist, wohl am Kern der Sache vorbeigeht. Der Fragesteller ging ja durchaus mit einigem Recht davon aus, dass ein gutes Erwerbseinkommen in seinem Fall bis zur Rente gesichert ist. Dass dann auch diese seinem Einkommen entsprechend annehmbar sein werde. Und dass Eigenheim und Ersparnisse für den Rest sorgen würden. Dass er und seine Familie, solange die Welt oder wenigstens die Weltwirtschaft nicht komplett untergehen, sich also keine allzu dramatischen Sorgen machen müssten. Anders gesagt: Solange die Geschäfte unseres Mittelständlers brummen, mag die Sicherheit, die ein BGE seinen Mitarbeitern gibt, tatsächlich als etwas eher Fiktives erscheinen. Was ihnen ökonomische Sicherheit gibt, worüber sich ihre soziale Stellung bestimmt, was ihnen nicht zuletzt gesellschaftliche Anerkennung verschafft, das sind eben weit mehr die eigene Qualifikation, die offensichtliche Qualität ihrer Arbeit und der daraus resultierende Erfolg der Firma. Platt gesagt: Unser Mann hat auf den ersten Blick gute Gründe, sich ganz auf sich selbst zu verlassen.

Gesamtgesellschaftlich bedeutet dies: Für jene zahlenmäßig bedeutende, vor allem aber meinungsbildende Gruppe von gut qualifizierten Fach- und Führungskräften oder Facharbeitern scheint das Argument, ein BGE »bringe ihnen nichts«, tatsächlich etwas für sich zu haben. Jedenfalls, solange sie wie Selbstversorger

Zwei »Wertekorridore« in unserer Gesellschaft

Zu dieser Diagnose passen die Ergebnisse einer Studie, die der Netzwerkforscher Prof. Dr. Peter Kruse 2014 durchgeführt hat (»Deutschland im Wandel: Systemoptimierung oder Paradigmenwechsel?«). Deren Ergebnis: Weit über die Hälfte der Bürger hat das Gefühl, dass sich die Solidarität in unserem Land dem Gefrierpunkt nähert. Politik, Wirtschaft und eine immer schmalere Elite von »Leistungsträgern«, so glauben viele, orientierten sich nicht mehr am Gemeinwohl, sondern an Einzelinteressen. Soziale Sicherheit, eine gerechte Verteilung unseres Wohlstandes, Chancengleichheit und menschliches Miteinander würden auf dem Altar von gnadenlosem Wettbewerb und Profitstreben geopfert. In vielen gesellschaftlichen und politischen Debatten prallen konträre Meinungen zunehmend unversöhnlich aufeinander. Zwar sind alle vom ergebnislosen Pro und Contra der ewig gleichen Meinungsdarsteller in den Talkshows genervt, doch niemand findet den Ausgang aus dem Studio.

Dabei werden viele Konflikte verständlich, wenn man die widerstreitenden Positionen auf zwei sehr unterschiedliche Wertekorridore in unserer Gesellschaft zurückführt. Zwar setzt eine große Minderheit von 44 Prozent der Befragten ihren Fokus auf das starke Individuum. Für diese Menschen stehen eigene Zielstrebigkeit, Wettbewerbsfähigkeit, persönliche Autonomie und ein stabiler Lebensrahmen im Mittelpunkt. Sie beschreiben

Für die Mehrheit (56 Prozent) dagegen steht die Idee der starken Gemeinschaft im Mittelpunkt. Für diese Menschen sind Werte wie ein tragfähiges Wir-Gefühl, gleiche Bildungschancen, soziale Achtsamkeit und kooperatives Handeln zentral. Sie legen Wert auf soziale Sicherung und schätzen es, wenn die Dinge erkennbar »geregelt« sind. Begriffe wie »solidarisch«, »hilfsbereit«, »einfühlsam« oder »wertschätzend« sind bei ihnen positiv besetzt.

Wie stabil die Wände dieser Wertekorridore gemauert sind, lässt sich auch an den Negativbildern erkennen, die »Individualisten« und »Kommunitarier« voneinander hegen. Die einen werden mit eiskalter Kosten-Nutzen-Denke und Raubtierkapitalismus verbunden. Urteile wie »egoistisch«, »profitgierig«, »rücksichtslos« und »ausgrenzend« sind da schnell gefällt. Die anderen werden als konzeptlose Couchkartoffeln betrachtet, die sich von allem und jedem überfordert fühlen. Weshalb sie sich dauerhaft in einer Null-Bock-Haltung eingerichtet hätten. Hier lauten die Verdikte: »pessimistisch«, »frustriert«, »antriebslos«, »unmündig« – und daher »zu Recht« fremdbestimmt.

Einigkeit besteht bei den Befragten nur darin, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Mehr als vier Fünftel sind sich sicher: Deutschland braucht eine grundlegende Neuorientierung. 86 prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger sehen die Notwendigkeit für einen Paradigmenwechsel in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Doch während jene, die die Werte des Individualismus betonen, die Chancen für einen solchen Wandel

Wirtschaft als Prozess des Füreinander-Leistens

Es ist ja weit mehr als eine reine Redensart, wenn in Debatten rund ums Thema Arbeit und Einkommen ständig der Spruch bemüht wird, jeder Mensch müsse »von seiner eigenen Hände Arbeit« leben können. Dahinter steht eine jahrhundertealte Erfahrung: Wer seinen Acker nicht bestellt, wird bald nichts mehr zu essen haben. Diese Erfahrung haben wir vom Weizen-, Kartoffel- und Gemüseanbau leider einfach auf den Gelderwerb übertragen. Nur dass man Geld eben nicht essen kann. Wir leben weder von »unserer Hände Arbeit« noch von selbst verdientem Geld. Wir alle leben realiter von jenen unendlich vielen Gütern und Dienstleistungen, die andere Menschen uns anbieten.

Nun ist natürlich jedem in unseren modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften klar, dass keiner mehr als Selbstversorger leben und wirtschaften kann. Selbst Landwirte kaufen heute fast alle Lebensmittel im Supermarkt ein, alles Übrige sowieso. Jeder weiß: Ich mag an der Herstellung oder Bereitstellung von irgendetwas beteiligt sein. Dieser Anteil mag größer oder kleiner, bedeutender oder randständiger sein. Aber ich kann nichts von dem, was ich benötige oder haben möchte, allein herstellen. Außer vielleicht immer noch etwas Gemüse im Garten. Schon wenn ich Socken stricken will, muss ich

Betrachte ich, wie im berühmten ersten Satz von Marx’ Kapital, den »Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, (…) als eine ungeheure Warensammlung«, dann muss mir eigentlich sofort klar werden, dass ich eben nicht nur alles kaufen muss. Mithin vom ersten bis zum letzten Tag meines Erdenlebens ein Einkommen brauche. Sondern dass ich zudem ständig auf die Leistungen all jener Menschen angewiesen bin, die all das bereitstellen, was ich benötige, wünsche, angenehm oder lustig finde. Oder, wie ich das gerne ausdrücke: dass unsere heutige Wirtschaft der Fremdversorgung ein einziger, unausgesetzter Prozess des Füreinander-Leistens ist.

Dass kein Beitrag verzichtbar ist, dass wir alle auf Augenhöhe miteinander wirtschaften, dieses Prinzip drängt sich in der Arbeitsteilung förmlich auf. Leider sind wir aber noch meilenweit davon entfernt, das auch so zu denken. In einer arbeitsteiligen Welt müsste man, wenn man konsumiert, stets Danke schön sagen. Und wenn man produziert, müsste man ständig sagen: Bitte schön. Man kann nicht arbeitsteilig zusammenarbeiten und denken: Der andere ist ein Idiot, ich bin ja viel schlauer, der andere hat sowieso nichts zu sagen und spielt keine Rolle. Wenn man genau hinschaut, stellt man fest: Es gibt keinen einzigen Arbeitsschritt, der verzichtbar wäre. Wir stehen da allerdings immer noch am Anfang unserer Bewusstseinsentwicklung. Die Arbeitsteilung ist noch keine Bewusstseinsleistung, sondern »nur« eine Rahmenbedingung, an der sich unser alltägliches Denken immer noch abarbeiten muss. Die Arbeitsteilung ist eine Tatsache. Jetzt müssen wir uns noch aufraffen, ihre im Wortsinne humanistische, nämlich die gesamte Menschheit verbindende Wirkung zu erkennen.

Nein,

Eine erhebliche Denkhürde besteht, wie schon angedeutet, darin, dass die Idee der Selbstversorgung von der »ungeheuren Warensammlung« der »kapitalistischen Produktionsweise« in die ungeheuren Geldmengen unserer Wirtschaftsordnung geflüchtet ist. Simpel gesagt: Sobald das Gehalt auf dem Konto ist, denken wir wieder wie Bauern. Scheune voll, Fässer dicht, Mausefallen aufgestellt, alles gut. Wir vergessen, dass auch alle anderen weiterhin nicht nur Waren benötigen, sondern eben auch Geld, um Waren und Dienstleistungen erwerben zu können. Und wenn wir es nicht fix verdrängen, dann fühlen wir uns zumindest berechtigt zu denken, das mit dem Geld der anderen sei nun wirklich nicht unser Problem. Wir haben unsere Schäfchen ja im Trockenen.

Sich auf den Prozess des ständigen Füreinander-Leistens in der Güterwirtschaft zu besinnen, fällt zudem auch konkret schwer. Die Arbeitsteilung wirkt da quasi wie der Schleier der Isis, der hier nicht die unergründlichen Geheimnisse des »Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen«, sondern die selbst gemachten Geheimnisse unserer Wertschöpfungsketten verhüllt. Den Mitarbeiter eines Investitionsgüterherstellers muss es auf den ersten Blick nicht nur nicht kratzen, ob die Reinigungskräfte in seiner Firma von ihrem Lohn Miete und tägliche Einkäufe bezahlen können. Seine Maschinenteile mögen darüber hinaus auch nichts mit Zweizimmerwohnungen, Billigkleidung

Wo das ganze Geld bleibt

Und weil das in unserer so hochgradig arbeitsteiligen und komplett globalisierten Wirtschaft schon auf der Ebene realer Güter und Dienstleistungen im Einzelnen kaum zu durchschauen ist, ist es mit den völlig abstrakten Geldflüssen noch schwieriger. Wir denken irrtümlicherweise, unsere Einkommen seien immer noch so eine Art Lagervorrat – weil die Wahrheit sich nur nach einem etwas mühseligeren Denkvorgang

Schon klar, da stecken für ein paar Tage immer ein paar bunte Zettelchen und ein paar Metallplättchen in Ihrer Börse. Und wenn es gut läuft, dann steht vor der Zahl am Ende Ihres Kontoauszugs auch nur selten dieses kleine Minuszeichen. Aber mal ganz ehrlich: Glauben Sie immer noch allen Ernstes, kein anderer Mensch in Europa könne in diesem Moment jene 103 Euro ausgeben, die Sie (oder jedenfalls der Durchschnittsbürger) bar im Portemonnaie haben? Nehmen Sie wirklich an, da »lägen« irgendwo 2500 Euro »auf der Bank«, nur weil diese Zahl in Ihrem Sparbuch steht? Ich hoffe, dass Sie das nicht tun. Herr Fuest, Herr Sinn, Herr Cryan und Herr Ackermann tun das übrigens auch nicht. Was aber folgt daraus?

Meines Erachtens sollte dies zu folgender Sicht der Dinge führen: Unsere sämtlichen Einkommen, all unser schönes Geld wird stets binnen weniger Sekunden schon wieder zu Einkommen für andere. Sowieso, weil keine Bank der Welt mehr Bargeld lagert. (Na ja, derzeit tun es einige wieder, weil sie auf große Giroguthaben Minuszinsen zahlen müssen.) Sondern weil Banken jeden Cent Buchgeld immer sofort an andere verleihen. Das ist halt das, was Banken tun: Sie handeln mit Geld, das ihnen nicht gehört – also mit Schulden. Vor allem aber folgt diese Sicht aufs Geld daraus, dass Sie fast all Ihr Geld für Waren und Dienstleistungen ausgeben – das meiste ist ja am Monatsende weg. Und wenn was übrig ist, Sie also »sparen«, dann geben zwischenzeitlich andere »Ihr« Geld aus. Siehe oben. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen. Jeder Euro, jeder Dollar, jeder Yen des Planeten ist Einkommen. Ich komme auch darauf später noch einmal zurück. Aber tatsächlich ist es so: Jedes Gehalt, jede Miete, jeder Warenpreis und sogar jeder Unternehmensgewinn (»Profit«) löst sich stets sofort in Einkommen anderer auf.

Eine

Weil wir das ständige Leisten aller für alle technisch und organisatorisch so unglaublich weit entwickelt haben, ist güterwirtschaftlich gesehen kaum noch etwas knapp. Beispiele: Allein Deutschlands Supermärkte werfen jährlich geschätzte 2,5 Millionen Tonnen Lebensmittel weg, also Ware, die nie ein Verbraucher

Kurz: Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel mehr, weil Knappheiten großteils Geschichte sind. Wir haben aber, seit wir sesshaft geworden sind, also seit zehntausend Jahren, fast immer nur mit der Erfahrung der Knappheit gelebt. Entsprechend schwer fällt es uns, diese Denkweise aufzugeben. Und stattdessen Bedingungen für eine gänzlich unbehinderte Wirtschaft des Füreinander-Leistens zu schaffen, die niemanden mehr – und sei es auch nur phasenweise – von der Möglichkeit ausschließt, an ihr teilzuhaben. Nicht: Jederzeit nach Lust und Laune alles kaufen zu können. Aber, wie schon gesagt, um sich ohne Existenzsorgen aktiv in Wirtschaft und Gesellschaft einbringen zu können.

Stattdessen beschäftigen wir uns immer noch vorzugsweise mit dem Problem vermeintlicher Geldknappheit. Die allerdings mehr eine Hypothek des 18. und 19. Jahrhunderts ist. Im Grunde soll Geld volkswirtschaftlich bzw. weltwirtschaftlich bloß die Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen widerspiegeln. Für alles, was wir für andere herstellen oder gewerblich für andere tun, für jeden Zwischenhandel, den wir dabei treiben, muss nicht nur ein entsprechender Geldbetrag zur Verfügung stehen. Wundersamerweise steht heute auch für jede Transaktion Geld zur Verfügung. Klar: nicht jedem Individuum

Nur in einer Welt allgegenwärtiger »natürlicher« Knappheit der Güter musste Geld als künstlich gesetzte soziale Form von Knappheit verstanden werden: als Verknappung der Zugriffsmöglichkeiten auf Güter und Leistungen. Die längste Zeit der Geschichte wurde Geldknappheit, anders kannte man es schließlich nicht, darum über natürliche Knappheiten organisiert – über die der Edelmetalle Silber und Gold. Und da sprechen wir nicht nur über das Mittelalter, die Goldgier der spanischen Konquistadoren und der Glücksritter am Klondyke oder über Kaiser Wilhelms Goldmark, sondern auch noch über die jüngere Vergangenheit.

Heute erinnern sich fast nur noch Experten daran, dass zwischen 1944 und 1973 das globale Währungssystem auf dem Abkommen von Bretton Woods beruhte. Dieses legte fest, dass der Wert des US-Dollars durch einen fixen Goldkurs, nämlich 35 Dollar pro Feinunze, bestimmt war. Die Wechselkurse aller anderen Mitglieder dieses Systems wiederum waren in festen Paritäten an den Dollar gebunden, vier D-Mark zum Beispiel waren stets einen Dollar wert. Und die US-Notenbank war durch das Abkommen von Bretton Woods verpflichtet, jeden Dollar auf der Welt, also auch die Währungsreserven anderer Zentralbanken, jederzeit in Gold einzulösen.

Die Hintergründe für den Zusammenbruch dieses starren Systems, von dem uns heute nur noch der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank erhalten geblieben sind, tun hier nichts zur Sache. Der Punkt ist, dass bis vor etwa vier Jahrzehnten alle wichtigen Währungen der Welt zumindest indirekt an die Verfügbarkeit eines einzigen Gutes – Gold – gebunden

Irgendwie stellen wir uns nämlich immer noch das Gold in Fort Knox vor. Nach wie vor irritiert es gerade uns Deutsche, denen die Angst vor plötzlicher Geldentwertung fast in den Genen sitzt, wenn Politiker vorschlagen, die Bundesbank solle endlich ihre nutzlos gewordenen Goldreserven auflösen. Und die meisten Menschen, die sich einen Reichen vorstellen, denken als Erstes immer noch an Dagobert Duck, den Milliardär aus Entenhausen, der täglich in seinen Talern badet. Wer viel Geld hat, der hortet es irgendwo, kann also jederzeit auf seine »Reserven« zugreifen und dafür kaufen, was er will. Weshalb viele »Reiche« wirklich glauben, vom Geld nie genug bekommen zu können. Und weshalb die lautesten Vorbeter der Kapitalakkumulation allen Ernstes glauben, Gier sei gut. Sie alle halten den rein nominalen Wert des Geldes für etwas Reales.

Neben einer naiven Onkel-Dagobert-Idee von »Reichtum« hat die Geldillusion jene zweite, weit trügerischere Seite: Alle anderen Bewohner Entenhausens glauben ständig, dass sie »zu wenig Geld« hätten. Man kann ihnen sogar einflüstern, dass sie »über ihre Verhältnisse leben«. Ja, auch wir stellen uns die unendliche Prozesskette einer Volks- oder der Weltwirtschaft immer noch wie den Vorratsspeicher eines Bauernhofes vor. Ist der vor der nächsten Ernte geplündert, dann wird ja in der Tat gehungert. Und weil es mit dem Einkaufen ebenso schwierig wird, wenn das Gehalt ausgegeben und der Dispo geplatzt ist, scheint es mit unserem privaten Budget nicht viel anders zu sein. Also, denken wir, dürfen auch Unternehmen, »der Staat« oder