Ohne zwei wunderbare Menschen wäre dieses Buch nie geschrieben worden. Ich möchte Morey Sparks für seine Hilfe danken und die vielen Stunden, die er mir geopfert hat, um mir seine Erfahrungen in der Armee nahezubringen. Es war gewiss nicht immer einfach, das ist mir sehr wohl bewusst.
Vielen Dank auch an Dr. Christopher Tong, Mitherausgeber der Kultserie Artificial Intelligence in Engineering Design (Band I, II und III). Von ihm stammen auch Bücher wie Beyond Believing, You CAN Take It With You, und Beyond Spiritual Correctness. Er arbeitete als Manager, Berater, Lehrer und Forscher an so bekannten Instituten wie Rutgers, MIT, IBM, Thomas J. Watson Research Center, Xerox Palo Alto Research Center und Siemens Research. Seine Mithilfe an diesem Buch war unendlich wertvoll.
Weitere Romane von Christine Feehan bei Heyne:
Dämmerung des Herzens, Zauber der Wellen, Gezeiten der Sehnsucht, Magie des Windes, Gesang des Meeres und Sturm der Gefühle (DRAKE SISTER-Serie)
Mehr über Autorin und Werk unter:
www.christinefeehan.com
Christine Feehan ist in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Mit über sieben Millionen Büchern weltweit zählt sie zu den erfolgreichsten Autorinnen der USA.
setzt ihre atemberaubende Saga um den Bund der Schattengänger fort in:
GATOR STIESS DIE Zapfpistole in den Tank des Jeeps und streckte seine müden Gliedmaßen, während er darauf wartete, dass der Tank sich füllte. Es war eine weitere lange Nacht, und auch wenn er es nicht als einen Fehlschlag ansah, sich die ganze Nacht großartigen Blues anzuhören, so hatte er doch eine weitere erfolglose Suchaktion hinter sich gebracht. Auf seiner Jagd nach Joy Chiasson hatte er weitere Fragen gestellt und absolut keine Antworten bekommen. Niemand schien etwas zu wissen. Jeder erinnerte sich an ihre wunderbare Stimme, aber niemand wusste etwas über ihren Verbleib. Joy war vollständig von der Bildfläche verschwunden, und nicht eine einzige Person schien etwas darüber zu wissen.
Was das Aufspüren von Iris Johnson anging, hatte er nicht einmal jemanden entdeckt, der auch nur die leiseste Ähnlichkeit mit ihr gehabt hätte. Auf der Jagd nach Informationen zu Joys Verschwinden musste er jeden Club im Umkreis von fünf Quadratmeilen abgeklappert haben, und doch hatte er über keine der beiden Frauen auch nur das Geringste in der Hand. Er hatte Urlaub genommen, geradeso wie Ian. Sie waren schon seit fast vier Wochen im Bayou und konnten nicht ewig bleiben. Wenn er nicht bald etwas über Joy herausfand, würde er abreisen müssen, und es würde seiner Großmutter das Herz brechen. Sie war so sicher gewesen, dass er das Rätsel von Joys Verschwinden lösen und sie unbeschadet nach Hause bringen würde. Er begann zu glauben, dazu käme es wohl nicht mehr.
Sein unruhiger Blick glitt ständig umher. Erkunden. Immer und ewig erkunden. Er würde sich nie von dem Verlangen befreien können, auf der Hut zu sein. Er hatte die Zapfsäule im tiefsten Schatten und mit dem schnellsten Straßenzugang gewählt, und es war ihm nicht einmal bewusst gewesen. Mit einem kleinen Seufzer blickte er zu den Sternen auf. Er liebte die Nacht. Zu keiner anderen Zeit fühlte er sich wirklich behaglich, und heute Nacht konnte er ein bisschen Wohlbehagen dringend gebrauchen.
Er hatte sich bisher nicht allzu viele Gedanken über eine eigene Frau oder eine Familie gemacht. Er war kein Mann von der Sorte, die einen Hausstand gründete, aber Lilys Enthüllungen über genetische Verbesserungen hatten ihn unerwartet schwer getroffen. Aus irgendwelchen Gründen konnte er diesen Gedanken nicht abschütteln. Am Anfang hatte er es toll gefunden, als er gemerkt hatte, dass er mit geringer Mühe oder sogar mühelos auf ein Dach springen konnte, echt cool, eine außergewöhnliche und eindeutig positive Begleiterscheinung des Experiments zur Steigerung seiner übersinnlichen Fähigkeiten. Das Wort Virus war ihm nie in den Sinn gekommen, das Wort Krebs ebenso wenig. Die körperlichen Auswirkungen, die Dinge, die er plötzlich tun konnte, hatte er nie wirklich hinterfragt, und abgesehen von ihrem möglichen Nutzen als Waffen, hatte er nie mit den anderen über seine gesteigerten körperlichen Fähigkeiten gesprochen. Vielleicht wollte es keiner von ihnen wirklich wissen, aber jetzt schien es ihm von allergrößter Wichtigkeit zu sein.
Er hatte nicht unterschrieben, dass er sich zu genetischen Verbesserungen bereit erklärte. Zur Steigerung seiner übersinnlichen Fähigkeiten, ja, das schon. In seiner Kindheit war ihm aufgefallen, dass er gewisse kleine Begabungen im paranormalen Bereich besaß. Tiere reagierten auf ihn. Manchmal drängte sich ihm eine Ahnung davon auf, was sie fühlten. Er hatte ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis, und sein Verstand erkannte klare Strukturen, sowie er sie sah. Außerdem besaß er ein außergewöhnlich feines Gehör. Alles nur Kleinigkeiten, nichts weiter, aber er wusste, dass er Dinge tun konnte, die andere nicht konnten. Da er nicht anders sein wollte, behielt er diese Dinge für sich, wie es auch die anderen Schattengänger getan hatten.
Er war beim Militär ausgebildet worden, er war begabt im Umgang mit Sprengstoff, und er baute nicht nur rasch und effektiv Bomben, sondern konnte sie ebenso schnell und sorgfältig unbrauchbar machen. Er war von den Sondereinheiten rekrutiert worden, und sowie er das erste Mal von Dr. Whitneys Experiment mit übersinnlichen Veranlagungen und der paranormalen Spezialeinheit gehört hatte, war er Feuer und Flamme gewesen.
Die Vorstellung von einer einzigartigen Gruppe von Soldaten, die in der Lage waren, sich auf feindliches Gebiet zu schleichen und nach gezielten Kurzangriffen unerkannt wieder zu verschwinden, reizte ihn enorm. Er hatte zu viele Menschen – gute Freunde – sterben sehen, und er sah darin eine Möglichkeit, viele unnötige Tode zu vermeiden.
Was bedeuteten genetische Verbesserungen für die ohnehin schon ungewisse Zukunft der Schattengänger? Würden sie Familien gründen können, und wenn ja, würden sie die Eigenschaften an ihre Kinder weitergeben? Was auf Erden hatte er sich dabei gedacht, sich auf eine solche Dummheit einzulassen? Er stöhnte laut. Ihm hätte aufgehen sollen, dass Whitney sie als menschliche Laborratten benutzen würde. Gator hatte nichts von Whitneys früheren Experimenten mit den kleinen Mädchen gewusst, als er sich verpflichtet hatte, aber auch das war keine Entschuldigung. Er hätte klüger sein sollen. Es konnte sein, dass er seine gesamte Zukunft weggeworfen hatte.
Gator lehnte sich an den Jeep und fuhr mit einer Hand durch sein dichtes schwarzes Haar. Er war im Bayou aufgewachsen, und diese Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es nicht immer gut war, anders zu sein. Seine Eltern waren bei einer Überschwemmung ums Leben gekommen, ein tragischer Unfall, der nicht vorhersehbar gewesen war, und seine Großmutter hatte die Aufgabe übernommen, die vier Jungen aufzuziehen. Der unbändige Raoul mit seiner glühenden Loyalität und seinem Stolz war der Älteste gewesen und hatte sich um die anderen gekümmert. Diese Verantwortung hatte er auf sein militärisches Leben übertragen. Und jetzt war er hier und suchte nach einer Frau, die wahrscheinlich tot war, und einer anderen, die nicht gefunden werden wollte.
Aus dem Augenwinkel nahm er eine flüchtige Bewegung wahr und schaltete sofort auf Alarmbereitschaft. Eine Frau glitt aus den Schatten heraus. Sie musste in dem Geschäft gewesen sein, das der Tankstelle angeschlossen war. Was seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war in erster Linie ihre Art, sich zu bewegen. Sie schwebte lautlos, und die eng anliegende schwarze Hose schmiegte sich an ihre Hüften und an ihre Beine. Sie trug Handschuhe und eine Lederjacke. Ihr Haar war dicht und vollkommen glatt und endete kurz über ihren Schultern. Sie glitt zu ihrem Motorrad, einem heißen Flitzer, der wie ein geölter Blitz davonschießen würde, wenn er mit seiner Vermutung richtig lag – auf Geschwindigkeit und Wendigkeit und nichts anderes angelegt.
Wie die Frau. Diese Überlegung stellte sich unaufgefordert ein und fand irgendwo in seiner Leistengegend ein Echo.
Als sie sich über das Motorrad beugte, kam ein Wagen auf die Tankstelle zugerast und fing sie für einen Moment im grellen Licht seiner Scheinwerfer ein. Sie hielt den Kopf gesenkt und machte sich auf der anderen Seite des Motorrads an etwas zu schaffen, was er nicht sehen konnte. Dabei rutschten ihre Jacke und ihre Bluse hoch und legten eine schmale Taille und darunter den Schwung ihrer Hüften frei – und die Tätowierung.
Raoul verschlug es den Atem. Es war ein Flammenbogen, der sich direkt über dem Beckenknochen spannte und auf beiden Seiten aus ihrer tief sitzenden Hose schaute. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Konnte es so einfach sein? War es möglich, dass er seine Nächte damit verbracht hatte, einen Club nach dem anderen aufzusuchen, weil nicht ganz auszuschließen war, dass sie in einem von ihnen singen würde, und dass er sie jetzt an einer Tankstelle entdeckte? Wie absurd wäre das? Fast hätte er es nicht geglaubt, aber etwas an ihren Bewegungen, eine gewisse Verstohlenheit, eine Behändigkeit und die Lautlosigkeit eines Raubtieres, vermittelte ihm den Eindruck, er hätte es mit einem Schattengänger zu tun. Und erst die Art und Weise, wie sie aus den Schatten aufgetaucht war …
Raoul fuhr sich aufgewühlt mit den Fingern durchs Haar. Er hatte zugelassen, dass seine Phantasie mit ihm durchging. Frauen hatten heute alle möglichen Tätowierungen. Wenn es bei ihr ein Flammenbogen über den Hüften war, dann hatte das noch lange nichts zu bedeuten. Er war wirklich nicht mehr ganz bei Trost, aber er konnte seinen Blick nicht von ihr losreißen. Ihre Hose hatte überall Taschen aufgenäht, ideal für Werkzeug. Nun gut, manche Leute trugen diese Mode, aber bei ihr war der Sitz so perfekt, als sei die eng anliegende Cargohose eigens für sie maßgeschneidert worden.
Sie richtete sich langsam auf und setzte eine Schutzbrille und einen Helm auf. Sie drehte sich lässig um, eine unauffällige Bewegung, die kaum wahrnehmbar war, da sie im Schatten stand, doch er fühlte, wie ihr Blick über ihn glitt, und er stoppte den Benzinfluss und zeigte großes Interesse daran, die Zapfpistole wieder ordentlich in die Zapfsäule einzuhängen. Er fühlte ihren forschenden Blick. Sein Nacken juckte. Er hielt den Atem an, bis sie das Motorrad anließ.
Als er sich umdrehte, tat er es mit derselben Lässigkeit wie sie. Als sich das Motorrad in Bewegung setzte, fiel für einen kurzen Moment der Schein der Straßenlaterne auf ihr Gesicht. Weinrote Haarsträhnen schauten unter dem Helm heraus. Raoul stieß langsam den angehaltenen Atem aus. Er war sich ganz sicher, dass er Iris »Flame« Johnson vor sich sah.
Das Rücklicht des Motorrads ließ ihn schlagartig aktiv werden. Er schloss schleunigst den Tankdeckel, bevor er sich auf den Fahrersitz warf. Das Motorrad war bereits abgebogen, aber er hatte beobachtet, in welche Straße es gefahren war.
Er hielt Abstand und fuhr zeitweilig zwei Straßen parallel zu ihr, um zu verhindern, dass sie einen Blick auf den Jeep erhaschte. Er fuhr ohne Licht und verließ sich darauf, dass ihn sein Gehör vor einem Unfall bewahren würde. Er hatte den offensichtlichen Vorteil, die Gegend zu kennen. Sie wusste, wohin sie fuhr, aber sie kannte nicht die schmalen Gassen und die Abkürzungen, die er kannte. Wenn sie zwischendurch langsamer fuhr, bog er augenblicklich in eine Seitenstraße ab. Er folgte ihr durch das Geschäftsviertel und durch die Wohngebiete, bis sie in die besonders teuren Villenviertel gelangten, in denen viele Häuser von hohen Zäunen mit elektrischen Toren umgeben waren.
Die Frau parkte ihr Motorrad tief in den Schatten eines Parks. Die Sträucher und Bäume verbargen sie vor seinen Augen. Fast hätte er ihre Spur verloren. Nichts war zu hören, weder das Rascheln von Bewegungen noch das Bellen von Hunden oder auch nur ein einziger Schritt. Gator konnte sie nirgends entdecken, aber er fühlte sie. Er überließ sich ganz seinen Schattengänger-Instinkten und vertraute darauf, dass seine hoch entwickelten Sinneswahrnehmungen ihn führen würden, denn bis auf ein vages Gefühl hatte er absolut keinen Anhaltspunkt.
Lautlos bewegte er sich an der Backsteinmauer mit einem schmiedeeisernen Tor entlang, hinter dem die erste Villa stand. Zwei große Mastiffs standen dicht am Tor und starrten auf die Straße hinaus. Ohne jede bewusste Überlegung flüsterte er ihnen etwas zu, um sie zu beruhigen, damit sie niemanden auf seine Anwesenheit aufmerksam machten. Er war schon zwei Schritte weiter, als ihm aufging, dass sie dasselbe getan hatte. Die Hunde hielten offensichtlich Wache, und doch hatte keiner von beiden Alarm geschlagen. Beide winselten leise und blickten eifrig in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte.
Er wusste, wo er in den Schatten nach einem Schattengänger Ausschau zu halten hatte, doch selbst dieses Wissen änderte nichts daran, dass er etliche Minuten brauchte, in denen er die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchdringen versuchte, bevor er sie entdeckte. Sie bewegte sich verstohlen, huschte von einem Schatten zum nächsten, flitzte von Strauch zu Baum und mied das Licht der Straßenlaternen. Sie hatte sich klein gemacht und hielt ihre Arme und Hände dicht an ihrem Körper, und die enge Kleidung half ihr dabei, jedes Rascheln zu vermeiden, wenn sie sich bewegte. Sie trug jetzt eine Schutzhaube, um keine Haare am Schauplatz zurückzulassen. Sie wusste genau, was sie tat, da sie die hohe Mauer inspizierte, die das Grundstück umgab.
Als sie sich am nördlichen Abschnitt dieser Mauer entlangbewegte, stieß ein Hund ein lautes Gebell aus. Sie erstarrte und drehte den Kopf zu dem Geräusch um. Abrupt ging das Gebell in ein leises, eifriges Winseln über. Raoul lächelte. Sie war eindeutig ein Schattengänger. Er ließ sich weiter zurückfallen und achtete sorgsam darauf, sie nicht anzustarren, da er nicht wollte, dass ihre Instinkte seine Gegenwart wahrnahmen. Er stellte fest, dass er restlos fasziniert von ihr war.
Die Frau schaute die Mauer empor, warf einen Blick nach links und nach rechts und trat ein paar Schritte zurück. Mit langsamen Bewegungen, um ihren Blick nicht auf sich zu lenken, ließ er sich noch tiefer auf den Boden sinken. Es verschlug ihm den Atem, als sie über die Mauer sprang. Jetzt hatte er nicht mehr den geringsten Zweifel. Sie musste ein Schattengänger sein. Dr. Whitney hatte genetische Verbesserungen an ihr vorgenommen. Es war ganz und gar unmöglich, aus dem Stand über eine so hohe Mauer zu springen. Seine körperlichen Fähigkeiten waren gesteigert worden, und doch war er keineswegs sicher gewesen, dass er über diese Mauer gekommen wäre, aber sie war mit Leichtigkeit darüber gesprungen.
Gator eilte auf die andere Straßenseite, wartete im Dunkeln und streckte seine inneren »Fühler« aus. Sie war misstrauisch und spürte wahrscheinlich seine Nähe, konnte aber nicht bestimmen, was ihre Alarmbereitschaft auslöste. Er wartete geduldig und rührte sich nicht vom Fleck. Er war bestens ausgebildet, und es war schon öfter vorgekommen, dass er stundenlang unbeweglich festsaß und auf seine Gelegenheit wartete. Er konnte länger warten als sie, falls es nötig sein sollte. Was auch immer sie vorhatte, musste zeitgebunden sein und durfte nicht zu lange dauern. Je länger sie sich innerhalb der Grundstücksmauern aufhielt, desto größer wurde die Gefahr für sie. Zuschlagen, sich schleunigst verdrücken und weglaufen. Das musste ihr schon als Kind eingeschärft worden sein.
Sowie er wahrnahm, dass sie sich in Bewegung gesetzt hatte, sprang er an genau derselben Stelle wie sie über die Mauer. Er hatte das Grundstück nicht ausgekundschaftet, und daher war das der einzig sichere Ort, um über die Mauer zu springen, wenn man blind auf der anderen Seite landete. Er landete in der Hocke im Schatten der Hecke auf der anderen Seite und beruhigte mit seinen Gaben automatisch den Wachhund. Dann sah er sich vorsichtig um.
Die welligen Rasenflächen waren sehr gepflegt, und in einem kleinen Bereich waren Blumen und Sträucher um Springbrunnen und Statuen gruppiert und vermittelten den Eindruck eines kleinen privaten Parks. Das Haus war riesig, zwei Stockwerke hoch und mit zahlreichen Balkonen versehen, jede Menge Backstein und elegantes, verschnörkeltes Schmiedeeisen. Sogar eines hohen Turms konnte sich dieses Haus rühmen.
»Was heckst du aus, Flame?«, flüsterte er vor sich hin. Flame gefiel ihm besser als Iris, wenn er an sie dachte. Nach einem Rendezvous mit einem reichen Geschäftsmann sah es nicht aus. Er ignorierte das ganz und gar untypische Gefühl von Eifersucht, das in seinen Eingeweiden brodelte, als er mit seinen Blicken die Dunkelheit durchdrang, um sie zu finden.
Als er endlich einen Blick auf sie erhaschte, stand sie in der Nähe der dichten Ranken, die am Haus hinaufwuchsen. Sie bewegte sich verstohlen und mit gebeugten Knien und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, während sie unter den riesigen Fenstern vorbeischlich. Plötzlich drehte sie den Kopf um und sah ihm direkt ins Gesicht.
Jemand folgte ihr, und er machte seine Sache verdammt gut. Flame hatte ihn nicht entdeckt, aber ihre geschärften Sinne sagten ihr, dass sie nicht allein war. Und seine Geschicklichkeit bedeutete, dass er ein Profi war. Sie wartete, flach an die Wand gepresst, atmete langsam und gleichmäßig und hielt vollkommen still. Er war da, ganz nah, irgendwo innerhalb der Grundstücksmauern. Und der Hund hatte sie nicht gewarnt.
Ihr Herz machte einen Satz. Sie hatte die nähere Umgebung viele Male ausgekundschaftet, und wenn jemand auch nur in die Nähe der Backsteinmauer kam, stimmte der Hund ein lautes Gebell an. Er war stets wachsam, gut abgerichtet und begierig darauf, einen Eindringling aufzuspüren. Sie sollte sofort verschwinden und ein andermal wiederkommen, aber ihr ging die Zeit aus. Sie musste den Job noch heute Nacht erledigen, wenn sie den Termin einhalten wollte. Wer außer ihr konnte einen derart grimmigen Hund bändigen? Es kostete sie nicht allzu viel Mühe, ihn davon abzuhalten, dass er ihre Anwesenheit verriet, aber wenn es außer ihr noch jemanden gab, der den Hund ebenfalls manipulierte, dann hieß das, dass ihr Gegenspieler den Hund in seine Gewalt bringen konnte.
Sie fluchte innerlich. Whitney hatte sie gefunden. Das musste es sein. Sie wusste, dass sie nicht bis in alle Ewigkeit weglaufen konnte. Der Zeitungsbericht über ein Sanatorium draußen im Bayou, das abgebrannt war, hatte sie angelockt, obwohl sie wusste, dass sie exakt diese Art von Situationen hätte meiden sollen. Wenn Peter Whitney oder irgendeine geheime Abteilung der Regierung, mit der er in Verbindung stand, sie suchte, dann wusste man dort nur zu gut, wie sie darauf reagieren würde: Jedem musste klar sein, dass sie der Versuchung, Jagd auf Informationen zu machen, nicht widerstehen konnte. In dem Moment, als sie erkannt hatte, dass die Spur zu Whitneys Villa zurückführte, hätte sie aussteigen sollen. Sie hatte sich mit etlichen Ortsansässigen eingelassen, wie sie es immer tat, und sie war viel zu lange geblieben.
Hatten sie einen Killer geschickt? Der Brand im Sanatorium war ein Anschlag gewesen, so einfach war das. Die Whitney-Stiftung hatte ihre Spuren verwischen und die Tatsache verschleiern wollen, dass genetische und übersinnliche Experimente an Kleinkindern durchgeführt worden waren. Der Teufel sollte Whitney und seine Regierungskontakte holen. Es war nicht allzu schwierig, Unfälle zu inszenieren und Personen verschwinden zu lassen, und schon gar nicht, wenn es sich dabei um Mädchen handelte, die als unausgeglichen oder unangepasst galten.
Ihre Wut schwelte, und das war ganz schlecht. Der Boden verschob sich ein wenig, eine kleine seismische Anomalie. Flame holte tief Atem und stieß ihn langsam wieder aus, um sich zu beruhigen. Ihre Wut war nicht hilfreich. Zu ihrer Linken winselte der Hund, weil er die kleine Verschiebung des Untergrunds wahrnahm. Durch eine kurze innere Kontaktaufnahme brachte sie das Tier zum Verstummen, während sie ihre Chancen abwägte. Sie würden jemanden auf sie ansetzen, der gründlich ausgebildet war, jemanden, der mindestens gleichwertige Fähigkeiten besaß und es mir ihr aufnehmen konnte. Aber all das stützte sich nur auf Mutmaßungen, da sie nicht wissen konnten, wozu sie wirklich in der Lage war. Ihre Chancen standen besser als nur gut, weil sie davon ausgehen konnte, dass man sie unterschätzen würde. Und es war auch mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Whitney sie lebend haben wollte.
Sie hatte sich in Whitneys geheime Dateien eingehackt und das zerstört, was sie über ihre Ausbildung gefunden hatte. Es war ihr sogar gelungen, einige der Aufzeichnungen über die anderen Mädchen zu zerstören, aber vorher hatte sie Kopien dieser Dateien angefertigt. Whitneys Imperium war beeindruckend, und seine Kontakte innerhalb der Regierung waren weit verzweigt. Für sie bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass er eines Tages ein Killerkommando auf sie ansetzen würde, um den Beweis für seine Experimente aus der Welt zu schaffen, wenn es ihm nicht gelang, sie zurückzuholen – und sie dachte im Traum nicht daran, lebend zu ihm zurückzukehren. Der Brand im Sanatorium bewies ihr, dass sie recht hatte. Sie hatte von Whitneys Tod gelesen, einem Mord ohne Leiche, und sie bezweifelte, dass dem etwas Wahres zugrunde lag. Er war ein Monster, so einfach war das, und er hätte alles getan, um seine Verbrechen zu vertuschen.
Flame pochte mit einem Finger auf ihren Oberschenkel, während sie über ihren nächsten Zug nachdachte. Sie konnte Katz und Maus mit dem Jäger spielen, aber sie durfte diese Sache nicht vermasseln. Sie konnte sich keinen einzigen Fehler leisten. Sie setzte all ihre Sinne ein und versuchte erneut, ihren Verfolger ausfindig zu machen. Absolute Stille schlug ihr entgegen. Nicht einmal ein Geruch war wahrzunehmen. Sie hätte gern an den schrillenden Alarmglocken in ihrem Kopf gezweifelt, aber sie wusste es, wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, dass ihr jemand gefolgt war. Dann ging ihr schlagartig auf, was sie zu tun hatte. Der Hund. Sie nahm Kontakt zu dem Tier auf und versuchte, eine Verbindung herzustellen, die stark genug war, um sich eine Vorstellung davon zu machen, wo sich der andere Eindringling aufhielt. Der Hund würde es wissen, und wenn sie diese Information aus dem Tier herausholen konnte, würde sie in einer viel besseren Position sein.
Sowie sie den Kontakt zu dem Hund hergestellt hatte, wusste sie, dass er vollständig von dem anderen Eindringling beherrscht wurde. Ihr Herz schlug abrupt schneller, und sie musste tief durchatmen, um dem plötzlichen Adrenalinschub entgegenzuwirken. »Du hundsgemeiner Mistkerl«, flüsterte sie vor sich hin. »Du bildest dir nur ein, du seist im Vorteil.«
Lesen Sie weiter in:
Christine Feehan: Tänzerin der Nacht