Inhaltsverzeichnis

Dann ging wieder ein langweiliges und düsteres Jahr dem Ende zu. Jede Ladenfront war mit Lichterketten behängt. Kastanienverkäufer schoben ihre rauchenden Karren umher. Abends waren die Menschenmengen riesig, und der Verkehr schwoll zur brüllenden Springflut an. Die Weihnachtsmänner auf der Fifth Avenue schwenkten ihre kleinen Glöckchen mit einer seltsam traurigen, spitzfingrigen Vornehmheit, als streuten sie Salz auf ein übel verdorbenes Stück Fleisch. Aus allen Geschäften ertönte Musik, als Glockengeläut, Gesang und Hosiannas, und von den Kapellen der Heilsarmee ertönte die martialische Trompetenklage uralter christlicher Heerscharen. Es war seltsam, zu dieser Zeit und an diesem Ort solche Klänge zu hören, das klang nach Becken und Kesselpauken, ließ einen an Kinder denken, die für eine bodenlose Sünde gescholten wurden, und die Leute schienen sich auch daran zu stören. Aber die Mädchen waren wunderschön und ungerührt, wie sie da in jedem verrückten Laden einkauften, wie Majoretten durch diese magnetischen Zwielichter schritten, groß und rosa, bunte Päckchen an ihre zarten Brüste gedrückt. Und der Schäferhund des Blinden verschlief die ganze Show.

Schließlich kamen wir bei Quincy an. Seine Frau machte uns auf. Ich stellte ihr meine Freundin B.G. Haines vor und fing dann sofort an, die Leute im Raum zu zählen. Beim Zählen war ich mir verschwommen bewusst, dass ich mich mit

Quincys Frau und meine Freundin lächelten gegenseitig über ihre Peace-Ohrringe. Dann führte ich B.G. ins Zimmer. Wir warteten darauf, dass jemand auf uns zuginge und eine Unterhaltung begänne. Es war eine Party, und wir wollten nicht miteinander reden. Es ging vielmehr darum, sich für den Abend zu trennen und aufregende Leute zu finden, mit denen man reden konnte, und sich ganz am Schluss wieder zu treffen und sich einander zu erzählen, wie grässlich es gewesen sei und wie heilfroh man sei, wieder zusammen zu sein. Das ist der Inbegriff westlicher Zivilisation. Aber es war eigentlich egal, denn eine Stunde später langweilten wir uns alle. Es war eine von diesen Partys, die so langweilig sind, dass die Langeweile bald zum Hauptgesprächsthema wird. Man zieht von einer Gruppe zur andern und hört ein dutzendmal denselben Satz. »Das ist wie ein Film von Antonioni.« Aber die Gesichter waren nicht ganz so interessant.

Ich beschloss, ins Bad zu gehen und mich im Spiegel zu betrachten. An der Badezimmerwand hingen sechs gerahmte

»Ich wollt mir mal die Hände waschen.«

»Wer ist die Bimbo-Tussi?«

»Pru, ich hab gehört, dass Peck und Peck diese Woche eine Sonderaktion Reitgerten haben. Lauf doch mal rüber und guck sie dir an.«

»Hab gar nicht gewusst, dass du mit Bimbo-Tussis ausgehst, David.«

Ich begann mir die Hände zu waschen. Pru setzte sich auf den Rand der Badewanne und drehte den Wasserhahn nur so weit auf, dass er tröpfelte. Ich fragte mich, ob das irgendwas Sexuelles suggerieren sollte. Manchmal war es schwierig, solche Dinge richtig einzuschätzen.

»Ich hab einen Brief von meinem Bruder gekriegt«, sagte sie. »Er bedient einen M-79-Mörser. Er ist in einer der schlimmsten Kampfzonen. Er schreibt, jeder Quadratzentimeter Boden wird hart umkämpft. Du solltest mal seine Briefe lesen, David. Die sind wirklich stark.«

Der Krieg lief jeden Abend im Fernsehen, aber wir gingen alle ins Kino. Bald sahen sich die Filme immer ähnlicher, und dann gingen wir in schummrige Zimmer und törnten uns an

»Er schreibt, man kann die Freundlichen nicht von den Feindseligen unterscheiden.«

»Wer?«, fragte ich.

»Ich kann dich nicht ausstehen, du Wichser«, sagte Pru.

»Wie ich von Quincy höre, hast du einen neuen Freund, Pru. Texas A. und M. Irgend so ein Jungkadett. Wie ich von Quincy höre, hast du ihn über eine computerisierte Partnervermittlung gefunden.«

»So ein dreckiger Lügner.«

»Dein eigener Cousin, Pru.«

»Du hast Schuppen«, sagte sie. »Ich kann sie auf deiner Jacke sehen. Schuppen!«

Quincy war in selten guter Form, erzählte eine Reihe von Witzen über polnische Hausmeister, schwarze Pastoren, Juden in Konzentrationslagern und italienische Frauen mit haarigen Beinen. Er traktierte sein Publikum mit Schocks und Beleidigungen und forderte die Leute zum Protest heraus. Natürlich lachten wir uns geradezu halb tot, bemüht, einander darin zu überbieten, wie fortschrittlich wir waren. Es sollte entkrampfend wirken. Wer von derartigen Witzen allgemein peinlich berührt war oder bei bestimmten, die die eigene Rasse oder Herkunft verunglimpften, empfindlich reagierte, war noch nicht reif, um in den Mainstream aufgenommen zu werden. B.G. Haines, ein professionelles Mannequin und eine der schönsten Frauen, die mir jemals begegnet war, schien Quincys Nummer Spaß zu machen. Sie war eine von insgesamt vier Schwarzen im Raum – und unter diesen die einzige Amerikanerin – und sie hielt es

Es war fast vorbei. Einige waren schon gegangen. Es war nur eine Cocktailparty, und kleine Gruppen formierten sich fürs Abendessen. In einer Ecke des Zimmers vollführte Quincys Frau eine modifizierte Cocktailversion ihres Karate-Striptease, wie wir es nannten, ein Tanz, den sie, wie sie sagte, auf ihrer Reise in den Orient gelernt hatte.

Demnächst würde ich B.G. fragen, wo sie essen wollte. Sie würde vorschlagen, dass ich das entscheide. Wir würden zu einem kleinen französischen Restaurant ganz drüben auf der West Side gehen, am Rand vom Niemandsland, wo der Wind kalt vom Fluss herüberweht und die niedrigen trostlosen Wohnblocks Verfall ausdünsten und wo zu dieser Jahreszeit eine Atmosphäre völliger Leere herrscht, als sei die Gegend auf der Flucht vor den Stiefeln des Krieges verlassen worden. Niemand außer zerrissenen Katzen und Kindern mit durchsichtigen Bäuchen könnten dort leben, und diese fernen Lichter, die da über dem Times Square knistern,

»Wo würdest du gerne essen gehen?«, sagte ich.

Aber sie hörte mich nicht. Sie redete mit einem Mann namens Carter Hemmings. Obwohl Carter dreißig Jahre alt war, oder zwei Jahre älter als ich, war er beim Sender einer meiner Untergebenen. Das Alter der Männer, mit denen ich arbeitete, war mir immer sehr bewusst. Wovor mir im Sender am meisten grauste, waren jüngere Männer, die auf Positionen rücken könnten, die höher als meine eigene wären. Es genügte nicht, der Beste zu sein; man musste auch der Jüngste sein. Meiner Sekretärin war es mittels sauberer Spionagearbeit gelungen, das Alter all jener Männer zu ermitteln, deren Kompetenzen mit meinen eigenen vergleichbar waren. Als sie mir erzählte, dass ich mit einem ganzen Jahr und drei Monaten Abstand der Jüngste war, führte ich sie ins Lutèce zum Essen aus und verschaffte ihr 15 Dollar Gehaltserhöhung. Carter Hemmings hatte Angst vor mir. Aus diesem Grund, und auch weil es die Jahreszeit für Feiertagsmilde, Straferlass und Waffenstillstand war, nahm ich davon Abstand, seine Unterhaltung mit B.G. zu unterbrechen. Stattdessen holte ich mir noch einen Drink. Es waren nur noch etwa ein Dutzend Leute übrig. Sullivan stand in ihrem Zigeuner-Trenchcoat gegen eine Wand gelehnt. Es war dumm von mir gewesen, sie einzuladen. Sie sah angespannt

»Weil ich Moslem bin«, sagte der Pakistani, »trinke ich keinen Alkohol. Und doch habe ich das Gefühl, dass ich in meiner Hand ein Glas halten muss, sonst werden mich die anderen zwangsläufig für ein allzu ernstes und unfehlbares Individuum halten. Wir Moslems haben sehr strenge Ansichten, was Alkohol, Kleidung und fleischliche Beziehungen betrifft. Vielleicht haben Sie diese Leute über und möchten in Ihre Wohnung zurückkehren. Darf ich Ihnen anbieten, Sie zu begleiten? Mein Plymouth Fury steht direkt gegenüber. Wo wohnen Sie?«

»In den Herzen der Männer«, sagte Sullivan.

Ich rückte gegen sie vor. Die Standuhr begann zu schlagen. Ich sah den Pakistani an und bewegte meine Lippen, ohne zu sprechen, um den Eindruck zu erwecken, dass meine Worte von der Uhr übertönt würden. Nach acht langen Schlägen war sie wieder still, und ich zupfte mir aus meinen Gedanken mitten im Satz irgendeinen sinnentleerten Reisebericht über die Schweiz heraus und setzte ihn laut fort. Er betrachtete sein Glas und dann den Aschenbecher, unschlüssig, welcher

Ich ging auf die Terrasse. Autos fuhren durch den Central Park, tickende rote Bremslichter, die einander nach Norden und Westen, Richtung Dunkelheit und Fluss folgten, sich nähernde Scheinwerfer, dunkelgelb, die pfeifenden Türsteher. Das Licht der Parklaternen ein stumpfes, kaltes, beständiges Silber. Ich vertat mein Leben.

Alle nannten sie bei ihrem Nachnamen. Sie war Bildhauerin, siebenunddreißig Jahre alt, unverheiratet, eine große Frau, die durch ihre Art oder ihr Auftreten oder ihre bloße Anwesenheit einen Raum leicht zu verändern, ihn unsicher zu machen schien. Sullivans Gesicht und Körper hatten die Eigenschaft, einen zu endlosen Analogien zu inspirieren, und ich will versuchen, sie auf ein Minimum zu beschränken. So, wie sie auf Partys in einem schlichten weiten Kleid erschien, mit flachen Schuhen, ungeschminkt, die Haare lang, stumpf und ungekämmt, war sie der Typus Frau, der unweigerlich von einer kleinen Gruppe Wohlmeinender als seltsam, anders, eigenartig und bemerkenswert beschrieben wurde. Wenn Sullivan auf solchen Partys herumstand und sich von irgendeinem trostlosen Mann die rituellen Schrecken seines Lebens beschreiben ließ oder allein in einer Ecke saß und die geschwungene Taille einer Gitarre streichelte, hörte ich die Leute über ihre Herkunft spekulieren. Viele schienen sie für eine Indianerin zu halten. Andere tippten auf Katalonien, Polynesien oder das Tote Meer. Einmal hörte ich, wie eine Bewundererin Sullivans Gesicht als

Ich ging wieder rein. Quincys Frau saß jetzt auf dem Sofa und rührte ihren Drink mit einer Zahnbürste um. Pru Morrison war offenbar gegangen. Quincy fläzte sich mit zwei Frauen auf dem Boden vor dem Fernseher. Die beiden Frauen arbeiteten im Sender, ebenso wie Quincy. Eine der Frauen notierte sich, was er sagte, während er sich die Sendung ansah. Ich sah mich nach meiner Freundin um. Sullivan, immer noch auf einem Bein stehend wie ein Vogel, unterhielt sich mit einem Mann, der wie eine Nissenhütte aussah. Ich schwang meine Arme auf Schimpansenart und vollführte kleine, schwerfällige Hüpfer. Gleichzeitig schob ich die Zunge über die obere Zahnreihe und das Zahnfleisch, um die Stelle zwischen Nase und Oberlippe vorzustülpen. Ich beugte mich vor, bis meine Hände unterhalb der Knie baumelten. Sullivan blickte mich kurz an. Dann nahm der Mann ihr Glas und ging in die Küche. Ich richtete mich wieder auf und ging zu ihr hinüber.

»Was ist mit deinem Aschenbecher passiert?«

»Er musste ins Büro«, sagte sie. »Plötzliche Krise auf dem Subkontinent.«

»Ich sollte auch im Büro sein. Alle reißen sich um meinen Job. Da läuft ein richtiger Wettbewerb, wer jeweils am

»Ski laufen? Mit lauter Nymphen in Titten-raus-Pullovern?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich möchte eher was Religiöseres machen. In der schreienden Nacht Amerika erforschen. So in der Art. Ying und Yang in Kansas. Diese Scene.«

»Vielleicht komm ich mit«, sagte Sullivan.

»Im Ernst?«

»So was würde ich gerne machen, David. Wirklich.«

»Ich muss in ein paar Monaten sowieso in den Westen, um einen Bericht über die Navajos zu drehen. Ich hab mir gedacht, ich nehm mir ein paar Wochen vorher Urlaub und fahr in der Zeit da raus.«

»Wir könnten Pike mitnehmen.«

»Klar«, sagte ich. »Er findet schon jemand, der seinen Laden solange übernimmt.«

»Wir lassen ihn die Route planen. Wir geben ihm einen Kampfauftrag. Das wird ihm gefallen.«

Ich fühlte mich gut. Es war eine gute Idee. Der Mann kam mit ihren Drinks wieder. Wir wurden einander vorgestellt, und dann ging ich B.G. Haines suchen. Das Bad war leer. Ich ging ins Schlafzimmer und überprüfte die Mäntel auf dem Bett. Ihr Mantel war nicht darunter. Ich sah im Schrank nach, und da hing er auch nicht. Dann ging ich in die Küche. Die war auch leer. Ich blieb eine Weile da stehen. Dann öffnete ich die Kühlschranktür und holte einen Eiswürfelbehälter aus dem Eisfach. Es waren noch vier Eiswürfel übrig. Ich räusperte mir Schleim aus dem Hals und spuckte einzeln auf

Ich ging ins Wohnzimmer zurück. Sullivan unterhielt sich immer noch mit dem rundlichen grauen Mann. Ich musste immerzu auf diesen leeren Schuh starren.

Ich war ein äußerst gut aussehender junger Mann. Die Objektivität, die allmählich von der Zeit geformt, und die Selbstbeherrschung, die allmählich von ihr zersetzt wird, erlaubten mir, diese Feststellung zu treffen, ohne die üblichen bescheidenen Rückzieher, dass dies und jenes – wie in einem Zuchtbuch – doch der Verdienst der Eltern und Großeltern sei. Es wird wohl stimmen, dass ich von meiner Mutter die feine helle Haut und von meinem Vater die athletische Gestalt geerbt hatte, doch gibt das Familienalbum keinen Aufschluss über die Herkunft meines klassisch-griechischen Profils. Als ich achtundzwanzig war, war mir meine körperliche Identität sehr wichtig. Ich hatte fast das gleiche Verhältnis zu meinem Spiegel wie viele meiner Zeitgenossen zu ihren Psychotherapeuten. Wenn ich mich zu fragen anfing, wer ich sei, brauchte ich bloß mein Gesicht einzuseifen und mich zu rasieren. Es wurde alles so klar, so wunderbar. Ich war der blauäugige David Bell. Offensichtlich hing mein Leben von dieser Tatsache ab.

Ich war genau einen Meter achtundachtzig groß. Mein Gewicht schwankte zwischen 83,9 und 85,7. Trotz meiner hellen Haut wurde ich gewöhnlich schnell braun. Meine Haare waren blonder als jetzt, dichter und üppiger. Mein Taillenumfang war zweiunddreißig, mein Puls war normal. Ich hatte ein Wackelknie, doch meine Nase war noch nie

Meine Sekretärin erzählte mir einmal, sie habe zufällig gehört, wie Strobe Botway, einer meiner Vorgesetzten im Sender, mich als »konventionell« gut aussehend bezeichnet hätte. Wir haben herzlich darüber gelacht. Strobe war ein kleines, kaum menschenähnliches Wesen und hatte die Angewohnheit, beim Rauchen seine Zigarette langsam zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger zu drehen, wie Bogart in einem seiner frühen Filme. Strobe hasste mich, weil ich größer und jünger als er war und etwas weniger extraterrestrisch. Oft sprach er vom Bogart-Nimbus, wobei er eine germanisch angehauchte philosophische Terminologie verwendete, die keiner verstand, und er versaute viele Partys, indem er lange Passagen aus obskuren Bogart-Filmen zitierte. Er hatte auch Lieblings-Charakterdarsteller, Männer, deren Namen niemand mit einem Gesicht verbinden konnte, Männer, die sieben Filme hintereinander Gefängniswärter spielten, die immerzu japanische MG-Nester mit einer Granate in jeder Hand angriffen, die Säufer waren, psychotische Mörder, korrupte Anwälte oder Testpiloten, die die Nerven verloren hatten. Strobe schien die körperlichen Mängel von Menschen zu bewundern, ihr Lispeln, ihre Narben, ihre angeschlagenen Zähne. Seiner Auffassung nach ergaben sie zusammengenommen das, was er unter Persönlichkeit verstand, eine gewisse zweifelhafte Anziehungskraft. Seine Welt war nicht die meine. Ich bewunderte Humphrey Bogart, aber er machte mich nervös. Seine Stirn störte mich. Es war die Stirn eines Mannes, der Schulden hat. Meine eigenen Instinkte führten mich zu Kirk Douglas und Burt Lancaster. Das waren die amerikanischen Pyramiden, und sie brauchten keinen Untergrund,

Strobe starb mitten in einer Besprechung. Er erlitt einen Herzschlag an seinem Schreibtisch. Er ist konventionell tot. Aber es hätte ihn gefreut zu wissen, dass seine Reaktion auf meine körperlichen Eigenschaften von anderen im Sender geteilt wurde. Verborgene Energien erfüllten die Luft, geheime, kleine Strömungen, wie in jedem Unternehmen, das in der Hitze des Bildes gedeiht. Es gab einen Kult des Unansehnlichen und Schlauen. Es gab Punkte für

Es ist jetzt wieder an der Zeit, den Film abzuspielen. Ich meine das ganz wörtlich, denn ich besitze einen Film, der in jenen Jahren gemacht wurde, und auch viele Bänder. Auf einer so abgelegenen Insel wie dieser gibt es nicht viel zu tun, und ich kann eine ganze Menge Zeit totschlagen (oder eher

 

Ich ging den Gang entlang zu meinem Büro. Meine Sekretärin saß an ihrem Schreibtisch, damit beschäftigt, einen Jelly-Donut zu essen und einen Brief zu schreiben. Sie hieß Binky Lister. Sie war ein fröhliches Mädchen, ein paar Pfund Übergewicht, aber in netter Form. Sie hatte gerade ein Verhältnis mit meinem unmittelbaren Vorgesetzten, Weede Denney, blieb aber weiterhin eine vertrauenswürdige Sekretärin, das hieß, dass sie für mich log und mich vorbehaltlos gegen alle Anschuldigungen verteidigte, die von den Sekretärinnen der Männer, die mich fürchteten und hassten, gegen mich erhoben wurden. Sie folgte mir ins Büro.

»Du sollst um zehn zu einer Besprechung mit Mr. Denney.«

»Worum geht’s?«

»Er erzählt mir auch nicht alles, Himmelarsch.«

»Ruhig Blut, Binky. Das war nur so ’ne Frage.«

Sie stand da und legte linkisch den einen Fuß über den anderen, eine Art nicht-mimisches Schmollen. Ich setzte mich an meinen riesigen Schreibtisch und stellte mir vor, ich sei nackt. Dann schob ich den Sessel etwas zurück und begann mich in einem gebieterischen 180-Grad-Bogen hin und her zu drehen und mein Reich zu betrachten. Die Wände waren mit Vergrößerungen von Standfotos aus Filmprojekten bedeckt, die ich geschrieben und koordiniert hatte. Mein Bücherschrank war voll mit gebundenen Drehbüchern. In zwei Ecken des Zimmers standen Pflanzen und auf dem Beistelltisch lagen zwölf ordentlich arrangierte Medienzeitschriften. Die Aschenbecher waren alle von Jensen. Ich hatte ein schwarzes Ledersofa und eine gelbe Tür. Weede Denneys Sofa war hellrot, und er hatte eine schwarze Tür.

»Was noch?«, sagte ich.

»Mein Leben«, sagte ich, »besteht aus einer Reihe von Telefonbotschaften, die keiner versteht außer mir. Jede Frau, die ich kennenlerne, meint, sie wäre so was wie das Delphische Orakel. Mein Telefon klingelt um drei Uhr morgens, und es ist jemand, der auf irgendeinem Flughafen festsitzt und mich anruft, um zu sagen, dass die Tier-Cracker aus dem Zoo ausgebrochen sind. Neulich hab ich von einem Mädchen von der West Coast ein Telegramm – ein Schizogramm – gekriegt, auf dem nur stand: MEINE MANDELN WAREN AUF EINER BEERDIGUNG. Schickst du manchmal auch solche Mitteilungen, Bink? Mein Leben ist ein Telex von Interpol.«

»Wenn das alles so nervig ist, warum hast du dann gelächelt, als ich dir das mit den Froschschenkeln gesagt hab?«

»Es war eine gute Nachricht«, sagte ich.

Ich ging zu Weedes Büro. Er saß in seinem umgestylten Friseurstuhl. Als Schreibtisch benutzte er einen niedrigen, runden Couchtisch aus Teak. Auf der anderen Seite des Raums war seine Drei-Bildschirm-Farbfernseh-Konsole. Der Friseurstuhl, eine Exzentrizität, die jemandem in Weedes Position gestattet wurde, hatte mich nicht sonderlich gestört, aber der Couchtisch war etwas beängstigend, er schien zu implizieren, dass mein monströser Schreibtisch eigentlich überflüssig war. Weede war ein Meister der Bürokunst, spezialisiert auf die Taktik der Reaktion. Einige Zeit nachdem ich beim Sender angefangen hatte, beschloss ein Untergebener von Weede namens Rob Claven, sein Büro mit genau vierzehn von seiner Frau gemalten Gemälden zu dekorieren. Es war ein ziemlich grauenhafter Anblick. Weede sagte kein Wort. Aber eine Woche später gingen einige von uns, einschließlich Rob Claven, zu einer Besprechung in Weedes

Mit einem Nicken befreite Weede mich endlich aus der Tür und wies mir den blauen Stuhl zu. Er tat dies mit einer Hand- oder Blickbewegung, die so nah am Rande des gerade noch Wahrnehmbaren war, dass ich noch im Hinsetzen mir nicht erklären konnte, woher ich eigentlich wusste, dass ich mich in den blauen Sessel setzen sollte. Reeves Chubb war schon da und rauchte eine seiner Menthol-Zigarren. Weede erzählte uns eine Anekdote, bei der es um Golf und Ehebruch ging. Im Laufe von einigen Minuten kamen noch fünf weitere Personen herein, einschließlich einer Frau, Isabel Mayer, und die Besprechung begann.

Ich sah aus dem Fenster. An einem Gebäude, das auf der anderen Straßenseite hochgezogen wurde, arbeiteten Männer mit gelben Helmen. Sie schlängelten sich zwischen seinen hohlen Knochen hindurch, spritzten Acetylen und turnten über wacklige Bretter. Seltsamerweise schienen sie sich nicht mit besonderer Vorsicht zu bewegen. Vielleicht hatten sie sich mit der Angst, abzustürzen, abgefunden. Wahrscheinlich hatten sie schon andere herunterfallen sehen und diese Tode verachtet, wegen der Erleichterung, die auf den Schock folgte, einer Erleichterung, die mit dem Wind gestiegen sein muss, von Stockwerk zu Stockwerk, die rohen, dürren Schäfte des Gebäudes hinauf. Was konnte man denn anderes tun, als schnell in eine dunkle Bar gehen und drei brennende Whisky trinken? Auf einer Ebene hockten zwei Männer und nieteten, und ein anderer, eine Ebene drüber, sprang von Brett zu Brett, die Arme leicht ausgestreckt,

»Seht mal«, sagte ich. »Seht mal den Mann da drüben. Er winkt uns zu.«

»Seht mal«, sagte Isabel. »Er winkt. Der Bauarbeiter da. Siehst du ihn, Weede?«

Dann sprangen wir alle auf, alle acht, drängelten uns vor dem Fenster herum und winkten ihm zurück. Es war berauschend. Alle winkten wir und lachten. Weede rief: »Wir sehen dich! Wir sehen dich!« Wir schubsten uns gegenseitig weg, um mehr Platz zu bekommen. Isabel versuchte auf die breite Heizungskonsole unterm Fenster zu klettern. Ich half ihr hoch, und sie kniete da und winkte jetzt mit beiden Händen. Der Himmel war wolkenlos. Wir lachten jetzt völlig unkontrolliert.

In der anderen Ecke saß ein sehr gut aussehendes Paar beim Trinken. Ihre Beine berührten sich unterm Tisch. Ich schaute das Mädchen an, im Versuch, ihren Blick zu erhaschen. Ich wollte von ihr nur ein kurzes Lächeln, nicht mehr. Ich hätte mich sehr darüber gefreut. Ich hatte gerade eine Energie in mir, die auf diese bescheidene Weise freigesetzt werden wollte. Vom Nachmittag dieses Mannes ein kleines Lächeln stibitzen. Ich hortete derartige Ego-Augenblicke, erinnerte mich an jeden einzelnen. Das Nicken. Das hübsche Lächeln. Der tiefe Blick über die Spitze der Zigarette hinweg. Mehr wäre schon zu viel gewesen. Ich wollte niemandem wehtun.

»Gute Besprechung«, sagte Weede. »Sind wir uns da einig?«

Bevor wir mit unserem zweiten Drink fertig waren, brachte der Kellner das Essen. In dem Laden wimmelte es von tollen Frauen. Weede erzählte uns von seiner Fotosafari in Kenya. Er und seine Frau Kitty hatten im Herbst einen Monat dort verbracht. Er sagte, wir müssten irgendwann mal alle zu ihm kommen und uns die Dias angucken. Im Sender sprachen die

Bevor der Nachtisch kam, entschuldigte sich Weede und verließ uns in einer Atmosphäre unbeugsamen Schweigens. Wir wussten alle, wo er hinging – zum Penn-Mar Hotel in der Ninth Avenue, wo Binky schon auf ihn wartete. Sie trafen sich jeden Donnerstag für eine Stunde oder so. Als er weg war, bestellte Isabel noch einen Brandy, und wir schlossen uns an. Sie war eine kleine, breiige Frau um die fünfundvierzig. Vier Monate zuvor, auf einer Party an Bord eines Schleppers, der ständig die Freiheitsstatue umkreiste, hatte sie überall herumerzählt, dass sie eins ihrer Schamhaare in Mastoff Panofskys Whisky-Soda versenkt habe. Alle hatten Angst vor ihr. Dafür gab es keinen logischen Grund. Bei ihrem Job ging es, vage definiert, um Mode-Koordinierung, und es gab niemanden im gesamten Sender, mit dem sie konkurrierte. Doch wir alle unternahmen die beschämendsten Anstrengungen, ihr unsere Freundschaft und Loyalität unter Beweis zu stellen. Möglicherweise lag das daran, dass wir bei ihr eine gefährliche katzenhafte Perversität witterten. Konkurrentin oder nicht, schien sie eine Frau zu sein, die jederzeit angreifen konnte, ohne jegliche Rücksicht auf unseren

»Habe ich Weede verpasst?«, sagte er. »Verdammt, ich hab ihn wohl verpasst. Dachte, ich komm noch schnell zu einem Quickie vorbei, bevor ich mir diese China-Geschichte vorknöpfe. Was trinkt ihr denn alle ? Hab gerade gehört, dass Phelps gefeuert werden soll. Er weiß noch nichts davon, also nichts sagen. Wahrscheinlich warten sie damit bis Neujahr. Paul Joyner glaubt, er ist als Nächster dran. Seine Tür war den ganzen Morgen über zu. Hallie hat gesagt, er hat jeden angerufen, den er seit der Highschool kennt. Aber er erzählt schon seit acht Jahren, dass er als Nächster dran ist. Wahrscheinlich denkt er, es passiert nicht, wenn er’s ständig sagt. Umgekehrt den Teufel an die Wand malen. Seit den letzten paar Wochen ist hier echt die Hölle los. Diesen Monat war ich jedes Wochenende im Büro. Wenn das nicht bald aufhört, will meine Kindsbraut wieder heim zu Mama, sagt sie. Habt ihr gehört, dass MBO für die Strategiekoordination matrix-segmentiert? Auf dem Weg nach unten bin ich Jones Perkins über den Weg gelaufen. Er hat gesagt, Warburton hat irgend so ’ne seltene, tödliche Blutgeschichte. Ich würd ja liebend gerne in Aspen Urlaub machen, aber ich weiß wirklich nicht, wie ich das deichseln kann. Aber meine Sekretärin

Wir gingen ins Büro zurück. Am frühen Nachmittag ging es immer ruhig zu, alles rekelte sich in einer tropischen Siesta, als würde das gesamte Gebäude in einer wundersamen Hängematte schaukeln, doch dann ließ die dämpfende Wirkung von Essen und Trinken nach, und uns fiel wieder ein, warum wir da waren – um zu summen und zu klingeln, und jeder beugte sich wieder über seine Maschine. Doch diese Zeit, diese eine Stunde oder so, bevor es uns wieder einfiel, hatte etwas Wunderbares. Das war die Zeit, wo man auf seinem Sofa saß statt an seinem Schreibtisch und seine Sekretärin ins Büro rief und sich leise über nichts Besonderes unterhielt – Filme, Bücher, Wassersport, Reisen, gar nichts. In diesen Augenblicken herrschte eine Art Liebe zwischen uns wie die Liebe einer Familie, die so viele vertraute Momente miteinander erlebt hat, dass es unmenschlich wäre, nicht zu lieben. Und selbst das Büro wirkte dann wie ein ganz besonderer Ort, sogar in seinem blassen, gelben, verzweifelten Licht, das so sehr an die Farbe alter Zeitungen erinnerte; da war dieser Glaube, dass wir hier in Sicherheit waren, emotional gesehen, dass wir uns auf vertrautem Terrain bewegten. Wer eine Seele hatte, die wiederum das Bedürfnis nach Wurzeln und Jahreszeiten verspürte, das Bedürfnis, in vertrauten Dingen Trost zu finden, konnte nicht zweitausend Vormittage lang zwischen diesen Schreibtischen herumlaufen und

Im Flur klingelte ein Telefon. Niemand machte sich die Mühe, ranzugehen. Dann fing ein anderes an zu klingeln. Ich ging langsam in meinem Büro herum und streckte mich dabei. Ich versuchte mich zu erinnern, ob Burt oder Kirk in einem Bürofilm mitgespielt hatten, in einer dieser langweiligen Moralgeschichten über Machtspiele und verschämte Ehebrüche. Ich bemerkte ein Memo auf meinem Schreibtisch. An der Kürze der Mitteilung merkte ich sofort, dass es ein weiteres jener seltsamen Memos war, die seit über einem Jahr immer wieder in unregelmäßigen Abständen auftauchten. Ich nahm es und las es.

An: Tech Einh B

Von: Hl. Augustinus

 

Und nie kann ein Mensch schrecklicher im Tod sein, als wenn der Tod selbst todlos ist.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und zog mit einem Kugelschreiber die Umrisse meiner linken Hand auf einem leeren Notizblatt nach. Dann rief ich bei Sullivan an, sie meldete sich aber nicht. Ich ging wieder ein bisschen im Büro herum und warf einen Blick hinaus in den Flur. Viele der Mädchen waren wieder bei der Arbeit, deckten ihre Schreibmaschinen ab und verstauten schmutzige Tempos in den untersten Schubladen ihrer Schreibtische, wo sie neben alten Liebesbriefen, Flickenpuppen und pornografischen Büchern lagern würden, die ihre Chefs ihnen geschenkt hatten, im Geiste des neuen Liberalismus und um zu sehen, ob irgendwas passieren würde. Ich machte die Tür wieder zu. Dann machte ich meinen Hosenstall auf und holte meinen Schwanz raus. Ich ging so eine Weile im Büro herum. Es war ein gutes Gefühl. Ich verstaute ihn wieder und legte dann Trotzkis Memo in der Aktenmappe ab, die auch alle seine übrigen Werke enthielt neben einigen Gedichten, die ich hin und wieder im Büro geschrieben hatte, und einigen Schizogrammen von Frauen, die ich kannte. (GRÜSSE VON DER SCHÖNEN KÜSTE NEBRASKAS.) Ich machte die Tür auf. Binky saß an ihrem Schreibtisch. Sie nahm ein Sandwich und einen Papierbehälter aus einer weißen Tüte. Das Sandwich sah, als sie es auspackte, feucht und knatschig aus. Dieser Augenblick hatte etwas sehr Anrührendes.

»Willkommen zurück im großen Kandiszuckerberg.«

»Hallo«, sagte sie. »Zwei geschlagene Stunden hab ich in diesem verdammten Saks zugebracht, ohne auch nur eine einzige Sache zu kaufen. Und jetzt esse ich gleich ein Coca-Cola-Sandwich. Fröhliche Weihnachten.«

»Ich hab’s gesehen«, sagte sie. »Ich glaub ja immer noch, dass du’s bist.«

Sie wusste, dass mir das schmeichelte. Sie sagte oft Dinge, die mir guttun sollten. Ich wusste nie, warum. Binky war in vielerlei Hinsicht wie eine gute Freundin zu mir, und ich hatte mich immer gefragt, was passieren würde, wenn ich versuchte, unsere Beziehung zu verkomplizieren, wie es damals hieß. Als wir einmal im Büro Spätschicht arbeiten mussten, zog sie sich während des Diktats die Schuhe aus. Der Anblick einer Frau, die sich die Schuhe auszieht, hat mich schon immer erregt, und ich küsste sie. Das war alles, ein Kuss zwischen zwei Absätzen, aber vielleicht war es nicht bloß Zärtlichkeit, die mich dazu verleitet hatte, noch der Wunsch, die Verbindlichkeit unseres Verhältnisses infrage zu stellen. Vielleicht war es einfach nur wieder einer meiner Ego-Momente. Erst wenige Tage zuvor hatte ich von der Sache mit Binky und Weede erfahren.

»Komm mit rein«, sagte ich.

Sie brachte ihr Mittagessen mit, und wir setzten uns auf das Sofa.

»Phelps Lawrence ist gerade rausgeschmissen worden«, sagte sie.

»Ich weiß schon.«

»Es geht das Gerücht, dass Joyner als Nächster dran ist.«

»Das hat Joyner selber in die Welt gesetzt«, sagte ich. »Das gehört zu seiner Überlebensstrategie. Wenn er nicht aufpasst, geht der Schuss irgendwann mal nach hinten los.«

»Jody meint, das ist der Anfang einer Säuberung. Es hat eine Flut von vertraulichen Memos gegeben. Sie meint, Stennis wird vielleicht zurücktreten müssen. Aber behalt’s für dich. Ich musste ihr versprechen, kein Sterbenswörtchen zu erzählen.«

»Grover Palmer lässt sich scheiden«, sagte Binky.