Alles ist nur eine Frage der Gewohnheit. Diese Darstellung der Erde, genannt Peters-Projektion, bildet das reale Größenverhältnis der Landmassen ab. Die Karte mag Ihnen verkehrt herum erscheinen, aber die Erde ist eine Kugel und kann aus jeder beliebigen Richtung betrachtet werden. Darstellungen sind nie neutral. Bereichern wir unsere Perspektiven. Ändern wir unsere Vorstellungswelten.
LILIAN THURAM, geboren 1972 in Guadeloupe, ist ehemaliger Profifußballer, französischer Rekordnationalspieler, Weltmeister von 1998 und Europameister von 2000. Seit Jahrzehnten engagiert er sich in der antirassistischen Aufklärungsarbeit. 2008 beendete er seine sportliche Karriere und gründete die Stiftung »Éducation contre le racisme, pour l’égalité«. Er ist Autor mehrerer Bücher und wurde für sein Engagement mit diversen Preisen und Ehrendoktorwürden ausgezeichnet.
CORNELIA WEND, geboren 1965 in Detmold, studierte Französisch und Germanistik in Hannover, Hamburg und Rouen. Seit 1994 arbeitet sie als freie Übersetzerin, u. a. von Élisabeth Filhol, Patrick Pécherot, Paul Colize, Chloé Mehdi und Jérôme Leroy.
Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel
La pensée blanche bei Éditions Philippe Rey, Paris.
© Éditions Philippe Rey, 2020
Diese Ausgabe wird im Einvernehmen mit Éditions Philippe Rey und der Agentur Books And More #BAM, Paris, Frankreich, publiziert.
Der Autor dankt Arnaud Gonzague für seine freundschaftliche
Unterstützung bei diesem Werk.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2021
Deutsche Erstausgabe März 2022
Umschlaggestaltung: Maja Bechert
www.majabechert.de
Satz: Corinna Theis-Hammad
www.cth-buchdesign.de
Abbildung auf Seite 2 / 3: Changeons nos imaginaires
© Fondation Lilian Thuram;
Realisierung: Lépac (www.lepac.org), 2015
Quelle: Lépac-Pacha carthographie
Gemälde Kapitel II: Marcel Antoine Verdier,
Châtiment des quatre piquets dans les colonies, 1843
© The Menil Collection, Houston
Mit freundlicher Genehmigung der Menil Collection
Porträt des Autors auf S. 4: © Conseil de l’Europe
ePub ISBN 978-3-96054-289-6
Für meinen Leitstern, meine Mutter, Marianna
Für meine Schwestern, Martine und Liliana
Für meine Brüder, Gaëtan und Antonio
Für meine beiden Genies, Marcus und Khephren
Für Kareen
Für alle Kinder dieser Welt, die der Traum und
die Hoffnung ihrer Vorfahren sind
Für Élisabeth Caillet und Lionel Gauthier,
die mich bei jeder Etappe dieses Buchprojekts
begleitet und unterstützt haben.
»Die weiße Rasse ist die vollkommenste
aller menschlichen Rassen.«
SCHULBUCH VON 1887, WIEDER AUFGELEGT BIS 19771
»Der Weiße hat aus dem Schwarzen
einen Menschen gemacht.«
VICTOR HUGO, »DISCOURS SUR L’AFRIQUE«2
»Ja, mit Sicherheit gibt es einen Krieg der Rassen.
Aber wer hat ihn begonnen? Und wer setzt ihn fort?«
GEORGES CLEMENCEAU3
»Man kann das Ideal der Freiheit höher als sein
eigenes Leben stellen. […] Ich denke, man kann nicht
frei sein, wenn die anderen es nicht sind.«
DENIS GOLDBERG4
Einleitung
I.Die Geschichte
1.Unsere Vorstellungswelten
2.Eine gefälschte Antike?
3.Wer hat Amerika entdeckt?
4.Der Sklavenhandel
5.Die christliche Religion
6.Die Aufklärung
7.Die Rassenlehre
8.Kolonisieren
9.Zivilisieren
10.Eine Kolonisation, die andauert?
II.Weiß sein
1.Territorien
Sein Territorium verteidigen
Kontrollieren
Diskriminieren
2.Systemischer Rassismus
Uneingestandener Rassismus
Der Kampf um die besten Plätze
Der Universalismus
3.Wer ist nicht weiß?
Ein koloniales Überbleibsel
Kommunitarismus
Anti-weißer Rassismus
»Ethnische« Statistiken
III.Menschlich werden
1.Der Suizid der Race
2.Pwofitasyon
3.Barbarisch werden
4.Die Gemeinschaft
Schlusswort
Anmerkungen
Bibliografie
Danksagung
Ich weiß noch, wie ich vor ein paar Jahren zu einem Gespräch über ein großes Ausstellungsprojekt zum Thema Rassismus eingeladen war. Ich sollte diese Ausstellung hauptverantwortlich kuratieren und es ehrte mich, dass man mich dazu auserkoren hatte, der breiten Öffentlichkeit dieses Thema nahezubringen. Ich hatte eine genaue Vorstellung davon, wie ich an dieses Projekt herangehen wollte, und das hatte mit einer Erfahrung zu tun, die ich bei einem Treffen in einem Ministerium gemacht hatte. Dort fragte man mich, womit ich mich gerade beschäftigte und woran die Stiftung arbeitete, die ich leite. Ich antwortete, dass wir die Machtverhältnisse in der Gesellschaft analysieren. Zur Illustration wies ich auf die Zusammensetzung der Runde hin, auf das offensichtliche Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern. Der Sitzungsleiter sagte: »Ja, stimmt, es sind nur wenige Frauen dabei.« Daraufhin sagte ich: »Das ist nicht das eigentliche Problem, sondern dass zu viele Männer dabei sind.« Da merkte ich, wie sich auf einmal die Blicke aller Männer auf mich richteten, als hätte ich sie mit dieser einfachen Feststellung angegriffen.
Eben darum, so erklärte ich bei dem Treffen, wolle ich als Kurator dieser Ausstellung zu einer anderen Sichtweise beitragen. Schon zu lange fokussiert man sich, wenn man über Rassismus spricht, auf die Personen, die diskriminiert werden. Ich sagte also, dass man sich eher mit den Personen beschäftigen sollte, die von diesen Diskriminierungen profitieren, vielleicht ohne es zu wissen oder zu wollen. Ich sagte: »Ich möchte eine Kategorie in Frage stellen, die nie in Frage gestellt wird: Die Kategorie weiß. Denn was bedeutet es eigentlich, ›weiß‹ zu sein? Wie wird man weiß, da man ja nicht weiß geboren wird, wird man also erst dazu gemacht? Oder haben Sie vielleicht schon mal jemanden gesehen, der weiß wie ein Blatt Papier ist? Nein. Also warum sagt man dann, dass er oder sie ›weiß‹ ist? In welchem Alter wird man weiß? Ist Weißwerden nicht eine Begleiterscheinung des Erwachsenwerdens, wird man nicht dazu erzogen, sich überlegen zu fühlen?« Während ich so redete, spürte ich, dass sich in der Runde Verunsicherung breit machte. Die sogenannten Weißen sind es nicht gewohnt, dass man sie auf ihre Race1 anspricht, noch darauf, welche Bedeutung diese haben könnte.
Ich fuhr fort: »Wenn wir in unserem Kampf für Gleichheit vorankommen wollen, sollten wir den weißen Besucher*innen bewusst machen, dass sie dazu erzogen werden, ihre Race nicht als Politikum zu empfinden.«
Ich spürte um mich herum Unverständnis, ja sogar Ablehnung. Als hätte sich ein »Wir« konstituiert, ein »Wir«, das sich fragte: »Was hat der eigentlich gegen uns?« Mir wurde klar, dass sie sich durch meine Bemerkungen angegriffen fühlten – ich habe noch nicht gesagt, dass ich die einzige Schwarze Person im Raum war. So wie Männer sich angegriffen fühlen, wenn man sie darauf hinweist, dass sie Frauen gegenüber einen Überlegenheitskomplex entwickelt haben. Dabei hatte ich niemandem vorgeworfen, ein übler Rassist zu sein. Aber von einer weißen Vorherrschaft zu sprechen, nein, das ging nun wirklich zu weit … Leider war das Gespräch damit beendet.
Dieses Buch ist auch ein Ergebnis dieses abgebrochenen Dialogs. Warum wehrt sich die Mehrheit der Weißen dagegen, diese Identitätskonstruktion in Frage zu stellen? Ja, mehr noch: Sie scheinen sich ihrer Race noch nicht einmal bewusst zu sein. Nennt man Schwarze Menschen nicht auch »People of Colour«? Das ist der beste Beweis dafür, dass Weiße offenbar keine »Hautfarbe« haben. Aber welche Farbe haben Weiße denn dann? Wenn es eine sichtbare Minderheit gibt, sind Weiße dann die unsichtbare Mehrheit? Der Begriff »weiß« wird im allgemeinen Sprachgebrauch fast nie verwendet, um eine Bevölkerungsgruppe zu bezeichnen, so als hätte er keine reale Entsprechung. Wird er doch mal verwendet, löst er bei denen, die so bezeichnet werden, eine Art Gereiztheit aus. Vor etwa zehn Jahren bin ich auf die Sonderausgabe eines Magazins mit dem Titel »Das schwarze Denken«2 gestoßen, die mich nachhaltig beschäftigt hat: Wenn es ein »Schwarzes Denken« gibt, gibt es dann auch ein »weißes Denken«? In dieser Sonderausgabe waren Texte von und über Toni Morrison, Maryse Condé, Martin Luther King, James Baldwin, Aimé Césaire, Frantz Fanon versammelt … Aber worüber haben all diese Schwarzen Personen geschrieben? Über eine Welt, in der Schwarze Menschen erniedrigt werden, über die Notwendigkeit, sich von dieser Gewalt zu befreien, um die gleichen Rechte wie weiße Menschen zu erhalten. Im Grunde, und das wird nie ausgesprochen, reagieren King, Baldwin und all die anderen mit ihren Schriften doch nur auf ein System. Aber dieses System wird nie klar benannt. Wer hat das Narrativ begründet, das die Weißen an die Spitze der »menschlichen Hierarchie« gesetzt hat? Wer erzeugt den Eindruck, Schwarze Menschen seien weniger fähig? Wer hat entschieden, dass sie nicht die gleichen Chancen haben sollen wie weiße Frauen und Männer? Das rassifizierende weiße Denken.
Das ist die einige Jahrhunderte alte Matrix, der die überwiegende Mehrheit der Weißen noch immer nicht ins Auge zu blicken wagt. Warum widmet kein Magazin diesem »weißen Denken« eine Sonderausgabe, da es doch indirekt das »Schwarze Denken« erst geprägt hat? Warum wirkt allein der Begriff »weißes Denken« auf manche anstößig?
Ich meine, das hängt mit Mechanismen zusammen, die ähnlich funktionieren wie jene, die zur Vorherrschaft der Männer über die Frauen geführt haben. »Die geschlechtlichen Gegensätze, die mit dem Stempel männlich und weiblich versehen worden sind, werden insofern in eine Rangfolge gebracht, als man die Werte, die man mit einem der beiden Pole verbindet (dem männlichen), als überlegen gegenüber jenen betrachtet, die man mit dem anderen Pol verbindet. […] Die westlichen Gesellschaften haben ein Erklärungsmodell entwickelt, demzufolge die männliche physische Stärke mit einer grundlegenden Überlegenheit des Mannes einhergeht […]. Diese archaische und unveränderliche Lesart, die wir uns zu eigen gemacht haben, geht immer noch auf Kategorien zurück, die sich auf weit in der Vergangenheit liegende Fähigkeiten unserer Vorfahren beziehen, die sich allein auf das verlassen mussten, was sie mit den Sinnen erfassen konnten.«3 Ist die Geschichte des Widerstands der Männer gegen die Emanzipation der Frauen nicht letztlich sehr viel lehrreicher als die Geschichte der Emanzipation der Frauen? Und ist die Geschichte des Widerstands der weißen Eliten gegen die Emanzipation der Nicht-Weißen nicht genauso lehrreich wie die Geschichte dieser Emanzipation? Ist es nicht an der Zeit, das Bestreben in Frage zu stellen, diese ligne de couleur, diese Vorherrschaft, Generation für Generation aufrechtzuerhalten?
Interessanterweise beschäftigt man sich mit Schwarzer Kunst, mit Schwarzem Denken, Schwarzer Literatur, Schwarzer Musik, man erforscht sie, stellt sie aus, analysiert sie. Warum also sollte man sich nicht mit weißem Denken, weißer Literatur, weißer Musik beschäftigen dürfen? Einige Bereiche scheinen ihrer Race entrinnen zu können, andere nicht. Aber warum ist das so?
Einem Schwarzen Menschen ruft die Gesellschaft – überall auf der Welt – permanent in Erinnerung, dass er Schwarz ist, ob an seiner Arbeitsstelle oder in den Medien. Wenn er im öffentlichen Raum unterwegs ist, erinnert man ihn oft an seine Race: Ein abschätziger Blick, ein unverhohlener Ausdruck des Misstrauens, so als suchte man in seinem Gesicht intensiv nach Anzeichen für irgendeine begangene Straftat. Niemand, der nicht selbst Opfer von Diskriminierung ist, weiß, wie sich das anfühlt, weil das nicht Teil seiner Welterfahrung ist.
Weiße Menschen können sich überall frei bewegen, ohne dass man sie auf negative Weise durch ein unausgesprochenes Gesetz auf ihre Race reduzieren würde. Ob ihnen wohl bewusst ist, wie entspannt, wie frei sie sich fühlen können, weil sie immer am richtigen Platz sind? Ob in Frankreich oder den USA, ich erinnere meine beiden Söhne immer daran, dass sie ihre Race nicht vergessen dürfen. Ich sage ihnen: »Denkt daran, man betrachtet euch als Schwarze, nicht als Weiße.« Ich finde das sehr traurig, aber seien wir ehrlich, manchmal ist das eine Frage von Leben und Tod.
Damit ich meiner Race entkommen kann und meine Hautfarbe nichts weiter als ein körperliches Merkmal ohne weitere Bedeutung ist, müssen die Weißen ihrer Race entkommen. Aber wie geht das? Paradoxerweise müssen sie sich dafür zunächst einmal ihrer Race bewusst werden, und der Tatsache, dass diese sie dazu zwingt, bestimmte Dinge zu reproduzieren.
Eines Abends beschließe ich, meinen Kindheitsfreund Pierre anzurufen.
– Hallo Pierre, wie geht’s?
– Hallo Lilian, gut, und dir?
– Sag mal, kann ich dir eine Frage stellen?
– Klar.
– Pierre, fühlst du dich eigentlich weiß?
Ich merke ein kurzes Zögern am anderen Ende der Leitung.
– Was? Ich verstehe nicht so ganz.
– Pierre, ich bin doch Schwarz, richtig?
– Äh, ja.
– Wenn ich Schwarz bin, was bist du dann?
– Naja … ich bin normal.
Ich fange an zu lachen.
– Du bist normal? Das heißt, ich bin nicht normal?
– Nein, so meine ich das nicht … verstehst du?
Pierre und seine seltsame, spontane Antwort haben mir geholfen, auf etwas ganz Wesentliches und tief Verankertes hinzuweisen: Selbst wenn einem jemand sehr nahesteht, wie ein Bruder für einen ist, kann man sich, ohne sich dessen bewusst zu sein, die weiße Maske der Normalität überstreifen. Derjenige, der sich in der dominierenden Position befindet, fühlt sich derart bestärkt durch sein gutes Recht, immer im Mittelpunkt zu stehen, immer das Gefühl zu haben, am richtigen Platz zu sein, dass er sich selbst als die Norm empfindet. So fühlen sich Weiße, und so fühlen sich Männer Frauen gegenüber.
Frauen ist permanent bewusst, dass sie Frauen sind, also einem Geschlecht angehören, das von Männern beherrscht wird, die sich herausnehmen, darüber zu entscheiden, was Frauen tun und lassen dürfen. Wie viel Zeit und wie viel Energie wird es brauchen, bis die Männer erkennen, dass auch sie in ein Schema von Dominanz, in ihre Männlichkeit eingeschlossen sind, mit allen Zwängen, die das mit sich bringt? Auf genau die gleiche Art und Weise weiß ich seit meinem neunten Lebensjahr – seit ich Guadeloupe verlassen habe und nach Paris gekommen bin –, dass ich als Schwarz wahrgenommen werde, und dass das kein zu vernachlässigendes Detail ist. Das weiße Denken hat mir eine Schwarze Maske übergezogen.
Weiße hingegen möchten in ihrer Mehrheit gerne als »farblos« wahrgenommen werden. Vor allem möchten sie nicht den Sinn dieser »Farbe«, ihrer Race, hinterfragen müssen. Einfach, weil es bequem ist? Oder haben sie womöglich Angst, mit der Realität konfrontiert zu werden? Wie die britische Autorin Reni Eddo-Lodge sehr richtig sagt, ist sich ein weißer Mensch »vollkommen unbewusst darüber […], dass seine Hautfarbe [skin colour] die Norm darstellt, und alle anderen davon abweichen«.4 Schwarz zu sein bedeutet, nicht weiß zu sein. Weiß zu sein wird hingegen nicht in Frage gestellt. Reni Eddo-Lodge nennt das white denial (»weiße Verleugnung«). Für Weiße handelt es sich dabei schlicht um eine Tatsache, um eine Realität, die sich von selbst versteht, warum auch sollten sie eine Position hinterfragen, die zu ihrem Vorteil ist?
Innerhalb der Geisteswissenschaften, vor allem in anglophonen Ländern, beschäftigen sich Forscher*innen mit Whiteness Studies (so der akademische Begriff dafür), um Antworten auf folgende Fragen zu finden: Wie erleben die Weißen, die 16,6 % der Weltbevölkerung ausmachen, die Tatsache, dass sie die Nicht-Weißen beherrschen, sowohl in ihren jeweiligen Gesellschaften als auch, sehr konstant, in den internationalen Beziehungen? Wie hat diese Herrschaft im Lauf der Jahrhunderte ihr Erscheinungsbild geändert? Frankreich zögert, sich tiefergehend mit diesen Fragen zu beschäftigen. Es möchte den Begriff »race« aus seiner Verfassung streichen, aber genügt das? Gibt es in unserem Land nicht trotzdem das Gefühl, einer bestimmten Race anzugehören?
Ich sehe meine Beobachtungen, Gedanken und Fragestellungen im Lichte der Arbeiten mehrerer Denker*innen, die sich mit der Frage des Weißseins beschäftigt haben. »Ich bin mir meiner Hautfarbe [race] nur deswegen so akut bewusst, weil ich, seitdem ich mich erinnern kann, von der Welt durchgängig als anders abgestempelt werde. […] Meine Hautfarbe [blackness] wurde gegen meinen Willen politisiert«5, fasst Reni Eddo-Lodge zusammen. Ich wünsche mir, dass die Weißen verstehen, dass ihre Race ein rein politisches Konstrukt ist. Ich bestehe darauf: Niemand wird weiß geboren. Zwar wird man es ohne sein eigenes Zutun, aber im Gegensatz zu nicht-weißen Menschen ist es zum eigenen Vorteil.
Dieses Buch hat zum Ziel, Aspekte der Geschichte zu beleuchten, die bisher vernachlässigt oder gar ignoriert wurden und die dennoch zur Bildung einer weißen Identität geführt haben. Es hat nicht zum Ziel, Rassismus mit allgemeinen Floskeln zu verurteilen. Es wird nicht auf den offensichtlichen Rassismus hinweisen, der sich in den beleidigenden Äußerungen diverser extremistischer Parteien zeigt, sondern auf den ganz gewöhnlichen Rassismus in unserer Gesellschaft. Der Philosoph Étienne Balibar spricht von einem »Rassismus ohne Rassen«6, anders gesagt, der Konstruktion und Legitimation diskriminierenden Verhaltens in einer Gesellschaft, in der eigentlich jeder inzwischen mitbekommen haben sollte, dass das Konzept menschlicher Rassen wissenschaftlich widerlegt wurde. Der gewöhnliche Rassismus, den Nicht-Weiße in der westlichen Welt erfahren, setzt sich aus einer Reihe von vielen kleinen Dingen zusammen. Davon sind einige bekannt, andere weniger und viele gar nicht, was manchen durchaus gelegen kommt, weil das Thema deshalb in der öffentlichen Debatte nicht in Erscheinung tritt. Fügt man alle diese Dinge zusammen, ergeben sich daraus Gewohnheiten. Diese Gewohnheiten bringen Weiße dazu, Nicht-Weißen eine untergeordnete Stellung zuzuweisen. Zunächst ganz offen und mit der größten Selbstverständlichkeit, im Lauf der Jahrzehnte auf subtilere Art und Weise, genau wie die Männer das bis heute gegenüber den Frauen tun.
Wir werden sehen, dass das weiße Denken nicht allein Weißen vorbehalten ist. Auch Nicht-Weiße haben es verinnerlicht. Die »weiße Maske«, wie Frantz Fanon7 es nennt, kann sowohl von Nicht-Weißen als auch von Weißen getragen werden. Das weiße Denken ist keine Frage der Pigmentierung der Haut. Es ist vielmehr, mindestens seit den Kreuzzügen, eine Art, auf der Welt zu sein. Wie Rosa Amelia Plumelle-Uribe schreibt: »Die Eroberung und Kolonisierung Amerikas [im 16. Jahrhundert] hatte das Verhältnis der Europäer zu den anderen Teilen der Welt einschneidend verändert. Die Grenze zwischen Unterschied und Überlegenheit wurde überschritten. […] Noch stärker ins Gewicht fiel, dass über Jahrhunderte hinweg ideologisch gerechtfertigt und kulturell akzeptiert war, ›Minderwertige‹ bedingungslos auszuliefern, zu entmenschlichen und wenn nötig auszulöschen. Die materiellen und psychologischen Vorteile, die sich aus der Zugehörigkeit zur überlegenen Gruppe ableiteten, halfen diese Haltung zu verinnerlichen, sodass sie im Lauf der Jahrhunderte zu einem kaum mehr ausrottbaren Bestandteil der westlichen Kultur wurde.«8
Ich wünsche mir, dass dieses Buch den Weg zu einem Dialog eröffnet, ohne Hass, Sektierertum oder böse Absichten, die einem guten Ideenaustausch abträglich wären. Ich habe keinerlei Interesse, die einen gegen die anderen aufzuwiegeln, sondern möchte all jene zusammenbringen, die meine Grundüberzeugung teilen. Es gibt ein System, eine wirtschaftliche, kulturelle und soziale Konstruktion, die verheerende Auswirkungen nicht nur für Nicht-Weiße, sondern auch für Weiße hat. Damit wir die Realität verändern können, müssen wir damit beginnen, die gleiche Sprache zu sprechen. Sich darüber bewusst zu werden, von welcher Position aus man spricht – ob als Mann, Frau, Schwarz, weiß, mixed-race, Katholik, Muslimin, Jude, Atheistin etc. –, ist der erste Schritt, um zu verstehen, dass man sich nicht objektiv über die angebliche »Entdeckung« Amerikas, die Sklaverei, die Kolonisation, über Rassismus und Globalisierung äußert, sondern unser Blick immer starken historischen und kulturellen Verzerrungen unterliegt. Diesen Bias wollen wir untersuchen und verstehen, welcher Logik er folgt. Was ist die Ihnen zugeschriebene Identität in der Geschichte? Welche Rolle zwingt diese zugeschriebene Identität Ihnen auf? Das ist keine Anklage, das sind nur Fragen. Um sie beantworten zu können, darf man nicht länger die Augen vor der Wahrheit verschließen. Es gibt keinen staatlichen Rassismus mehr, aber die Tatsache, dass er zum Beispiel in Frankreich über 250 Jahre lang existiert hat, ist die Ursache für das, was wir heute erleben. Mein Traum ist, dass wir alle an einem Punkt ankommen, an dem wir uns dagegen wehren, und uns unsere Gedanken nie mehr von unserer Race diktieren lassen. Dass wir uns dem stellen, was das kapitalistische weiße Denken der Menschheit angetan hat und weiter antut, auf unserem bereits jetzt so ausgebeuteten Planeten.
Ich übernehme in diesem Buch nicht die Rolle eines »Sprachrohrs«. Wenn ein Weißer das Wort ergreift, dann spielt es keine Rolle, ob er Humanist ist oder etwas anderes, man sieht ihn in erster Linie als jemanden, der für den Menschen im Allgemeinen spricht. Ein Nicht-Weißer wird oft vorschnell als Sprachrohr seiner Community eingeordnet. Mein Ziel ist, zu analysieren, wie sich ein weißes Denken herausbilden konnte, das die letzten Jahrhunderte beherrscht hat. Dafür ist es nötig, seine Entwicklung nachzuvollziehen. Denn man kann die Probleme von heute weder verstehen noch lösen, wenn man nicht weit in die Geschichte zurückgeht. Die Geschichte hilft uns, die wahre Natur von Rassismus aufzudecken, und sie gibt uns vor allem die nötigen Mittel, um eine gemeinsame Perspektive für die Zukunft zu entwerfen.
Die Frage ist doch, wozu ist Rassismus eigentlich gut? Wer profitiert wirklich davon? Kann man über Rassismus sprechen, ohne das Verhältnis des Menschen zu den anderen Lebewesen auf der Erde zu hinterfragen?
Sehen Sie sich mal die Karte auf den ersten Seiten dieses Buches an.
Nein, sie ist nicht falsch herum. Die übliche Karte, die Sie kennen, sieht völlig anders aus. Kein Wunder, dass Sie irritiert sind. Wenn man eine Sache immer aus der gleichen Perspektive betrachtet, vergisst man irgendwann, dass man sie auch anders betrachten könnte. Da die Erde rund wie ein Fußball ist, vergisst man allzu oft, dass es weder oben noch unten gibt, weder falsch herum noch richtig herum. Wenn man also eine Kugel hat (die Erde), und diese als Fläche darstellt (die Weltkarte), dann kann man, selbst wenn man jede Insel, jedes Meer berücksichtigt, nicht objektiv sein: Eine solche Karte ist nur eine Abbildung. Sie betont manches, hebt manches heraus und setzt anderes herab.
In Europa berücksichtigt die klassische, von Mercator eingeführte Karte, die Sie sicher kennen, nicht die wahren Größenverhältnisse der Kontinente. Mercator war ein Geograf und Kartograf des 16. Jahrhunderts. Ihm war wichtig, dass seine Karte für die Handelsschifffahrt nutzbar war. Deshalb kam der Größe der Weltmeere eine besondere Bedeutung zu, während die Größe der Landmasse weniger wichtig war. Auf den üblichen Karten, die wir verwenden, liegt Europa immer in der Mitte und oben. Ein Zufall? Europa ist übergroß, Nordamerika ist übergroß, der afrikanische Kontinent ist dagegen so geschrumpft, dass er kleiner als Russland zu sein scheint. Unerheblich? Auch Südamerika ist geschrumpft. Kaum zu glauben, aber die meisten Menschen haben ein völlig verfälschtes Bild von der Welt, ohne es zu wissen. Ich wollte Afrika auf dieser Karte einen Platz in der Mitte geben, um auf etwas aufmerksam zu machen: Egal, wo wir uns heute auf der Erde befinden, wir alle sind Migrant*innen, die aus Afrika stammen. Ich möchte mit dieser Karte unsere Sehgewohnheiten hinterfragen, unsere Darstellungen der Erde, unsere Hierarchien. Indem ich die wahre Größe der Kontinente berücksichtigt habe, möchte ich einen Denkanstoß geben und einige Fragen aufwerfen: Warum zum Beispiel hat ein so kleiner Kontinent wie Europa die Welt kolonisieren wollen?
Ist der Hang, seine eigene Bedeutung zu überschätzen, nicht tief im westlichen Denken verankert? Dieses Narrativ wurde über Jahrhunderte gepflegt und ist keineswegs zufällig entstanden. Im Übrigen hat China seine Kartografie im Jahr 2002 überarbeitet1 und sich die von Europa gepflegte kartografische Hegemonie zu eigen gemacht: Wenn man sich selbst in der Mitte platziert, verleiht man damit nicht seiner »imperialen« Sicht auf die Welt Ausdruck?
Die Überlieferung der Geschichte durch den Westen und das Christentum stellt die Weißen ins Zentrum der Welt. Diese Geschichtsschreibung wurde in der Schule gelehrt, hat sich im kollektiven Unbewussten festgesetzt und wurde im öffentlichen Diskurs verbreitet. Sie schildert die historischen Ereignisse aus einer einzigen Perspektive heraus. Sie schenkt bestimmten Aspekten nicht genug Beachtung, lässt andere ganz außer Acht, verankert und pflegt die Idee, dass das weiße Denken die weltweit geltende Norm ist. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass man immer aus einer bestimmten Perspektive heraus spricht, von der man glaubt, sie sei die richtige. Dabei vergisst man gerne, dass das nur eine Perspektive unter vielen ist, die für eine bestimmte Weltsicht steht, mit all ihren Trugbildern, Ängsten, Konditionierungen.
Hier kommt auch die Agnotologie ins Spiel, wörtlich übersetzt »Wissenschaft des Unwissens« (vom Griechischen agnosia, »Unwissen«). Der Begriff wurde 1992 von dem Historiker Robert M. Proctor2 geprägt, um die »kulturelle Erzeugung von Unwissen« zu beschreiben. Einige Institutionen verwenden nämlich sehr viel Geld und Energie darauf, zu verhindern, dass wir bestimmte Tatsachen erfahren oder verstehen. So haben die multinationalen Tabakkonzerne oder Süßwarenhersteller – bis heute – Millionen von Dollar investiert, damit die Öffentlichkeit nicht die ganze Wahrheit über die Gesundheitsschädlichkeit ihrer Erzeugnisse erfährt. Mit Hilfe von verfälschenden, tendenziösen wissenschaftlichen Studien säen sie Zweifel. Das »Säen von Zweifeln« ist im Übrigen ein fester Bestandteil der Strategie bestimmter Lobbyverbände.3 Sie setzen alles daran, die Realität derart zu verkomplizieren, dass der Durchschnittsbürger sich nicht mehr zurechtfindet, denkt, »Das ist mir alles viel zu kompliziert«, und die Wahrheit nicht sieht. Währenddessen fahren die Konzerne noch mehr Profite ein.
In letzter Zeit ist oft von Fake News die Rede, als wäre dieser Begriff neu. So wie die Dummheiten, die heute unsere sozialen Netzwerke überfluten, oft sehr klare Ziele verfolgen – gegen Juden*Jüdinnen, gegen Muslim*innen, gegen Einwanderung, gegen die europäische Idee …–, so wurde auch die Darstellung der Geschichte seit Jahrhunderten immer wieder verfälscht, zurechtgebogen, gefiltert, mit dem Ziel, bestimmte Sichtweisen und damit bestimmte Interessen zu verteidigen. Es ist bekannt, der Blick in die Geschichte kann dabei helfen, die Gegenwart besser zu verstehen und die Zukunft zu gestalten. Er ist jedoch zugleich ein wirksames Werkzeug für Staaten, uns eine bestimmte »alte Leier« ins Bewusstsein einzuschreiben, so dass wir vieles nicht erfahren (da hat die Geschichtsschreibung eine agnotologische Funktion). Jede Zivilisation eignet sich im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Narrativen an, die als Tatsachen ausgegeben werden, als Sichtweisen, die »nur logisch« erscheinen. Diese Heldensagen sind alle parteiisch. Es lohnt sich herauszufinden, was dabei durchs Raster gefallen und was am Ende übrig geblieben ist, was einem Reinigungsprozess zum Opfer gefallen ist und warum.
Natürlich gibt es dazu bereits Forschungen. Die Lektüre seriöser Geschichtsbücher, die nicht auf Heldensagen und den ihnen eigenen Fallen beruhen, trägt sicher einiges zur Aufklärung bei. Man findet sie in Buchhandlungen oder Bibliotheken, und sie liefern Analysen von Sachverhalten, von denen wir manchmal noch nie gehört haben. Dabei geht es darum zu verstehen, dass eine vermeintliche Wahrheit nicht für immer gültig ist. Das Problem ist nur, dass die Arbeit dieser Forscher*innen die Mehrheit der Menschen nicht erreicht. Ihre Erkenntnisse tauchen nicht zwangsläufig in Schulbüchern auf oder werden in den Medien verbreitet. Ist das, was in der Schule unterrichtet wird, nicht allzu oft die Wahrheit eines bestimmten Landes? Aber diese Erzählungen werden nicht zufällig erfunden und verbreitet. Sie verteidigen die Interessen der herrschenden Klasse, die Ideen des weißen Denkens. Wie ein Gift, das sich tröpfchenweise ausbreitet, überzeugen sie uns davon, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, und dass Ungerechtigkeiten unvermeidlich sind.
Natürlich gibt es auch unabhängige Geister, die intellektuelle Redlichkeit beweisen, und es hat sie immer gegeben. Aber es sind nicht besonders viele, die Fragen stellen, Zweifel äußern, den allgemeinen Konsens hinterfragen, man hört ihnen weniger zu, oftmals werden sie sogar verfolgt, so wie die Whistleblower von heute. Jede Epoche entwirft ein Schema, das nur bestimmte Narrative zulässt und andere verwirft. Manche Kriege sind »gerecht«, andere illegitim. Einige Mächte kämpfen für die »Werte der Demokratie« und der »Zivilisation«, andere gehören zur berühmten »Achse des Bösen«. Man erinnere sich nur an die »Massenvernichtungswaffen«, die Saddam Hussein besessen haben soll und die 2003 den Irakkrieg ausgelöst haben. Das alles wissen wir zur Genüge. Ich behaupte nicht, dass die »Feinde des Westens« durchgängig Recht hätten – ihre Fake News und Legenden sind oftmals genauso irreführend und manipulativ wie jene, die das weiße Denken produziert. Aber diese Glaubenssysteme oder diese Propaganda sind punktueller Art und als Ideologie relativ neu, im Gegensatz zum weißen Denken, das daraus seit fünf Jahrhunderten ein kollektives Denksystem macht. Wie bilden sich die dominierenden Narrative heraus, wem nützen sie, und warum sollte man sie immer aus einer gewissen kritischen Distanz betrachten? Weil die Geschichte zeigt, wie Oscar Wilde schreibt, dass der Mächtige »aus Heuchelei die Maske der Güte trägt«.4
Bevor ich einige für unsere Geschichte prägende Ereignisse und die Mythen, die sie überfrachten, herausgreife, möchte ich, um Missverständnissen vorzubeugen, etwas klarstellen: Die folgenden Seiten haben nicht zum Ziel, mit bestimmten historischen Persönlichkeiten abzurechnen. Mir ist natürlich bewusst, dass es anachronistisch wäre, von Aristoteles, Montesquieu oder Jules Ferry zu erwarten, dass sie denken wie jemand zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ich werde mich auf ihre Schriften beschränken, um herauszufinden, inwiefern ihr Denken möglicherweise Gewalt und Ungerechtigkeit innerhalb ihrer Epoche propagiert hat und wie das bis heute fortwirkt. Wer Sklaverei oder Kolonisation legitimiert, formuliert nicht nur ein paar große Ideen, sondern legitimiert damit zugleich die an Menschen der eigenen Zeit begangenen Grausamkeiten und Herabwürdigungen. Ich werde mich, so oft es geht, bemühen daran zu erinnern, dass es immer wieder Denker*innen gab, die die in ihrer Zeit vorherrschenden Ideen in Frage gestellt haben. Das berechtigt uns, jene zu kritisieren, die in ihren Schriften Gewalt legitimiert oder verharmlost haben.
Als Montesquieu zur Hochzeit der Sklaverei schrieb: »Unsere Kolonien auf den Antillen sind wunderbar«, oder als Immanuel Kant behauptete: »Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen«5, dann beeinflussten sie die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung. Es ist unerheblich, ob sie diese Richtung ernsthaft weiterverfolgten, es ist unerheblich, ob Montesquieu und Kant ehrlich glaubten, was sie schrieben, man kommt nicht umhin festzustellen, dass sie damit bestimmte ökonomische und ideologische Interessen ihrer Zeit unterstützten, und zwar nicht irgendwelche. Montesquieu und Kant urteilten als weiße und privilegierte Europäer (denn natürlich ist das weiße Denken keine Erfindung europäischer Bauern) aus einer ihnen überlieferten Position moralischer Überlegenheit heraus. Das müssen wir festhalten. Außerdem müssen wir herausfinden, wie sehr ihre Wahrnehmung die Gesellschaft ihrer Zeit geprägt hat, und in der Folge Generationen über Generationen von Schüler*innen, Studierenden und Erwachsenen. Es geht mir nicht darum, was Montesquieu oder Kant hätten denken sollen, es geht mir darum, dass wir uns bewusst machen, dass sie zu einem Narrativ beigetragen haben, das Gewalt gegen andere Menschen und ihre Ausbeutung legitimiert hat.
Geschichte ist ein intellektueller Werkstoff und eine Geisteswissenschaft, auf deren Grundlage wir die Gegenwart erbauen. Ist dieser Werkstoff fehlerhaft, dann wird das gesamte Narrativ, das daraus folgt, unvollständig, wackelig, ja empörend. Die Geschichtsschreibung sollte eigentlich immer fragen: Von welchem Standpunkt aus sprechen wir? Sollten wir nicht, auch um den Preis einer tiefgreifenden Dezentrierung, den Mut haben, uns einzugestehen, dass wir immer aus einer bestimmten Perspektive heraus argumentieren? Wie wäre es, wenn wir nach dem Vorbild einiger Historiker*innen, die sich die Perspektive des einfachen Volkes zu eigen gemacht haben statt jener der Könige, oder auch die Perspektive der Frauen statt jener »bedeutender Männer«, aufhören würden, »weiß zu denken«? Diese Arbeit haben bereits viel gebildetere und bedeutendere Menschen als ich in Angriff genommen. Zum Beispiel der indische Wirtschaftshistoriker Sanjay Subrahmanyam, der Ende der 1990er Jahre die Geschichte von Vasco da Gama aus Sicht der afrikanischen Sultane, der Mamluken und der Inder neu erzählt hat,6 das ändert natürlich eine ganze Menge. Anderes Beispiel: das Buch von Amin Maalouf über die Kreuzzüge aus Sicht der Araber, erschienen 1983.7
Bei der zu Recht als »Connected History« bezeichneten Vorgehensweise geht es darum, verschiedene Blickwinkel einzunehmen, statt aus einer rein westlichen Sichtweise heraus zu sprechen. Ich denke da auch an die Arbeit des Professors für politische Philosophie Louis Sala-Molins, der sich intensiv mit dem Code noir beschäftigt hat und der schreibt: »Ich versuche, diese ganze Tragödie [der Sklaverei] zu verstehen, indem ich mich, so gut es mir möglich ist, nicht in die glatte und gesalbte Haut des Intellektuellen aus Paris oder Genf oder Bordeaux hineinversetze […], sondern in die von Peitschenhieben zerschundene Haut und den versehrten Körper eines schwarzen Sklaven auf den Inseln.«8
Leider steht dieses Wissen bisher für eine Außenseiterposition, die nur einigen wenigen »interessierten« Leser*innen vorbehalten ist. Aber damit gebe ich mich nicht zufrieden: Die Vermittlung von Geschichte sollte uns davor bewahren, manipuliert zu werden, und uns helfen, die Vergangenheit als Menschen zu betrachten und nicht konditioniert durch vermeintliche Zugehörigkeiten, durch unsere Hautfarbe oder Nationalität.
Seit der Renaissance hat sich Europa, später der gesamte Westen, mit der griechisch-römischen Antike identifiziert und den Völkern der ganzen Welt dieses Narrativ ihres angeblichen »Ursprungs« oktroyiert. So erklärt der Historiker Serge Gruzinski: »Ein großer Teil der Welt schreibt die Geschichte immer noch auf die gleiche Art fort, auf eine europäische Art. In einem japanischen Schulbuch zum Beispiel beginnt die Geschichtsschreibung mit den Ägyptern, so wie in Europa auch!«9 Damit soll natürlich der Eindruck erweckt werden, die Wiege der Menschheit liege in der antiken griechisch-römischen Welt, und die ägyptische Hochkultur sei Teil der weißen Welt. Infolgedessen gibt es für die Europäer*innen, für die westliche Welt, keine antiken asiatischen, südamerikanischen oder afrikanischen Zivilisationen, die in irgendeiner Form prägend für das waren, »was wir [heute] sind«.
Natürlich sind uns die Maya oder die Babylonier aus Mesopotamien ein Begriff, und sie üben möglicherweise sogar eine gewisse Faszination auf uns aus, aber man hat den Eindruck, sie haben abseits der »Wiege der Menschheit« existiert. Sie gelten als »exotische« Kulturen und sollen das auch bleiben. Sie können also nicht unsere Vorfahren sein. Man kann eigentlich schlecht behaupten, Griechen und Römer hätten nordeuropäisch ausgesehen, dennoch tut der Westen genau das, wie die Historikerin Nell Irvin Painter erklärt. Sie zeigt, wie sehr man die Antike weiß gemacht hat, indem man »die Mär von den Griechen mit den blonden Haaren«10 erfunden hat. Das weiße Denken gesteht Afrika keine Antike zu. Man betrachtet Ägypten als »weiß« und lässt dabei völlig außer Acht, dass es auf dem afrikanischen Kontinent liegt. Wie ich bereits in meinem Buch Mes étoiles noires geschrieben habe, »haben europäische Historiker, westliche und arabische, bis in die 1950er, 1960er Jahre hinein daran festgehalten, das alte Ägypten als einen Teil ihrer eigenen Wurzeln, ihrer eigenen Geschichte zu behandeln, und nicht als einen Teil Afrikas. Das hat zur Folge, dass das alte Ägypten von Subsahara-Afrika abgetrennt wurde«.11 Dazu kommt, dass vieles schlicht unbekannt ist: Wer kennt schon das Königreich von Kerma, im Süden des antiken Ägypten? Wer weiß, was aus den großen afrikanischen Reichen, aus Ghana, Songhaï oder Benin geworden ist? Eben aufgrund dieser Ignoranz konnte ein Präsident der Französischen Republik, Nicolas Sarkozy, behaupten: »Das Drama Afrikas ist, dass der afrikanische Mensch nicht genug in die Geschichte eingegangen ist.«12 Dieser Satz ist charakteristisch für die Art und Weise, wie das weiße Denken funktioniert: Ein einflussreicher Staatsmann spricht ihn in Afrika aus, bekräftigt so den Vormachtsanspruch des Westens gegenüber der Welt, und bestärkt die Weißen in dem Gefühl, den Schwarzen überlegen zu sein.
Ob es dem weißen Denken gefällt oder nicht, es wird nach und nach demaskiert. Dafür genügt es, in ein beliebiges Museum zu gehen, vor den Exponaten aus Ägypten stehen zu bleiben und festzustellen, dass sie durch und durch afrikanisch sind. Nur Menschen, die die Wahrheit bewusst leugnen, können nach wie vor behaupten, Ägypten sei keine afrikanische Zivilisation. Dabei bekräftigte bereits Ende des 18. Jahrhunderts, zur Hochzeit der Sklaverei, Volney, als einziger Gelehrter, entgegen dem weißen Denken: »Die Ägypter waren echte Schwarze, wie alle Ureinwohner Afrikas. Seither sucht man nach immer neuen Erklärungen dafür, wie ihr Blut, seit Jahrhunderten dem der Griechen und Römer angeglichen, seine ursprüngliche Farbe verloren und zugleich seine Ursprungsform bewahrt haben könnte. […] Interessant dabei ist, […] dass jene Rasse von schwarzen Männern, die heute unsere Sklaven sind und die wir verachten, dieselbe Rasse ist, der wir unsere Künste, unsere Wissenschaft, ja sogar den Gebrauch der Sprache verdanken. Interessant ist auch, dass gerade aus der Mitte jener Völker heraus, die behaupten, die größten Freunde der Freiheit und die größten Humanisten zu sein, die barbarischste Form der Sklaverei gebilligt und die Frage aufgeworfen wurde, ob schwarze Menschen ebenso intelligent seien wie Menschen, die der weißen Rasse angehören.«13 Das 1954 erschienene Buch Nations nègres et culture von Cheikh Anta Diop hat die Ägyptologie völlig verändert. Aber ist die Antike in Ägypten im kollektiven Unbewussten nicht immer noch weiß?
Bis heute spricht man von der griechisch-römischen Antike. In Athen oder Rom wurde philosophiert, eine Zivilisation begründet, eine Gesellschaft organisiert. Es wird vom »Genie« dieser Antike gesprochen, ein Begriff, der immer wieder auftaucht, und der zeigen soll, dass nur die Vorfahren der Weißen unglaublich fortschrittlich waren, und entsprechend bis heute fortschrittlicher sind als der Rest der Welt.
Ich war einmal eingeladen, an der Universität Harvard einen Vortrag zu halten. Dort war auch ein Herr aus Griechenland, der offenbar sehr stolz auf seine Herkunft war. Er erklärte uns, sein Land habe »vor sehr, sehr langer Zeit die Demokratie erfunden«, die berühmte attische Demokratie, die im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beginnt und ihren Höhepunkt im »Jahrhundert von Perikles« erreicht (im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung). Aber von wem wurde diese Demokratie eigentlich ausgeübt? Von einer Handvoll männlicher Bürger. Frauen und Sklaven waren davon ausgeschlossen. Oder, um es anders auszudrücken, immerhin die Mehrheit der griechischen Bevölkerung.
Kürzlich habe ich gelesen, dass im antiken Griechenland niemand die Praxis der Sklaverei in Frage gestellt hat, und dass keine der großen philosophischen Schulen, ob Stoiker, oder Platoniker, oder irgendein*e andere*r große*r Denker*in die Versklavung von Menschen als eine verabscheuungswürdige Praxis bezeichnet hat. Aber Geschichte ist immer eine Erzählung, die sich auf die verfügbaren Quellen stützt. Halten wir fest: Niemand hat die Sklav*innen nach ihrer Meinung gefragt, niemand ist auf die Idee gekommen, sie anzuhören. Also sollten wir von der Tatsache, dass sie vor ein paar tausend Jahren nicht angehört wurden, nicht darauf schließen, dass sie sich einfach in ihr Schicksal gefügt hätten! Der Unterdrückte äußert jeden Tag aufs Neue lautstark, dass er unterdrückt wird … nur muss der Unterdrücker ihn auch hören. Wenn der Unterdrückte die Wahl hat, wird er sich aus diesem Zustand befreien.
Es ist bekannt, Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben. Das ist eine Tatsache, die man nie aus den Augen verlieren sollte, wenn man sich mit Sklaverei und Kolonisation beschäftigt. In beiden Fällen suggeriert die Stimme der Mehrheit, die von der Presse, den Intellektuellen, den Institutionen repräsentiert wird, beides wäre nie oder so gut wie nie in Frage gestellt worden. Die Meinung der »Subalternen«14, wie die indische Wissenschaftlerin Gayatri Spivak sie nennt, wird im besten Fall ignoriert, im schlimmsten Fall gewaltsam unterdrückt.
Für den freien griechischen Mann der Antike sowie für den*die amerikanische*n Durchschnittsbürger*in und für viele Europäer*innen von heute besteht kein Zweifel: Ihr Land ist das Zentrum der Welt. Landkarten sind hier, wie immer, sehr wertvoll. Auf den Karten jener Zeit sehen wir, dass die Griechen sich genau in der Mitte verorten, wo das Klima ausgeglichen ist, weder zu heiß noch zu kalt, weder zu trocken noch zu feucht. »Die Rasse der Griechen besetzt die gemäßigten Zonen […], sie ist energisch und intelligent. Außerdem bleibt sie frei«,15 schreibt Aristoteles. Dem Klima wird eine hohe Bedeutung beigemessen: »Die griechischen Gelehrten zogen insbesondere das Klima zurate, um die Unterschiede zwischen den Menschen zu erklären. Das auf die relative Trockenheit oder Feuchtigkeit eines Klimas zurückgehende Temperament erklärte den Charakter eines Volkes. […] Hippokrates meint, die Beschaffenheit eines Ortes und eines Gewässers bestimme den Körperbau, und davon ausgehend die Unterschiede zwischen den Völkern, welche die befestigten Gegenden in der Höhe besiedeln, und jenen, die unterhalb davon leben, in der Ebene. Jene, die in den tiefer gelegenen Gegenden leben, sind seiner Meinung nach breitschultrig, wohlgenährt, dunkelhaarig. […] Jene, die an stehenden Gewässern leben, ›haben in der Regel dicke Bäuche und eine dicke Milz.‹ In der Ebene seien sie träge, neigten zu Schläfrigkeit« etc.16
Hervorzuheben ist zudem: Die meisten unserer Zeitgenoss*innen glauben, nur Schwarze Menschen seien Sklav*innen gewesen. Dabei waren unter den Sklav*innen in der Antike alle möglichen Ethnien vertreten. Der Begriff der (Schwarzen oder weißen) »Rasse«, der bis heute für viele selbstverständlich ist, die immer noch nach »Hautfarben« unterscheiden, hatte für die Menschen in der Antike keine Bedeutung. Es gab unter den Sklav*innen in Athen Schwarze Personen, aber, wie der Philosoph und Ideengeschichtler Christian Delacampagne schreibt, wenn ein »negative[s] Urteil über sie [gefällt wurde, dann bezog es sich] nur auf ihren gesellschaftlichen Status, nicht auf ihre Hautfarbe. In der Tat wurden Schwarze weder bei den Griechen noch bei den Römern jemals deshalb abgelehnt, weil sie schwarz waren«.17 In Rom waren Ehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Ethnien im Übrigen keine Seltenheit. Anzumerken ist auch, dass es in der Antike große Schwarze Intellektuelle gab, wie zum Beispiel Äsop.
So schreibt auch Aristoteles in der Metaphysik: »Daher bringt weiße und schwarze Farbe keine Artenverschiedenheit hervor, und der weiße Mensch steht zu dem schwarzen nicht in einer Unterschiedenheit der Art nach, auch dann nicht, wenn man für jeden einen Namen setzt […], also ist der Mensch nur im akzidentellen Sinne weiß.«18 Das hindert ihn jedoch nicht daran, die Sklaverei als das Normalste von der Welt zu betrachten, da er sie durch das Wesen der Sklav*innen rechtfertigt. »Es ist also klar, daß es von Natur Freie und Sklaven gibt und daß das Dienen für diese zuträglich und gerecht ist«19, schreibt er in der Politik. Man wird sehen, wie sehr diese Behauptung im Lauf der Geschichte immer wieder aufgegriffen wird, bis heute. Im Übrigen kann man an der Art und Weise, wie Sklav*innen auf griechischen Keramiken dargestellt werden, deutlich erkennen, dass man sie als minderwertig ansah. Die Botschaft an die freien Bürger ist klar: »Die sind nicht wie wir.«
Man verdreht die Wahrheit, um den anderen ausbeuten zu können, rechtfertigt es damit, dass er seltsam ist, verschroben, keine Wertschätzung verdient. Ab dem vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung praktizieren die Griechen das dann noch viel offener. Es ist die Zeit, in der Alexander der Große Kleinasien erobert. Er beginnt in Anatolien (der heutigen Türkei), erobert Syrien, Ägypten, Mesopotamien und setzt seinen Feldzug den Indus entlang fort (im heutigen Pakistan und bis nach Indien). Im Zuge ihrer Kolonisation zwingen die Griechen den eroberten Städten ihre Kultur auf – man spricht auch von Hellenisierung. All das haben wir brav in der Schule gelernt. Alexander als der große Triumphator auf seinem Pferd macht auch wirklich Eindruck. Dabei bleibt unerwähnt, was der eigentliche Grund für die »Eroberung Asiens« war, die lange vor Alexander geplant worden war. Tatsächlich war sie von ökonomischen Interessen geleitet und wurde propagandistisch vorbereitet. »In Wirklichkeit«, so schreibt Christian Delacampagne, »befand sich Athen zu dieser Zeit in einer sozialen Sackgasse: Es gab praktisch keine Mittelschicht mehr; Arme und Reiche standen sich feindlich gegenüber; es fehlte an Ländereien zur Verteilung an die zehntausend Söldner, die durch das Kriegsende beschäftigungslos geworden waren. So kam man auf die Idee, die Krise zu exportieren, indem man die Eroberung Persiens projektierte – eine Idee, die athenische Redner dem Volk allmählich schmackhaft machten, indem sie sich in ihren Reden bemühten, nicht nur die Unterschiede zwischen Europa und Asien zu betonen, sondern dessen Bewohner auch noch als minderwertig darzustellen.«20
Die von Delacampagne so bezeichnete »Zeit von Verachtung und Hass« wird das griechische Volk davon überzeugen, dass es eine gute Idee ist, die angrenzenden Länder zu kolonisieren. Für uns sollte sie ein Anlass sein, den Schüler*innen von heute mehr darüber zu erzählen, damit sie begreifen, dass abwertende Urteile über andere Völker eine ebenso gefährliche wie effiziente Waffe sind.
Man legitimiert eine politische Entscheidung, indem man sie als Kulturkampf ausgibt, und stärkt damit die Idee der weißen Überlegenheit. Auf dieses Vorgehen stößt man in der Geschichte immer wieder – leider bis heute.
Eine Frage vorab: Wenn Sie den Namen Christoph Kolumbus hören und sich seine Ankunft in Amerika vorstellen sollen, sind Sie dann mit ihm auf dem Boot oder am Strand mit den Indigenen?
Weniger bekannt ist, dass die Europäer im 16. Jahrhundert der indigenen Bevölkerung gegenüber sofort die Rolle der Überlegenen einnehmen. Einige spanische Theoretiker, wie Juan Ginés de Sepúlveda, finden die Invasion des amerikanischen Kontinents völlig legitim.22