Lisa Keil
Bleib doch, wo ich bin
Roman
FISCHER E-Books
Ursprünglich hat Lisa Keil ›Bleib doch, wo ich bin‹ nur als Geschenk für ihre Freundinnen geschrieben. Denn sie hat schon ihren Traumberuf: Sie arbeitet als Tierärztin in einer ländlichen Praxis für Groß- und Kleintiere. Sie lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern und zwei Pferden in einem Ort zwischen Sauerland und Soester Börde in NRW. In ihren ersten Roman sind ihre Erfahrungen als Tierärztin und als Stadtkind auf dem Land eingeflossen.
Kaya hat alles, was sie zu ihrem Glück braucht: eine kleine Buchhandlung auf dem Land, beste Freunde und ihr heißgeliebtes Shetlandpony. Für einen Mann, der länger bleibt als eine Nacht, ist eigentlich kein Platz in ihrem Leben.
Lasse ist überzeugter Großstädter und nur in Neuberg gelandet, weil er als Lehrer die erstbeste Vertretungsstelle annehmen musste. Als Kayas Nichte Milli in der Schule Mist gebaut hat, überredet sie ihre Tante, sich beim neuen Klassenlehrer als ihre Mutter auszugeben. Kaya tarnt sich mit einer falschen Brille und tritt zum Elterngespräch an. Ein »Blind Date« im wahrsten Sinne des Wortes, denn bald darauf gibt es ein Wiedersehen bei einer Scheunenparty, und Kaya ahnt weder, wen sie vor sich hat, noch, was sie mit ihrem Flirt anrichtet.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Favoritbüro, München
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490993-6
Für mein Connemarapony Sunday,
das mich schon fast mein halbes Leben
durch alle Träume trägt
»NEIN, NEIN UND noch mal nein!« Ich wuchte eine Gabel voll Pferdemist auf die Karre. »Du weißt, ich würde fast alles für dich tun, Süße. Aber das geht so nicht.«
Milli schiebt die Hände tiefer in die Taschen ihres Anoraks und schaut mich mit großen blauen Augen an. »Aber Kaya, du bist meine letzte Rettung und außerdem meine Lieblingstante.«
»Und deine einzige, also komm mir nicht so!« Ich schiebe die Karre Richtung Misthaufen. Milli läuft neben mir her und sieht wirklich zerknirscht aus. Eine Strähne hat sich aus ihrem blonden Pferdeschwanz gelöst und fällt ihr ins Gesicht.
Milli, die eigentlich Milena heißt, ist im letzten Herbst dreizehn geworden. So alt war ich, als meine große Schwester damals mit ihrem ganz besonderen Andenken an ihr Auslandssemester aus Nantes wiederkam. Geplant war diese Schwangerschaft selbstverständlich nicht, und welcher Mann daran beteiligt war, ist bis heute ein großes Geheimnis. Ich habe Milli ein paarmal gefragt, ob es sie stört, dass Cordula nicht damit rausrückt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie nicht wissen will, was ihr Vater für einer war und wie das damals gewesen ist. Aber zu diesem Thema schweigt Milli so beharrlich und stur wie ihre Mutter. Die beiden tun so, als wäre ein biologischer Vater das Unwichtigste, was man sich vorstellen kann. Inzwischen schneide ich das Thema nicht mehr an.
Abgesehen davon können Milli und ich über alles sprechen. Wir sind uns irgendwie ähnlich und verstehen uns blendend. Wenn in ein paar Wochen die Osterferien beginnen, wird sie die freien Tage bei mir verbringen, und das wird eine tolle Zeit. Wenn ich ihr nur endlich diesen Unsinn ausgeredet habe.
»Ich gebe mich auf gar keinen Fall als deine Mutter aus und gehe zu diesem Termin mit deinem neuen Klassenlehrer. Vergiss es!« Betont schwungvoll kippe ich die Schubkarre aus. »Das kann Cordula mal schön selbst machen.«
»Mama darf auf gar keinen Fall dahin!« Sie blickt mich mit einem Trotz in den Augen an, den ich sehr gut kenne. Aus dem Spiegel.
Ich stelle die Karre beiseite, greife nach dem Besen, der an der Stallwand lehnt, und fange an, das Stroh zusammenzukehren. »Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Sie redet doch sowieso schon die ganze Zeit vom Internat. Und wenn sie erfährt, was ich angestellt habe, dann ist das für sie genau das Argument, das ihr noch gefehlt hat, um mich dahin zu schicken.«
»Aha, wir kommen der Sache schon näher. Was hast du denn eigentlich angestellt? Auf der Schultoilette geraucht, oder was?«
Sie schiebt das Kinn vor. »Ich habe geklaut.«
»Geklaut?«, frage ich möglichst gelassen. »Wo denn? Was denn?«
»Beim Praktikum. Ratten.«
»Ratten?« Entgeistert halte ich beim Fegen inne. »Was für Ratten? Und wo sind die jetzt?« Unsinnigerweise schaue ich mich hektisch um, als könnte sie die Tiere hier im Pferdestall ausgesetzt haben.
Obwohl sie ehrlich verzweifelt ist, muss Milli grinsen. »Nicht hier. Mama wollte doch, dass ich das Praktikum bei dieser Pharmafirma mache. Am vierten Tag sollte ich die Käfige von den Versuchstieren saubermachen. In dem einen saßen zwei junge Ratten, die waren total zahm, sind sofort auf meine Hand gekommen und haben sich streicheln lassen. Da habe ich auf einer Liste gesehen, dass sie am nächsten Tag getötet werden sollen. Ich habe gar nicht mehr lange nachgedacht, sondern die beiden in einen Karton gepackt, und dann bin ich gegangen.«
»Ach du Scheiße! Und wenn die jetzt mit irgend so einem Todesvirus infiziert waren oder mutiert oder so was?«
»Kaya, ich bin nicht blöd. Die waren einfach nur in der Versuchsreihe überzählig. Ich weiß selbst, dass es falsch war, sie mitzunehmen, aber gleichzeitig war es auch richtig, denn sonst wären sie jetzt tot und … ich weiß auch nicht …« Sie lässt sich auf einen Strohballen fallen und schlägt die Hände vors Gesicht.
»Ach, Kleine.« Ich setze mich neben sie und nehme sie in den Arm. Ehrlich gesagt finde ich, dass das eher eine Heldentat war. Und das, obwohl ich wirklich nicht der größte Rattenfan bin. Was mich zu der Frage zurückbringt, wo die beiden Geretteten jetzt sind.
Sie nimmt die Hände von den Augen und starrt auf ihre Stiefeletten. »Bei Justus«, lautet ihre knappe Antwort, als wäre damit alles gesagt.
»Aha. Und wer ist dieser Justus?«
»Der ist eine Klasse über mir. Er hat schon zwei Ratten und hat gesagt, dass für Thelma und Louise auch noch Platz ist. Sie sind voll glücklich da.«
»Und die Pharmafuzzis vom Praktikum machen jetzt Stress, oder was?«
»Keine Ahnung. Ich bin da einfach nicht mehr hin. Und gestern kam der Brief von der Schule. Ich habe ihn abgefangen. Mama hatte noch irgendeine Professorenkonferenz und kam erst spät.«
»Mensch, Milli, warum bist du mit dem Problem nicht gleich gekommen? Einfach schwänzen. Das ist doch sonst nicht deine Art. Jetzt haben wir den Salat.«
Endlich sieht sie mich an. »Ich weiß das selbst. Ich wollte es aber nicht wahrhaben, und mit jedem Tag wurde es schwieriger, da wieder rauszukommen.«
Ich seufze. So was kenne ich. »Kommen wir denn durch mit deiner Idee? Dein Lehrer kennt Cordula doch bestimmt.«
»Nee, Herr Fries ist ja neu an der Schule. Und meine Mama ist ja sowieso nicht so zu begeistern für Elternabende und Schulveranstaltungen. Hält sie für Zeitverschwendung.« Das passt zu meiner Schwester. Sie liebt Milli, was aber nichts daran ändert, dass ihr Umgang mit ihr dem mit einem Forschungsprojekt ähnelt: zielorientiert, sachlich und effizient. Deshalb ist das mit dem Internat leider nicht völlig aus der Luft gegriffen.
»Na gut.« Ich gebe mich geschlagen. Ich weiß nicht, ob man für Lehrertäuschung ins Gefängnis kommen kann, aber ich werde Milli den Gefallen tun. Dafür schuldet sie mir aber zehn Karren Pferdeäpfel aufsammeln.
Ich stehe vom Strohballen auf. »Bring mir eins von Cordulas Karrierefrau-Outfits aus ihrem Schrank mit. Und die Ersatzbrille. Ich sollte ihr so ähnlich wie möglich sehen, vielleicht hat der Typ sie gegoogelt.«
Milli umarmt mich. »Danke, danke, danke!«
Ich küsse sie auf den Scheitel. Sie ist schon so groß. War es nicht erst gestern, dass ich die Kleine zum ersten Mal im Arm gehalten habe?
Es ist Oktober, und durch die Zeitumstellung wird es spätnachmittags schon dunkel. Cordulas Baby ist da. Mein Vater hat mich von der Schule abgeholt und ist mit mir zur Stadtklinik gefahren. Ich finde Krankenhäuser ätzend, aber wer mag die schon? Mein Vater ganz bestimmt nicht, der hat schlimme Tage und Nächte dort verbracht, als Opa im Sterben lag. Das ist ewig her, ich war damals noch in der Grundschule, aber ich kann mich dran erinnern, weil er geweint hat, als er zum letzten Mal aus dem Krankenhaus kam. Väter weinen ja nicht so oft und meiner eigentlich nie. Aber da hat er richtig geschluchzt, und meine Mutter hat ihn stundenlang im Arm gehalten. Cordula hat mich am Ärmel gezupft und dann mit mir Tierkinder-Memory gespielt. Das war etwas Besonderes, denn meine große Schwester hat nicht oft mit mir gespielt und so einen Babykram sowieso nicht. Schach mochte sie ganz gern, aber da konnte schon damals nicht mal mehr ihr Mathelehrer gegen sie bestehen, und der hatte es ihr beigebracht. Als das mit Opa war, hat sie mich sogar gewinnen lassen. Wir haben nicht geredet, immer nur stumm die Kärtchen gewendet. Ich glaube, an diesem Nachmittag auf dem Wohnzimmerteppich waren wir ziemlich froh, dass wir uns hatten. Nach dem Abendessen ist Cordula wie immer in ihr Zimmer verschwunden und hat die Tür zugemacht. Mein Vater hatte noch rote Augen, aber ich habe ihn seitdem nicht mehr weinen sehen.
Vielleicht ist mein Vater so still, weil er an Opa denkt, als wir mit dem Aufzug in den zweiten Stock fahren und durch die endlosen sterilen Gänge laufen. Oder er schweigt, weil er jetzt selbst Opa ist. Und das ist bestimmt ziemlich krass, wenn man noch gar nicht damit gerechnet hat. Er hatte zwar ein paar Monate Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, aber seit gestern Nacht ist es eine Tatsache. Das kann einen bestimmt sprachlos machen. Wahrscheinlich ist er aber einfach still, weil er eben mein Vater ist, der nur das ausspricht, was es wert ist, gesagt zu werden. Für mehr bleibt ihm bei drei Frauen sowieso keine Redezeit. Sagt er. Resigniert, aber liebevoll. Beim Schreiben ist das anders. Da sprudeln die Worte nur so aus ihm heraus. Es wäre auch schlecht, wenn er als Journalist genauso wortkarg wäre, denn die Leute wollen von seinen Reisen lesen, als wären sie dabei gewesen.
Wir treten durch eine Glastür, die mit Störchen und Schnullern bemalt ist. Und dahinter ist alles anders. Überall hängen bunte Bilder und Babyfotos, es riecht nach Fencheltee und ist so warm, als würde man in Nizza aus dem Flugzeug steigen. Mein Vater klopft kurz an eine Zimmertür, öffnet sie und schiebt mich hindurch. Cordula sitzt in einem riesigen Krankenhausbett mit hochgestellter Lehne und sieht echt fertig aus. Sie hat blasse Haut, und die Haare, die sie sonst nie offen trägt, hängen ihr strähnig auf die Schultern. Mama dagegen ist energiegeladen wie immer. Sie strahlt uns mit geröteten Wangen an, schiebt mit Schwung den Stuhl zurück, auf dem sie an der Bettseite gesessen hat, stürzt zu uns und drückt erst mich, dann Papa an ihren weichen Oberkörper. Meine Mutter ist klein und dick, was ihr nichts ausmacht, und sie ist der herzlichste Mensch, den ich kenne. Nur wenn ich mal Mist gebaut habe, kann sie explodieren, dass man sie nicht wiedererkennt, aber das ist meistens schnell vorbei. Mit einem fetten Schmatz auf meine Wange entlässt sie mich aus ihren Armen, und ich trete zögernd zum Bett. »Herzlichen Glückwunsch zum Baby.« Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll oder ob ich meine Schwester umarmen kann.
Cordula lächelt matt, doch neben der Müdigkeit in ihrem Gesicht scheinen ihre Augen ungewohnt zu strahlen. Sie senkt den Blick. In ihrer Ellenbeuge liegt ein winziges Baby in einem riesigen Schlafsack. Sein Kopf ist rot und etwas zerknautscht. Trotz der Affenhitze hier drin hat es eine hellgelbe Wollmütze auf. Welpen sind niedlicher. Fohlen sowieso. Aber das sage ich natürlich nicht.
»Das ist also meine Nichte?« Das hört sich ziemlich erwachsen an, irgendwie cool.
Cordula nickt und hebt die Schultern dabei, als könne sie es selbst nicht ganz glauben. »Möchtest du Milena mal halten?« Ohne eine Antwort abzuwarten, streckt sie mir den Schlafsack mit Inhalt entgegen. Meine Schwester, die vier Wochen ihre Zimmertür abgeschlossen hat, weil ich ein einziges Mal heimlich an ihrer Stereoanlage war, und die mir nicht mal einen Schminkspiegel leiht aus Sorge, einen Scherbenhaufen zurückzubekommen, drückt mir ihr neugeborenes Baby in den Arm.
Ich starre erst sie, dann das kleine Bündel fassungslos an. Es ist warm und atmet. Ich muss daran denken, wie mein bester Freund Rob und ich nach dem Kaiserschnitt bei einer Boxerhündin die Welpen halten durften. Robs Vater ist Tierarzt und Mama seine Tierarzthelferin. Mama hat die Nabelschnur durchgerissen und uns gezeigt, wie wir die beiden Welpen mit einem Handtuch trockenreiben sollen. Dann durften wir sie halten, bis die Erwachsenen mit Operieren fertig waren. Mein Welpe hatte einen weißen Fleck an der Pfote, weshalb ich ihn Flecki genannt habe. Ich hätte ihn zu gern behalten, aber meine Mutter war natürlich mal wieder dagegen. Jedenfalls war es mit Flecki ein ähnliches Gefühl, ganz viel Lebendigkeit im Arm zu halten und irgendwie Angst zu haben, dass man sie fallen lässt.
Das Baby öffnet die Augen. Einen Moment befürchte ich, dass es sofort anfängt zu schreien. Meine Nichte schaut mich eine Weile nachdenklich an. Sie runzelt die Stirn noch etwas mehr und formt mit den Lippen ein kleines O. Dann scheint sie mich als akzeptabel eingestuft zu haben, denn sie schließt die Augen und schläft weiter. Ich weiß, dass man mit siebzehn noch kein Kind kriegen sollte, obwohl man fast erwachsen ist. Ich weiß, dass Cordula ganz andere Pläne hatte und es für sie jetzt ziemlich schwierig wird. Das Baby hat alles verändert. Aber für mich ist in diesem Moment alles gut. »Willkommen, kleine Milli!« Ich spreche leise, um sie nicht zu wecken, und wiege sie ganz vorsichtig auf meinem Arm. Dann schaue ich schuldbewusst zu Cordula. »Darf ich sie überhaupt so nennen?«
Meine Schwester grinst und streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Tante Kaya darf das.« Wir tauschen einen Blick, und plötzlich ist es, als würden wir wieder in stiller Einigkeit Memory-Kärtchen umdrehen. Als ich Milli zurück in Cordulas Arme lege, flüstere ich: »Danke.«
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Schwester mich versteht.
Milli ist das größte Geschenk, das Cordula mir machen konnte. Eigentlich ist es gar keine so schlechte Idee, dass ich meiner Schwester diesen Termin in der Schule abnehme. Sie hat sowieso nie Zeit, und Lust auf ein Lehrergespräch schon gar nicht. Sie darf nur auf keinen Fall davon erfahren, sonst sind wir geliefert. Ich schaue Milli eindringlich an.
»Ich mach das nur dieses eine Mal!«
Sie nickt eifrig, und ich drücke ihr den Besen in die Hand.
»Na komm, du kannst gleich anfangen, deine Schulden abzuarbeiten.«
Durch das Gespräch mit Milli bin ich spät dran. Als ich vom Stall zurückkomme, kann ich gerade noch schnell unter die Dusche springen, bevor ich den Laden öffnen muss. Mein Buch-Café am Kirchplatz ist eine Mischung aus Buchhandlung, modernem Antiquariat und Bücherei – und mein ganzer Stolz. Es ist inzwischen ein Geheimtipp für Büchernarren geworden, die die Atmosphäre zwischen alter und neuer Literatur genießen. Ich habe es selbst aufgebaut, jedes einzelne Regal ist von mir zusammengeschraubt worden, und die alten Truhen, Stühle und Lampen habe ich liebevoll auf Flohmärkten zusammengesucht. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich die Kisten öffnete und die ersten Bücher einräumte – erst ehrfurchtsvoll eins nach dem anderen, dann packte ich mutiger mehrere mit beide Händen. Natürlich ist es inzwischen Routine geworden, aber nicht selten empfinde ich noch den alten Zauber, wenn mir der Duft von druckfrischen Neuerscheinungen entgegenschlägt oder ich in einem Nachlass eine alte Pferdebuchserie entdecke – vollständig und mit Motiven, die wie ein verblasster Traum vertrautes Herzklopfen auslösen.
Zum Föhnen reicht die Zeit nicht, und ich binde die feuchten Haare zum Pferdeschwanz. Zum Glück muss ich von meiner Wohnung ja nur die Treppe runterpoltern und stehe schon direkt im Laden. Eine Schiebetür mit der Aufschrift Privat ist das Einzige, was Arbeit und Freizeit trennt, aber mir gefällt es so. Wahrscheinlich weil es in der Tierarztpraxis nicht anders war, in der ich einen großen Teil meiner Kindheit verbracht habe und auch heute noch irgendwie zu Hause bin. Als ich aufschließe, steht vor der Ladentür bereits eine junge Frau. Sie tritt ein, und als sie sich überrascht umschaut, weiß ich, dass sie noch nicht hier gewesen ist. Weil das Haus von außen wie ein gewöhnliches Wohnhaus aussieht, sind viele erstaunt, wenn sie den Raum betreten, in dem die Wände bis obenhin mit Büchern bedeckt sind. Der Geruch der altmodischen Möbel vermischt sich mit dem Duft der Bücher, und jeder möchte am liebsten sofort anfangen zu schmökern. Das Erdgeschoss meines Elternhauses ist der wahrgewordene Traum eines Bücherwurms. Nach einem abgebrochenen Psychologiestudium stand ich mit zweiundzwanzig da und wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Ich kehrte also erst mal ohne Plan zurück zu meinen Eltern nach Neuberg. Die versuchten, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie darüber nicht besonders glücklich waren. Sie wollten nämlich gerade ihr Leben als Weltenbummler wieder aufnehmen, das sie für uns Kinder unterbrochen hatten, als sie das Haus meiner Urgroßeltern erbten. Cordula war damals ein Kleinkind und meine Mutter mit mir schwanger. Ich war inzwischen anscheinend die Einzige in der Familie, die sich an Neuberg gebunden fühlte, und das spürten meine Eltern. Sie überließen mir das Haus, und mein Vater sagte: »Kaya, du bist kreativ und hartnäckig. Du musst einfach nur etwas finden, das dich selbst begeistert. Und dann leg los.«
Ich legte los. Reich werde ich mit meinem kleinen Laden bestimmt nicht, aber es ist genug für das Leben, das ich mir wünsche. Da Neuberg keine Bibliothek hat, fördert die Gemeinde großzügig meine kleine Kinderbücherei. Zudem schätzen die Leute meine gute Beratung und meine ansteckende Liebe zu Büchern, so dass ich immer neue Kunden gewinne.
Ich sehe der Frau einen Moment zu, wie sie schweigend die Buchreihen entlanggeht, ab und zu eins aus dem Regal zieht, es betrachtet und dann vorsichtig zurückstellt. Dann trete ich zu ihr.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Sie dreht sich etwas unsicher zu mir. »Vielleicht. Ich suche ein Buch, aber ich weiß den Titel und den Autor nicht mehr. Eine Freundin hat gesagt, Sie würden es bestimmt finden.«
»Ich kann es versuchen«, antworte ich lächelnd. Solche Anfragen kommen häufiger. Es hat sich rumgesprochen, dass ich ziemlich erfolgreich bin, wenn es darum geht, ein bestimmtes Buch zu finden, das man nicht einfach im Onlineshop bestellen kann. Ein Kunde hat mich mal »Buchjägerin« genannt, was ich für eine wunderbare Berufsbezeichnung halte. Die gesuchten Bücher könnten unterschiedlicher nicht sein. Mal handelt es sich um ein vergriffenes Exemplar, mal um eine seltene Erstausgabe oder eine limitierte Auflage. Ich ziehe eine Karteikarte aus der Schublade des uralten Schreibtischs, der hinter der Theke steht.
»Erzählen Sie mir alles, was Sie über das Buch wissen.«
Wie sich herausstellt, ist das nicht sonderlich viel. Die Frau hat es vor zwei Jahren aus einem Hotelregal gezogen und als Urlaubslektüre verschlungen. Danach hat sie es zurückgestellt, aber die Geschichte hat sie nicht losgelassen. Trotzdem kann sie mir nicht viel mehr sagen, als dass es um eine Frau mit ungewöhnlichem Namen geht, der wahrscheinlich mit O beginnt. Am Anfang der Geschichte spielt sie als Kind im Garten, und dann folgt ihre ganze glücklich-traurige Lebensgeschichte.
»Fällt Ihnen noch etwas ein?«
Die Frau schüttelt bedauernd den Kopf. Wir vereinbaren einen Finderlohn, falls ich Erfolg habe, und ich notiere ihre Telefonnummer. An der Tür dreht sie sich noch einmal um.
»Ach ja, auf dem Cover waren gelbe Blumen.«
Ich notiere mir den Hinweis. Damit ist so manche Erstausgabe leichter zu finden. Ich liebe die Herausforderung, und oft braucht es nur ein bisschen Glück und die richtige Kontaktperson.
Wenig später wird es im Laden voll. Drei Schülerinnen wollen sich Bücher für ein Referat leihen, eine ältere Dame sucht einen Krimi für ihre Schwiegertochter, und Frau Schneider vom katholischen Frauenverein will für Karfreitag das Lesecafé reservieren. In diesem separaten Raum ist neben einer Anrichte mit großer Kaffeemaschine viel Platz für Leserunden und Buchclubs. Zu den Öffnungszeiten kann man sich an einen der Tische setzen, in einem eigenen Buch oder einem aus dem Lese- und Tauschregal blättern und Kaffee oder Sprudelwasser trinken. Jeder räumt benutzte Tassen und Gläser in die Spülmaschine und schmeißt was in die Getränkekasse.
Ich bin voll beschäftigt, als Amelie hereinkommt. Sie winkt mir nur kurz zu und nimmt dann mit einem Kaffee an einem der Tische Platz, bis ich Zeit für sie habe.
»Hi du, was machst du denn hier?« Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich so, dass ich die Ladentür im Auge behalten kann.
»Ich war in der Stadt shoppen und hab gedacht, ich könnte auf dem Rückweg vom Bahnhof doch mal meiner besten Freundin beim Arbeiten zuschauen.« Amelie war eine meiner ersten Stammkundinnen im Buch-Café, und ziemlich schnell hat sich eine enge Freundschaft entwickelt.
»Ganz schön frech! Warst du erfolgreich?«
Ich spähe neugierig in eine der drei Einkaufstüten.
Sie seufzt. »Viel zu erfolgreich. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich das perfekte Outfit für die Scheunenparty noch nicht gefunden habe.«
Es sind noch ein paar Wochen bis zur legendären Partynacht auf dem Bauernhof, aber Amelie plant ihr Styling gern langfristig. Ich tippe ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.
»Du brauchst doch nur feste Schuhe und eine regendichte Jacke. Und du wirst phantastisch aussehen!«
»Mag sein.« Sie legt ihren Kopf schief. »Was nichts daran ändern wird, dass ich wahrscheinlich wieder keinen Mann kennenlernen werde.«
Ich muss lachen. Das alte Thema. Sie müsste sich einfach mal einen schnappen von denen, die ihr hinterhersabbern. Amelie sieht einfach gut aus. Sie hat eine Topmodelfigur, brünette lange Haare und mandelförmige Augen. Aber sie hat auch hohe Ansprüche, denen kaum ein Mann gerecht werden kann. Mal fünf gerade sein lassen für ein bisschen Spaß oder zumindest die Chance auf mehr gibt es bei ihr nicht. Ich sehe das nicht so eng.
Natürlich will ich irgendwann dem Mann fürs Leben begegnen, aber bis es so weit ist, muss ich mich eben mit den Männern für eine Nacht begnügen. Wir leben glücklicherweise nicht mehr in Zeiten, in denen ich sehnsuchtsvoll am Fenster sitzen muss und Blümchenmuster auf Tischdecken sticke, während ich auf einen Bräutigam warte.
Ich zwinkere Amelie zu. »Du weißt ja: Man muss viele Frösche küssen, bis man einen Prinzen findet. Und bis der auftaucht, kann man mit den Fröschen durchaus Spaß haben.«
Sie runzelt die Stirn. »Aber hast du gar keine Angst, dass du ihn dann vor lauter Fröschen gar nicht bemerkst? Dass dir gar nicht auffällt, dass Frosch Nummer 27 ein Prinz ist?«
Ich winke lachend ab. »Irgendwie wird er sich schon zu erkennen geben. Außerdem weiß ich ja genau, wie er sein soll.«
Amelie lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. »Na, da bin ich jetzt aber gespannt.«
Ich lege den Kopf zur Seite und denke kurz nach. »Also, ich muss mit ihm reden und lachen und traurig sein können. Er muss damit klarkommen, dass mein Leben schon ziemlich voll ist mit Herzensangelegenheiten, und nicht versuchen, die zu verdrängen. Er muss sich also auch mal gut ohne mich beschäftigen können, aber natürlich soll er unglaublich gern mit mir zusammen sein und da sein, wenn ich ihn brauche.«
Amelie schmunzelt, und ich merke selbst, dass diese Beschreibung wohl kaum für eine Fahndung reicht. Aber irgendwann wird es sich einfach richtig anfühlen. Der Wunsch zu bleiben wird stärker sein als der Wunsch zu gehen, und mit jeder Kurve, die einen aus der Bahn werfen könnte, rutscht man näher zusammen.
Amelie stützt ihr Kinn auf beiden Händen ab.
»Ich wusste gar nicht, dass du so romantisch sein kannst.«
Ich grinse. »Bevor ich es vergesse: Der Sex muss natürlich auch göttlich sein.«
Sie verdreht die Augen. »War ja klar, dass das jetzt kommt. Ist ja auch eher selten, dass du eine Party allein verlässt.«
Sie übertreibt. Ich habe nichts gegen einen One-Night-Stand ab und zu, aber ich bin keine Nymphomanin. Und das Beste an Partys sind nicht die Männer, sondern die Freundinnen, die einen sowieso viel besser verstehen. Ich will Amelie gerade von Millis Bitte erzählen, da sehe ich neue Kunden an der Tür. Ich nicke ihr entschuldigend zu. Sie erhebt sich und sammelt ihre Tüten ein. »Ich muss sowieso los. Wir telefonieren in den nächsten Tagen noch mal, oder?«
Erst als ich nach einem langen Tag im Bett liege, kann ich in Ruhe über Millis Lehrergespräch nachdenken. Vielleicht war es ein Fehler, sich darauf einzulassen. Aber ich habe es Milli versprochen. Und was soll dabei schon groß schiefgehen?
ICH BETRACHTE MICH zweifelnd im Spiegel. Cordulas graues Kostüm passt perfekt, und mit dem straffen Dutt und den dunkel geschminkten Augenbrauen sehe ich meiner Schwester tatsächlich ziemlich ähnlich. Aber als Nichts-als-Jeans-Trägerin weiß ich nicht wirklich, wie ich mich mit dem kurzen Rock bewegen soll, und drehe mich unsicher hin und her. Glücklicherweise hat Milli im Schuhschrank ihrer Mutter ein Paar Ballerinas gefunden, denn wenn ich jetzt noch auf Cordulas geliebten Absätzen laufen müsste, würde ich verzweifeln.
Milli klatscht begeistert in die Hände. »Yeah, so könntest du die gesamte Schulkonferenz täuschen.«
»Milli, wenn das auffliegt …« Mir ist ganz flau im Magen.
»Das fliegt nicht auf. Du machst das, Tante Kaya!«, jubelt sie und erntet einen bösen Blick. Ich kann es nicht leiden, wenn sie mich Tante nennt, weil ich mir dann uralt vorkomme, und das weiß sie genau.
»Wie sieht er überhaupt aus, dein Herr Lehrer?« Ich zupfe an der Nylonstrumpfhose herum. Irgendwie möchte ich wetten, dass ich die erste Laufmasche habe, bevor ich überhaupt in der Schule angekommen bin.
»Oh, der sieht voll gut aus«, flötet sie, »ein bisschen wie Bryan Adams.«
Ich drehe mich mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr um. »Woher kennst du junges Ding denn Bryan Adams?«
»Ist das dein Ernst? Der ist voll cool. Weißt du noch, wie wir diesen Zeichentrickfilm mit den Wildpferden geguckt haben? Der hat die ganze Musik davon gemacht. So wie Bryan Adams auf dem Cover der CD aussieht, genauso sieht Herr Fries aus. Na ja, fast genauso.«
Ich muss lachen und schüttele den Kopf. Es ist schon lange her, dass Milli und ich den Film über den wilden Mustang Spirit gesehen haben, aber ich kann mich noch erinnern, wie beeindruckt sie war. Von ihrer Traumlehrerbeschreibung glaube ich kein Wort. Wahrscheinlich sieht er eher aus wie Hansi Hinterseer. Als letztes Accessoire meiner Verwandlung in mein Schwesterherz setze ich ihre Ersatzbrille mit dem schwarzen Rahmen auf. Sofort verschwimmt alles. »Viel sehen werde ich von diesem Herrn Fries sowieso nicht. Wie viel tausend Dioptrien hat deine Mutter? Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht aus Versehen mit einer Stehlampe unterhalte.«
Unser Plan ist einfach und hoffentlich gut genug. Ich werde besorgt und fürsorglich auftreten, beteuern, wie leid Milli das alles tut und wie schwierig es für sie war zu entscheiden, was richtig ist. Wenn das noch nicht reicht, werde ich an sein Herz appellieren und erzählen, dass es für Milli nicht leicht ist mit der alleinerziehenden Karrierefrau als Mutter und dem täglichen Pendeln zwischen der Wohnung in der Stadt und der Schule in Neuberg. Dieser Meinung bin ich übrigens wirklich. Vor zwei Jahren hat meine Schwester eine Stelle als Dozentin an der Uni angenommen und ist mit Milli in die Nähe ihres Arbeitsplatzes gezogen. Für die Kleine bedeutete das einen Wechsel von der Klitzekleinstadt in die Großstadt, weg von Freunden und gewohnter Umgebung in ein neues Zuhause, in dem sie viel allein ist. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, die Schule zu wechseln, und nimmt deshalb jeden Tag mehr als zwei Stunden Zugfahrt in Kauf. Und ein Leben zwischen den Welten. Ich glaube, in keiner fühlt sie sich richtig zu Hause. Und ich hoffe, sie weiß, dass ich mich jedes Mal freue, wenn sie bei mir ist.
Eigentlich bin ich für meine Schwester bestimmt nicht die bevorzugte Millibetreuerin, wenn die Schulferien sich mal wieder nicht nach ihren Kongress- und Seminarplänen richten. Ich befürchte, ich bin immer noch so eine Art Notlösung in Ermanglung geeigneter Alternativen. Da Cordula jetzt aber schon seit sieben Jahren immer wieder auf diese Notlösung zurückgreift, kann ich damit gut leben. Beim ersten Mal war Milli sechs Jahre alt. Sie war vom Kindergarten bereits abgemeldet, und die Schule hatte noch nicht begonnen, aber meine Schwester war gerade mit ihrer Doktorarbeit beschäftigt und hatte weder Zeit noch Nerven, die Tage mit ihrer lebhaften Tochter zu verbringen. Meine Eltern waren für eine Reportage weit weg auf irgendeiner Insel in Asien oder so. Ich hätte fast eher damit gerechnet, dass Cordula die kleine Milli in ein Flugzeug setzt und dorthin schickt, als dass sie sie in meine unqualifizierte Obhut gibt, aber da ich anscheinend die Einzige mit unverplanten Semesterferien weit und breit war, bekam ich einen unerwarteten Anruf und durfte Milli für eine ganze Woche zu mir nehmen. Meine Schwester brachte mir nicht nur Milli, sondern Gepäck für eine Weltreise, inklusive Nordpolexpediton, ein Portfolio voller Impfpässe, Untersuchungshefte und Zusatzversicherungen und ein mehrseitiges, akkurat formatiertes Dossier über die Betreuung von Milena Mahler, dessen Inhalt mir nur zum Teil bekannt ist, weil ich bei »Bitte nur eine erbsengroße Menge Zahnpasta« aufgehört habe zu lesen. Überraschenderweise überlebte Milli die Woche trotzdem, und es folgten weitere, denen meine Nichte mit Begeisterung und meine Schwester weiterhin mit Skepsis entgegensah. Dennoch scheint sie sich inzwischen an die Notlösung gewöhnt zu haben. Manchmal glaube ich, sie merkt, dass es Milli auch ganz guttut, wenn bei mir statt Fordern und Fördern einfach mal Leben und Lachen auf dem Programm steht. Das würde Cordula natürlich nie zugeben, und vielleicht bilde ich es mir auch nur ein. Wenn sie Milli nach einer Woche abholt und die schon bei der Begrüßungsumarmung von Tiefkühlpizza bis Äpfelklauen alles aussprudelt, was sie eigentlich für sich behalten sollte, wirft Cordula mir über ihre Schulter ein Stirnrunzeln zu und zupft seufzend ein Pferdehaar von der Jacke. Aber dann zückt sie ihren Kalender, um mit mir zu besprechen, ob ich beim nächsten Kongresswochenende notfalls Milli nehmen könnte, falls sie niemand anderen findet, und das ist es, worauf es ankommt.
Letztes Jahr hätte ich meine Milli-Lizenz allerdings fast verspielt. Ich wollte mit ihr unbedingt zur Pferdemesse Equitana fahren, und weil es da am Wochenende viel zu voll ist, hatte ich uns für donnerstags Karten besorgt und Milli für die Schule eine perfekte Magen-Darm-Virus-Entschuldigung geschrieben. Meine Nichte ist Klassenbeste, und es gab nichts zu verpassen, aber weil sie das Pflichtbewusstsein ihrer Mutter geerbt hat, brauchte es etwas Überredungskunst, um sie für den Ausflug zu begeistern. Wir schauten uns die Pferdeshows an, stöberten nach Reitstiefeln und kauften ein neues Lederhalfter und Leckerchen mit Lakritzgeschmack, so dass Milli ihr schlechtes Gewissen bald vergessen hatte. Was passiert ist, kann man eigentlich nur als Unglück im Glück bezeichnen. Es gab eine Aktion, bei der junge Reiter die Möglichkeit bekamen, auf einem Lipizzanerhengst der Spanischen Hofreitschule zu reiten, und Milli wurde tatsächlich ausgewählt. Mit strahlenden Augen durfte sie im großen Ring auf einem imposanten Schimmel sitzen, der von einem Mann in der klassischen Uniform der Wiener Hofreitschule geführt wurde, während aus dem Lautsprecher barocke Musik erklang. Der Rest der Geschichte ist digital. Jemand knipste ein Foto von dem kleinen Mädchen auf dem schicken Pferd und stellte es ins Internet, ein anderer erkannte Milli, mailte der vermeintlich stolzen Mutter das Bild, und noch bevor wir unsere überteuerten Messepommes aufgegessen hatten, hatte ich Cordula am Handy und konnte mir einen Vortrag über Verantwortungslosigkeit und schlechten Einfluss anhören. Meine Schwester kann ähnlich aufbrausen wie Mama, aber leider dauert es bei ihr eine Ewigkeit, bis sie sich abregt. Unser Ausflug hatte jedenfalls zur Folge, dass ich für Cordula als Millis Betreuungsperson abgeschrieben war und sie eine tabellarische Liste von Eliteinternaten in ganz Deutschland erstellte, die wochenlang wie ein Damoklesschwert über ihrem Schreibtisch hing und sowohl Milli als auch mir Albträume bescherte. Ich denke, ich habe es Mamas Einfluss zu verdanken, dass diese Liste irgendwann in einer Schublade verschwand und Milli acht Wochen nach dem Ritt auf dem Lipizzaner wieder ein Wochenende bei mir verbringen durfte. Unter strengsten Sicherheitsauflagen versteht sich. Inzwischen bin ich wieder Notlösung Nummer eins, aber ich weiß, dass das auf ziemlich wackligen Füßen steht.
Deshalb habe ich keine Ahnung, was ich machen soll, wenn Millis Lehrer ihr ernsthaft Schwierigkeiten machen will. Ich muss das irgendwie verhindern. Milli hat alles auf eine Karte gesetzt. Und diese Karte bin ich.
Ich atme einmal tief durch und lege die Brille zurück ins Etui, das ich in die schicke kleine Handtasche gleiten lasse. »So, mein rattenrettendes Töchterlein. Deine Mutti setzt dich jetzt am Bahnhof ab und wird sich dann die Standpauke über deine schlechte Erziehung anhören.«
Milli lächelt gequält. »Das werde ich dir nie vergessen!«
Ich klopfe dreimal auf die alte Kommode. »Ach, Süße, drück einfach die Daumen, dass deine Chaostante es nicht vermasselt.«
Als ich pünktlich um vier an die Tür des Lehrerzimmers klopfe, ist mir schon etwas mulmig zumute. Sollte ich direkt auffliegen, würde ich so tun, als wäre es meiner Meinung nach abgesprochen gewesen, dass statt der Mutter die Tante zum Gespräch kommt. Aber unser Plan, Cordula aus der Sache rauszuhalten, wäre damit wahrscheinlich zunichte. Und die würde zur Furie werden, wahrscheinlich erst mal unsere Eltern in Frankreich verrückt machen, Milli statt ins Internat gleich ins Bootcamp schicken und mir für immer den Umgang verbieten.
Diese Gedanken sind nicht gerade das ideale Rezept gegen meine Nervosität. Noch dazu fühle ich mich mit der Brille wie ein Maulwurf im Nebel und überlege kurz, wie hoch das Risiko ist, wenn ich auf das Ding verzichte. Doch es ist zu spät, denn die Tür wird mit einem dynamischen Ruck geöffnet, und ein Mann tritt auf mich zu. Er ist einen Kopf größer als ich, trägt Jeans und einen dunklen Pullunder zum hellblauen Hemd. Mehr kann ich durch die fiesen Brillengläser nicht erkennen.
Er räuspert sich. »Guten Tag. Sie sind Frau Mahler, nehme ich an. Schön, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten.« Mann, entweder hat der Typ gestern gesoffen, oder es hat ihn ein Horrorvirus erwischt. Seine Stimme gleicht einem Reibeisen. »Sie müssen entschuldigen, ich habe eine verschleppte Halsentzündung, und Stimme schonen funktioniert in meinem Job leider nicht.«
Er scheint das lustig zu finden, also lächele ich freundlich. Irgendwie müssen wir ja miteinander warm werden.
»Das tut mir leid. Gute Besserung.« So, jetzt könnten wir mal zum Thema kommen. »Sie sind also Millis Klassenlehrer?«
»Ja, ich habe Milenas Klasse vor zwei Monaten als Vertretung übernommen. Beim letzten Elternabend haben wir uns noch nicht kennengelernt, glaube ich.« Er macht eine vorwurfsvolle Pause. Das geht ja gut los.
»Ja, dafür möchte ich mich entschuldigen. Leider bin ich sehr beschäftigt und schaffe es nicht immer, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen.« Ich finde, ich mache meine Sache gar nicht schlecht. Zumindest scheint er keinen Verdacht zu schöpfen, wenn er mich mit Vorhaltungen konfrontiert, die meinem Schwesterlein gelten. Ich entspanne mich etwas.
»Ich schlage vor, dass wir im Besprechungsraum weiterreden.« Er öffnet eine Tür gegenüber vom Lehrerzimmer. »Möchten Sie etwas trinken?«
Ein Schnaps wäre nicht schlecht, denke ich. Laut sage ich: »Nein, danke. Mir wäre es lieb, wenn wir direkt zur Sache kommen könnten.«
Er hält mir die Tür auf, und ich betrete einen kleinen Raum. An einem Tisch stehen drei Stühle. Mir schlägt der Geruch von Kopierpapier, billigem Putzmittel und ewig geschlossenen Fenstern entgegen. Er zieht einen der Stühle zurück. »Das kann ich verstehen. Es ist ja auch nicht so ein schöner Anlass. Setzen Sie sich doch.«
Ich schaffe es, mich mit dem kurzen Rock halbwegs elegant niederzulassen, und versuche, ein möglichst betretenes Gesicht zu machen. »Ich will gleich sagen, dass Milli das Ganze wirklich leidtut.«
Er setzt sich mir gegenüber. »Das glaube ich Ihnen. Trotzdem müssen wir aufgrund der Schwere des Vorfalls nach einem bestimmten Verfahren vorgehen. Sie bekommen dabei gleich noch die Möglichkeit, sich zu äußern.«
Inzwischen kriege ich Gänsehaut. Eine Folge Lie To Me ist nichts dagegen. Wahrscheinlich führt der mich gleich in einen Glaskasten und schließt mich an einen Lügendetektor an. Da klopft es an der Tür.
»Ach, da ist Herr Kellermann, der Mathematiklehrer meiner Klasse. Kennen Sie ihn?« Hoffentlich nicht, denke ich und schüttele den Kopf. »Er wird von unserem Gespräch ein Protokoll erstellen, das dann in Milenas Akte kommt.«
Ein zweiter Zeuge und schriftliches Beweismaterial waren nicht eingeplant. Ich habe keine Ahnung, ob der Mathelehrer mal irgendwann irgendwas mit Cordula zu tun hatte. Am liebsten würde ich die Flucht ergreifen. Aber da steht der kleine dicke Mann schon vor mir und drückt mir die Hand. Unwillkürlich schließe ich die Augen und warte auf ein Zeichen der Irritation oder Empörung. Doch er wendet sich kommentarlos ab, schlurft zu dem dritten Stuhl und lässt sich mit einem Seufzen draufsinken. Dann zückt er einen Kugelschreiber und lässt ihn erwartungsvoll klicken. Das Startsignal für den Verhörspezialisten.
»Ich werde Ihnen gleich den Sachverhalt zu Milenas Verstößen, so wie wir ihn rekonstruieren konnten, vorstellen. Danach haben Sie die Möglichkeit, sich dazu zu äußern. Dann werden wir versuchen, gemeinsam eine Konsequenz für Milenas Verhalten zu entwickeln. Sind Sie damit einverstanden?«
Und bist du damit einverstanden, dass ich dir gleich auf die Schuhe kotze? »Ja, natürlich«, sage ich zuckersüß, und der Herr Lehrer legt los. Er erzählt mir genau das, was ich schon weiß, aber seine Wortwahl und sein Tonfall würden eher dazu passen, dass Milli den Firmentresor leergeräumt hätte und mit dem Porsche vom Chef nach Amsterdam abgehauen wäre. Als der selbsternannte Staatsanwalt endet, schauen mich die beiden erwartungsvoll an. Ach ja, Zeit für die Verteidigung, dafür bin ich schließlich hier.
»Milli hat die Ratten nicht als Streich oder in böser Absicht mitgenommen. Sie konnte einfach den Gedanken nicht ertragen, dass sie getötet werden sollen. Sie weiß, dass es trotzdem falsch war. Vielleicht können wir der Firma den Schaden ersetzen? Mir wäre es recht, wenn wir das möglichst schnell und unkompliziert aus der Welt schaffen könnten.« Mir war schon klar, dass das dem Herrn Lehrer zu einfach wäre. Kein Wunder, dass seine Stimme sich so anhört, vielleicht sollte er sie wirklich mal ein bisschen schonen. Macht er natürlich nicht.
»Das Unternehmen sieht glücklicherweise von einer Anzeige ab. Nichtsdestotrotz bleibt es eine Straftat, die Konsequenzen nach sich ziehen muss, als Zeichen für Milena, aber auch für die anderen Schüler. Hinzu kommt, dass das Praktikum verpflichtend ist. Sie kann es ja schlecht während des laufenden Unterrichts nachholen.«
Mir kommt eine rettende Idee, mit der ich hoffentlich auch Mister Überkorrekt zufriedenstellen kann. »Wie wäre es, wenn Milli in den Osterferien das Praktikum nachholt? Das wäre doch gleichzeitig auch eine Strafe, denn die Ferien sind dann futsch.« Ich drücke unauffällig die Daumen.
»Das wäre zumindest eine Möglichkeit. Ich weiß allerdings nicht, ob sie so kurzfristig irgendwo einen Platz bekommt.«
»Das kriege ich hin. Ich habe schon etwas in Aussicht.« Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die ideale Lösung gefunden habe. Herr Fries neigt abwägend den Kopf hin und her und macht mich langsam wütend. Etwas schärfer als ich will, sage ich: »Ich muss jetzt einfach mal sagen, dass Milli eine Gewissensentscheidung getroffen hat. Das mag nicht richtig gewesen sein, aber ich finde, man muss ihr hoch anrechnen, dass es mutig war und für die Ratten eindeutig das Beste, was ihnen passieren konnte!« Ich verschränke die Arme und lehne mich zurück. Aus den Augenwinkeln ahne ich, dass der Mitschreiber beifällig nickt, und auch Herr Fries ist zumindest kurz mal sprachlos. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht deuten, was vor allem daran liegt, dass ich sein Gesicht durch die Brillengläser nur verschwommen sehe. Er fängt sich schnell wieder.
»Milena hat besonders durch das stillschweigende Schwänzen bei uns Lehrern sehr viel Vertrauen verloren. Ich werde also unangekündigt kontrollieren, dass sie das Ersatzpraktikum auch wirklich macht. Außerdem möchte ich, dass sie mir ihren Praktikumsbericht vor den Zeugniskonferenzen in einem zwanzigminütigen Vortrag vorstellt.«
Wow, Rattendiebstahl scheint zu den Kapitalverbrechen zu gehören. Aber weil Herr Fries sich anscheinend endlich zufriedengibt und keine weiteren Maßnahmen in petto hat, schicke ich ein versöhnliches Lächeln in seine Richtung. »Dann macht Milli also das Praktikum und hält den Vortrag, und dafür müssen Sie ihre … meine … äh … mich nicht mehr kontaktieren?« Oje, Kaya, du schaffst es noch, auf der Zielgeraden eine Bauchlandung hinzulegen.
»Milena soll mir bitte bis nächste Woche Bescheid sagen, wo sie das Ersatzpraktikum ableisten wird, und eine Bestätigung des Betriebs mitbringen.«
Jaja, alles klar, ich will einfach nur weg, und als ich endlich im Auto sitze, bin ich völlig erledigt. Die zehn Karren Pferdemist sind nichts dagegen. Selbst mit hundert Karren wäre ich für diese Tortur noch definitiv unterbezahlt.
DIESER JOB SOLLTE