Geschrieben 1938/39 auf Englisch in Frankreich.
Erstveröffentlichung 1941 unter dem Titel «The Real Life of Sebastian Knight» mit einem Vorwort von Conrad Brenner im Verlag New Directions, Norfolk, Connecticut, USA. Die deutsche Übersetzung von Dieter E. Zimmer erschien 1960 und 1996 als Band 6 der Gesammelten Werke im Rowohlt Verlag, Reinbek. Sie wurde 1996 und 2016 überarbeitet.
Der Text folgt: Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke, Band 6, herausgegeben von Dieter E. Zimmer.
Überarbeitete Ausgabe November 2018
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2018
Copyright © 1960, 1969, 1999, 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Real Life of Sebastian Knight» Copyright © 1941 by Valdimir Nabokov
Veröffentlicht im Einvernehmen mit The Estate of Vladimir Nabokov
Lektorat Hans Georg Heepe
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ISBN Printausgabe 978-3-499-22545-1 (überarbeitete Ausgabe 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-00234-0
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00234-0
Es wird nicht gesagt, ob es sich um ein Datum im alten, julianischen russischen Stil handelt oder um eins des europäischen (gregorianischen) Kalenders, den die Sowjets 1918 einführten und der dem russischen im Jahre 1900 um zwölf Tage vorausging. Möglicherweise ist sein Geburtstag also der 12. Januar 1900. Der Umstand vergrößert die Unsicherheit, in welches Jahrhundert Sebastian gehört.
15° Celsius.
Das Hotel Jewropejskaja, eins der vornehmsten Petersburger Hotels, in der Uliza Brodskogo (damals Uliza Michailowskaja) dicht am Newskij-Prospekt.
Die Lehmann’sche Krankheit scheint erfunden zu sein. Wie Sebastian, der an der gleichen Krankheit litt, später im Buch sagt, handelte es sich um eine Form von Angina Pectoris.
Es gibt zwei Orte dieses Namens in Südfrankreich: Roquebrune (Var) in der Nähe von Fréjus und Roquebrune-Cap-Martin (Alpes-Maritimes) auf halbem Wege zwischen Monaco und Menton. In Kapitel 2 erfährt der Leser, dass sie in Roquebrune (Var) gestorben ist.
Engl. Chums: Dicke Freunde. Titel einer seit 1892 in London erscheinenden Jugendzeitschrift.
Frz. Les Violettes: Die Veilchen.
Frz. biographies romancées: biographische Romane.
Nabokov leiht Sebastian und V. hier seine eigene ehemalige Gouvernante, Mlle. Cécile Miauton. Wie in seinen Memoiren Erinnerung, sprich (Kapitel 5, Ende) ähnlich beschrieben, hatte er, ganz wie V., die schwerhörige alte Dame Anfang der 1920er Jahre in Lausanne besucht. Nabokov verwendet «Mademoiselle» hier als Romanfigur, nachdem er ihr einen Auftritt in seinen Memoiren verschafft hatte, denn das Kapitel 5 war das früheste Stück seines Erinnerungsbandes, geschrieben 1936 zunächst in französischer Sprache unter dem Titel «Mademoiselle O». Darin heißt es, die Dienstboten hätten die Gouvernante «Mamzelle» genannt; daher wohl im Sebastian Knight der Name ‹Zelle›. Es schließt: «Nein, jetzt, da ich es recht bedenke – sie hat niemals gelebt. Doch von nun an ist sie wirklich, weil ich sie geschaffen habe, und diese ihr von mir verliehene Existenz ist dann ein so freimütiges Zeichen der Dankbarkeit, als hätte sie wirklich existiert.»
Frz. cette horrible Anglaise … cette femme admirable: diese schreckliche Engländerin … diese bewundernswerte Frau.
Frz. une toute petite tape: ein ganz kleiner Klaps.
Der Satz enthält Reminiszenzen an drei englische Gedichte. In A Shropshire Lad (1896) von A.E. Housman (1859–1936) stehen die Verse: «Into my heart an air that kills / From yon far country blows: / What are those blue remembered hills, / What spires, what farms are those? // That is the land of lost content, / I see it shining plain, / The happy highways where I went / And cannot come again.» (In mein Herz weht eine tödliche Luft / Aus jenem fernen Land: // Was sind dies für unvergessene blaue Hügel, / Was sind das für Türme, für Bauerngehöfte? // Das ist das Land der verlorenen Zufriedenheit, / Ich sehe es klar leuchten, / Die glücklichen Landstraßen, die ich entlangging / Und zu denen ich nicht zurückkehren kann.) In The Old Vicarage, Grantchester (1912) von Rupert Brooke (1887–1915) heißt es: «… there the dews / Are soft beneath a morn of gold, / Here tulips bloom as they are told; / Unkempt about those hedges blows / An English unofficial rose.» (… dort [zuhause] ist der Tau / Milde unter einem goldenen Morgen, / Hier [in Berlin] blühen Tulpen, wie man es ihnen aufträgt; / Ungepflegt weht um jene Hecken / Eine inoffizielle englische Rose.) Die Ode on a Distant Prospect of Eton College (1742) von Thomas Gray (1716–1771) beginnt: «Ye distant spires, ye antique towers / That crown the wat’ry glade …» (Ihr fernen Kirchtürme, ihr alten Burgen / Die die wässrige Lichtung krönen …)
Alexis Pan ist Brian Boyd zufolge ein Kompositporträt der futuristischen Dichter, vor allem von Wladimir Majakowskij (1893–1930) und Welimir Chlebnikow (1885–1922).
Frz. La Belle Dame sans Merci: wörtl. «Die schöne Dame ohne Barmherzigkeit». Titel einer Ballade des englischen Dichters John Keats (1795–1821), einer der schönsten Variationen des Lorelei-Themas. Das Gedicht scheint Sebastian direkt anzureden, denn es beginnt: «O what can ail thee, knight [!] -at-arms, / Alone and palely loitering?» (Was mag dich quälen, bewaffneter Ritter [knight], / Der du allein und bleich umherwanderst?) Falls Sebastian wie V. von Pans russischer Übersetzung beeindruckt gewesen sein sollte, hätte sie ihn nicht nur, wie zweifellos vieles andere, auf die englische Literatur verwiesen. Keats’ Ballade könnte den Grundton seines Lebens angeschlagen haben, denn abgesehen von den Jahren mit Clare Bishop stand auch Sebastian im Banne «unbarmherziger Damen», schöner, zerstörerischer Hexen, die in fremdartiger Feensprache zu ihm sagten, sie liebten ihn, um ihn dann sich selbst zu überlassen – erst seine Mutter, dann Natascha Rosanow, seine erste, schließlich Nina Turowitz/Rechnoy/Lecerf, seine letzte große Liebe.
In den Romanen des englischen Krimiautors Sax Rohmer (1886–1959) faucht der verruchte chinesische Bösewicht Fu Manchu.
Zwei Pressephotos, auf denen genau dies zu sehen ist, sind abgebildet in Le Musée des supplices von Roland Villeneuve (1968, 1982), S. 87 und 175. Das eine stammt aus dem Boxeraufstand (1900), das andere aus dem chinesischen Bürgerkrieg (1911–1949).
Auf diesem Regal stehen folgende Bücher: Shakespeares Hamlet.– Le morte d’Arthur von Sir Thomas Malory (um 1408–1471), eine im Gefängnis entstandene Prosa-Episodenerzählung aus dem Legendenkreis um König Artus, vor allem einiger französischer Versromane; die Lieblingsfigur ist Lancelot, von Artus’ Tod handelt nur das achte und letzte Buch.– The Bridge of San Luis Rey (Die Brücke von San Luis Rey), Roman (1927) von Thornton Wilder (1897–1975).– Doctor Jekyll and Mr. Hyde (eigentlich The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde, 1886), Novelle von Robert Louis Stevenson (1850–1894).– South Wind (Südwind), Roman (1917) von Norman Douglas (1868–1952).– The Lady with the Dog (Die Dame mit dem Hündchen/Dama ss sobatschkoj, 1899), Erzählung von Anton Tschechow (1860–1904); hier zweifellos eine Sammlung von Tschechow-Erzählungen, deren bekannteste den Titel abgibt.– Madame Bovary, Roman (1857) von Gustave Flaubert (1821–1880).– The Invisible Man (Der Unsichtbare), Roman (1897) von H[erbert] G[eorge] Wells (1866–1946).– Le Temps Retrouvé (Die wiedergefundene Zeit), letzter Band (1927) des Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust (1871–1922).– Anglo-Persian Dictionary (Englisch-Persisches Wörterbuch).– The Author of Trixie (Der Autor von Trixie), heiterer Roman (1923) von William Caine (1873–1925).– Alice in Wonderland (eigentlich Alice’s Adventures in Wonderland, 1865) von Lewis Carroll (1832–1898).– Ulysses, Roman (1922) von James Joyce (1882–1943).– About Buying a Horse (Über den Kauf eines Pferdes), humoristische autobiographische Skizzen (1875) von Sir Francis Cowley Burnand (1836–1917), dem späteren Herausgeber von Punch.– King Lear von Shakespeare. Wenn diese Titel tatsächlich eine «musikalische Phrase» bilden, so ist sie bisher nicht entziffert worden. Jedenfalls handelt es sich um Bücher, von denen einige in V. darum ein Echo hervorrufen könnten, weil er ihrem Widerschein in Sebastians Büchern begegnet ist, zum Beispiel in Erfolg einem Widerschein der Brücke von San Luis Rey; zwei dieser Bücher (Hamlet und Tschechow) hatten Sebastian das Material zur Veralberung Goodmans geliefert. Dass unter Sebastians Büchern ein englisch-persisches Wörterbuch ist, könnte bedeuten, dass er persische Literatur zu lesen versucht hat, vielleicht auf der Suche nach der persischen Prinzessin, mit der Nina Lecerf sich verglichen hatte.
Obwohl die Urbeschreibung des Großen Feuerfalters (Lycaena dispar dispar [Haworth, 1803]) aus England stammt, wurden die letzten Exemplare dort in den 1850er Jahren gesichtet. Seitdem gilt diese nominale Unterart als ausgestorben. Auf dem europäischen Kontinent gibt es andere Unterarten, von denen zwei im 20. Jahrhundert auch in England heimisch gemacht werden sollten, nicht mit großem Erfolg.
Nabokov leiht Sebastian seine eigene Cambridger Adresse. Während seiner Studienzeit am Trinity College wohnte er vom 1. Oktober 1919 bis Anfang Juni 1921 Great Court R6 (= Großer Hof Treppe R, Apartment 6).
Der 1835 gegründete Pitt Club in der Jesus Lane war der vornehme gesellige Treffpunkt für Cambridge-Studenten. Heute befindet sich im Erdgeschoss das Restaurant einer Pizza-Kette.
«Dick oder dünn» bezieht sich auf die zwei Arten dort servierter Suppen.
Engl. fives: wörtl. ‹Fünfe›. Fives ist ein seit dem 17. Jahrhundert gespieltes englisches Ballspiel, bei dem der Ball mit der Hand gegen die Wand eines Courts geschlagen wird, «Wandball».
Heinrich VIII. gründete 1546 das Trinity College in Cambridge. Eine Kopie seines Porträts von Hans Holbein d.J. aus dem Jahre 1546 hängt in der ‹Hall› des Colleges; das Original befindet sich in der Galleria Nazionale in Rom.
Die Punt ist ein typischer hölzerner «Stocherkahn» in den englischen Universitätsstädten Oxford und Cambridge.
Engl. The Backs: wörtl. «Die Rückseiten». Die Uferparks entlang des Flusses Cam, hinter den Colleges.
Marie Corelli (ein Pseudonym für Mary Mackay, 1855–1924) war eine englische Romanschriftstellerin und Spiritistin, die um die Jahrhundertwende mehrere melodramatische okkulte Bestseller schrieb und sich eine nicht eben wahrheitsgetreue Biographie zulegte. In Erinnerung, sprich berichtet Nabokov, in seiner Kindheit habe ihm «ein schreckliches [englisches] Weibsbild Das mächtige Atom von Marie Corelli» vorgelesen.– Die sprichwörtliche ‹Mrs. Grundy› entstammt einer Komödie von Thomas Morton (um 1764–1838) mit dem Titel Speed the Plough (1798); sie tritt selber nicht auf, wird aber als Maßstab spießiger Respektabilität in einem fort zitiert.
Das Bild stammt aus einem berühmten Gedicht des Lyrikers Nikolaj Stepanowitsch Gumiljow (1886–1921), «Sabludiwschijsja tramwaj» (Die verirrte Straßenbahn, ca. 1919). Darin stehen die Verse: «Im roten Hemd, mit einem Gesicht wie ein Euter / Schnitt der Scharfrichter auch meinen Kopf ab.»
Godfrey Goodmans Der Fall des Menschen ist ein Werk des Bischofs von Gloucester aus dem Jahre 1616, The Fall of Man; or, the Corruption of Nature (Der Fall des Menschen oder die Verderbnis der Natur).– Bei der Rückschau auf ein Leben (1857) handelt es sich um die Erinnerungen von Samuel Griswold Goodrich (1793–1860), eines amerikanischen Verlegers und Verfassers penetrant didaktischer Jugendliteratur. Ein biographisches Handbuch nennt Goodrichs Schriften «eine wahre Enzyklopädie der Plattitüden», sodass Goodman in seiner Nachbarschaft gut aufgehoben ist.
Es handelt sich um Three Men on the Bummel (Drei Männer auf dem Bummel, 1900) des englischen Humoristen Jerome K. Jerome (1859–1927). Das seinerzeit sehr beliebte Buch erzählt von einer gemeinsamen Radtour durch Deutschland. In Kapitel 9 zählt es amüsiert auf, was in Deutschland alles ausdrücklich und unter Strafe verboten ist: u.a. Betten aus dem Fenster zu hängen, den Rasen zu betreten, kostümiert auf der Straße herumzulaufen – und Sachen aus dem Fenster zu werfen. Zur Illustrierung berichtet der Erzähler, wie er eines Nachts irgendwo zwischen Hamburg, Hannover und Berlin allerlei Gegenstände, darunter ein – faules – Ei, aus dem Fenster geworfen habe, um einem Katzenkonzert ein Ende zu machen. Zehn Minuten später habe ihm ein Polizist alles, bis auf das Ei, zurückgebracht – und nach einer absurden Unterredung zwölf Mark Buße kassiert.
Der dicke Student ist Shakespeares Hamlet.
Es handelt sich um die Erzählung Tschornij monach (Der schwarze Mönch, 1894) von Anton Tschechow (1860–1904). Kowrin, ein überarbeiteter junger Gelehrter, hat eine wiederkehrende Halluzination: Er sieht einen schwarzen Mönch, der ihm zuredet, er sei ein Genie. Solange seine Gespräche mit dem Gespenst anhalten, ist er glücklich; als jedoch sein Wahnsinn wegtherapiert ist, wird er zu einem verdrossenen und unausstehlichen Durchschnittsmenschen. Erst kurz vor dem Tod an Schwindsucht kehrt die Erscheinung und mit ihr das Glück zurück.
Drei englische Dichter, drei Gefühlswelten, die auch für Nabokov selber eine Rolle spielten, als er von 1919 bis 1921 in Cambridge studierte: Rudyard Kipling (1865–1936), Rupert Brooke (1887–1915), A[lfred] E[dward] Housman (1859–1936). Brian Boyd schreibt: «Er las auch Rupert Brooke, den Liebling des nahen King’s College; A.E. Housman, dessen bedrückte Gesichtszüge und herabhängenden Strohschnurrbart er fast jeden Abend an der Tafel des Trinity College sah … Gleich nach der mündlichen Prüfung schickte er seinen Eltern seinen russischen Aufsatz über Rupert Brookes Lyrik … Nabokov betonte: ‹Kein anderer Dichter hat so oft, mit so gequälter und schöpferischer Wachsamkeit, in den Dämmer des Jenseits gespäht.› Kiplings Diktum zitierend, das menschliche Herz könne nur seine Heimat lieben …, gab Nabokov zu verstehen, das für Brooke Grantchester dasselbe bedeute wie Wyra für ihn selber» (Vladimir Nabokov: The Russian Years, S. 171, 182). Brooke übersetzte Nabokov damals auch ins Russische. Den entschieden diesseitigen Kipling, Laudator eines tätigen Lebens, hielt er vor allem für einen Jugendschriftsteller, an dem er als Acht- bis Vierzehnjähriger seine Freude gehabt habe (Deutliche Worte, S. 97).
«V.» steht für ‹Viktor›, nicht für ‹Vladimir›, wie Nabokov seinem ersten Biographen Andrew Field mitteilte.
Es handelt sich um den bekannten englischen Kinderreim «Who Killed Cock Robin?» (wörtlich: Wer hat den Rotkehlchenhahn getötet?), der beginnt: «Wer hat Rotkehl getötet? / Ich, sagte der Spatz, / Mit meinem Bogen und Pfeil / Habe ich Rotkehl getötet. // Wer sah ihn sterben? / Ich, sagte die Fliege, / Mit meinem kleinen Auge / Sah ich ihn sterben. // Wer hat sein Blut aufgefangen? …» – und so elf Strophen lang fort, bis zur Schlussstrophe: «Alle Vögel der Luft / Begannen zu seufzen und schluchzen, / Als sie die Glocke läuten hörten / Für den armen Rotkehl.» Das anonyme Gedicht wurde um 1744 erstmals aufgezeichnet, ging aber auf ältere Vorformen zurück. Ein verwandter (nieder)deutscher Reim ist: «Wer is dod? – Sporbrod. / Wenn ehr ward begraben? / Oevermorgen abend, mit schüffeln un spaden, / Kukuk is de kulengräver, / Adebor is de klokkentreder, / Kiwitt is de schäuler, / Mit all sin schwester un bräuder» (The Oxford Dictionary of Nursery Rhymes. Oxford: Clarendon Press, 1951, S. 130–134).
Sebastian meint sehr wahrscheinlich den Sinus Valsalvae, die Ausbuchtung zwischen der Aortenwand und jeder der drei Semilunarklappen des Herzens. Gelegentlich Sitz eines Aneurysmas.
Vermutlich ein Film nach dem 1860 veröffentlichten Erfolgsroman von Wilkie Collins (1824–1889), der eine Brücke vom romantischen Schauer- zum modernen Detektivroman schlägt. Der Name der «Frau in Weiß» ist Anne; der Schurke, der sie ins Irrenhaus sperren ließ, nennt sich Sir Percival Glyde; der volle Name des Autors lautet William Wilkie Collins – mithin stammen zumindest die Namen der Hauptfiguren in Sebastian Knights zweitem Roman aus der Collins-Lektüre. Zwischen 1912 und 1929 bildete das Buch die Vorlage für fünf Stummfilme, 1940 für den Film Crimes at the Dark House von George King.
Anspielung auf Hamlet III.3. Dort versteckt sich Polonius hinter dem Wandbehang, um das Gespräch zwischen Hamlet und seiner Mutter zu belauschen, und wird dort von Hamlet erstochen.
Russ. pelmeni: mit Hackfleisch, Fisch und/oder Kohl gefüllte gekochte Teigklößchen.
Die Elenktik ist in der Philosophie die Kunst des Beweisens und Widerlegens. Die Anspielung bezieht sich auf Kapitel 5 von Alice im Wunderland, wo Alice in ein Gespräch mit einer pfeiferauchenden Raupe verwickelt wird, die «mit schleppender, schläfriger Stimme» unbestimmt Tadelndes von sich gibt, in der Art: «Wie meinst du das?» «Erkläre dich!» «Wer bist denn du?» «Du musst dich besser beherrschen.» «Was fällt dir nicht mehr ein?» «Bist du zufrieden damit, wie du jetzt bist?»
Frz. Nous avons eu beaucoup de jolies dames: Wir haben viele hübsche Damen bei uns gehabt.
Wohl ohne es zu merken, begegnet V. in Silbermann gerade dem Urbild von einem von Sebastians Kunstgeschöpfen, Mr. Siller in Sebastians letzter Erzählung Die Rückseite des Mondes: «Man wird sich gewiss an die herrliche Figur darin erinnern – den bescheidenen kleinen Mann, der auf einen Zug wartet und drei heruntergekommenen Reisenden auf drei verschiedene Weisen hilft? Dieser Mr. Siller ist vielleicht das lebendigste von Sebastians Geschöpfen …» Dann aber war der «bescheidene kleine Mann», der Sebastian und Clare in Paris aufsuchte und von dem missgelaunten Sebastian nicht vorgelassen wurde, wahrscheinlich ebenfalls Silbermann. Dieser hätte also Sebastian und Clare und vom Elsass her wahrscheinlich auch Nina gekannt und wäre mit ihrer Situation längst vertraut gewesen, als er im Zug mit V. ins Gespräch kam. Gleichzeitig ist Silbermann natürlich «vielleicht das lebendigste» von V.s eigenen Geschöpfen. Wie Boyd mitteilt, charakterisierte Nabokov (in einem Brief an die Literaturagentin Doussia Ergaz, 12.11.1950) Silbermanns eigentümliche Sprache folgendermaßen: Er habe sich in seinem Text unendliche Mühe gegeben, das Bild eines quasimagischen Menschen zu evozieren; sein Englisch spiegele deutsche und russisch-jüdische Einflüsse.
Russ. Gawrit parusski?: Sprechen Sie Russisch?
Dieser musikalischen Dame leiht Nabokov den Namen eines seiner deutschen Vorfahren, des von seinen Zeitgenossen und seinem König Friedrich II. hochgeschätzten Komponisten Carl Heinrich Graun (1701–1759), mit dessen Oper Cleopatra e Cesare 1742 das Berliner Opernhaus Unter den Linden eröffnet worden war.
Bekräftigung der Verbindung Silbermanns zu Sebastians letzter Erzählung, Die Rückseite des Mondes.
Nabokov leiht Helene von Graun eine seiner eigenen Berliner Adressen. Von 1926 bis 1929 wohnte er in der Passauer Straße 12, schräg gegenüber vom KaDeWe, zur Untermiete bei dem Kaufmann Horst von Dallwitz.
Nach einer alten keltischen Legende fand Jesu Wache im Hof Gethsemane unter einer Espe (Zitterpappel) statt; seitdem zittert deren Laub, in Erinnerung an Jesu Qualen und Judas’ Verrat. Nach anderen Legenden beugte sich die Espe bei der Kreuzigung als einziger Baum nicht, da sie sich als Pflanze für unschuldig hielt; damit machte sie sich der Sünde des Hochmuts schuldig, für die sie mit ewiger Ruhelosigkeit gestraft wurde.
Die Stelle bezieht sich auf das Gedicht The Dream (Der Traum, 1816) von George Gordon Lord Byron (1788–1824). In 206 reimlosen jambischen Pentametern erzählt es, in Form eines Traums mit mehrfach wechselnden Bildern, die Lebensgeschichte einer Frau und eines Mannes. Im ersten Bild sieht man sie jung auf einem heimischen Hügel nebeneinanderstehen: Er liebt sie, sie liebt einen anderen. Im zweiten Bild sehen sie sich in ihrem Schloss noch einmal; sie ahnt seine Liebe. Dann trennen sich ihre Wege für immer; der ihre führt in eine lieblose Ehe, die im Wahnsinn der Melancholie endet, der seine in exotische Abenteuer, schließlich spiritueller Art: «Ihm ward das Buch der Nacht geöffnet weit, / Und Stimmen aus dem tiefen Abgrund wiesen ihm / Ein Wunder und Geheimnis …» Der Traum, heißt es am Schluss, habe zwei Schicksale nachgezeichnet, von denen das eine im Wahnsinn, beide im Elend geendet hätten. Jeder seiner sieben Bilderwechsel wird eingeleitet von der wiederkehrenden Verszeile: «A change came o’er the spirit of my dream» (Eine Veränderung kam über den Geist meines Traums).
Eine weitere Spiegelung: Situation und Wortlaut erinnern an Virginia Knights Trennung von Sebastians Vater, wie sie auf Nina Rechnoys Trennung von Sebastian vorausdeuten.
Vielleicht zum Zeichen, dass V.s Suche heißer wird, hält Rechnoy einen schwarzen Springer in der Hand. Engl. knight bedeutet so viel wie ‹Ritter›, ‹Springer›, und Sebastian hat seine Jugendgedichte mit einem Springer unterzeichnet.
Pahl Pahlitsch steht für Pawel Pawlowitsch, verschliffen ausgesprochen.
Wahrscheinlich eine Anspielung auf General Alexander Pawlowitsch Kutepow (1882–1930?), eines Heerführers des russischen Bürgerkriegs, der mit Wrangel und Denikin in Südrussland gegen die Rote Armee gekämpft hatte, nach der Evakuierung der Krim 1920 Kommandeur der nichtkosakischen Exiltruppen und nach Wrangels Tod 1928 Präsident des Russischen Militärbundes (ROWS) wurde. Am 26. Januar 1930 wurde er in Paris von der OGPU gekidnappt. Seitdem war er spurlos verschwunden. Wahrscheinlich war er nach Moskau geschafft und dort exekutiert worden. 1965 lobte ein in Moskau erschienener Aufsatz die saubere tschekistische Arbeit bei der Entführung Kutepows. Der ähnlich bewerkstelligten Entführung seines Nachfolgers, des Generals Miller, mithilfe des Tripelagenten General Skoblin widmete Nabokov 1943 seine erste englischsprachige Erzählung, Der Regieassistent.
Mata Hari war der Künstlername der niederländischen Tänzerin Margarete Zelle (1876–1917), die in Paris als deutsche Spionin erschossen wurde.
Frz. Mais oui, elle est tout ce qu’il y a de plus russe: Aber ja, sie ist so russisch wie nur was.
Frz. Il va sans dire: Es versteht sich von selbst.
Frz. Elle fait des passions: Sie flößt Leidenschaften ein.
Frz. C’est moi: Das bin ich.
Frz. Viens, mon vieux: Komm, mein Alter.
Frz. j’ai une petite surprise pour vous: Ich habe eine kleine Überraschung für Sie.
Frz. tout ce que vous croyez raisonnable de demander à une tasse de thé: Alles, was Sie bei einer Tasse Tee zu fragen für vernünftig halten.
Frz. hors concours: konkurrenzlos.
Frz. Un cœur de femme ne ressuscite jamais: Ein Frauenherz ersteht nie wieder auf.
Frz. Voyez vous ça!: Schau mal einer an.
Frz. Ah non merci, je ne suis pas le calendrier de mon amie. Vous ne voudriez pas!: O nein, danke, ich bin schließlich nicht der Kalender meiner Freundin. Das können Sie nicht verlangen!
Frz. à l’improviste: unerwartet.
Frz. des jeunes gens qui aiment à rigoler: junge Leute, die gern ihren Spaß haben.
Frz. vitalité joyeuse qui est, d’ailleurs, tout-à-fait conforme à une philosophie innée, à un sens quasi-religieux des phénomènes de la vie: eine freudige Vitalität, die übrigens völlig mit einer angeborenen Philosophie in Einklang steht, mit einem quasireligiösen Sinn für die Phänomene des Lebens.
Frz. Qui vivra, verra: Die Zukunft wird es zeigen, wörtlich «wer leben wird, wird sehen».
Frz. Eh bien, êtes-vous d’accord?: Nun, sind Sie einverstanden?
Frz. Enchanté de vous connaître … Je suis navré: Entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen … Ich bedauere …
Frz. Écoutez … Ce n’est pas très poli, vous savez: Hören Sie … Das ist nicht gerade höflich, wissen Sie.
Dass menstruierende Frauen Pflanzen verdorren lassen, ist ein angeblich besonders in Indien verbreiteter Aberglaube. Wenn sich unter Sebastians Büchern ein englisch-persisches Wörterbuch fand, könnte das bedeuten, dass er selber nach Nina Lecerfs persischer Prinzessin gesucht hat, die Gärten verwüstet haben soll. Auch seine sonderbare Vorliebe für den (wahrscheinlich erfundenen) Film Der verzauberte Garten könnte damit im Zusammenhang stehen. (Mit dem Kinderbuch Der verzauberte Garten [1911] der englischen Autorin E. Nesbit, im Original The Wonderful Garden, hat der Film wahrscheinlich nichts zu tun.) Eine persische Prinzessin mit dieser Eigenschaft hat sich in der Literatur nicht gefunden. Immerhin gibt es Turandot: die schöne Prinzessin, die ihre Bewerber hinrichten lässt, welche die Rätsel, die sie ihnen aufgibt, nicht lösen können. Die älteste Behandlung des Turandot-Motivs findet sich in Mohammed Neza¯mis persischem Novellenzyklus Die sieben Schönheiten (1197). Dort ist die Männermörderin die «russische Prinzessin» Nasrim Nush. Sie ließ keine Gärten verdorren. Auch Turandot selbst, die in Europa vor allem durch die Erzählung Prinz Kalaf und die Prinzessin Turandokte von China in der persischen Geschichten- und Anekdotensammlung Tausensundein Tag von François Pétis de la Croix (1710/12) bekannt wurde, lässt zwar ihre unbeirrbaren Verehrer serienweise enthaupten, nachteilige Auswirkungen auf die Flora hat ihre Misandrie jedoch anscheinend nicht.
Frz. Vous devez mourir de faim: Sie müssen vor Hunger sterben.
Frz. On doit s’y ennuyer follement, n’est-ce pas?: Man muss sich dort wahnsinnig langweilen, nicht wahr?
Frz. Tant mieux: Umso besser.
Frz. alors vous êtes ridicule, cher Monsieur: dann machen Sie sich lächerlich, werter Herr.
Wahrscheinlich handelt es sich um die Erzählung Ce cochon de Morin (Dieses Schwein Morin, 1882) von Guy de Maupassant (1850–1893). Ein Provinzjournalist ist Gast im Haus eines Mannes, den er überreden will, eine Klage gegen «dieses Schwein Morin» zurückzuziehen, einen Händler, der in einem Zugabteil die Nichte des Mannes sexuell belästigt hat. Er findet diese Nichte selber attraktiv, und sie ihn, schleicht sich nachts in ihr Zimmer und sagt, um sein Kommen zu entschuldigen: «‹Ich habe vergessen, Mademoiselle, Sie um etwas zu lesen zu bitten.› Sie sträubte sich; aber bald schlug ich das gesuchte Buch auf. Den Titel verrate ich nicht. Es war wirklich der wunderbarste aller Romane, das göttlichste aller Gedichte.»
Frz. Vous n’êtes guère aimable: Sie sind nicht gerade nett.
Russ. A u njej na schejke paúk: Aber bei ihr auf dem Hals sitzt eine Spinne.
Frz. J’ai quelque chose dans le cou: Ich habe etwas am Nacken.
In Sebastian Knights letztem Roman treten einige der Personen auf, die in den Entstehungsjahren seinen Weg gekreuzt haben und deren Bekanntschaft auch V. im Laufe seiner Recherchen gemacht hat. Der Schachspieler Schwarz ist Pawel Pawlowitsch Rechnoys Cousin.– Die «fette Böhmin» ist Lydia Bohemsky, die im Sommer 1929 ebenfalls in Blauberg zur Kur war; die graue Strähne in ihrem orange gefärbten Haar stammt jedoch vielleicht von dem geheimnisvollen jungen Russen in Mme Lecerfs Haus.– Professor Nussbaum und seine Freundin mögen das Paar sein, dass in einem Blauberger Hotel 1929 Selbstmord begangen hatte.– Vielleicht steigt Ninas Freundin Helene von Graun öfter einmal aus dem Auto in eine Pfütze – dann hätte Sebastian auch das verwendet.– Die junge Frau, die einen Mann tröstet, könnte gut Elena Grinstein sein, die V. ebenfalls in Trauer angetroffen hatte, nach der Bestattung ihres Schwagers; vielleicht hatte sie in Blauberg Trauer getragen, weil damals ihre Schwester gestorben war.
Tatsienlu: heute die Stadt Kangding in der südwestchinesischen Provinz Sichuan, im alten umstrittenen Grenzgebiet zwischen China und Tibet. Die Gegend ist in der Botanik und Zoologie berühmt für ihre reiche und einzigartige Flora und Fauna, die im 19. Jh. durch französische Missionare auch in der westlichen Welt bekannt wurde. In Nabokovs «naturkundlichen» Erzählungen Pilgram und Kapitel 2 der Gabe spielt Tatsienlu die Rolle eines Sehnsuchtsorts.
«Die Asphodele am jenseitigen Ufer»: Asphodelen (eingedeutscht Affodille) heißen einige Blütengewächse der Mittelmeerländer. Sie finden sich auf Grasland (Asphodeloswiesen) und haben aufrecht stehende Rispen mit kleinen weißen oder gelben Blüten. In der grch. Mythologie kamen die Schattengeister jenseits des Totenflusses Acheron zu Asphodeloswiesen; die Samenkörnchen dieser bescheidenen Blume bildeten die Nahrung der Toten. In einem Reisebericht aus Kreta schrieb Nabokovs damaliger Freund Edmund Wilson 1945: «Eine merkwürdige kleine Pflanze mit purpurnem Stiel und blassen, wächsernen, geruchlosen Blüten erweist sich als Affodill.» Nabokov schrieb ihm dazu: «Der Affodill erschien mir immer als blasser Verwandter der Narzisse und nicht als der Asphodelus der Botaniker, aber wahrscheinlich habe ich da Unrecht» (17. November 1945). Er hatte Unrecht. Der Affodill, früher zu den Liliengewächsen gezählt, gehört zur Familie der Asphodelaceae, die Narzisse zu den Amarylliaceae.
Engl. Prattler, Plauderer, eine Anspielung auf das 1901 gegründete Gesellschaftsmagazin Tatler (Tratscher).
Sebastians handschriftlicher Brief ist in kyrillisch geschriebenem Russisch, mit Ausnahme des französischen Ortsnamens Domrémy, des Dorfs in Lothringen, aus dem Jeanne d’Arc stammte, die Jungfrau von Orléans. In Domrémy hatte die 17-jährige Jeanne die Stimmen von Heiligen gehört, die ihr auftrugen, Frankreich von der englischen Herrschaft zu befreien. V. liest Domrémy, als handele es sich um ein oder zwei russische Wörter in kyrillischer Schrift. Er liest also Domrémy als russ. Дотчету, in nichtkursiver kyrillischer Druckschrift Дотчету. Gesprochen ergibt das ‹Dot tschetu› und hat keinerlei Sinn.
Ein mehrsprachiges Schild unter jedem Waggonfenster: È pericoloso sporgersi / Ne pas se pencher au dehors / Nicht hinauslehnen / It is dangerous to lean out.
Frz. C’est bon: Schon gut.
Frz. Non, c’est le docteur Guinet qui le soigne: Nein, ihn behandelt doch Doktor Guinet.
Für Véra
Sebastian Knight wurde am 31. Dezember 1899 in der ehemaligen Hauptstadt meiner Heimat geboren.[1] Eine alte russische Dame, die mich aus einem dunklen Grunde bat, ihren Namen nicht zu nennen, zeigte mir in Paris zufällig einmal das Tagebuch, das sie in vergangenen Zeiten geführt hatte. So ereignislos waren jene Jahre (dem Anschein nach) verlaufen, dass die Sammlung täglichen Einerleis (die immer eine armselige Art der Selbstbewahrung ist) kaum mehr enthielt als kurze Wetterbeschreibungen; und es ist merkwürdig, dass sich auch die persönlichen Aufzeichnungen von Staatenlenkern, welche Bedrängnisse ihre Reiche sonst auch heimsuchen, vorzugsweise an denselben Gegenstand halten. Wie es so geht, wenn man das Glück sich selbst überlässt – hier bot sich mir, was ich bei planmäßiger Suche vielleicht niemals aufgetrieben hätte. So bin ich in der Lage mitzuteilen, dass es ein schöner, windstiller Morgen war, als Sebastian geboren wurde, und zwölf Grad (Réaumur)[2] unter null … Das jedoch ist auch schon alles, was die gute Frau der Niederschrift für wert gehalten hatte. Bei nochmaligem Nachdenken sehe ich eigentlich keine Notwendigkeit, ihre Anonymität zu wahren. Dass sie dieses Buch jemals zu Gesicht bekommt, ist überaus unwahrscheinlich. Ihr Name war und ist Olga Olegowna Orlowa – eine eierbetonte Alliteration, die für mich zu behalten jammerschade gewesen wäre. Ihr trockener Bericht kann dem unbereisten Leser kaum die Freuden eines St. Petersburger Wintertages vermitteln, wie sie ihn beschreibt; den reinen Luxus eines wolkenlosen Himmels, nicht dazu bestimmt, den Körper zu wärmen, sondern allein, dem Auge zu gefallen; das Glitzern von Schlittenspuren im festgestampften Schnee weiter Straßen, mit einer bräunlichen Tönung an den mittleren Spuren, die vom reichlichen Pferdemist herrührte; das bunte Luftballonbündel, das ein geschürzter Händler feilbot; den sanften Bogen einer Kuppel, deren Gold der Anhauch puderigen Frostes getrübt hatte; die Birken in den Parkanlagen, bei denen auch noch der winzigste Zweig weiß umsäumt war; das Scharren und Läuten des winterlichen Verkehrs … Und wie seltsam übrigens auch, wenn einem bei der Betrachtung einer alten Postkarte (wie jener, die ich vor mir auf den Tisch gelegt habe, um das Kind Erinnerung einen Augenblick lang zu unterhalten) zu Bewusstsein kommt, wie die alten russischen Droschken aufs Geratewohl irgendwo und irgendwie abbogen, sodass man statt des geraden und eingedämmten modernen Verkehrsstromes – auf dieser kolorierten Photographie – einer traumweiten Straße ansichtig wird, wo die Droschken kreuz und quer stehen und fahren, unter einem unglaubwürdig blauen Himmel, der sich weiter entfernt automatisch in einen rosa Tupfen mnemotechnischer Banalität auflöst.
Ich war nicht in der Lage, ein Bild von Sebastians Geburtshaus zu beschaffen, aber ich kenne es gut, denn sechs Jahre später wurde ich selber dort geboren. Wir hatten denselben Vater: Bald nach der Scheidung von Sebastians Mutter hatte er wieder geheiratet. Seltsam, dass diese zweite Ehe in Goodmans Tragödie des Sebastian Knight (das Buch erschien 1936, und ich werde Gelegenheit haben, mich näher damit zu befassen) nicht erwähnt wird, sodass ich also für die Leser des Goodman’schen Buches gar nicht existent zu sein scheine – ein falscher Verwandter, ein geschwätziger Hochstapler. Aber in seinem am stärksten autobiographischen Buch (Verlorenes Eigentum) sagt Sebastian selber ein paar freundliche Worte über meine Mutter – und ich meine, sie hat sie wohl verdient. Auch trifft es nicht zu, dass sein Vater, wie es in der britischen Presse nach Sebastians Hinscheiden hieß, in einem 1913 ausgetragenen Duell getötet wurde; vielmehr erholte er sich zusehends von der Schusswunde in seiner Brust, als er sich – einen ganzen Monat später – eine Erkältung zuzog, der seine halb verheilte Lunge nicht gewachsen war.
Er war ein guter Soldat, ein warmherziger, humorvoller, lebhafter Mann mit einem guten Schuss jener abenteuerdurstigen Ruhelosigkeit, die Sebastian als Schriftsteller von ihm erbte. Als sich das Gespräch um Sebastians unzeitigen Tod drehte, soll letzten Winter bei einem literarischen Lunch in South Kensington ein gefeierter alter Kritiker, dessen Wissen und Geistesschärfe ich immer bewundert habe, die Bemerkung gemacht haben: «Der arme Knight! Er hatte eigentlich zwei Perioden – in der ersten war er ein langweiliger Mann, der gebrochenes Englisch schrieb, in der zweiten war er ein gebrochener Mann und schrieb langweiliges Englisch.» Ein hässlicher Stich, und zwar hässlich in mehr als einer Hinsicht, denn es ist allzu leicht, über einen toten Autor hinter den Rücken seiner Bücher zu reden. Ich möchte gerne glauben, dass der Spaßvogel bei der Erinnerung an diesen Witz keinen Stolz empfindet, zumal da er sich weit größere Zurückhaltung auferlegte, als er vor einigen Jahren Sebastian Knights Werk besprach.
Dennoch muss man zugeben, dass Sebastians Leben, obwohl alles andere als langweilig, in gewissem Sinn der enormen Heftigkeit seines literarischen Stils entbehrte. Jedes Mal, wenn ich eins seiner Bücher aufschlage, sehe ich meinen Vater ins Zimmer stürzen – er hatte eine ganz eigene Art, die Tür aufzustoßen und sofort über einen begehrten Gegenstand oder ein geliebtes Wesen herzufallen. Mein erster Eindruck von ihm bleibt immer der atemlose Augenblick, da er mich unversehens vom Fußboden emporriss, während mir noch die Hälfte einer Spielzeugeisenbahn in der Hand hing und mein Kopf den Kristallklunkern des Kronleuchters gefährlich nahe kam. So plötzlich, wie er mich hochgehoben hatte, setzte er mich immer wieder ab, und genauso plötzlich trägt Sebastians Prosa den Leser empor, um ihn dann jäh in das fröhliche Antipathos des nächsten wilden Absatzes fallen zu lassen. Auch scheinen einige der liebsten Scherze meines Vaters in typischen Knight-Geschichten phantastisch aufzublühen, etwa in Albinos in Schwarz oder Der komische Berg (vielleicht seine beste, diese wundervoll absurde Erzählung, die mich immer an ein im Schlafe lachendes Kind denken lässt).
Es war im Ausland, in Italien, soviel ich weiß, dass mein Vater, damals Gardist auf Urlaub, Virginia Knight kennen lernte. Ihre erste Begegnung Anfang der 1890er Jahre stand irgendwie mit einer Fuchsjagd in Rom in Zusammenhang, aber ob meine Mutter mir das erzählt hat oder ob ich mich unbewusst an irgendein verblasstes Photo in einem Familienalbum erinnere, wüsste ich nicht zu sagen. Er warb lange um sie. Sie war die Tochter von Edward Knight, einem begüterten Gentleman; mehr weiß ich nicht von ihm, aber aus dem Umstand, dass meine Großmutter, eine strenge und eigenwillige Frau (ich entsinne mich ihres Fächers, ihrer Handschuhe, ihrer kalten weißen Finger), sich dieser Heirat mit Nachdruck widersetzte und die Legende ihrer Einwände selbst dann noch wiederholte, als mein Vater längst zum zweiten Mal geheiratet hatte, möchte ich schließen, dass die Familie Knight (was auch immer sie darstellte) nicht ganz den Ansprüchen genügte (was auch immer diese gewesen sein mögen), welche die élegants in Russlands Ancien Régime stellten. Ich bin mir auch nicht sicher, ob diese Heirat meines Vaters nicht irgendwie gegen die Traditionen seines Regiments verstieß – jedenfalls begannen seine eigentlichen militärischen Erfolge erst während des Russisch-Japanischen Krieges, also nachdem ihn seine Frau verlassen hatte.
Ich war noch ein Kind, als ich meinen Vater verlor, und erst sehr viel später, nämlich 1922, einige Monate vor ihrer letzten und tödlich verlaufenen Operation, hielt meine Mutter es für richtig, mich einiges wissen zu lassen. Die erste Ehe meines Vaters war nicht glücklich gewesen. Eine seltsame Frau, ein ruheloses, rücksichtsloses Geschöpf – aber ihre Ruhelosigkeit war von anderer Art als die meines Vaters. Seine war ein stetiges Streben, das seinen Gegenstand erst wechselte, wenn es ihn erreicht hatte; ihre war eine halbherzige, launenhafte und ziellose Jagd, die einmal weit am Ziel vorbeischoss, ein anderes Mal es auf halbem Wege vergaß, so wie man seinen Regenschirm in einem Taxi vergisst. Auf ihre Art hat sie meinen Vater wohl gemocht – eine sprunghafte Art, um mich vorsichtig auszudrücken –, aber als es ihr eines Tages in den Sinn kam, dass sie in einen anderen verliebt sein könnte (dessen Namen mein Vater aus ihrem Mund nie zu hören bekam), verließ sie Gatten und Kind so plötzlich, wie ein Regentropfen zur Spitze eines Fliederblattes hinuntergleitet. Das Hochschnellen des verlassenen Blattes, vordem schwer unter seiner glänzenden Last, muss meinem Vater grimmigen Schmerz bereitet haben, und ich male mir nicht gern jenen Tag in einem Pariser Hotel aus, an dem ein ratloses Kindermädchen nur schlecht auf den damals ungefähr vierjährigen Sebastian aufpasste und mein Vater sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, «in einem jener besonderen Hotelzimmer, die sich so gut zum Schauplatz der schlimmsten Tragödien eignen: eine alte polierte Uhr (ihr gewichster Schnurrbart zehn Minuten vor zwei) unter einer Glasglocke auf einem bösartigen Kaminsims, das französische Fenster mit seiner verwirrten Fliege zwischen Tüll und Scheibe und ein einzelner Briefbogen des Hotels auf einer verschmierten Löschpapierunterlage». Das ist ein Zitat aus Albinos in Schwarz und steht im Textzusammenhang in keinerlei Beziehung zu jenem Missgeschick, aber es enthält die ferne Erinnerung an ein missmutiges Kind auf einem kahlen Hotelteppich, das nichts zu tun hat und dem die Zeit sich unheimlich dehnt, eine wuselnde, wuchernde Zeit …
Der Krieg im Fernen Osten verschaffte meinem Vater jene glückliche Betätigung, die ihm zwar nicht half, Virginia zu vergessen, die aber doch wenigstens dazu beitrug, sein Leben wieder lebenswert zu machen. Sein kräftiger Egoismus war nur eine Form männlicher Vitalität und daher durchaus im Einklang mit einem im Grunde großmütigen Charakter. Dauerndes Elend oder gar Selbstzerstörung musste ihm als etwas Schäbiges, eine beschämende Kapitulation vorkommen. Als er 1905 wieder heiratete, fühlte er sicherlich befriedigt, in seinen Händeln mit dem Schicksal die Oberhand gewonnen zu haben.
1908 tauchte Virginia wieder auf. Sie hielt es nirgends lange aus, war unablässig auf Reisen und in jeder beliebigen kleinen Pension ebenso gut zuhause wie in einem teuren Hotel, denn zuhause sein bedeutete für sie nur die Annehmlichkeit dauernden Wechsels. Von ihr erbte Sebastian seine seltsame, fast romantische Vorliebe für Schlafwagen und die großen europäischen Expresszüge, «das leise Knarren glänzender Holztäfelung in der blauschattigen Nacht, das lange traurige Seufzen der Bremsen auf vage erahnten Bahnhöfen, das Hochgleiten eines gemusterten Ledervorhangs, das dem Blick einen Bahnsteig freigibt, einen Mann, der Gepäck vor sich her karrt, die milchige Lichtkugel einer Lampe, um die ein bleicher Nachtfalter taumelt; die Schläge eines unsichtbaren Hammers, der die Bremsen prüft; die Gleitbewegung in die Dunkelheit; den flüchtigen Anblick einer einsamen Frau, die aus ihrer Reisetasche auf dem blauen Plüsch eines beleuchteten Abteils silbrig glitzernde Dinge in die Hand nimmt».
An einem Wintertag traf sie ohne jede Ankündigung mit dem Nordexpress ein und verlangte in einem knappen Brief, ihren Sohn zu sehen. Mein Vater war zu einer Bärenjagd aufs Land gefahren; so brachte meine Mutter Sebastian in aller Stille zum Hotel d’Europe[3], wo Virginia für einen einzigen Nachmittag abgestiegen war. Dort in der Lobby sah sie die erste Frau ihres Gatten, schlank, ein wenig eckig, mit einem kleinen bebenden Gesicht unter einem großen schwarzen Hut. Sie hatte ihren Schleier über die Lippen gehoben, um den Knaben zu küssen, und kaum hatte sie ihn berührt, da brach sie in Tränen aus, als wäre Sebastians warme zarte Schläfe die eigentliche Quelle und Sättigung ihres Leids. Gleich darauf zog sie ihre Handschuhe an und erzählte meiner Mutter in schlechtem Französisch eine sinnlose und vollkommen gleichgültige Geschichte von einer Polin, die im Speisewagen versucht hatte, ihr die Handtasche zu stehlen. Dann drückte sie Sebastian eine kleine Schachtel mit kandierten Veilchen in die Hand, lächelte meiner Mutter nervös zu und folgte dem Gepäckträger, der ihre Sachen hinausschaffte. Das war alles, und im Jahr darauf starb sie.
[4][5]