Ulf Schiewe
Die Hure Babylon
Roman
Knaur e-books
Ulf Schiewe wurde 1947 geboren. Eigentlich wollte er Kunstmaler werden, doch statt der »brotlosen Kunst« machte er Karriere in der Industrie und lebte lange Jahre im Ausland, darunter in Frankreich, Schweden und Brasilien. Seit frühester Jugend liebt Ulf Schiewe historische Romane und spannende Geschichten in exotischer Umgebung. Ulf Schiewe ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in München
eBook-Ausgabe 2012
Knaur eBook
© 2012 Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © akg-images / British Library
Landkarte: Computerkartographie Carrle/Heike Boschmann
ISBN 978-3-426-42929-7
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März, Anno Domini 1148
Das große Unternehmen der heiligen Kirche gerät ins Stocken, die Begeisterung der frommen Pilger beginnt zu lahmen, Selbstsucht, Streit und Eifersucht lassen Bündnisse bröckeln. Aber noch einmal mühen sich drei Könige, alles zum Guten zu wenden.
Sag mir, Rogier, was ist für dich die Liebe?«
»Warum fragst du mich das, Midomna? Es weiß doch jeder, was Liebe ist.«
Verwirrt blickte er mich auf die ihm eigene Art an, die ein wenig an unterwürfige Hundeaugen erinnerte. Eine Täuschung, denn mein guter Sängerfreund konnte ziemlich frech und respektlos sein, besonders in seinen Spottliedern. Man hörte auch gewisse Geschichten über ihn, von durchzechten Nächten in üblen Spelunken, vom Umgang mit zwielichtigen Gestalten und wüsten Weibern.
»Ich will es aber von dir hören, von einem Kenner. Du hast dir einen gewissen Ruf erworben, mein Guter.«
»Ich bitte dich, Ermengarda. Seit wann achtest du auf dummes Geschwätz?«
Ich musste über sein besorgtes Gesicht lächeln. »Hast du etwas zu verbergen?«
»Natürlich nicht«, schmollte er in gespielter Entrüstung. »Meine Seele liegt allein dir zu Füßen, und du trampelst darauf herum.«
»Ach, Peire«, lachte ich. »Du bist unverbesserlich.«
Wir hatten einen müßigen Nachmittag am warmen Kamin verbracht, mit Liedern, unterhaltsamen Geschichten und auch ein wenig Klatsch und Tratsch, wie es sich so ergibt, wenn man in angenehmer Gesellschaft zusammensitzt und nichts Besseres zu tun hat. Raimon und andere Freunde bei Hofe hatten sich gerade verabschiedet. Auch Domna Anhes war davongeeilt, um Anordnungen für das Abendmahl zu treffen, denn wir gaben einen Empfang für Würdenträger der Stadt. Peire Rogier und ich waren allein zurückgeblieben.
»Zweifelst du an meiner Aufrichtigkeit?«, fragte er.
Es war ein Spiel. Es gehörte zu seiner Rolle bei Hofe, dass er sich als schmachtender Bewunderer der Fürstin aufführte. Aber nach den vielen Liedern an diesem Nachmittag und dem schamlosen Geplapper über heimliche Liebesbeziehungen bei Hofe oder in der Stadt war ich nicht mehr dazu aufgelegt.
»Jetzt mal im Ernst«, sagte ich. »Einer wie du, der ungebunden ist, der sich vergnügt und alles nimmt, was sich ihm darbietet …« Er machte eine entrüstete Handbewegung, als müsste er solche Anschuldigungen weit von sich weisen. »Leugne nicht, Peire«, fuhr ich mit erhobenem Zeigefinger und gespieltem Zorn fort. »Mir ist so einiges zu Ohren gekommen, was dich betrifft. Aber darum geht es mir nicht. Du lebst die Liebe in vollen Zügen, du denkst über sie nach und verewigst sie in deinen Versen. Deshalb sag mir, was ist sie für dich?«
»Mon Dieu, Ermengarda. Mit einer Antwort könnte man ein ganzes Buch füllen«, antwortete er wieder versöhnt. »Dicker als die Bibel.«
»Nun zier dich nicht.«
»Das Wort amor selbst erklärt schon alles.« Er zwinkerte mir zu. »Es kommt von amus, was so viel wie fangen oder gefangen sein bedeutet. Der Liebende ist Gefangener in den Ketten seiner Begierde und wünscht nichts sehnlicher, als auch den anderen mit diesem Haken zu fangen.«
»Du bist ein Esel, Peire«, lachte ich. »Der Haken heißt hamus und nicht amus und hat mit der Liebe rein gar nichts zu tun.«
Er zuckte mit den Schultern und grinste. »Nun gut. Dein Latein ist besser als meines. Aber du kannst nicht leugnen, dass die Schönheit des anderen Geschlechts uns träumen lässt, in den Armen des anderen zu liegen und all das zu tun, was uns die Liebe in diesem Fall gebietet. Dieses Begehren nach Erfüllung ist doch allen Menschen angeboren.«
Ich musste an unsere steife Domna Anhes denken. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass auch sie solche Träume haben könnte. Aber wahrscheinlich nur, weil in diesem Punkt das Leben an ihr vorübergegangen war.
»Wenn dem so ist«, sagte ich, »und das will ich gar nicht bestreiten, warum singt ihr trobadors dann nicht von der Glückseligkeit der Liebe? Stattdessen klagt und jammert ihr endlos über die versagte, die unerfüllte Liebe. Man sollte meinen, es gäbe nichts als Leid und Weh.«
»Ah! Da hast du einen wunden Punkt getroffen. Denn mit der Erfüllung entflieht meist die Liebe. Sie wird alltäglich, sie erhebt uns nicht mehr, lässt unser Herz nicht mehr erzittern. Die unerfüllte Liebe dagegen ist die höchste Form der Liebe, die fin d’amor, die hohe Minne. Sie währt bis in alle Ewigkeit.«
»Dichtergewäsch.«
Er warf mir einen gekränkten Blick zu. »Dichtergewäsch? Vielleicht. Aber eine glückliche Liebe bietet dem Poeten wenig. Die fatale, die verbotene oder die zerstörerische Liebe, das ist Stoff für Lieder. Die Gemüter rührt nicht das Glück, sondern la passió, das Leiden der Liebenden, das Begehren, der unerfüllbare Wahnsinn, mit dem sie geschlagen sind, und alle Verstrickungen, die sich daraus ergeben.«
»Da ist was dran.«
»Du kennst die Geschichte von Tristan und Iseult?«
»Wer kennt sie nicht?«
»Eben. Alle, die sie hören, sind davon ergriffen. Die Liebe, die nicht sein darf. Das Schwert zwischen den Liebenden. Der Fluch des Ehebruchs, der über ihnen hängt.«
»Aber sie stehlen sich dennoch ihre Liebe.«
»Sie können nicht anders. Der Liebestrank, du erinnerst dich. Aber selbst der soll ja nur drei Jahre lang wirken.« Er grinste spöttisch.
»Zumindest waren sie glücklich.«
»Vorübergehend. Sie kosten also von diesem Apfel und werden bald darauf, wie Adam und Eva, aus dem Paradies vertrieben. Und beim Versuch, alle Hindernisse zu überwinden, sterben sie. Der Tod ist die endgültige Entsagung einer unseligen Leidenschaft.«
»Ja. Das ist sehr traurig.«
»Kannst du dir Iseult am Herd vorstellen, fett geworden und mit sechs Kindern am Rock, während sie Tristan den Brei kocht? So eine Geschichte würde niemand hören wollen.«
»Du bist ein Scheusal«, rief ich und warf mit einem Stück Brot nach ihm, das übrig geblieben war.
»Schau dich doch selbst an«, fuhr er ungerührt fort, nachdem er die Krümel von seinem Wams gelesen hatte. »Du warst glücklich mit Arnaut, gewiss. Und seit er fort ist, geht es dir wahrlich schlecht. Ich wette, du schläfst nicht gut, du hast abgenommen, bist oft ungeduldig und launisch. Aber wenn jemand seinen Namen erwähnt, dann kommt so ein Glanz in deine Augen. Glaub nicht, dass man es nicht bemerkt. Du leidest, aber du hast ihn noch nie so geliebt wie jetzt.«
Betroffen starrte ich ihn an. Mein Herz hatte heftig zu schlagen begonnen, und ich merkte, wie mir die Röte in die Wangen stieg. Machte er sich lustig über mich?
Doch er lächelte nur sanft mit seinen Hundeaugen und sprach mit leiser Stimme:
Ver ditz qui m’apella lechai
Ni deziron d’amor de lonh,
Car nulhs autres jois tant no’m plai
Cum jauzimens d’amor de lonh.
Wahr spricht, wer mich unersättlich nennt
dürstend nach ferner Liebe,
denn nichts erfüllt mich mehr als diese Lust
an Liebe aus der Ferne.
Die weiche, rauchige Stimme und dann diese Worte. Kein Wunder, dass mir die Tränen kamen. Ja, verdammt. Die ferne Liebe. Ich wollte, ich könnte sie mir aus dem Herzen reißen.
»Ich muss mich umziehen«, brachte ich hervor und verließ fluchtartig den Saal.
Jamila legte gerade letzte Hand an meine Haartracht, als man mir meldete, dass Adela, Arnauts Mutter, unverhofft eingetroffen war.
»Ich glaube, du solltest sie gleich empfangen«, sagte Domna Anhes. »Sie sieht verstört aus.«
Ich erschrak. Brachte sie schlechte Kunde von Arnaut? Die Furcht, ihm könnte etwas zugestoßen sein, lag immer dicht unter der gefassten Oberfläche, die ich zu bewahren suchte.
Ich sprang auf.
»Aber Domina, der Goldreif fehlt noch«, rief Jamila.
»Nicht jetzt«, erwiderte ich und begab mich schnellen Schrittes in den privaten Audienzsaal, wo ich noch vor wenigen Stunden mit Rogier gesessen hatte.
Da stand Domna Adela, noch in warmer Reisekleidung, und wirkte verloren in dieser ungewohnten Umgebung. Als ich auf sie zueilte, fiel sie mir mit einem kleinen Schluchzen in die Arme.
»Ach, Domina. Ich bin so froh, Euch zu sehen.«
Ich umarmte sie innig und hielt sie dann auf Armeslänge, um in ihr Gesicht zu schauen.
»Was ist, Domna Adela?«
Vielleicht war es das schwache Licht der wenigen Kerzen im Raum, aber sie kam mir bleich und verhärmt vor, um Jahre gealtert. Neben ihr stand verlegen ein schlaksiger, junger Mann, offensichtlich Robert, Arnauts Bruder. Er war mächtig gewachsen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte.
»Ist etwas geschehen?«, fragte ich mit bangem Herzen. »Habt Ihr Kunde von Arnaut?«
Adela schüttelte den Kopf und warf mir einen gequälten Blick aus feuchten Augen zu. »Nein. Es ist mein Bruder Raol. Er ist vor einer Woche gestorben.«
»O mon Dieu. Das tut mir leid.«
Ich führte sie zu einem bequemen Stuhl. Sie nahm den Reisehut ab, ließ ihren wollenen Umhang fallen und setzte sich. Die dunklen, mit Grau durchsetzten Haare waren zu einem lockeren Knoten im Nacken gebunden. Von ihr hatte Arnaut sein volles Haar, konnte ich nicht umhin zu denken. Und trotz ihrer Trauer saß sie mit geradem Rücken, immer eine Frau von Anmut und Würde, wie ich sie kannte und liebte.
Jamila brachte Wein, Datteln und kleine Honigkuchen. Sie legte Scheite nach, so dass das Feuer hell aufflackerte. Dann zündete sie noch weitere Kerzen an, bis der Raum in einem angenehm goldenen Glanz erstrahlte. Ich trug ihr auf, Raimon zu sagen, dass ich an dem Empfang nicht würde teilnehmen können. Dann bat ich auch Robert, sich zu setzen.
Er sah sich neugierig um und schenkte mir ein zaghaftes Lächeln. Ein hübscher Junge, der Arnaut sehr ähnelte, wenn er auch nicht ganz so groß und kräftig war.
»Wie ist es passiert?«, fragte ich.
»Aus heiterem Himmel«, sagte sie und schüttelte den Kopf, als könne sie es nach wie vor nicht glauben. »Der Schlag hat ihn getroffen. Morgens ritt er aus, wie immer. Mittags brachten sie ihn heim. Er lebte noch zwei Tage, konnte aber nicht mehr reden. Die ganze rechte Seite war gelähmt. In der Nacht ist er verstorben. Ich glaube, er hat zum Glück nicht viel davon mitbekommen.«
Mein Gott. Raol. Ein Mann wie ein Granitfels. Einfach so umgefallen. Er hatte mir einmal sehr geholfen. Sein Tod betrübte mich, auch wenn ich erleichtert war, dass die schlechte Nachricht nichts mit Arnaut zu tun hatte.
Ich streichelte Adelas Hand. »Ich bin froh, dass Ihr gekommen seid. Wenn ich etwas tun kann?«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich war nicht darauf vorbereitet«, flüsterte sie. »Erst mein Vater. Und nun auch noch Raol. Was soll aus Rocafort werden?«
»Ich bin ja auch noch da. Braucht Ihr einen Verwalter, jemanden, der sich um die Ländereien kümmert?«
»Nein, Midomna, ich danke Euch. Für den Augenblick kommen Cortesa und ich zurecht. Den alten Hamid gibt es ja auch noch. Ich mache mir nur Sorgen um die Zukunft.«
»Aber Ihr habt doch zwei starke Söhne, Domna Adela.«
Sie holte ein zerknautschtes, schon feuchtes Tüchlein aus der Tasche und betupfte damit ihre Augen. Dann warf sie einen Blick auf ihren Sohn.
»Ihr habt recht. Robert ist mir eine wahre Stütze. Aber er ist noch so jung. Wenn doch nur Arnaut hier wäre.« Sie sah mich fast flehentlich an. »Habt Ihr etwas von ihm gehört? Ich hatte gehofft … Deshalb sind wir gekommen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts Neues seit dem Brief.« Von Aimars Nachricht hatte ich ihr eine Abschrift zugesandt.
»Es heißt, das Heer der Alemannen sei besiegt worden«, hauchte sie. »Wir sind alle in schrecklicher Sorge.«
Ich nickte. »Ja, so ist es. Die Alemannen sind in eine Falle geraten, wie mir berichtet wurde. Aber unser König hat einen anderen Weg genommen. Entlang der Küste. Die letzte Kunde ist von einem Ort namens Ephesus. Von dort sind sie zu Weihnachten ins Landesinnere aufgebrochen. Man konnte mir noch von einer Schlacht in der Nähe berichten, die die Unseren aber ohne größere Verluste gewonnen haben.«
»Ohne größere Verluste«, sagte sie tonlos.
Das Wort Verluste hing zwischen uns, während wir uns lange schweigend ansahen. Weihnachten war schon Monate her. Alles konnte inzwischen geschehen sein, Gutes wie Schlechtes.
»Ihr habt euch zerstritten, nicht wahr?«, sagte sie.
»Es war meine Schuld.«
»Ist er deshalb mit dem König gezogen?«
»Nein. Das hatte andere Gründe.« Ich warf einen verunsicherten Blick auf Robert.
Der merkte mir die Verlegenheit an und erhob sich. »Soll ich besser draußen warten, Domina?«
Wie feinfühlig von ihm. Es war das erste Wort, das er seit seiner Ankunft gesprochen hatte. Sein Gesicht war ernst, aber gefasst. Und nicht ohne Selbstvertrauen. Er war kein Kind mehr. Also wollte ich ihn auch nicht wie eines behandeln.
»Bleib hier, Robert. Ich habe keine Geheimnisse vor dir oder deiner Mutter.« Dann holte ich tief Luft. »Arnaut und ich erwarteten ein Kind.«
Adelas Augen weiteten sich. Aber sie unterbrach mich nicht.
»Ich war überglücklich«, fuhr ich fort. »Aber durch einen Unfall während der Schwangerschaft ist es mir genommen worden. Danach war ich lange krank. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre selbst gestorben.«
»Verges Maria.« Adela bekreuzigte sich. Sie stand auf, kniete vor mir nieder und umfasste meine Hände, um mich zu trösten. »Wenn ich das doch nur gewusst hätte, Midomna. Ihr hättet mich rufen sollen. Ich wäre wie ein Vogel geflogen, um Euch beizustehen.«
»Ich bitte dich, Adela, nenn mich nicht mehr midomna. Ich betrachte euch alle als meine Familie. Außer meiner Halbschwester Nina habe ich keine andere. Und jetzt, da ihr beide hier seid, merke ich, wie froh ich darüber bin.«
Sie drückte meine Hände fester und lächelte. »Ein Enkelkind. Ich hatte es mir so gewünscht«, sagte sie, und ihre Augen wurden feucht. »Aber es wird andere geben, Ermengarda. Ganz gewiss wird es andere geben.«
Ich nickte nur, jetzt ebenfalls in Tränen. Die Meinung der alten Kräuterfrau wollte ich lieber nicht erwähnen. »Arnaut fühlte sich schuldig«, sagte ich stattdessen. »Wir hätten gesündigt, und es sei Gottes gerechte Strafe.«
»Deshalb also ist er …«
Ich bejahte, tief unglücklich.
»Wenn Gott alle unehelichen Kinder strafen wollte«, sagte sie und erhob sich wieder, »dann müsste er ganze Landstriche entvölkern. Auch ich wäre gar nicht erst geboren worden und er folglich ebenfalls nicht. Welcher elende Priester hat ihm diesen Unsinn eingeredet? Hoffentlich nicht Aimar?«
»Nein, nicht Aimar. Ganz im Gegenteil.«
In diesem Augenblick steckte Raimon den Kopf herein.
»Ich möchte nicht stören«, sagte er. »Bist du sicher, Ermengarda, du kannst nicht anwesend sein?«
Ich schüttelte den Kopf. »Du musst mich entschuldigen.«
»Gut. Übrigens, Abas Clairvaux ist bereit, dir morgen Vormittag seine Aufwartung zu machen.«
»Danke, Raimon.«
Er nickte uns kurz zu und schloss die Tür.
Adela hatte sich wieder gesetzt. Und doch sah man ihr an, dass sie aufgewühlt war. »Clairvaux? Ist das nicht dieser Kirchenmann, der den ganzen Wahnsinn angestachelt hat?«
»Das ist er.«
»Verhext hat er alle mit seinem Gift.«
»So ist es. Aber leider denken die meisten anders.«
»Hamid hat recht. Dieses elende Gerede von Sünde.« Ihre Augen funkelten vor Zorn. »Sie reden uns ein, der Mensch sei in Sünde geboren, damit wir ihnen gehorchen und unsere Söhne und Männer opfern. Wo soll in einem unschuldigen Kind auch nur ein Funke von Sünde sein? Nein, ich spucke auf ihre verdammte Erbsünde.«
»Du solltest nicht so reden, Mutter«, ließ Robert vernehmen. »Das ist Gotteslästerung.«
»Ist es etwa keine Gotteslästerung, Menschen zum Töten aufzuwiegeln? Du bist im Frieden aufgewachsen, Robert, aber dein Großvater, der alte Hamid und Raol, die haben das Schlimmste in Outremer miterlebt. Selbst ich. Wir wissen, was sich Menschen in solchen Kriegen antun. Und dein Bruder hätte es auch wissen müssen. Großvater und Hamid haben ihn oft genug gewarnt. Es hat mir fast das Herz gebrochen, als ich hörte, dass er ihr verdammtes Kreuz genommen hat.«
Der Junge fühlte sich sichtlich unwohl. Hilfesuchend blickte er mich an. »So redet sie jeden Tag.«
»Robert«, sagte ich. »Die meisten haben sich von solchen Hetzreden betören lassen. Ich hoffe nur, dass du klüger bist.«
Er sah mich aufmerksam an.
»Du bist ein junger Ritter und findest es vielleicht aufregend, in den Krieg zu ziehen. Aber alte Männer wie Clairvaux benutzen euch nur für ihre Zwecke. Weißt du, mit was er sich gebrüstet hat, als das Heer fort war?«
Er schüttelte den Kopf.
»Städte und Burgen seien nun leer, nicht ein Mann unter sieben Weibern sei zurückgeblieben. Überall nichts als Witwen von noch lebenden Männern. So hat er sich ausgedrückt.«
»Was meint er damit?«
»Für ihn sind die Männer, die in den Krieg ziehen, schon wandelnde Leichen, verstehst du? Sie haben sich für Christus geopfert. Und das findet er gut. Sie wissen, dass sie euch in den Tod schicken, und nehmen es gern in Kauf. Dabei geht es doch nur um die Macht der Kirche. Macht über Könige, Macht über Byzanz. Und ein bisschen Land in Outremer, weit weg von hier. Willst du dein junges Leben dafür aufs Spiel setzen? Für den Ehrgeiz alter Männer?«
Meine Worte hatten Robert verunsichert, und er senkte den Blick. Ich betrachtete sein junges Gesicht und die geröteten Wangen, auf denen der erste Flaum wuchs. Am liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen, so sehr ähnelte er Arnaut.
»Und was will dieser Priester bei dir?«, fragte Adela.
»Er bereist den Süden, zieht von Stadt zu Stadt, um gegen die Ketzer zu predigen, die immer mehr Zulauf finden.«
»Die Herren sind wohl besorgt«, erwiderte sie nicht ohne Befriedigung.
»Sag mal, kennst du einen Henri de Lausanne?«
»Schon gehört. Ein Wanderprediger, nicht?«
»Der sitzt hier seit Monaten im Verlies des Erzbischofs.«
»Von denen gibt es einige. Oft reden sie wirres Zeug.« Sie senkte plötzlich vertraulich die Stimme. »Aber hast du schon von den Guten Christen gehört?«
»Gerüchte, aber ich weiß nichts Genaues.«
»Auf dem Land gibt es viele, die auf sie hören«, raunte sie. »Sogar Familien vom Adel sollen sich ihnen angeschlossen haben.«
»Mutter«, warf Robert ein. »Sie predigen gegen die Kirche. Sie wollen alles ändern.«
»Na und? Wäre nicht das Schlechteste.« Sie wandte sich wieder mir zu. »Es sind herzensgute Menschen, rein und gottesfürchtig. Ihre Priester leben in Armut und versuchen, ein Leben in Vollkommenheit zu führen. Viele ihrer Anhänger geben alles Silber für die Armen her.«
»Du willst doch nicht eine von ihnen werden?«
»Man muss darüber nachdenken«, sagte sie. »Unter den Guten Christen sind alle gleich, und Frauen gelten bei ihnen genauso viel wie Männer.«
»Ihr müsst es ihr ausreden, Domina«, sagte Robert.
Domna Anhes und das Gesinde sorgten dafür, dass meine Gäste aus Rocafort aufs beste untergebracht waren. Später teilten wir drei ein einfaches Abendmahl und, nachdem Robert sich zurückgezogen hatte, wetzten wir Frauen unser Mundwerk wie zwei eifrige Klatschbasen die halbe Nacht hindurch. Sie erzählte mir alles über ihre Kindheit, über Jaufrés Heimkehr aus Outremer, über Hamids weise Sprüche und Adas Hochzeit, über Arnaut und sein Gezeter, wenn er sich als kleiner Bub weh getan hatte, seinen Ehrgeiz bei der Waffenausbildung und seine Liebe für die Pferde auf dem Gestüt.
Trotz Sorge um ihren Sohn und Trauer um ihren Bruder Raol genossen wir den gemeinsamen Abend. Adela war wie die Mutter, die ich nie gehabt hatte. Auch sie war begierig, von unserem Leben in Narbona zu hören. Für ein paar Stunden vergaßen wir unseren Kummer, und es blieb nicht aus, dass wir ein paar Karaffen Wein leerten. Ich glaube, es krähten schon die ersten Hähne, als wir endlich den Weg ins Bett fanden.
Am nächsten Morgen, reichlich unausgeschlafen, empfing ich Abas Clairvaux, der mich mit der gleichen Freundlichkeit wie schon zuvor begrüßte.
»Ihr seid nicht auf der Seite der heiligen Kirche, wie ich gehört habe, Domna Ermengarda«, sagte er jedoch unvermittelt, nachdem er sich gesetzt hatte.
In der Bemerkung lag nichts Unfreundliches, sie klang eher wie die beiläufige Erwähnung einer Tatsache, die ihn nicht sonderlich zu bekümmern schien. Warum auch sollte ihn die Meinung einer unbedeutenden Vizegräfin anfechten, ein Mann, der das Ohr von Königen und Päpsten hatte?
»Ich bin auf der Seite unseres lieben Herrn Jesu und der Menschen, für die er gestorben ist«, erwiderte ich.
Die Antwort schien ihm zu gefallen, denn er lächelte anerkennend. »Dann liegen wir nicht so weit auseinander, meine Liebe. Ihr sorgt Euch um das Erdendasein der Menschen, während ich mich um ihr Seelenheil und ewiges Leben kümmere.«
»Indem Ihr sie in den Tod schickt?«
Ich hatte mir geschworen, jeden Streit zu vermeiden, denn mein Zweck war ein anderer, aber diese Frage ließ sich einfach nicht verhindern.
»Wenn Gott uns ruft, auch das«, entgegnete er. »Und wir haben erste Erfolge zu verzeichnen. Die Mauren sind aus Portugal vertrieben. Auch andernorts in Spanien ist die Christenheit im Vormarsch. Und die Wenden werden in Mengen bekehrt, wenn man den Berichten Glauben schenken darf.«
Ich hatte eher davon gehört, dass man sie in Mengen abschlachtete in ihren Dörfern, unterließ es aber, weiter darauf einzugehen.
»Und das Heer König Konrads?«
Sein Antlitz verdunkelte sich, doch nur für einen Augenblick. Dann lächelte er wieder milde. »Ein Rückschlag in der Tat. Aber wer Gott dienen will, darf keinen Kampf ohne Mühe, keinen Sieg ohne Opfer erwarten.«
»Ich hoffe nur, dass Er es damit bewenden lässt und unsere Männer wieder gesund nach Hause führt.«
Er nickte. »Das hoffen wir alle. Aber, Domna Ermengarda, Ihr habt doch gewiss etwas anderes auf dem Herzen. Was kann ich also für Euch tun?«
»Ihr habt recht, Mossenher.«
Bevor ich mein Anliegen vorbrachte, bot ich ihm Wein an, und diesmal ließ er sich dankend von mir bedienen.
»Mir geht es um einen harmlosen Mann, der unrechtmäßig beim Erzbischof Leveson im Verlies rottet«, sagte ich, nachdem wir uns höflich zugetrunken hatten.
Er hob die Brauen. »Um wen handelt es sich?«
»Ein gewisser Henri de Lausanne«, fuhr ich fort. »Ein Wanderprediger, der nur wirres Zeug redet.«
Er hob die buschigen Brauen. »Wirres Zeug, Midomna? Ich habe von dem Mann gehört. Er verdammt die heilige Kirche, will sie abschaffen. Solche Lehren sind gefährlich für den Erhalt unserer Weltordnung. Warum setzt Ihr Euch für ihn ein?«
»Er ist nur ein armer Tropf, der niemandem etwas zuleide tut. Er ist kein Aufrührer, und er hat nicht die öffentliche Ordnung gestört. Außerdem hat der Erzbischof kein Recht, sich in meine Gerichtsbarkeit einzumischen.«
»Ich habe gehört, dass Ihr und der Erzbischof sich nicht besonders gut verstehen. Da möchte ich mich nicht einmischen. Außerdem, die Ketzerplage nimmt ständig zu. Ihr wisst, aus diesem Grund war ich gerade in Tolosa, Albi und anderen Städten. Wir müssen diesen abtrünnigen und gefährlichen Gedanken Einhalt gebieten, bevor es zum Flächenbrand kommt.«
»Gerade deshalb wende ich mich an Euch, Mossenher. Ich bewundere Eure Einstellung zu dieser Frage, denn Ihr empfehlt doch, sich mit diesen Ketzern vernünftig auseinanderzusetzen, mit ihnen zu reden, sie vom wahren Weg zu Christus zu überzeugen, so wie Ihr es selbst auf dieser Reise tut.«
»Ja, weil ich fürchte, Gewalt könnte sie nur noch verstockter machen, ihnen immer mehr Anhänger zutreiben.«
Kaum hatte er das gesagt, blitzte es in seinen Augen auf. »Ah, ich verstehe«, sagte er und schmunzelte. »Ihr seid nicht nur schön, sondern auch durchtrieben, Midomna. Ihr wollt mich an meinen eigenen Worten messen, was diesen Ketzer betrifft.«
Ich setzte meine beste Unschuldsmiene auf und lächelte.
»Nun gut. Ich werde mit Leveson reden. Aber Euer Schützling wird gefälligst aus Narbona verschwinden. Und mit seinen aufrührerischen Reden soll es ein Ende haben.«
»Versprochen«, sagte ich.
Nachdem er sich verabschiedet hatte, blieb ich niedergeschlagen zurück. Wie konnte dieser Mann so freundlich und liebenswert im Umgang sein, wenn er gleichzeitig eine Botschaft gnadenlosen Hasses predigte, die in diesen Tagen alles übertönte und gegen die man machtlos geworden war. Ich hätte nichts lieber gewünscht, als mich mit ihm zu streiten, ihn zu widerlegen, aber was hätte es genützt?
Zumindest war es mir gelungen, ihnen ein einziges Menschenkind zu entreißen, auch wenn dies wenig bedeutete im Angesicht der Abertausende, die in diesem heiligen Brand unterzugehen drohten. Ich kniete nieder und flehte zu Gott, mir Arnaut und die vielen anderen heil zurückzubringen.
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