H. P. Lovecraft
Das Ding auf der Schwelle
Erzählung
Aus dem Amerikanischen von Andreas Fliedner
FISCHER digiBook
H. P. Lovecraft (1890-1937) ist der einflussreichste und beliebteste Horror-Autor des 20. Jahrhunderts. Seine Erzählungen erschienen zu seinen Lebzeiten vor allem in Magazinen wie »Weird Tales« und werden heute in Millionenauflagen gedruckt und gelesen.
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Daniel Upton, der Erzähler der Geschichte, hat seinen besten Freund Edward Derby erschossen – und behauptet trotzdem, dass er kein Mörder ist. Edward hatte die mysteriöse Asenath Waite geheiratet und sich in der Folge immer mehr verändert. Manches Mal wirkte er gerade zu wie von einem anderen Menschen besessen ...
Ein an Edgar Allan Poe gemahnendes erzählerisches Juwel aus der Feder von H. P. Lovecraft in ungekürzter Neuübersetzung, der es erstmals gelingt, Lovecrafts speziellen Stil und die besondere Atmosphäre seiner Erzählung in deutscher Sprache schillern zu lassen.
»H. P. Lovecraft ist der bedeutendste Horror-Autor des 20. Jahrhunderts.« Stephen King
Erschienen bei FISCHER digiBook
Unter dem Titel »The Thing on the Doorstep« erstmals veröffentlicht 1937 in der Zeitschrift »Weird Tales«
Erstdruck der Übersetzung in »H. P. Lovecraft – Das Werk« (FISCHER Tor, 2017)
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einer Idee und unter Verwendung einer Illustration von Jonathan Gray
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490740-6
Es ist wahr, dass ich meinem besten Freund sechs Kugeln in den Kopf gejagt habe. Und doch hoffe ich, mit dem folgenden Bericht darlegen zu können, dass nicht ich ihn umgebracht habe. Anfangs wird man mich für verrückt erklären – für verrückter als jenen Mann, den ich in seiner Zelle in der Irrenanstalt von Arkham erschossen habe. Dann werden manche Leser die einzelnen Aussagen abwägen, sie mit den bekannten Tatsachen abgleichen und sich die Frage stellen, wie ich zu anderen Schlussfolgerungen hätte kommen können, nachdem ich dem Beweis des Grauens gegenübergestanden hatte – dem Ding auf der Schwelle.
Bis zu jenem Moment sah auch ich nichts als Wahnsinn in den irrwitzigen Geschichten, aus denen ich die Konsequenz gezogen habe. Noch heute frage ich mich, ob ich getäuscht wurde – oder ob ich am Ende nicht doch verrückt bin. Ich weiß es nicht – aber auch andere können merkwürdige Dinge über Edward und Asenath Derby berichten, und selbst die hartgesottenen Polizisten wissen nicht, wie sie jenen letzten schrecklichen Besuch erklären sollen. Sie haben ohne rechte Überzeugung versucht, eine Theorie über einen grausigen Scherz oder eine Drohung entlassener Dienstboten zusammenzustricken, doch im Grunde wissen sie, dass die Wahrheit unendlich viel schrecklicher und haarsträubender ist.
Ich behaupte also, dass ich Edward Derby nicht umgebracht habe. Vielmehr habe ich ihn gerächt und damit die Erde von einem Grauen befreit, das unerhörte Schrecken über die Menschheit gebracht hätte, wäre es am Leben geblieben. Dicht neben unseren täglichen Wegen lauern schwarze Zonen des Schattens, und hin und wieder findet eine böse Seele einen Durchlass. Wenn das geschieht, dann muss derjenige, der darum weiß, zuschlagen, ohne an die Folgen zu denken.
Ich habe Edward Pickman Derby sein ganzes Leben lang gekannt. Obwohl er acht Jahre jünger war als ich, war er so frühreif, dass wir von der Zeit an, als er acht und ich sechzehn war, viel gemeinsam hatten. Er war schon als Kind von einer phänomenalen Gelehrsamkeit, wie sie mir in diesem Alter nie wieder begegnet ist, und mit sieben Jahren verfasste er Verse, deren düsterer, phantastischer, ja beinahe morbider Ton seine Lehrer in Erstaunen versetzte. Vielleicht hatte seine vorzeitige Blüte etwas damit zu tun, dass er Privatunterricht erhielt und auch sonst verhätschelt und von der Welt abgeschirmt wurde. Er war ein Einzelkind und hatte eine kränkliche Konstitution, die seine in ihn vernarrten Eltern beunruhigte und sie veranlasste, ihn aufs Engste an sich zu binden. Er durfte nur in Begleitung seines Kindermädchens das Haus verlassen und hatte selten Gelegenheit, zwanglos mit anderen Kindern zu spielen. All dies trug zweifellos dazu bei, dass der Junge ein seltsames geheimes Innenleben entwickelte und die Phantasie für ihn die einzige Möglichkeit freier Entfaltung wurde.
Wie dem auch sei, seine jugendliche Gelehrsamkeit war erstaunlich und bizarr, und seine mit leichter Hand aufs Papier geworfenen Texte schlugen mich trotz meines höheren Alters in ihren Bann. Damals begeisterte ich mich für Kunst, die eine Tendenz zum Grotesken hatte, und fand in diesem jüngeren Knaben unerwartet einen verwandten Geist. Den Hintergrund unserer gemeinsamen Liebe zu Schatten und Wundern bildete zweifellos die alte, modernde und auf ungreifbare Weise furchterregende Stadt, in der wir lebten – das hexengeplagte, legendenumwobene Arkham, dessen dichtgedrängte, eingefallene Mansarddächer und bröckelnde georgianische Steinbrüstungen seit Jahrhunderten neben dem düster murmelnden Miskatonic brüten.
Mit der Zeit wandte ich mich der Architektur zu und gab mein Vorhaben auf, ein Buch mit Edwards dämonischen Gedichten zu illustrieren. Doch unsere Freundschaft wurde dadurch nicht beeinträchtigt. Der sonderbare Genius des jungen Derby machte eine bemerkenswerte Entwicklung durch, und in seinem achtzehnten Lebensjahr lösten seine gesammelten Albtraum-Gedichte eine echte Sensation aus, als er sie unter dem Titel Azathoth und andere Schrecken veröffentlichte. Er stand in vertrautem Briefwechsel mit dem berüchtigten Baudelaire-Bewunderer Justin Geoffrey, dem Verfasser des Volks des Monolithen, der 1926, nach einem Besuch in einem unheimlichen, übel beleumundeten ungarischen Dorf, schreiend in einem Irrenhaus verstarb.
Was Selbständigkeit und die praktischen Seiten des Lebens anging, war Derby aufgrund seiner behüteten Existenz jedoch ein Spätentwickler. Seine Gesundheit hatte sich zwar verbessert, doch wurde er von seinen übervorsichtigen Eltern in seiner kindlichen Abhängigkeit noch bestärkt, so dass er niemals allein auf Reisen ging, eigene Entscheidungen traf oder Verantwortung übernahm. Früh zeichnete sich ab, dass er sich in der Geschäftswelt oder im Berufsleben nicht würde durchsetzen können. Allerdings war seine Familie so vermögend, dass dies keine Tragödie bedeutete. Als er das Mannesalter erreichte, blieb seine Erscheinung von täuschender Jungenhaftigkeit. Blond und blauäugig, hatte er den frischen Teint eines Kindes, und seine Versuche, sich einen Schnurrbart stehen zu lassen, waren nur mit Mühe erkennbar. Seine Stimme war sanft und hoch, und sein verwöhnter und verhätschelter Lebensstil verlieh ihm eher eine jugendliche Pausbäckigkeit als jene Beleibtheit, die ein vorzeitiges Erwachsenenalter kennzeichnet. Er war hochgewachsen, und mit seinem hübschen Gesicht hätte er einigen Erfolg bei den Frauen haben können, hätte seine Schüchternheit ihn nicht die Abgeschiedenheit seiner Bibliothek bevorzugen lassen.