(Was genau ein Knoten ist, weiß ich allerdings immer noch nicht.)
Irgendwie hatte er wohl den Eindruck gewonnen, ich sei investigativer Journalist, und wollte mich weder Küche noch Brücke noch die Mannschaftsdecks noch sonst etwas sehen lassen. Offizielle Interviews mit Mannschaft oder Servicepersonal waren gleichfalls nicht gestattet. Selbst in Innenräumen trug er Sonnenbrille und seine Epauletten sowieso, und er telefonierte mir in seinem Büro endlos und auf Griechisch etwas vor, nachdem ich extra auf das Karaoke-Halbfinale in der Rendez-Vous-Lounge verzichtet hatte, nur um ihn zu sprechen. Ich wünsche ihm alles Schlechte.
Schon beim ersten Blick in den Celebrity-Cruises-Katalog wird es sich kein Scherzbold verkneifen könne, den dummen Namen Zenith in Nadir umzutaufen. Man verzeihe mir das. Gegen das Schiff an sich habe ich überhaupt nichts.
Daneben gibt es auch Reedereien wie Windstar, Silversea, Tall Ship Adventures oder Windjammer Barefoot Cruises, aber deren Schiffe sind kleiner, und die angebotenen Reisen exklusiv bis zur Unerschwinglichkeit. Die Großen Zwanzig der Branche jedoch betreiben sogenannte Megaschiffe, schwimmende Hochzeitskuchen mit einer Bettenzahl weit im vierstelligen Bereich und Schiffsschrauben von der Größe einer Bankfiliale. Die Megalines mit Heimathafen in Südflorida heißen Commodore, Costa, Majesty, Regal, Dolphin, Princess, Royal Caribbean oder eben Celebrity Cruises. Außerdem Renaissance, Royal Cruise Line, Holland, Holland America, Cunard, Cunard Crown, Cunard Royal Viking. Dann gibt es die Norwegian Cruise Line, die Crystal und die Regency Cruises. Der WalMart in der Kreuzfahrtindustrie ist Carnival, branchenintern auch »Carnivore« genannt. Ich weiß nicht, zu welcher Linie die Pacific Princess aus der Fernsehserie The Love Boat gehörte (ich meine mich sogar zu erinnern, dass es sich um ein Fährschiff auf der Strecke Kalifornien – Hawaii handelte, obwohl man sie auch sonst überall gesehen hat), aber inzwischen hat Princess Cruises den Namen gekauft und benutzt den armen alten Gavin MacLeod, ehedem Kapitän-Darsteller auf dem Serien-Pott, für seine TV-Werbung.
Grundsätzlich ist ein 7NC-Megaship – ähnlich wie ein Zerstörer – ein hoch spezialisierter Schiffstyp, ein eigenes Genre sozusagen. Alle Megalines haben mehrere Schiffe. Technisch und wirtschaftlich stammen sie von den patrizischen Transatlantik-Linern ab, etwa der Titanic oder der Normandie, die ihre Passagiere nicht nur beförderten, sondern ihnen auch eine opulente Ausstattung boten. Die gegenwärtigen Zielgruppen und Marktsegmente im Kreuzfahrtgeschäft – ob Singles, Senioren oder spezielle »Themen«-Angebote wie eine Love-Boat-Revival-Rundfahrt, ob Firmen-, Party-, Familienpakete, ob für die Holzklasse, Komfortklasse, Luxus- oder Luxus-de-luxe- oder Luxus-absurd-Klasse – stehen im Wesentlichen fest, sind weitgehend aufgeteilt und doch immer wieder hart umkämpft. (Der Konkurrenzkampf zwischen Carnival und Princess etwa, so war inoffiziell zu erfahren, hat inzwischen zu Auswüchsen geführt, die einem die Haare zu Berge stehen lassen.) Megaschiffe werden für gewöhnlich in Amerika entworfen, in Deutschland gebaut, unter Billigflaggen wie Liberia bzw. Monrovia registriert, meistens von skandinavischen oder griechischen Gesellschaften betrieben und von einem skandinavischen oder griechischen Kapitän befehligt. Dieses Detail ist nicht ganz uninteressant, denn Skandinavier und Griechen haben die Seefahrt seit jeher beherrscht. Celebrity Cruises gehört zur Chandris Group, deshalb ist das große X auf den Schornsteinen ihrer drei Schiffe auch kein X, sondern ein griechisches Chi, Chi für Chandris, eine Reederfamilie so alt und mächtig, dass sie offenbar sogar einen Onassis für einen dahergelaufenen Strolch hielten.
Ich zitiere aus dem Gedächtnis, ein Buch brauche ich nicht. Ich kann immer noch die gesamte Verlustliste der Indianapolis herunterbeten, zum Teil mit Personenkennziffer und Heimatort. (Hunderte von Toten, 80 davon eindeutig durch Haiattacken, Zeitraum: 7.–10. August 1945. Ironiker, aufgepasst: Die Indianapolis hatte auf der Insel Tinian soeben eine Bombe namens Little Boy gelöscht, zur Weiterbeförderung – per Luftfracht – nach Hiroshima. Robert Shaw als Quint erzählt die Geschichte 1975 in Der Weiße Hai, ein Film, der, wie man sich unschwer vorstellen kann, für einen Dreizehnjährigen reine Fetisch-Pornografie war.)
Jawohl, ich gebe es zu: Am ersten Abend meiner 7NC fragte ich die Küchen-Mannschaft des bordeigenen Fünfsternerestaurants Caravelle, ob sie vielleicht einen Eimer Bratenfett au jus erübrigen könnten, um damit von der Heck-Reling aus Haie anzulocken. Die Bitte erschien jedoch allen, vom Küchenchef angefangen bis hinunter zum Tellerwäscher, als kränkend, ja, als krank, und heute sehe ich sie als kapitalen journalistischen Fehler. Denn ich bin mir fast sicher, mein an sich harmloses Ansinnen wurde sogleich an Mr. Dermatitis weitergeleitet und hatte meine Verbannung aus Küche und Mannschaftsquartier zur Folge. Wenn ich also nicht von der Welt hinter den Kulissen der Nadir berichten kann, dann liegt es an meiner eigenen Dummheit. (Und es zeigte auch, wie wenig Ahnung ich von den tatsächlichen Dimensionen eines Kreuzfahrtschiffs hatte. Ein Eimer mit Bratenfett, über die Reling von Deck 12 gekippt, also aus circa fünfzig Metern Höhe, wäre bestenfalls als feiner bräunlicher Schleier auf der Wasseroberfläche niedergegangen, mit einer Blut- und Gewebekonzentration, über die ein richtiger Hai nur hätte lachen können. Außerdem wäre aus dieser Entfernung die Rückenflosse eines Hais kaum größer gewesen als ein Stecknadelkopf.)
(offenbar eine Schiffswinde, so etwas wie ein anabolgedopter Flaschenzug)
Auf jedem Deck der Nadir, vor jedem Aufzug, an jeder Kreuzung in den Gängen, hängen sie, diese Übersichtskarten, jede mit einem roten Punkt und dem Hinweis SIE SIND HIER. Wirklich, es sind Hunderte. Aber schon bald ahnt man, dass sie weniger der Orientierung als der Beruhigung dienen.
Auffällig in diesem Katalog der ständige Verweis auf irgendwelche »Freunde«. Unverzichtbarer Bestandteil der Erlösung von der Todesfurcht ist, dass auf einem Kreuzschiff niemand je allein bleibt.
Q.e.d.
Man sieht in diesen Katalogen immer nur Paare, selbst auf den Gruppenaufnahmen, lauter Paare. Einen Katalog für Single-Kreuzfahrten habe ich noch nicht entdeckt, aber der Gedanke lässt mich nicht los. Dafür gab es, gleich am ersten Abend, eine Singles-Get-Together-Party in der Scorpio Disco auf Deck 8. Es bedurfte meinerseits einer vollen Stunde der Selbsthypnose und entspannender Atemübungen, ehe ich mich dazu aufraffen konnte, aber sogar dort waren drei Viertel der Gäste Paare, und wir wenigen echten Singles unter siebzig machten eine ziemlich elende Figur. Kurz, das Get-Together war ein Selbstmord-Anreiz allererster Güte, und bereits nach einer halben Stunde trat ich den Rückzug an, weil im bordeigenen Kabel-TV an diesem Abend Jurassic Park lief. Ich hatte bloß noch nicht in die Fernsehvorschau geguckt, sonst wäre mir aufgefallen, dass der Film in der darauffolgenden Woche noch etliche Dutzend Male wiederholt wurde.
Eine gewöhnliche 7NC auf einem Megaschiff wie der Nadir kostet zwischen 2500 und 4000 Dollar. Wer eine Präsidentensuite vorzieht, mit Skylight, einer richtigen Bar (nicht nur Mini-) samt automatischen Palmwedeln etc., muss etwa doppelt so viel hinlegen.
Auf meine hartnäckige Nachfrage erklärte die Celebrity-Pressesprecherin Ms. Wiessen (eine Stimme wie Debra Winger) den freundlich-fröhlichen Service so: »Die Leute an Bord, also die Mitarbeiter, sind, wie Sie vielleicht bemerkt haben, Teil einer großen Familie. Sie alle lieben ihren Beruf und lieben es, andere Leute zu bedienen, und achten sehr auf die Wünsche und Bedürfnisse unserer Passagiere.«
Dies jedoch deckt sich nicht ganz mit meinen Beobachtungen, im Gegenteil. Auf der Nadir herrschte ein erbarmungsloses Regiment, mit einem Elitekader eisenharter griechischer Offiziere und Controllern an der Spitze, die ihre Untergebenen keine Sekunde lang aus den Augen ließen und permanenten Schrecken verbreiteten. Die Arbeitsbedingungen an Bord ähnelten denen bei Dickens, sodass echte Fröhlichkeit nicht aufkommen dürfte. Ich hatte den Eindruck, dass neben Schnelligkeit und Freundlichkeit auch Fröhlichkeit zu den Beurteilungskriterien zählte, über die von den klemmbrettbewaffneten griechischen Bossen lückenlos Buch geführt wurde. In unbeobachteten Momenten hatten die Service-Mitarbeiter diesen geschundenen, übermüdeten Ausdruck im Gesicht, wie man ihn auch aus anderen Niedriglohnjobs kennt. Dazu die ständige Angst, wie mir schien, schon für die kleinste Nachlässigkeit gefeuert zu werden, was nicht nur einen hochglanzpolierten griechischen Offiziersfußtritt beinhalten mochte, sondern auch die Gelegenheit, in karibischen Gewässern den Fahrtenschwimmer nachzuholen.
Und noch etwas anderes ließ sich feststellen, nämlich eine eigenartige Zuneigung der Service-Sklaven ihren Gästen gegenüber, auch wenn diese natürlich nur eine relative war. Aber im Vergleich zu den tyrannischen Griechen war selbst der pingeligste und verwöhnteste Gast eine Erholung, und die Mannschaft war dankbar dafür, so dankbar wie man selber, wenn man etwa in Boston oder New York ab und zu Resten menschlichen Anstands begegnet.
Ein bei Megalines gern verwendeter Slogan lautet: »YOUR PLEASURE IS OUR BUSINESS«. Was in normaler Werbung lediglich doppelsinnig klingt (»Ihre Urlaubsfreuden sind unser Beruf/liegen uns am Herzen«), besitzt hier sogar noch eine dritte, beinahe einschüchternde Bedeutung: »HALTEN SIE ENDLICH DIE SCHNAUZE UND LASSEN SIE UNS PROFIS NUR MACHEN. WAS WAHRE URLAUBSFREUDEN SIND UND WAS NICHT, WISSEN WIR IMMER NOCH AM BESTEN.«
Fort Lauderdale dient Celebrity, Cunard, Princess sowie Holland America als Heimathafen. Carnival und Dolphin stechen von Miami aus in See, wieder andere auch von Port Canaveral, Puerto Rico oder den Bahamas aus.
Ich war trotz intensiver Recherche bis zuletzt nicht in der Lage, herauszufinden, was diese Engler Corporation macht oder herstellt, aber ganz offensichtlich handelte es sich um eine Abordnung der Leitungsebene, die auf dieser 7NC eine Art Ferienseminar oder Konferenz abhielt.
Der Grund für die Verzögerung wird erst am darauffolgenden Samstag offenbar. Denn der Zeitplan ist eisern und immer derselbe. Bis spätestens 10:00 Uhr müssen die Passagiere von Bord und abtransportiert sein, denn Punkt 10:00 Uhr rückt in Bataillonsstärke die Putztruppe an, Drittwelttypen, die in ihren blauen Overalls aussehen wie Gefangenenwärter und die zusammen mit den Stewards auch noch die letzten Spuren unserer Anwesenheit beseitigen, ehe um 14:00 Uhr die nächsten 1374 Passagiere das Schiff betreten.
Vor allem an öffentlichen Orten der amerikanischen Ostküste entdecke ich auf diese Weise immer wieder den Rassisten in mir – der innerlich jedoch sofort in seine politisch korrekten Schranken gewiesen wird.
Der Begriff stammt von einem etwa fünfzigjährigen achtfachen Kreuzfahrer mit einem blonden Pony und rötlichen Vollbart, aus dessen Schultertasche ein seltsames, an eine Reißschiene erinnerndes Utensil herausragt. Er ist auch der Erste, der mir unaufgefordert erklärt, warum diese 7NC-Kreuzfahrt für ihn eine psychische Notwendigkeit darstellt.
Wie sich später herausstellt, verfügt Steiner of London auf dem Oberdeck, neben dem Olympic Health Club, über einen eigenen Beauty-Bereich, wo der weiblichen Gästeschaft allerlei Kräuterpackungen, Cellulite- und Gesichtsbehandlungen angeboten werden. Auch der Schönheitssalon auf Deck 5 gehört zu Steiner.
Die Einschiffung auf einen 7NC-Luxusliner rückt dadurch leicht in die Nähe einer Krankenhauseinweisung oder des Immatrikulationstages auf dem College, das heißt, ohne Familien- und Verwandtenunterstützung läuft gar nichts. Bis zum letzten Moment stehen sie da, wollen noch Umarmungen und Tränen loswerden, ehe es ernst wird.
Das ist eine lange Geschichte – und gehört einfach nicht hierher.
Offenbar existiert ein statistisch messbarer Zusammenhang zwischen der neurologischen Disposition zu solchen Kreuzfahrten und der Neigung zu schwitzen. Kurz, je größer der 7NC-Drang, desto geringer die abgesonderte Schweißmenge. Dies gilt nicht für das Mayfair Casino an Bord der Nadir.
Ich kann mir denken, wie dieses Relax-Alibi entsteht und wie es mit dem im Katalog verheißenen Nichtstun zusammenhängt. Entscheidend, glaube ich, ist die tief sitzende Scham, die in unserer Gesellschaft jede Form des Müßiggangs begleitet. Daher die Notwendigkeit, das Nichtstun, den Müßiggang umzudeklarieren. In anderen Lebensbereichen verhält es sich übrigens ähnlich. Beispiele: Ich gehe nicht zur Massage einfach um einer Massage willen. Ich gehe, weil ich da diese alte Sportverletzung habe, die mich noch umbringt, wenn ich nicht – sozusagen gezwungenermaßen – zur Massage gehe. Und Raucher wollen nicht einfach eine Zigarette, sie brauchen eine.
Wie auf allen anderen Megaschiffen hat man sich auch auf der Nadir für die verschiedenen Decks bestimmte sinnträchtige Namen einfallen lassen, was auf der Kreuzfahrt jedoch eher Verwirrung stiftete, da die Decknummern nie genannt wurden. Bis zum Schluss konnte ich mir nicht merken, ob das Fantasy Deck nun Deck 7 war oder 8. Deck 12 ist das Sun Deck, 11 das Marina Deck, Deck 1o habe ich vergessen, 9 ist das Bahamas Deck, 8 nennt sich Fantasy Deck, 7 Galaxy (oder auch umgekehrt), und Deck 6 habe ich nie herausgekriegt. Deck 5 ist das Europa Deck und so etwas wie das Kundenzentrum des Schiffs. Mit seiner hohen Decke gleicht es der riesigen Schalterhalle einer Bank, nur feiner. Dort befinden sich: Guest Relations Desk, Purser’s Desk, Hotel Manager’s Desk. Durchgehend in unaufgeregten Lachs- und Lemon-Tönen gehalten, mit viel Messing, dazu Pflanzenkübel und massive Ziersäulen, an denen das Wasser so dezent-diuretisch herabgluckert, dass man Lust bekommt, die nächste Toilette aufzusuchen. Auf Deck 4, genannt Florida Deck, sind ausschließlich Kabinen. Alle unter 4 sind Wirtschaftsdecks und haben keine Namen. Mit Ausnahme eines kleinen Abschnitts auf Deck 3, wo sich die Gangway befindet, haben Passagiere dort keinen Zutritt. Ich werde die Decks dennoch nur nach ihrer Nummer benennen, denn der Aufzug macht es genauso. Auf 7 und 8 liegen die verschiedenen Restaurants, Discos und der gesamte Entertainment-Bereich. Auf Deck 11 sind die Pools und ein Café untergebracht, Deck 12 ist den Sonnenanbetern vorbehalten.
(ein zutiefst alberner und überflüssiger Job auf dieser 7NC-Fotosafari)
Das schönste neue Wort, das ich in dieser Woche gelernt habe: Gischt. Das zweitschönste ist Scheißer, geäußert von einem deutschen Rentner, der gegen einen anderen deutschen Rentner wiederholt beim Dart verlor.
(Der begleitende Gesichtsausdruck war so etwas wie ein mimisches Achselzucken: Ist eben Schicksal.)
(Obwohl ich ja doch sagen muss: Im Katalog sah das Wetter wesentlich besser aus.)
Dramamine, das Mittel der Wahl, haut mich regelrecht um und kann sogar Krampfanfälle auslösen, sodass ich auf der Nadir vollkommen schutzlos bin.
Dieses befindet sich auf Deck 7 und wird niemals einfach »Caravelle Restaurant« (oder gar nur »Restaurant«) genannt, sondern immer mit seinem vollen Namen, das »Fünf-Sterne-Caravelle-Restaurant«.
An Tisch 64 saßen noch sieben weitere Leute, allesamt aus Südflorida, genauer gesagt aus Miami, Tamarac und Fort Lauderdale. Vier davon kannten sich bereits privat und hatten den Wunsch geäußert, am selben Tisch platziert zu werden. Die restlichen drei waren ein altes Ehepaar samt achtzehnjähriger Enkelin mit Namen Mona.
Ich war der einzige Kreuzfahrt-Neuling an Tisch 64 und auch der Einzige, der nie von »Dinner« sprach, sondern immer nur von »Abendbrot«, eine Angewohnheit aus der Kindheit, von der ich nicht lassen wollte.
Mit Ausnahme dieser Mona waren mir meine Tischgenossen allesamt sympathisch, und ich möchte in dieser Fußnote kurz auf unsere Mahlzeiten eingehen, wobei ich mich bei Personenbeschreibungen jedoch auf das Nötigste beschränke, um niemandes Gefühle zu verletzen. Auffällig an Tisch 64 war zunächst einmal, dass alle diesen unverkennbaren New Yorker Akzent hatten, und das, obwohl sie heilige Eide schworen, in Südflorida geboren und aufgewachsen zu sein. (Indes zeigte sich, dass ihre Eltern einst New Yorker gewesen waren, was wieder einmal beweist, wie tief dieser Dialekt sitzen kann.) Außer mir saßen also fünf Frauen und zwei Männer mit am Tisch. Die Männer hielten meistenteils den Mund, es sei denn, es ging um Golf, Business, Pflaster gegen Übelkeit und Erbrechen und Zollbestimmungen und wie sie sich umgehen ließen. Die eigentliche Unterhaltung an Tisch 64 war Frauensache. Und ein Grund, warum ich die Damen (außer Mona) so sehr schätzte, war, dass sie laut und bereitwillig über meine Witze lachten, sogar über die schwachen. Ihre Lachsalven hingegen waren furchterregend, denn sie begannen immer mit einem regelrechten Aufschrei, sodass ich im ersten Moment nie wusste, ob dies nur die Einleitung zu einem Heiterkeitsschub war oder ob sie hinter mir in der Tiefe des 5*C.R. gerade eine grausige Entdeckung gemacht hatten. Bis zum Schluss kam ich damit nicht klar. Und wie so viele 7NC-Passagiere verfügten auch sie über einen schier unglaublichen Vorrat an Anekdoten und sketchartigen Witzen, die sie mit vollem Körpereinsatz, schauspielerischem Gespür und bestem Timing zu präsentieren wussten.
Die Netteste am Tisch war Trudy, deren Mann aufgrund einiger unvorhergesehener Schwierigkeiten in ihrem Handy-Geschäft zu Hause bleiben musste und sein Ticket auf Tochter Alice übertragen hatte, eine etwas füllige, aber stets apart gekleidete Studentin aus Miami, die gerade Semesterferien hatte und aus irgendeinem Grund mir gegenüber ständig durchblicken ließ, dass sie einen festen Freund hatte. Der Freund hieß Patrick. Alice’ Beitrag zu unseren Tischgesprächen bestand in Bemerkungen wie »Ach, du magst keinen Fenchel? So ein Zufall, mein Freund (Patrick) kann Fenchel ebenfalls nicht ausstehen!«. Oder »Wie, du bist aus Illinois? So ein Zufall, mein Freund (Patrick) hatte eine Tante und der ihr erster Mann war aus Indiana, das liegt gleich neben Illinois«. Oder »Wie, du hast zwei Hände und zwei Füße? So ein Zufall …«. Dass Alice ihre Beziehungskiste derart penetrant vor sich hertrug, mag eine reine Verteidigungsmaßnahme gewesen sein – gegen Mutter Trudy, die mir, in Alice’ Gegenwart, immer wieder ateliergefertigte 10×15-Hochglanzfotos ihrer Tochter zeigte und schon bei dem Wort Patrick unwillkürlich einen Eckzahn bleckte. Trudy war 56, also genauso alt wie meine eigene Mutter, und sah aus wie – und ich meine das keineswegs abfällig –, sie sah aus wie das Sechzigerjahre-Sitcom-Schwergewicht Jackie Gleason im Fummel. Bei ihrem Auftakt-Schrei stockte mir zwar regelmäßig das Herz, aber ihr verdanke ich sowohl die Conga-Polonaise an jenem denkwürdigen Mittwochabend als auch mein Snowball-Jackpot-Bingo-Fieber. Sie war – auf ihrer sechsten 7NC in zehn Jahren – eine echte Autorität in Sachen Kreuzfahrt, ebenso wie ihre Freundin Esther (die etwas verhärmte Sprecherin des Rentnerehepaars aus Miami). Sie beide wussten jede Menge Horrorgeschichten zu erzählen, über Carnival Princess, Crystal und Cunard, Geschichten, bei deren Wiederholung ich mir sogleich eine Unterlassungsklage einhandeln würde, außerdem einen richtigen Gruselschocker über die wohl schlechteste Kreuzfahrtlinie aller Zeiten, eine gewisse »American Family Cruises«, die nach nur sechzehn Monaten nicht ohne Grund in die Pleite geschippert war, so haarsträubend müssen die Zustände an Bord gewesen sein und buchstäblich unglaublich, wenn ein weniger erfahrenes und kritisches Duo sie erzählt hätten. Aber richtig glauben können solche Geschichten sowieso nur Experten mit jahrelanger Erfahrung wie Trudy und Esther.
Im Übrigen habe ich noch nie jemanden erlebt, der Menü und Service einer derart gnadenlosen Beurteilung unterzog wie die beiden. Rein gar nichts entging der Aufmerksamkeit von Trudy und Esther, weder die Anordnung der Petersiliensträußchen auf den Babykarotten noch die Konsistenz des Brots noch Geschmack und Kaufreundlichkeit der diversen Fleischgerichte noch Fixigkeit und Flambiertechnik der Patisserie-Jungs, die jedes Mal mit ihren Kochmützen am Tisch erschienen (ein Großteil der Desserts im 5*C.R. musste nämlich in Brand gesetzt werden). Und so weiter und so weiter. Und während Kellner und Commis in Reichweite ständig aufs Neue fragen mussten: »Fertig? Darf ich abräumen?«, erhoben sich zwischen Esther und Trudy Gespräche wie dieses:
»Honey, was ist los mit dir? Waren die Meeresschnecken nicht gut?«
»Doch, schon. Alles in Ordnung. Kein Problem.«
»Ach, erzähl mir doch nichts. Du machst so ein Gesicht, da weiß ich sofort: Irgendetwas stimmt nicht. Hab ich nicht recht, Frank? Mit einem Gesicht wie Trudy, da kann man gar nicht lügen. Was war es denn, die Kartoffeln oder die Meeresschnecken? Die Meeresschnecken, stimmt’s, es sind die Meeresschnecken?«
»Esther, ich sag dir doch, es ist alles in Ordnung.«
»Das sieht mir aber nicht danach aus.«
»Okay, es sind die Meeresschnecken.«
»Hab ich’s dir nicht gleich gesagt? Frank, habe ich es ihr gesagt oder nicht?«
[Frank pult derweil mit dem kleinen Finger im Ohr.]
»Siehst du, ich hatte mal wieder recht. Weil man dir eben sofort ansieht, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist.«
»Na ja, die Kartoffeln sind ja in Ordnung. Nur die Meeresschnecken nicht.«
»Hab ich dir nicht gleich gesagt, dass man mit Saisonfischen vorsichtig sein soll, gerade auf einem Schiff? Hab ich’s gesagt oder nicht?!«
»Aber die Kartoffeln sind einwandfrei.«
Mona ist achtzehn. Seit ihrem fünften Lebensjahr nehmen sie ihre Großeltern jedes Frühjahr mit auf Kreuzfahrt. Mona verschläft regelmäßig Frühstück und Mittagessen, denn sie haut sich in der Skorpio Disco und an den Einarmigen Banditen im Kasino die Nächte um die Ohren. Sie ist mindestens eins fünfundachtzig. Im Herbst wechselt sie zur Penn State University – aus dem einzigen Grund, weil abgemacht war, dass sie einen allradgetriebenen Wagen bekommt, wenn sie einmal in eine Gegend mit einer gewissen Schnee-Wahrscheinlichkeit zieht. Sie schämte sich nicht einmal, als sie mir den tieferen Sinn hinter ihrer Uni-Wahl erklärte. Sie war ein ungeheuer anspruchsvoller Passagier, doch ihrer Kritik fehlte das Augenmaß von Trudy und Esther, sie klang am Ende nur patzig. Mona sah äußerlich irgendwie seltsam aus: ein Body wie von Brigitte Nielsen oder einem dieser Anabol-Models, aber gekrönt von einem kleinen, blassen unglücklich-verwöhnten Puppengesichtchen mit fisseligen Goldhaaren. Ihre Großeltern, die nach dem Abendessen normalerweise sofort ins Bett gingen, machten jedes Mal eine kleine Schau um die hundert Dollar, die sie ihr nach dem Nachtisch überreichten – als »Spielgeld«, wie sie sagten. Diese Hundertdollarnote steckte immer in einem offiziellen Bankumschlag – mit einem Benjamin Franklin, der einem aus dem bullaugenartigen Fensterchen entgegenstarrte. Und stets hatten sie mit rotem Magic Marker auf den Umschlag geschrieben: »We Love You, Honey.« Mona bedankte sich kein einziges Mal, sondern verdrehte nur genervt die Augen. Über so gut wie alles, was ihre Großeltern sagten, verdrehte sie die Augen, eine Unart, die mich nach einiger Zeit ziemlich in Harnisch brachte.
Anders als bei Trudy und Alice oder Esther mit ihrem stumm lächelnden Mann Frank sehe ich bei Mona nicht ein, warum ich allzu große Rücksicht auf sie nehmen sollte.
Ihre Spezialität auf diesen Reisen besteht offenbar darin, dem Kellner weiszumachen, sie hätte am Donnerstag auf See Geburtstag, woraufhin das 5*-Caravelle-Team natürlich das große Festprogramm abspulte, mit Fähnchen, einem heliumgefüllten Herz-Ballon an ihrem Stuhl, einer großen Geburtstagstorte und einem Ständchen von der ganzen Belegschaft. Dabei, so versichert mir Mona am Montag, sei ihr Geburtstag erst am 29. Juli, und als ich anmerke, der 29. Juli sei auch der Geburtstag von Benito Mussolini, wirft mir Monas Großmutter einen giftigen Blick zu. Mona selbst hingegen ist geschmeichelt, vermutlich weil sie Mussolini mit Maserati verwechselt. Dummerweise hat aber am besagten Donnerstag, dem 16. März, jemand anders am Tisch tatsächlich Geburtstag, nämlich Trudys Tochter Alice. Doch weil Mona nicht bereit ist, ihren falschen Geburtstagsanspruch aufzugeben, und stattdessen vorschlägt, gemeinsam zu feiern, angeblich, weil dies besonders »cool« sei, wünscht Alice ihr die Krätze an den Hals. Bereits am Abend des 14. März (Dienstag) haben Alice und ich eine Anti-Mona-Allianz geschmiedet, und wir amüsieren uns über den Tisch hinweg mit kleinen Gesten (Erwürgen, Erstechen), sobald Mona auch nur den Mund aufmacht. Alice (»So ein Zufall …«) hat mir verraten, dass sie diese Gesten bei verschiedenen grausam steifen Festbanketten von ihrem festen Freund Patrick gelernt habe. Dieser Patrick isst offenbar ausschließlich mit Leuten, die er nicht ausstehen kann.
(Auch diese Bewegung ist bei einem Megaschiff derart schwach, dass kein Kronleuchter anfängt zu klingeln oder Gegenstände zu Boden fallen. Nur eine nicht ganz präzise eingebaute Schublade im Schrankmodul von Kabine 1009 wackelte dauernd in ihrer Führungsschiene – egal, wie viele Kleenex ich an strategischen Punkten unterschob.)
Die Entscheidung, sich irgendwo festzuhalten, fällt in einem ähnlich heiklen Moment, in dem auch aus einem einfachen Juckreiz in der Nase ein Niesen wird, das heißt, eine Weile steht es durchaus auf Messers Schneide, ob sich der Mensch seinen übermächtigen Reflexen überlässt. (Die Analogie erscheint vielleicht etwas schräg, wird aber u.a. von Trudy bestätigt.)
Conroy war im Mai 1994 auf der NadirNC