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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2019

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Wolfgang Kaehler/Getty Images

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ISBN 978-3-644-00192-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00192-3

Ich lehne mich in meinem Sitz ein wenig vor und schaue aus dem Fenster. Der Flieger nach Peru hat noch nicht die Reisehöhe erreicht. Unter uns sind Straßen, Häuser und Felder zu erkennen, Kühe auf einer Weide, ab und zu Dörfer, weiter hinten eine Stadt. Der Vergleich ist gar nicht einmal so schlecht, überlege ich. Alles, was ich von hier aus erkennen kann, habe ich auch bei Ameisen beobachtet: feste Wege, eindrucksvolle Bauten, Landwirtschaft, Viehhaltung. Ich lasse mich wieder in das Polster sinken. Wenn man ein wenig nachdenkt, reichen die Parallelen noch viel weiter. Wie wir Menschen leben Ameisen in Staaten. In friedlichen Zeiten erledigen sie ihre Aufgaben in Arbeitsteilung. Jede hat ihren Job, von den Kinderpflegerinnen in der Krippe über die Architektinnen, Bauarbeiterinnen und Haushälterinnen im Nest bis hin zu den Jägerinnen und Sammlerinnen, die dafür sorgen, dass alle ernährt werden. Doch auch bei Ameisen währt der Frieden nicht ewig. Nachbarn geraten in Streit über den Verlauf der Reviergrenze und führen erbitterte Kriege miteinander. Invasoren überrennen nichtsahnende Völker. Schwächere werden verschleppt und versklavt. Ganze Imperien entstehen und vergehen.

Wie bei uns Menschen.

Natürlich bedeuten die Parallelen nicht, dass Ameisen und Menschen gleich oder Ameisen gar die besseren Menschen wären. Wer so denkt, geht in die Irre. Viele scheinbare Gemeinsamkeiten sind sogar nur dadurch entstanden, dass wir Begriffe aus unserer menschlichen Gesellschaftsordnung auf die Organisationsstrukturen der Ameisen übertragen haben. So hat beispielsweise die Ameisenkönigin praktisch nichts mit einer Königin unserer Monarchien gemein. Oder wüssten Sie etwa von einer Königin, die buchstäblich die Mutter all ihrer Untertanen ist? Auch die typische Ameisenarbeiterin werden wir in unseren Fabriken nicht finden. Trotzdem benutzen wir in beiden Fällen die gleichen Bezeichnungen, weil wir keine besseren Wörter haben und neue Fachbegriffe alles nur unnötig kompliziert machen würden. Und dann beschreiben die Ausdrücke viele Eigenschaften der Ameisen doch erstaunlich zutreffend. Wir sollten nur im Kopf behalten, dass sie eben nicht völlig deckungsgleich mit ihrer Bedeutung in menschlichen Gesellschaften sind.

Denn es lässt sich nicht leugnen: Es gibt sie, die Parallelen zwischen Mensch und Ameise. In der Regel sind diese Gemeinsamkeiten auf unterschiedlichen Wegen entstanden – bei den Ameisen als Resultat der natürlichen Selektion, bei uns Menschen zusätzlich unter dem Einfluss von Zivilisation, Technik und einem moralischen Wertesystem –, aber häufig liegen ihnen ähnliche Problemstellungen zugrunde: Wie können viele Individuen auf engem Raum zusammenleben? Wie konkurrieren Gruppen miteinander um Ressourcen? Wie behauptet man sich in einer Umwelt voller Gefahren?

Gemeinsamkeiten und Unterschiede – vielleicht ist es gerade diese Kombination, die Ameisen für uns Menschen so faszinierend macht.

Der auffälligste Unterschied zwischen Ameisen und Menschen liegt sicherlich in der Größe: Ameisen sind so viel kleiner als wir. Die größten Exemplare erreichen die Ausmaße von Maikäfern, doch die kleinsten sind nicht einmal so groß wie ein i-Pünktchen auf dieser Seite. Eine winzige Pharaoameise Monomorium pharaonis könnte ohne weiteres einer Vertreterin der Rossameise Camponotus gigas auf dem Kopf herumspazieren – ein Größenverhältnis wie zwischen Maus und Mensch.

Bei den Staaten der Ameisen stoßen wir auf ähnliche Verhältnisse wie etwa zwischen San Marino und China. Die Kolonien der Schmalbrustameisen Temnothorax umfassen beispielsweise nur ein paar Dutzend Tiere und passen vollständig in eine Eichel. Völker von Blattschneiderameisen sind dagegen bis zu drei Millionen Tiere groß und leben in unterirdischen Nestern von den Dimensionen eines Hauses. Komplett ausgestattet mit umfangreichen Räumlichkeiten, Gängen, Belüftungsanlagen, Feuchtigkeitsregelung, Abfallentsorgung und Klimakammern für die Pilzzucht. Im Prinzip eine Millionenmetropole wie Berlin, nur eben vollständig unter der Erde. Ob wir Menschen ebenfalls in der Lage wären, eine ähnliche unterirdische Welt zu erschaffen und am Leben zu erhalten?

Bei all den Vergleichen dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass wir beim Menschen stets nur von einer Art sprechen, dem Homo sapiens, während wir es bei den Ameisen mit Tausenden verschiedener Arten zu tun haben, die teilweise sehr unterschiedlichen Lebensstilen frönen. Darum gibt es für fast alle Verhaltensweisen, denen wir in diesem Buch begegnen werden, Ausnahmen und Varianten, oder sie treten überhaupt nur bei einigen wenigen Arten auf. Aber in manchen Dingen sind sich (beinahe) alle Ameisenarten einig. Und diesen Gemeinsamkeiten verdanken die Ameisen ihre einzigartige Stellung auf der Erde.

Das Erfolgsgeheimnis der Ameisen liegt zum großen Teil in ihrer Lebenseinstellung begründet: «Frag nicht, was dein Volk für dich tun kann! Frag, was du für dein Volk tun kannst!» Eine einzelne Ameise ist ohne ihre Kolonie tatsächlich vollkommen aufgeschmissen, aber jederzeit bereit, sich für ihr Volk aufzuopfern. Selbst die mächtigen Arbeiterinnen der tropischen «Gewehrkugelameise» Paraponera clavata, die so groß werden wie Hornissen und deren Stich so schmerzhaft ist, dass er einen Menschen in den Wahnsinn treiben kann, gehen innerhalb weniger Tage ein, wenn sie ihre Kolonie nicht wiederfinden. Treten Ameisen jedoch als Gemeinschaft auf, kann sie kaum etwas aufhalten. Deshalb verlassen selbst Menschen ihre Hütten, wenn eine Kolonne von tropischen Treiberameisen auf einem Raubzug durch ein Gehöft oder ein Dorf zieht. Wehe dem armen Haustier, das die Bewohner vergessen und eingesperrt oder angebunden zurücklassen.

Ein weiterer Teil ihres Erfolgsgeheimnisses liegt in der schieren Zahl der Ameisen. Kein Mensch weiß, wie viele Ameisen es wirklich auf der Welt gibt. Manche Wissenschaftler schätzen, dass es um die zehn Billiarden sein könnten. Wenn das stimmen sollte, kämen auf jeden Menschen eine Million Ameisen. Nehmen wir an, dass die Tiere im Schnitt einen Zentimeter lang sind, dann könnten alle Ameisen zusammen eine Kette bilden, die 334-mal von der Erde bis zur Sonne und zurück reichen würde. Oder etwa zehnmal weiter als bis zum Pluto, der früher als äußerster Planet des Sonnensystems galt. Diese Zahlenspielereien lassen erahnen, dass jeder noch so winzige Beitrag einer einzelnen Ameise durch die ungeheure Menge der Tiere zu einem bedeutenden Faktor werden kann. Eine einzelne Ameise mag wenig fressen, alle Ameisen zusammen vertilgen hingegen jedes Jahr unzählige Tonnen anderer Insekten. Wo ein einzelnes Tier einige wenige Sandkörner verschiebt, versetzt die Gesamtheit unterm

Ameisen krabbelten schon zu Füßen der Dinosaurier. Gelegentlich gerieten sie dabei in einen Harztropfen, der später zu Bernstein wurde.

Wer ist hier der Herrscher der Welt?

Heute halten wir Menschen uns für die Herrscher der Welt. Dabei könnte die Erde ganz gut auf uns verzichten. Entfernen Sie in Gedanken einfach mal alle Menschen vom Planeten, und sehen Sie, was danach passiert. Ganze Bücher wurden zu diesem Thema geschrieben, und sie alle kamen zu dem Schluss, dass sich keine globalen Katastrophen ereignen würden. Im Gegenteil: Die Natur würde sich mit der Zeit von unserer gedankenlosen Herrschaft

Nicht so die Ameisen. Auch bei ihnen gibt es Arten, die Monokulturen betreiben und das Ökosystem in ihrem Revier kräftig umkrempeln. Aber weil es eben nur einzelne Arten sind und diese nicht überall auf der Welt vorkommen, agieren die Ameisen insgesamt nachhaltiger. Ihre Handlungsweisen haben sich langsamer entwickelt, sodass die Ökosysteme sich darauf einstellen und sie sogar als wesentliche Bestandteile in die Kreisläufe integrieren konnten. Ohne Ameisen nähmen beispielsweise Insektenarten, die ihnen als Beute dienen, in kürzester Zeit überhand und fräßen buchstäblich die Wälder und Wiesen leer. Tote Tiere würden nicht mehr entsorgt, sondern an Ort und Stelle verfaulen. Die Böden würden zu wenig gelüftet, Nährstoffkreisläufe ins Stocken geraten. Verschwänden die Ameisen von einem Moment auf den anderen, würden Ökosysteme auf der ganzen Welt ins Wanken geraten und bräuchten etliche Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte, um zu einem neuen Gleichgewicht zu finden. Ohne Ameisen wäre die Natur für lange Zeit instabil und würde nie wieder so aussehen wie vorher. Wer sind also die eigentlichen Herrscher der Erde?

Fallensteller, Sanitäter, Sklavenhalter … Ameisen stecken voller Überraschungen. In diesem Buch nehmen mein Co-Autor und ich Sie mit auf eine Reise zu den faszinierendsten und bedeutsamsten Tieren der Welt. Es geht nach Peru, Malaysia, Nordamerika und in unsere europäischen Wälder. Zu Königinnen, die in ihrem Staat nichts zu sagen haben. Zu weiblichen Bodyguards, die auf ihren Schutzbefohlenen reiten, um Angreifer abzuwehren. Und zu Amazonen, die die Kinder anderer Arten rauben, weil sie die Hausarbeit nicht selbst erledigen wollen. Wir erzählen Ihnen, warum sich manche Ameisenköniginnen vom Blut ihrer eigenen Kinder ernähren. Weshalb einige Arbeiterinnen als lebende Konserven bereitwillig ihr Leben geben, damit ihre Schwestern nicht hungern müssen. Und warum Ameisen nicht bemerken, wie dreiste Käfer vor ihren Augen den Ameisennachwuchs verzehren.

Sie werden dabei sein, wenn ich mitten in der Nacht vor einem Zug von Treiberameisen stehe. Wenn Blattschneiderameisen die Laborausstattung zerlegen. Und wenn meine Mitarbeiter ein Ameisengehirn präparieren. Sie erfahren von verblüffenden Parallelen zwischen den Gesellschaften der Ameisen und der Menschen. Und warum wir so gleich und dennoch völlig verschieden sind.

Klein mögen Ameisen sein, aber sie sind mindestens ebenso oho!

Natürlich gibt es auch in Deutschland Ameisen. Wenn Sie jemals den falschen Platz für ein Picknick gewählt haben, wissen Sie nur zu gut, dass Ameisen im Nu jede Süßigkeit finden und keine Hemmungen haben, sich selbst zum Essen einzuladen. Auf der Wiese, im Wald, im Garten, manchmal machen sie sich sogar in unseren Häusern breit. Ameisen sind praktisch überall. Sie sind zahlreich, und sie sind artenreich. Allein in Deutschland gibt es über 100 Arten. Aber das ist gar nichts im Vergleich zu den 16000 Arten, die weltweit über den Globus krabbeln. Mindestens. Eine unbekannte Anzahl weiterer Ameisenarten haben wir nämlich vermutlich noch gar nicht entdeckt, weil sie zu verborgen leben oder zu selten sind. Diese geheimen Arten aufzuspüren ist das Ziel vieler Ameisenforscher, wenn sie losziehen, um durch Dschungel, Steppen, Grasebenen oder Wüsten zu streifen, wo sie sorgfältig jeden Stein umdrehen, jedes Blatt wenden und jeden Ast abklopfen.

Und dann sind da noch die «besonderen» Ameisen, die eben nicht bei uns heimisch sind. Auch sie üben auf Forscher einen ganz besonderen Reiz aus. Ob es nun Glück oder Pech ist, mag Ansichtssache sein, jedenfalls sind die heimlichen Superstars der Ameisen, wie beispielsweise Blattschneiderameisen und Treiberameisen, in unseren Breiten in freier Natur nicht zu finden. Um

Aber wie unsere Studienobjekte sind wir Ameisenforscher oder Myrmekologen ausgesprochen hartnäckig. Und so findet sich allem papiernen Widerstand zum Trotz jedes Jahr ein bunt gemischtes Team aus Studierenden, Doktoranden, Postdocs und Professoren zusammen, um in den entlegensten Winkeln der Erde zwischen Klapperschlangen, Krustenechsen und Blutegeln nach Ameisen zu suchen, sie auszubuddeln und am Zoll freudestrahlend den verdutzten Beamten die zahllosen Genehmigungen vorzulegen, die nötig sind, um für eine reibungslose Aus- und Einreise der kleinen Krabbler zu sorgen.

Meinetwegen dürfen Sie gerne den Kopf schütteln, aber ganz ehrlich: Für mich gibt es nichts Schöneres auf der Welt!

Ein einig Volk von Schwestern

Sobald der Papierstau aufgelöst und der Flieger gelandet, der Geländewagen gemietet und der umgestürzte Baum mit vereinten Kräften von der Straße gerollt, das Langboot kentersicher bepackt und bei einsetzender Dämmerung mit der Taschenlampe im Bug der beste Weg durch die Strömung gefunden ist, kann es auch schon losgehen mit der Suche nach den Ameisen.

Wobei Ameise selbst innerhalb derselben Art nicht gleich Ameise ist. Die Ameisengesellschaft ist streng hierarchisch

Beim Menschen setzt Mutter Natur bekanntermaßen auf Chromosomen: Zwei X-Chromosomen lassen aus der befruchteten Eizelle eine Tochter werden, ein X und ein Y ergeben einen Sohn. Den Rest erledigen dann die Hormone. Das ist für uns so selbstverständlich, dass wir versucht sind zu glauben, es wäre bei allen Tieren so. In Wahrheit ist die Natur aber viel einfallsreicher. Krokodile lassen beispielsweise die Temperatur entscheiden: Lagern die Eier kühler als 30 °C, gibt es nur Mädchen, oberhalb von 34 °C ausschließlich Jungs und dazwischen beides gemischt. Bei Anemonenfischen, zu denen der Clownfisch Nemo aus dem Kinofilm gehört, kommt es auf das Alter an: Alle Tiere starten als Männchen, haben aber als Erwachsene die Chance, ihr Geschlecht innerhalb einer Woche umzuwandeln, wenn das amtierende Weibchen der Gruppe stirbt. Die tropische Milbenart Brevipalpus phoenicis zeigt unfreiwilligerweise eine noch verrücktere Variante der Geschlechtsbestimmung: Sie besteht zur Gänze nur aus Weibchen, weil ein Bakterium während der Entwicklung bei allen Männchen eine Geschlechtsumwandlung vornimmt.

Auch bei Ameisen kommt es nicht so sehr auf die einzelnen Chromosomen an. Stattdessen dreht sich alles darum, ob die Eizelle befruchtet wird oder nicht. Gab es die Verschmelzung von Eizelle und Spermium, schlüpft später eine weibliche Ameise,

Ja, bei den Ameisen hat tatsächlich nur die Königin das Recht auf ein Sexualleben – und das meist nur ein einziges Mal. Während ihres Hochzeitsflugs von wenigen Stunden paart sie sich meist mit einem einzelnen, seltener mit mehreren Männchen und sammelt dabei fleißig Spermien für ihr ganzes Leben. Die Samen bewahrt sie in einer speziellen Tasche zwischen ihren Eierstöcken auf, wo sie über viele Jahre hinweg – eine Königin kann bis zu 30 Jahre alt werden – auf wundersame Weise frisch bleiben. Aus diesem Vorrat befruchtet die Königin fortan so gut wie jedes Ei, das sie legt. Und da aus befruchteten Eiern nun einmal weibliche Ameisen schlüpfen, besteht ein Ameisenvolk fast ausschließlich aus weiblichen Tieren.

Doch dem Volk von Schwestern königlicher Abstammung fehlt dummerweise das Personal. Dementsprechend müssen die Schwestern alles selbst erledigen, was in einem Ameisenstaat so anfällt. Schwestern nehmen die frisch gelegten Eier entgegen und umsorgen diese. Schwestern füttern die Larven, damit sie

Und so stellen ausgerechnet die unscheinbaren Arbeiterinnen die vielseitigste und interessanteste Kaste innnerhalb der Ameisengesellschaften dar. Sie sind es, die Prachtbauten errichten, Landwirtschaft betreiben, Raubzüge unternehmen und Kriege führen. Dabei fangen auch die größten Architektinnen und Kriegerinnen ihre Karriere ganz bescheiden an: als Ammen.

Familienfoto der Rossameise Camponotus discolor. Die große Königin (oben) wirft nach dem Hochzeitsflug ihre Flügel ab, während das Männchen (links) kurz nach dem Paarungsflug stirbt. Die Arbeiterinnen (unten) erledigen alle Aufgaben in der Kolonie mit Ausnahme des Eierlegens.

Eine gewöhnliche Durchschnittsarbeiterin schuftet sich im Laufe ihres Lebens buchstäblich von drinnen nach draußen. Ihr Dasein beginnt als Ei, aus dem eine Larve schlüpft, die wie ein weißer, kurzer Wurm aussieht und ständig Hunger hat. Sobald sie ausreichend gewachsen ist, wandelt sich die Larve in eine starre Puppe um. Das ist die Phase, in welcher der gesamte Körper auf geradezu magische Weise vom «Wurm» zur Ameise wird. Ziemlich genau wie bei Schmetterlingen, die sich von der Raupe zum Falter wandeln – bloß ohne Flügel und nicht ganz so bunt. Übrigens ist die Puppe in ihrer Hülle das, was Laien meistens als «Ameiseneier» bezeichnen. Die echten Eier sind aber viel kleiner, wohingegen die Puppen in etwa schon die Maße der ausgewachsenen Verwandten haben. Sobald die Metamorphose abgeschlossen ist, schlüpft die Ameise. Und wird sogleich für die Arbeit eingespannt.

Die junge Arbeiterin ist noch nicht ganz trocken, da muss sie als Erstes in der Krippe mit anpacken. Es gilt, die Königin zu füttern und sie bei der Eiablage zu unterstützen. Jedes einzelne Ei will gehegt und gepflegt werden, was bedeutet, die frisch angelernte Amme muss das Ei sauber halten und dafür sorgen, dass es stets in einer Kinderstube mit der richtigen Temperatur und Luftfeuchtigkeit liegt, damit es weder erfriert noch verschimmelt. Neben den Eiern müssen auch die Larven versorgt und obendrein gefüttert werden. Sofern Sie Kinder haben, dürfte Ihnen das Procedere bis hierher bekannt vorkommen. Immerhin brauchen die Larven nicht gewindelt zu werden, denn in diesem Stadium haben die Tiere noch keinen After. Was oben reingeht und nicht verwertet wird, sammelt sich in einem Teil des Mitteldarms, der Kotsack genannt wird. Auf diese Weise schmutzen sich die Larven nicht gegenseitig ein, und die Brutkammer bleibt schön sauber. Den Kot werden die Larven erst kurz vor ihrer Verpuppung los, wodurch es natürlich einen dunklen Fleck in der Puppenhülle gibt.

Die Larven der Vampirkönigin überleben ihr Dasein als royaler Snack immerhin. So viel Glück haben die Eier der Arbeiterinnen nicht. Die jungen Arbeiterinnen der meisten Ameisenarten verfügen nämlich durchaus über entwickelte Eierstöcke. Solange es im Nest eine fruchtbare Königin gibt, verzichten sie aber darauf, sich selbst fortzupflanzen. Nur manchmal legen sie trotzdem Eier, aus denen sich dann aber keine Ameisen entwickeln, sondern sie werden zu … Ameisenfutter. Diese sogenannten trophischen Eier sind besondere Leckerbissen für die Königin, die auf die darin

Das Wort «Babynahrung» hat bei Ameisen somit gelegentlich eine ganz wörtliche Bedeutung. Was aus menschlicher Perspektive erschreckend klingt, ist in Wahrheit aber eine ausgeklügelte Überlebensstrategie. Ohne Gefriertruhe und rund um die Uhr geöffneten Supermarkt ist es für Ameisen ungeheuer schwierig, verderbliche Nährstoffe aufzubewahren, bis sie gebraucht werden. Die Lösung des Problems sind lebende «Konserven» wie Eier, Larven und Puppen. Sie werden geopfert, damit das Volk gedeiht und wächst. So gesehen, profitieren indirekt sogar die jungen Märtyrerinnen vom Verwandtenkannibalismus, weil mit dem Volk wenigstens auch ihr Genmaterial weiterlebt.

Himmelfahrtskommando Außendienst

Je nach Ameisenart erstreckt sich der Dienst in der Kinderkrippe über wenige Wochen bis zu einigen Monaten. Dann ist die nächste Generation so weit, dass sie den Babysitterjob übernehmen kann. Unsere nicht mehr ganz so junge Arbeiterin widmet sich nun verstärkt dem Haushalt und den Reparaturen am Nest. Dafür streift sie im Bau herum und erledigt alle Aufgaben, auf die sie unterwegs stößt: Sie wahrt die Nesthygiene, indem sie Bakterien und Pilze vernichtet, sie räumt Steinchen und Abfälle weg, legt neue Nestkammern an, gräbt Tunnel, hält Belüftungskanäle frei … Und manchmal faulenzt sie. Insbesondere junge Arbeiterinnen im Innendienst legen durchaus mal eine Pause ein und stehen unbeweglich herum. Einfach so. Vielleicht, weil gerade nichts anliegt, denn sobald eine Aufgabe zu erledigen ist, packen sie emsig an, wie es sich für eine Ameise gehört. Vielleicht hat es in letzter Zeit einfach so viel Futter gegeben, dass die Königin Unmengen von Eiern gelegt hat und es für die vielen daraus geschlüpften

Erst in der letzten Etappe ihres Lebens bekommt die Arbeiterin das Tageslicht zu sehen. Im Außendienst zeigt sie endlich das typische Verhalten, das wir alle mit der Vorstellung von Ameisen verbinden: Wie aufgezogen läuft sie unermüdlich auf besonderen Wegen herum, zerrt tote Insekten mit sich, krabbelt in Picknickkörbe und beißt uns empfindlich in die Waden, wenn wir ihrem Bau zu nahe kommen.

Während wir uns verärgert über die schmerzende Stelle reiben, übersehen wir, dass das Leben außerhalb des Nestes für die Ameisen selbst extrem gefährlich ist. Räuberische Insekten wie Käfer, Wespen und vor allem Ameisen eines anderen Volkes machen sich ebenso gerne über die Arbeiterinnen her wie Spinnen, Eidechsen und viele Vögel. Hinzu kommt das Risiko, bei heißem Wetter zu vertrocknen oder sich auf einem zu weiten Ausflug auf dem Rückweg zu verlaufen. Die mittlere Überlebenszeit außerhalb des Nests liegt deshalb beispielsweise für Wüstenameisen lediglich bei rund zwei Wochen. Nicht gerade lang, wenn wir bedenken, dass manche Arbeiterinnen unter Laborbedingungen ein bis drei Jahre alt werden können, bei der Grauschwarzen Sklavenameise Formica fusca sogar bis zu acht Jahre. Vielleicht ist das ja der Grund, warum Ameisen es immer so eilig haben, wenn sie draußen unterwegs sind.

Mögen die Gefahren auch gewaltig sein, es muss dennoch jemand raus und Futter für die gesamte Kolonie besorgen. Junge Tiere haben noch reichlich Arbeitsleben vor sich und werden deshalb nicht dem hohen Risiko ausgesetzt. Diese Aufgabe fällt den älteren Arbeiterinnen zu, weshalb unter Ameisenforschern

Hausfriedensbruch im Namen der Wissenschaft

Die Arbeiterin, die emsig zwischen Futterquelle und Nest hin und her eilt, ahnt natürlich nicht, dass der große Schatten über ihr ein Trupp von Ameisenforschern ist, der von Mücken zerstochen und nun höchst erfreut ist, endlich auf eine Ameise gestoßen zu sein. Am Tag ist es schon schwierig, die kleinen Futtersucherinnen auf ihren geheimen Wegen durch Laub und Gestrüpp nicht aus den Augen zu verlieren. So richtig abenteuerlich wird es aber in der Nacht. Die Nester von nachtaktiven Ameisen müssen tagsüber unter einer Art Tarnkappe verborgen sein, jedenfalls sind sie trotz jahrelanger Sucherfahrung auch bei hellstem Sonnenschein einfach nicht aufzuspüren. Deshalb passen wir bei der Jagd auf Treiberameisen in Malaysia oder Blattschneiderameisen in Peru unseren Aktivitätsrhythmus an die kleinen Krabbler an: Geschlafen wird bis zum Mittag, wenn die Hitze uns Forschern den Schlaf verleidet, anschließend wird das Protokoll der letzten Pirsch geschrieben. Schnell noch ein kräftiger Tee zum Wachbleiben, und

Manchmal hören wir die Ameisen, bevor wir sie sehen. Das Getrappel Hunderter Füße auf dem Laub klingt wie ein feines Knistern. Und dann fällt uns auf, dass sich der ganze Boden bewegt. Wenn Treiberameisen umziehen, wandert das gesamte Volk mit Sack und Pack in einem breiten Band zu einem neuen Nistplatz. Über mehrere Stunden marschieren sie an uns vorbei, ohne uns im mindesten zu beachten. Wenigstens denken wir das anfangs, denn in der Regenzeit tragen wir Gummistiefel, sodass es ein paar Minuten dauert, bis die Wachtposten zu den empfindlichen Körperpartien vorstoßen. Spätestens dann wird es allerhöchste Zeit, einen Schritt zur Seite zu machen und das Spektakel aus sicherer Entfernung zu verfolgen.

Die Begegnung mit Blattschneiderameisen verläuft weniger zwickend und zwackend. Ihre Kolonne erstreckt sich oft über rund 80 Meter und führt auf gut ausgebauten Wegen quer durch den Dschungel ohne Umschweife einen Baum empor. Spezielle Reinigungstrupps sorgen dafür, dass nicht das kleinste Zweiglein auf der Strecke liegen bleibt und Behinderungen oder stockenden Verkehr verursacht. So effizient wünsche ich mir die Instandhaltung der deutschen Autobahnen. Auf dem Hinweg laufen die Ameisen unbeladen, doch auf dem Rückweg tragen sie grüne Blattstücke wie Fahnen in ihren Kieferzangen, den Mandibeln. Manchmal ernten sie aber auch Blütenblätter, sodass vor unseren Augen rosarote Kolonnen über den Waldboden ziehen. Wir werden uns in einem späteren Kapitel ausführlicher mit dem Zweck dieses Fahnenmeeres beschäftigen. Jetzt folgen wir erst einmal dem Zug und lassen uns zum Eingang des Nestes führen. Denn das ist unser Ziel im Namen der Wissenschaft: Wir wollen ganze Völker entführen und mitnehmen in unsere heimischen Labore. Und ja: Ich weiß, das ist gemein. Aber glauben Sie mir: Manchmal geht es nicht anders. Im Prinzip würden wir Ameisenforscher

Für andere Studien fehlen uns Menschen schlichtweg die passenden Sinne. Im Kapitel «Kommunikative Sinnlichkeit» werde ich Ihnen erzählen, wie sich Ameisen untereinander über chemische Signale verständigen, die unseren Nasen entgehen. Mit modernen Analysemethoden können wir die Duftstoffe zwar nachweisen, aber schleppen Sie einmal ein Massenspektrometer durch den Dschungel! Und schließlich können wir im Labor Experimente aufbauen, die in der Natur nicht zu realisieren wären. Oder glauben Sie, es würde im Urwald jemand auf den Ruf reagieren: «Jetzt alle Futterpflanzen und Beuteinsekten mal rechts vom Nest versammeln, bitte»? Im Labor können wir hingegen nach Herzenslust Labyrinthe erstellen, Hindernisparcours aufbauen und falsche Duftspuren auslegen.

Wenn wir die Ameisen verstehen, schützen oder auch in Einzelfällen bekämpfen wollen, müssen wir also notgedrungen hin und wieder einige entführen. Was die Ameisen selbst davon halten, geben sie uns mit Stichen und Bissen deutlich zu verstehen. Als Ameisenforscher hat man es auch nicht immer leicht.

Aus Sicht der Ameisen geht es bei unseren Sammelaktionen um alles oder nichts. Und so kämpfen sie auch. Genau genommen kämpfen Ameisen immer um alles oder nichts, auch wenn es sie das Leben kostet, was unser Vorhaben nicht wirklich einfacher macht. Ihr Waffenarsenal umfasst kräftige Kiefer, ätzende Säure und manchmal zusätzlich einen Giftstachel. Ja, viele Ameisenarten verfügen über einen Stachel! Zwar sind die bei uns besonders häufigen Schwarzgrauen Wegameisen und die Roten Waldameisen nicht damit ausgestattet, doch gerade so unscheinbare Winzlinge wie Rasenameisen und Schmalbrustameisen vermögen mit ihren Stacheln unmissverständlich ihren Unmut auszudrücken.

Dass Ameisen ziemlich unangenehm werden können, haben Sie bestimmt schon irgendwann selbst erfahren müssen. Es wird Sie deshalb sicherlich freuen, wenn ich Ihnen nun auch mit wissenschaftlicher Genauigkeit mitteile, wie schmerzhaft Ihr Erlebnis gewesen ist.

Die quantitative Bestimmung der Stichschmerzen verschiedener Insekten ist eine Spezialität des US-Amerikaners Justin Schmidt, der nach mehr als 1000 peinvollen Begegnungen mit den Stacheln von über 150 verschiedenen Arten eine Skala aufgestellt hat, die ihm zu Ehren als Schmidt Sting Pain Index (Schmidt-Stichschmerz-Index) bezeichnet wird. Sie reicht von 1,0 bis 4,x – wobei das kleine x wohl andeuten soll, dass der Schmerz die Skala gesprengt hat. Ganz unten stehen Stiche, die lediglich unangenehm und bereits nach fünf Minuten vergessen sind. Schmidt beschreibt sie als «nahezu fruchtig» und vergleicht sie mit dem etwas zu enthusiastischen Biss eines Liebhabers in das Ohrläppchen oder einem schwachen elektrischen Schlag, nachdem man über einen Flokatiteppich gelaufen ist. Die amerikanischen Feuerameisen Solenopsis xyloni machen sich in dieser Intensität bemerkbar. Ein gutes Stück heftiger wird es, wenn Knotenameisen wütend sind.

Doch das ist alles nichts im Vergleich zum Stich der südamerikanischen Paraponera clavata