Die englische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel «Time to Think. Listening to Ignite the Human Mind» bei Ward Lock Cassell Illustrated, a division of Octopus Publishing Group Ltd., London.
Deutsche Erstausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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«Time to Think» Copyright © 1999 by Nancy Kline
Redaktion Bernd Jost
Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63179-5 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-57011-5
www.rowohlt.de
Alle Seitenangaben beziehen sich auf die Seitenzahlen der Printausgabe
ISBN 978-3-644-57011-5
Für Christopher,
der selbst ein Thinking Environment ist
Zum Entstehen von «Time To Think» haben viele Menschen beigetragen. Dabei möchte ich mich für die Hunderte von Menschen bedanken, deren Teilnahme an Kursen und Thinking Sessions in den letzten Jahrzehnten die Ergebnisse ermöglicht haben, die auf diesen Seiten erläutert werden.
Mein besonderer Dank gilt: Jo Adams, Caroline Allen, Tina Breene, Helen Byrne, Frances Fitzgerald, Jane Fitzgerald, Sara Hart, Vanessa Helps, Nancy Hutson, Margaret Legum, Carol Marzetta, Carol Painter, Jerry Polanski, Janice Rous, Christopher Spence und Shirley Wardell für ihre besondere Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts.
Merl Glasscock danke ich dafür, dass sie sofort und unmissverständlich gesagt hat, dass Time To Think, der neue Name meiner Beratungsfirma, auch der Titel des Buches sein sollte. Das hat mir das Schreiben ermöglicht.
Der Begriff Thinking Environment, nun ein fester Bestandteil in diesem Verhaltensmodell, war zu anderer Zeit Thema einer frustrierenden Suche meinerseits. Lovell Glasscock löste dieses Problem, indem er die richtige Frage stellte und sich die Antwort aufmerksam anhörte. Dann sagte er ganz klar: «Warum nennst du es nicht Thinking Environment?» Dafür werde ich immer dankbar sein.
Ganz besonderer Dank an meine Lektorin Deborah Taylor vom Verlag Cassell PLC, die an dieses Buch glaubte, sich dafür einsetzte und für mich in jeder Phase ein Thinking Environment schuf.
Schließlich hatte mein Ehemann Christopher Spence von den vorsichtigen, zerbrechlichen Anfängen dieser Arbeit vor fünfzehn Jahren bis hin zu dem heute vorliegenden klaren Aufbau des Thinking-Environment-Prozesses einen starken Einfluss und eine Leitfunktion. Seine eigene Art der Kommunikation und sein Führungsstil sind Verkörperungen dieser Theorie. Er ist ein Pionier, der die Prinzipien und die Praxis des Thinking Environment in die Bereiche des Gesundheitswesens, der Organisationen, der Politik, Freundschaft und Ehe einbringt. Durch das Schreiben dieses Buches hoffe ich, etwas von der Freude ausgedrückt zu haben, die wir in der gemeinsamen Beobachtung und im Besprechen dieses Prozesses erfahren haben.
Der Rowohlt Verlag dankt Marion Miketta, Thinking Environment Coach und Facilitator, für ihre aufmerksame Durchsicht der deutschen Übersetzung und ihre Hilfe bei der richtigen Formulierung der Fachterminologie.
Mit dieser deutschen Ausgabe von «Time to Think» heiße ich Sie in der Zukunft willkommen. Die Zukunft der Arbeitswelt, der Gruppen, des Coaching, der Beziehungen, der Schule und Ausbildung wird, so scheint es jetzt, in großem Umfang so aussehen. Es muss es einfach. Und wir wissen jetzt, dass es möglich ist.
Achtzehn Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe und fünfunddreißig Jahre nach meinen ersten Lösungsversuchen der Frage «Wie können wir uns gegenseitig dabei helfen, eigenständig zu denken?» berichten Tausende von Leuten aus den meisten Teilen der Welt von atemberaubenden Ergebnissen und von der auch im Alltag umfassenden Anwendbarkeit dieser zehn Regeln des Zusammenseins, die ich «Thinking Environment» nenne.
Menschen und Teams sparen Zeit, sie sparen Geld, sie sparen Energie. Vor allem bewahren sie die Unabhängigkeit des menschlichen Geistes. Sie entdecken, dass ein Thinking Environment zu schaffen bedeutet, die Qualität des Denkens, der Entscheidungen und des Handelns hervorzubringen, nach der wir uns alle sehnen und die die Welt dringend braucht. Es bedeutet auch, Freude zu erwecken und Respekt zu instituieren, da jeder zu begreifen beginnt, dass er wichtig ist.
Diese Veröffentlichung ist das Feiern des immer größer werdenden Erfolgs der jahrelangen Erforschung und Anwendung dieser Methode. Es ist auch ein freudiges Begrüßen der vor uns liegenden aufregenden Reise, auf der wir alle mehr aus unserer Erfahrung lernen und herausfinden werden, was nötig ist, damit Menschen ihr Recht und ihre brillante Fähigkeit, eigenständig zu denken, wiedergewinnen und wir alle in einem noch nie da gewesenen Maß an Klarheit und Eleganz zusammen denken können.
Willkommen!
Nancy Kline
Alles, was wir tun, hängt in seiner Qualität von unserem vorherigen Denken ab.
Die Qualität unseres Denkens ist abhängig von unserer Aufmerksamkeit füreinander.
Das Denken in seiner besten Form ist nicht nur eine kühle Verstandestätigkeit. Es ist auch eine Sache des Herzens.
Ein Thinking Environment ist das Zusammenwirken von zehn Bedingungen, unter denen die Menschen eigenständig denken können – mit Genauigkeit, Vorstellungskraft, Mut und Souveränität.
Das Zuhören auf diese Weise entfacht die Gedanken.
Zwischen Ihnen und einem Quell guter Ideen steht eine einschränkende Annahme. Diese kann mit einer «Incisive Question» beseitigt werden.
Incisive Questions erhöhen die funktionale Intelligenz des Menschen.
Ein Thinking Environment ist etwas Natürliches und dennoch selten. Es ist durch einen negativen Umgang miteinander aus unserem Leben und aus unseren Unternehmen herausgedrängt worden.
Unternehmen, Familien und Beziehungen können wieder zu Thinking Environments werden, wo gute Ideen sprudeln, Handlungen folgen und die Menschen aufblühen.
«Time To Think» ist eine umfassende Auseinandersetzung mit dieser zeitgemäßen, in sich vollendeten Theorie und ihrer Lehre des menschlichen Verhaltens.
Am Tag bevor sie starb, sagte meine Mutter etwas völlig Überraschendes zu mir: «Ich muss mich entschuldigen», sagte sie, «für das Chaos, das meine Generation über die deine gebracht hat. Ich wünschte, ich hätte dir ein besseres Erbe hinterlassen können. Ich hoffe nur, ich habe dir ausreichend Mut mit auf den Weg gegeben, um dich mit dem, was wir angerichtet haben, auseinanderzusetzen – und auch mit dem notwendigen Quantum Hoffnung, um etwas dagegen zu tun.
Aber wie auch immer: Denk daran, es ist nicht deine Schuld. Das alles hat schon lange vor deiner Geburt begonnen.»
Meine Mutter war weder Soziologin noch Managerin oder Unternehmensberaterin. Sie war ein ganz normaler Mensch und genau wie die meisten Menschen, denke ich, erschüttert von dem, was in der Welt vor sich ging. Ich weiß nicht, ob sie mit dem Chaos, das sie angesprochen hatte, die Macht-Kriege meinte, die Tatsache, dass Menschen zwischen Abfällen auf Kanalgittern schliefen, die 60-Stunden-Woche für Büroangestellte oder das Verstummen des Insektengesangs in den brennenden Regenwäldern.
Tatsächlich war es wohl all das zusammen. Ich habe sie nicht gefragt, sondern nur in den Arm genommen und ihr gesagt, dass die wunderbarste Hinterlassenschaft für mich sie selbst gewesen sei.
Und das stimmte. Sie hatte mir, meiner Schwester und meinem Zwillingsbruder – und jedem, mit dem sie in Berührung kam – nicht nur den Mut gegeben, dem Chaos zu begegnen, sondern auch das wichtigste Werkzeug, um damit umzugehen.
Ohne es zu wissen, hatte sie auch der Geschäftswelt, Organisationen und Regierungen eine Schlüsselkompetenz zur Führung hinterlassen.
Sie hatte uns zugehört.
Sie hatte uns Zeit und Raum zum Denken gegeben.
Dieses Buch handelt nicht von meiner Mutter. Es handelt nicht einmal vom Zuhören – zumindest nicht so, wie man es normalerweise tut. Es geht vielmehr darum, was geschehen kann, wenn man so meisterhaft zuhört, wie sie es tat, wenn man den Menschen durch höchste Aufmerksamkeit seine Wertschätzung erweist und sie in ihren Grundfesten erschüttert, indem man sie überzeugt, dass sie für sich selbst denken können; wenn man sie ins Herz schließt und ihnen zeigt, dass sie selbst und das, was sie denken, eine ganz wesentliche Rolle spielen.
Dieses Buch handelt auch von Incisive Questions, Fragen, die Blockaden überwinden und es möglich machen, an Dinge zu denken, die vorher unvorstellbar schienen.
Mit dieser besonderen Art des wertschätzenden Zuhörens und mit Incisive Questions löst man Probleme, die man für unlösbar gehalten hatte, und es lassen sich Beziehungen und Organisationen aufbauen, die vor neuen Möglichkeiten geradezu überquellen.
Die Art, wie meine Mutter zuhörte, war ungewöhnlich. Ihre Aufmerksamkeit war so voller Achtung, ihre Miene so anhaltend ermutigend, dass man in ihrer Gegenwart vollkommen klar denken konnte und plötzlich verstand, was vorher verwirrend war. Und so kam man auf völlig neue, überraschende Ideen. Was vorher langweilig und eintönig war, fand man plötzlich aufregend. Man setzte sich mit den Dingen auseinander. Man löste ein Problem. Man fühlte sich wieder gut.
Sie war einfach da, ganz bei dir, und wartete gebannt, dass vielleicht ein brillant formulierter Satz aus deinem Mund sprudeln oder ein Einfall ihr den Atem verschlagen würde. Es war ein so natürlicher Vorgang, dass man ihn gar nicht richtig bemerkte. Man fühlte sich einfach wohl dabei. Für sie war es im Grunde nicht einmal ein «Vorgang». Es war einfach Teil des Lebens.
Sie schenkte einem nur ihre Aufmerksamkeit. Aber die Art ihrer Aufmerksamkeit war «katalytisch». Es sollte 40 Jahre dauern, bis ich verstehen würde, welche Kraft darin steckte.
Nach der Universität, mit einer Ausbildung in Pädagogik, Psychologischer Beratung und Philosophie, inspiriert von Descartes, machte ich mich auf die Suche nach der grundlegendsten Wahrheit, die ich finden konnte. Schließlich entschied ich mich für die Beobachtung, dass alles, was wir tun, in seiner Qualität davon abhängt, was wir zunächst einmal denken. Wie bestimmt, wie unbesiegbar oder charismatisch jemand auch sein mag, so ist doch jede seiner Handlungen nur so gut wie die Idee dahinter. Ich war von der Tatsache gefesselt, dass das Denken zuerst kommt. Daraus folgte dann, dass wir, wenn wir unser Tun verbessern wollen, zuerst das Denken verbessern müssen.
Später gründete ich zusammen mit meinen Kollegen eine Quäker-Schule, weil wir jungen Menschen im Teenager-Alter dabei helfen wollten, für sich selbst zu denken. Doch wir wussten nicht wirklich, wie wir das bewerkstelligen konnten. So beobachteten wir einige Jahre lang, in welchen Situationen unsere Schüler und Schülerinnen klar und eigenständig dachten und in welchen nicht.
Wir stellten fest, dass der IQ, das Alter, der soziale Hintergrund, das Geschlecht und selbst die Erfahrungen überraschend wenig mit den Momenten zu tun hatten, in denen die Schüler und Schülerinnen «gut» dachten. Der wichtigste Faktor, wenn es darum ging, ob sie zu einem bestimmten Zeitpunkt eigenständig und unvoreingenommen denken konnten oder nicht, schien der zu sein, wie sie von den anderen Menschen um sie herum behandelt wurden.
Wir stellten fasziniert fest, dass vieles von dem, was wir bei anderen Menschen wahrnehmen, wenn sie in unserem Beisein nach neuen Gedanken suchen, unsere Wirkung auf sie widerspiegelt. Damit waren wir einen Schritt weiter, denn als wir erst einmal entdeckt hatten, was dieses denkenfördernde Verhalten ausmachte, konnten wir es lernen und weitergeben. Anders als der IQ oder der familiäre Hintergrund war das Verhalten gegenüber anderen ja nicht naturgegeben. Es konnte verändert werden.
Das Kollegium staunte. Selbst der am wenigsten kluge Schüler schien klüger, wenn er auf eine bestimmte Art behandelt wurde. Mit den Jahren, als wir den Komponenten dieser «Denkumgebung» auf die Spur kamen, dachte ich von Zeit zu Zeit an meine Mutter zurück.
Ich erinnerte mich, dass die Art und Weise, in der sie Aufmerksamkeit gewährte, den Menschen geholfen hatte, besser zu denken, eigenständig zu denken, manchmal zum ersten Mal in ihrem Leben. Ich erforschte meine Erinnerungen genauer und begann zu verstehen, wie diese Dynamik ablief. Ihre Tiefgründigkeit wurde sanft überdeckt durch die Art, wie die Augen meiner Mutter ganz selbstverständlich auf mir ruhten, wie sie sich zurücklehnte und den Kopf in die Hand legte, völlig ungezwungen und gelassen, wie sie ihre Beine unter ihrem Rock verschränkte und es sich bequem machte. Mir kam zu Bewusstsein, in welchem Ton sie sprach und welche Laute sie von sich gab. Ich weiß noch, dass sie gelacht hatte, aber immer nur mit mir zusammen, niemals auf meine Kosten. Ich erinnere mich daran, wie wichtig ihr die Umgebung war, in der wir lebten, und wie sehr ich mich dort ernst genommen fühlte.
Ich ging noch einmal in Gedanken durch, wie sehr ich mich ihr ebenbürtig gefühlt hatte und wie sie mich bei den meisten Themen ermutigt hatte, bis an die unerforschten Grenzen meiner Vorstellungen zu gehen; sie schien niemals beunruhigt und wollte sich auch niemals mir gegenüber durchsetzen. Ich weiß noch, wie gelassen sie blieb, wenn ich etwa weinte oder eingestand, manchmal Angst zu haben. Ich bemerkte, dass sie mir an einem bestimmten Punkt genau die Informationen zukommen ließ, die ich brauchte, ohne sie mir aufzudrängen. Ich weiß noch, wie viel häufiger sie mich ermutigte als kritisierte, dass sie mich nicht unterbrach und meine Sätze nicht für mich beendete und wie ihre Augen aufleuchteten, wenn ich einen Weg gefunden hatte, etwas auf eine neue und präzise Weise auszudrücken.
Ich begann zu verstehen, dass diese einfachen Dinge eine große Kraft besaßen. Meine Kollegen und ich erkannten ein System darin, das sich reproduzieren ließ.
Der Schlüssel für das Verhalten war Aufmerksamkeit. Viel später einmal fasste ein Klient, beruflich in einer Führungsposition, es so zusammen: Die Qualität unserer Aufmerksamkeit bestimmt die Qualität des Denkens von anderen.
Alles, was wir tun, wird zunächst davon bestimmt, was wir denken, und
unser Denken hängt von der Aufmerksamkeit füreinander ab.
Wenn diese beiden Aussagen wahr wären (und sie schienen unwiderlegbar), schlossen wir, wäre vielleicht das Wichtigste, was wir mit unserem Leben und mit unseren Führungsaufgaben anfangen könnten, den Menschen so achtsam und genau zuzuhören, ihnen so respektvoll Aufmerksamkeit zu zollen, dass sie beginnen würden, eigenständig zu denken, in aller Klarheit und völlig unvoreingenommen.
Obwohl die Aufmerksamkeit, mit der wir uns gegenseitig bedachten, ein entscheidender Faktor war, merkten wir bald, dass dieses genaue Zuhören, bei aller Wirksamkeit, manchmal nicht ganz ausreichte. Es brauchte noch etwas anderes – etwas, was die Überwindung von Denkblockaden möglich machte, die auch die fachkundigste Aufmerksamkeit nicht hatte beseitigen können.
Auf unsystematische Weise, fast zufällig, hatten wir bereits die Blockaden aus dem Weg geräumt. Wir wussten, dass dieser Prozess etwas mit Fragen zu tun hatte. Aber wir wussten nicht genau, wie bestimmte Fragen wirkten oder wie man sie jedes Mal erneut so stellten konnte, dass sie zum Erfolg führten. Auch wussten wir nicht einmal, um was für Arten von Blockaden es sich handelte. Wir konnten jedenfalls anderen nicht beibringen, was wir taten. So konnten wir sie zwar beeindrucken, aber nicht selbst dazu befähigen.
Erst nach zwei Jahren weiterer Übung und Beobachtung erkannten wir das Offensichtliche: Bei den Blockaden handelte es sich fast immer um Vorannahmen, die beim Denken unbewusst am Werk waren, Annahmen, die einem als Realität erschienen. Diese einschränkenden Annahmen verhinderten, dass die Ideen weiter fließen konnten. Von all den Begrenzungen des Denkens – und von ihnen gibt es viele – schienen diese einschränkenden Vorannahmen am verheerendsten.
Wir sahen bald, dass es drei Arten von Annahmen und einige Unterarten gibt. Und wir stellten fest, dass allein das Erkennen dieser verschiedenen Typen von Annahmen, die das Denken behindern, schon dazu beitrug, sich von ihnen zu befreien.
Wir analysierten die Fragen, die allem Anschein nach zu guten Ergebnissen führten, bis wir sie schließlich verstanden. Ihr Aufbau war klar, logisch und reproduzierbar. Und das Beste war, dass man sie gut vermitteln konnte.
Im Laufe der Jahre verbesserten wir also diesen grundlegenden, aber sehr wirksamen Prozess des Zuhörens durch einen ebenfalls sehr wirksamen Prozess, den wir «Incisive Questions» nennen, sodass der menschliche Geist, zunächst einmal freigesetzt durch diese besondere Qualität höchster Aufmerksamkeit, sich auch über die hinderlichen Vorannahmen hinwegsetzen und sich Dinge vorstellen kann, die bis dahin unvorstellbar schienen.
Schließlich stellte sich heraus, welche grundlegenden Verhaltensweisen den Menschen halfen, eigenständig zu denken. Es gab offenbar zehn davon, und die meisten waren ganz einfach. Es ging um zehn verschiedene Arten des Miteinander, zehn Arten, wie man mit anderen Menschen umgeht. Die Verbindung aus ihnen allen nannten wir «Thinking Environment», also «Denkumgebung».
Es zeigte sich, dass man keinen IQ von 180 braucht, keinen Abschluss von Oxford oder Cambridge, keinen glanzvollen Lebenslauf, um klar und kreativ eigenständig zu denken. Es geht nur darum, in diese zehn Dinge einzutauchen, und dann kann man großartig denken. Und mutig handeln.
Mein Berufsalltag besteht inzwischen ausschließlich darin, diesen Prozess an andere Menschen weiterzugeben. Meine Kollegen und ich vermitteln durch die Firma «Time To Think» Organisationen, wie sie zu Denkumgebungen werden. Insbesondere zeigen wir ihnen, wie man auf diese Weise eine effektive Teamarbeit entwickelt. Wir helfen auch dem Einzelnen, ein sogenannter «Denk-Partner» zu werden und mit anderen zusammen «Denk-Sitzungen» abzuhalten, die zu einer schnellen und verlässlichen persönlichen Weiterentwicklung führen. Und wir zeigen Paaren und Familien, wie man achtsam miteinander umgeht.
In praktisch jeder Umgebung, in der Menschen zusammenkommen und miteinander kommunizieren, stellt sich heraus, dass dieser Prozess funktioniert. Manche sagen sogar, dass sie es nicht für möglich gehalten hatten, in so kurzer Zeit mit so vielen guten Ideen aufwarten zu können. Außerdem meinen sie, dass sich die Ideen schneller und mit mehr Sicherheit in die Praxis umsetzen lassen, nachdem sie Zeit hatten, auf diese Weise zu denken. Den Leuten gefällt zum einen die zwingende Logik dieses Prozesses, aber auch seine Harmonie.
Genau so sollte das Leben sein, sagen sie dann.
Das überrascht mich nicht. Ich glaube auch, dass eine Denkumgebung genau so ist, wie eigentlich das Leben, die Arbeit, die Liebe und alles Menschliche sein sollten. Ich bin der Meinung, dass es unsere erste Pflicht als Mensch ist, uns gegenseitig zu helfen und das zu tun, was in unserer Natur liegt. Und natürlich ist das eigentliche Wesen unseres Menschseins die Fähigkeit, eigenständig zu denken. Unser Geist wurde mit der erstaunlichsten Exaktheit so konzipiert, dass wir genau dies tun können.
Vor kurzem wurde ich von einer Dame darüber aufgeklärt, wie man ein Thinking Environment zusammenfassend definieren kann. Wir waren zusammen bei einem Geschäftsempfang. Früh am Morgen, als ich mich für den Empfang anzog, hatte ich geprobt, was ich sagen würde, falls jemand fragen würde – wie es unausweichlich geschieht: «Und was machen Sie?»
Vor solchen Momenten kann man es leicht mit der Angst zu tun bekommen, denn man hat normalerweise kaum vier Sekunden zum Antworten, bevor der Blick der fragenden Person wieder abgeschweift ist und den Raum in dieser hochprofessionellen Netzwerk-Manier nach einer prestigeträchtigeren oder interessanteren Person abgesucht hat. Also bereitete ich, während ich mein Haar einsprühte, meine Vier-Sekunden-Antwort vor.
Später beim Empfang erwiderte ich, als tatsächlich jemand fragte: «Und was machen Sie, Nancy?» – «Ich bin Geschäftsführerin von Time To Think, einer internationalen Beratungsfirma für Führungskräfte, die den Mitarbeitern in Unternehmen beibringt, sich gegenseitig darin zu unterstützen, eigenständig zu denken.» Vier Sekunden.
Ich lächelte. Die Dame nippte an ihrem Wein und sagte: «Oh, wirklich? Wie um Himmels willen stellen Sie das an?» Sie war noch nicht dabei, mit ihrem Blick den Raum nach anderen Leuten abzusuchen.
Das gefiel mir so gut, dass ich ihr praktisch meinen gesamten Einführungsvortrag hielt. Und am Ende meiner ausschweifenden Darbietung sagte sie: «Oh, ich verstehe. Mit anderen Worten (sie meinte wahrscheinlich «weniger»): Wenn man die richtigen Bedingungen herstellt, dann werden die Menschen eigenständig denken.»
«Genau das», sagte ich kleinlaut.
Schaffen Sie eine bestimmte Umgebung, und die Leute werden eigenständig denken. So einfach ist es.
Wir können jederzeit eine Denkumgebung für uns herstellen. Wir können dies im Büro, beim Warten auf den Bus, beim Gemüseschneiden, beim Spaziergang mit dem Hund, im Labor, am Kamin, am Telefon, im Bett und selbst auf einer Konferenz an einem imposanten Mahagoni-Tisch tun. Die Qualität unserer Aufmerksamkeit und der Incisive Questions kann zum Bestandteil unseres Lebens werden.
Dieses Buch hat vier Teile. Der erste Teil befasst sich ausführlich mit den zehn Komponenten einer Denkumgebung. Der zweite Teil beschreibt die beiden wichtigsten Anwendungen der Theorie: die Denk-Organisation und die Denk-Partnerschaft. Im dritten Teil wird dargestellt, wie fünf wichtige Schauplätze des menschlichen Lebens (Gesundheit, Lehre, Politik, Liebesbeziehungen und Familie) sich verändern könnten, wenn sie zu Denkumgebungen werden. Der vierte Teil bezieht sich auf unsere Träume für die Welt und räumt ein: Bis wir frei sind, eigenständig zu denken, sind unsere Träume nicht frei, sich zu entfalten.
Unsere Welt in ein Thinking Environment zu verwandeln wird uns allen alles abverlangen. Warum sollten wir es also auf uns nehmen?
Weil unser Leben immer schwieriger wird. Veränderungen lassen unsere Organisationen anschwellen; Angst schränkt unsere Sicht ein. Aufgrund dieser außer Kontrolle geratenen Welt ist es an der Zeit, selbständig zu denken.
Auch wenn gerade immer mehr Menschen sagen: «Wir können uns nicht die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, was wir tun, wir sind viel zu beschäftigt damit, es zu tun», ist es gerade deshalb Zeit zum Denken. Tatsächlich bedeutet, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen, Zeit zum Leben zu gewinnen.
Wir sollten eine Denkumgebung erschaffen, weil sie etwas bewirkt. Weil davon alles abhängen kann. Und wenn man das gut beherrscht, hat man ein Instrument für das ganze Leben.
Ich glaube, dass es Zeit ist, die Denkumgebung zum Herzstück von Organisationen, Beziehungen und Familien zu machen. Wir haben zu lange darauf verzichtet. Und das zeigt sich jetzt.
Wenn wir die Theorie und den Umgang mit einer Denkumgebung meistern, bereichern wir unsere Arbeit, unser Leben und unsere Beziehungen. Unternehmen produzieren bessere Ideen in kürzerer Zeit und mit besseren Geschäftsergebnissen. Sie erhöhen auch die Motivation und die Bindung ihrer Mitarbeiter an die Firma. Und Kinder, die in einem Thinking Environment aufwachsen, gehen tatsächlich besser mit anderen um und entwickeln mehr Verantwortungsgefühl.
All dies ist Grund genug. Aber vielleicht ist das Wichtigste, dass wir durch den Schritt in diese Richtung – indem wir unsere Welt in eine Denkumgebung verwandeln, in einen solch anregenden, freundlichen, lebendigen und authentischen Ort, wo geistiges Potenzial nicht verschwendet und Gefühle nicht mit Füßen getreten werden – nicht nur die Dinge für uns selbst verbessern, sondern vielleicht auch ein Erbe erschaffen können, das wir mit Stolz hinterlassen.
Vom eigenständigen Denken hängt alles andere ab.
Niemand konnte Dan stoppen. Es wäre gegen die Regeln gewesen. Er war an der Reihe zu sprechen, und zu unterbrechen war nicht erlaubt.
An diesem Tag konnte ich dabei zusehen, wie durch das Meeting-Format des Thinking Environment Tausende von Menschenleben gerettet und Millionen Dollar eingespart wurden.
Es war der Teamentwicklungstag für das Team von Dan. Die Firma war seit mehr als zwei Jahren damit befasst, ein Medikament zu entwickeln. Die Führungskräfte warteten ungeduldig darauf, dass der Prototyp fertig wurde und in die klinische Testphase ging. Die meisten Mitglieder des Teams stimmten darin überein, dass die Konkurrenzfirma sie überholen würde, wenn sie noch länger damit warteten, es auf den Markt zu bringen.
An diesem zweiten Tag des Thinking-Environment-Kurses war ich der Coach für die Vorsitzende des Meetings. Die Leute kamen und schienen sehr selbstsicher. Dan, der Toxikologe, wirkte allerdings besorgt. Aber sie sagten, Dan sei immer besorgt, er sei hoffnungslos negativ. Es gehörte häufig sogar zu einer Art versteckter Abmachung, dass Dan umgangen werden sollte.
Eine der Komponenten eines Thinking Environment ist Gleichheit. Eine weitere ist das respektvolle Zuhören, ohne zu unterbrechen. Eine andere ist das Ausschalten von einschränkenden Vorannahmen. Eine weitere Wertschätzung. Das bedeutet, dass jeder an bestimmten Punkten, auch zu Beginn, einmal an der Reihe ist, ohne Unterbrechung zu sprechen, wobei die anderen ihm aufmerksam zuhören.
Wir fingen an. Wie im Thinking Environment gefordert, eröffnete die Vorsitzende das Meeting, indem sie sich auf etwas Positives in der Zusammenarbeit des Teams bezog. Sie ging systematisch durch die Gruppe und fragte alle, was ihrer Ansicht nach im Projekt gut lief. Sie alle erwiderten etwas Entsprechendes. Aber Dan wandte sich zum Ende seines Beitrags an mich und sagte: «Werden wir jemals etwas Negatives in diesem Thinking Environment sagen? Werden wir uns überhaupt jemals mit Problemen befassen?»
«Ja», sagte ich, «der positive Anfang hat den Sinn, dass man sich dann besser mit den Problemen beschäftigen kann.»
Dan nickte, konnte aber ein spöttisches Grinsen nicht ganz verhehlen.
Die Vorsitzende stellte dann die Tagesordnung vor und begann mit dem Punkt der klinischen Tests. Gemäß dem Vorgehen nach dem Modell des Thinking Environment ging sie die Gruppe durch, sodass jeder die Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, bevor eine Diskussion beginnen konnte. Es waren zwölf Leute. Die ersten acht sagten auf die eine oder andere Weise, dass eine weitere Verzögerung das Ende des Projekts bedeuten würde. Dann war Dan an der Reihe. Als er den Mund aufmachte, dachte ich an die ersten Zeilen von König Lear, wenn Lear voller Zorn beginnt und dann nur immer noch zorniger wird.
Ich beobachtete die Gruppe. Einige rollten mit den Augen, einige blickten nach unten und begannen etwas zu kritzeln. Andere seufzten. Die Vorsitzende erinnerte alle daran, dass sie Dan die ganze Zeit ansehen und auf ihren Gesichtern Respekt für seinen Denkprozess zeigen sollten. Sie richteten sich widerwillig auf.
Ich beobachtete Dan, dessen Wut sich noch steigerte. Die anderen wirkten ängstlich. Er sagte alles, was er seit Monaten zu sagen versucht hatte, und wies auf die Gefahren hin, die die Labortests nahelegten. Schließlich kam er zu seinem wichtigsten Punkt. Er sagte: «Dieses Produkt verursacht bei Kaninchen Probleme mit der Leber. Wenn wir es nun an Menschen testen, wird es sehr teuer werden, denn wir werden möglicherweise beim Menschen Krebs auslösen, und dann ist es mit unserem Produkt aus und vorbei. Und all das Geld, das wir in den letzten zwei Jahren ausgegeben haben, war für die Katz. Wir müssen dieses Projekt möglicherweise begraben, wenn wir nicht wollen, dass Menschen sterben.»
Das war genau das, was das Team nicht hören wollte. Aber sie mussten weiter zuhören, weil Dan noch nicht fertig war. Er war noch an der Reihe. «Wir sind noch weit von Versuchen am Menschen entfernt», brüllte er beinahe.
Dann ebbte seine ganze Aufregung plötzlich ab. Er hörte auf zu reden. Niemand rührte sich. Er sah an der Gruppe vorbei durch das Fenster. Fünfzehn Sekunden vergingen. Dann blickte er nach unten. Er sprach immer noch nicht. Mich irritierte das nicht, weil ich schon häufig so etwas gesehen hatte. Es ist die produktive Ruhe, wenn jemand mit seinen Gedanken beschäftigt ist. Aber einige aus der Gruppe rutschten auf ihren Stühlen hin und her. Normalerweise hätte jetzt jemand die Stille zerschnitten. Diesmal ging das nicht.
Nach einer Ewigkeit von etwa 30 weiteren Sekunden passierte etwas Unglaubliches: Dan strahlte. Dieser Zyniker wirkte beinahe verklärt. Er «sah» von seinen Gedanken «auf» und sagte: «Wenn ich es mir richtig überlege, glaube ich, ich könnte die Probleme in knapp drei Monaten beheben. Geben Sie mir nur drei Monate.»
Das war alles. Er war fertig und sah sich in der Gruppe um. Sein strahlendes Gesicht schien zu den ermüdeten Gesichtern der anderen zu sagen: «Hey! Was ist denn los mit euch, Leute?»
Die Vorsitzende, sichtlich bewegt, sagte: «Okay, gut, dann machen wir also weiter. Ahmed?»
Ahmed richtete sich in seinem Stuhl auf und atmete tief durch, schüttelte den Kopf und sagte dann: «Ich kann mit drei Monaten leben. Ich hatte gedacht, es würde acht dauern.»
Und der Nächste sagte: «Drei Monate, kein Problem.»
Und bis zur letzten Person stimmten alle zu.
Immer noch deutlich erschüttert fasste die Vorsitzende die Entscheidung zusammen und blickte nach unten auf ihren «Spickzettel» für das Thinking Environment. Sie sagte: «Es heißt hier, dass alle von uns nacheinander sagen sollen, was unserer Meinung nach bei der heutigen Sitzung gut war, und dann, was wir an der Person zu unserer Rechten schätzen. Also, Doug?»
Sie wanden sich zwar, aber sie nahmen die Sache ernst. Wie immer funktionierte es. Und das Meeting war vorbei.
Als sie aus dem Raum gingen, hörte ich Dan sagen: «He, was ist passiert? Wie kommt es, dass mir heute niemand den Kopf abgerissen hat?»
Und die Vorsitzende fragte mich danach: «Kann es so einfach gewesen sein? Hat das Meeting gut funktioniert, nur weil alle an die Reihe kamen und wir sie nicht unterbrochen haben – weil wir zugehört haben?»
Ja.
Immer wenn ich höre, wie zuverlässig diese Komponente funktioniert, muss ich an dieses Meeting denken.
Ein Thinking Environment ist das Zusammenspiel verschiedener Bedingungen, unter denen die Menschen einerseits eigenständig denken können und andererseits das gemeinsame Denken gut funktioniert. Es ermöglicht es dem Denken, sich weiter zu bewegen, schneller zu sein, Einsichten auszuloten, Blockaden zu vertreiben und in Rekordzeit völlig neue, maßgeschneiderte Lösungen hervorzubringen.
Diese Umstände werden in den Kapiteln 3–12 ausführlich analysiert.
Wir können überall und zu jeder Zeit ein Thinking Environment für andere erschaffen. Aber zuerst müssen wir uns entscheiden, den Sprung zu wagen. Wir müssen bereit sein, für uns selbst zu denken.
Eigenständiges Denken ist immer noch ein radikaler Akt.
Eigenständig zu denken ist nicht populär, obwohl es das sein sollte. Jeder wirkliche Fortschritt in unserer Gesellschaft ist daraus entstanden. Doch in den meisten Kreisen, ganz besonders dort, wo unser Leben geprägt wird – in der Familie, in der Schule und an den meisten Arbeitsplätzen –, wird eigenständiges Denken mit Misstrauen beäugt. Einige Institutionen grenzen es absichtlich aus. Es gilt als gefährlich.
An diese traurige Tatsache wurde ich bei einer Veranstaltung erinnert, als mich ein anderer Gast nach dem Thema des Buches fragte, das ich schreiben wollte. Ich erzählte ihm, dass es darum ging, wie man sich gegenseitig helfen könne, eigenständig zu denken. «Oje», sagte er, «davon halte ich gar nicht viel; ich mag es lieber, wenn die Leute tun, was man ihnen sagt.» Später fand ich heraus, dass er in der vierten Generation Präsident einer der größten Ölfirmen der Welt war.
Wann haben Sie das letzte Mal in den erklärten Zielen eines Unternehmens die folgenden Worte gelesen: «… bei uns vorbildliche Bedingungen zu entwickeln, unter denen jede Person auf jeder Ebene des Unternehmens eigenständig denken kann»? Und wenn wir schon dabei sind – wann hat Sie das letzte Mal jemand gefragt: «Was denken Sie wirklich, also wirklich?», und Ihnen dann Zeit für eine ausführliche Antwort gelassen?
Dieses Defizit sollte uns nicht überraschen. Kaum jemand ist in seinem Leben ermutigt – und noch viel weniger angeleitet – worden, eigenständig zu denken, ebenso wenig wie seine Lehrer, Eltern und Vorgesetzten. Und auch deren Lehrer, Eltern und Vorgesetzte. (Wir haben vielleicht gelernt, Denker wie Sokrates zu verehren, aber wir wissen auch, dass der Staat ihn für sein eigenständiges Denken vergiften ließ: keine wirkliche Ermutigung.)
Gelegentlich haben wir jedoch tatsächlich einen Lehrer oder Mentor, der wirklich möchte, dass wir unser eigenes Denken entwickeln, und wir erhalten einen flüchtigen Einblick darin, wie es sein könnte. Als ich dreizehn Jahre alt war, kam ich in einen fortgeschrittenen Algebrakurs. Am ersten Tag stand die Lehrerin, die bei den Schülern als äußerst streng verrufen war, weil sie versuchte, sie zum Denken zu bewegen, vor der Tafel und sagte: «Schreibt die Summe einer Zahl auf das Papier, das vor euch liegt.»
Die gesamte Klasse, bestehend aus fünfunddreißig pubertären Schülern, starrte sie nur an. Sie wiederholte die Anweisung: «Schreibt die Summe einer Zahl.»
Ich weiß noch, dass sich an meinem Bleistift der Schweiß aus meiner Hand ansammelte. Einige Köpfe waren gesenkt, und die Stifte begannen zu schreiben. Ich fragte mich, was in aller Welt sie wohl schreiben würden. Ich sah das Mädchen auf der anderen Seite des Ganges sich vorlehnen und dem Jungen vor ihr, der irgendetwas kritzelte, über die Schulter lugen. Dann malte sie eine Zahl und deckte sie sofort mit der Hand zu.
Die Lehrerin schritt in der Klasse umher und rieb die Kreide zwischen ihren Fingern. Was würde sie wohl gleich an die Tafel schreiben? Ich war jetzt die Einzige, die nicht schrieb. Ich lehnte mich nach hinten und flüsterte meiner Freundin über die linke Schulter zu: «Wie ist die Antwort?»
«Sieben», flüsterte sie zurück.
Also schrieb ich «7» auf mein Papier. Ich hielt den Kopf nach unten gesenkt und hoffte, dass ich beschäftigt und selbstsicher aussehen würde.
Nachdem die Qualen, die wir litten, nur allzu deutlich geworden waren, fragte uns die Lehrerin nach unseren Zahlen. Die Zahl, die von den meisten genannt wurde, war 7. Sie schritt langsam zur Tafel hinüber und schrieb: «So etwas wie die Summe einer Zahl gibt es überhaupt nicht.»
Ich hatte das gewusst.
Warum hast du das nicht geschrieben?
Sarah sagte, es wäre 7.
Warum hast du sie denn gefragt?
Weil – ich weiß nicht.
Stimmt. Von jetzt an denk für dich selbst.
Für den Rest meines jungen Lebens war ich in Gegenwart dieser Lehrerin zu verängstigt, um klar zu denken. Aber ich hatte die Botschaft aufgenommen, dachte darüber nach und begann sie zu schätzen. Ich möchte hier nicht dazu anregen, Menschen zu erniedrigen – so wie sie es tat, um sie dazu zu bewegen, eigenständig zu denken. Sie hatte auf keinen Fall ein Thinking Environment für uns geschaffen. Hätte sie uns zuerst unserer Intelligenz versichert und über die Freude gesprochen, die eigenständiges Denken mit sich bringt, hätte sie nicht unsere Angst vor ihr geschürt, dann hätten wir alle sogar noch viel deutlicher erfahren, was es heißt, eigenständig zu denken. Und wir wären vielleicht auch in der Lage gewesen, in ihrer Gegenwart unseren Verstand einzusetzen.
Zumindest aber brachte sie das Konzept in meine Schullaufbahn ein. Das passierte lange Zeit nicht noch einmal – bis ich siebzehn war, als meine Englischlehrerin von uns verlangte, während des Unterrichts einen Aufsatz zu einem der folgenden Themen zu schreiben:
Welchen Vorschlag haben Sie zur Umgestaltung der Mittagspause?
Was würde sich in der Welt verändern, wenn die Männer die Babys bekommen würden?
Wir hatten 30 Minuten Zeit.
Was würde sich in der Welt verändern, wenn die Männer die Kinder bekommen würden? Ich dachte, es wäre nur ein Scherz, aber sie sagte nein. Das war 1963 und in Dallas, Texas. Niemand, den ich kannte, im Umkreis von jeweils 100 Meilen auf beiden Seiten der Stadt, stellte solche Fragen. Die einzige Erklärung, die ich mir vorstellen konnte, war, dass meine Lehrerin Probleme mit ihrer Periode hatte und sie den Männern an den Hals wünschte oder dass sie sich, im Gegensatz zu dem, was meine Mutter gesagt hatte, eben doch an die Wehenschmerzen bei der Geburt ihrer Kinder erinnern konnte und auch diese den Männern wünschte. Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Also schrieb ich über die Mittagspause.
Erst fast dreißig Jahre später wurde mir bewusst, dass sie eine extrem wichtige Frage gestellt hatte. Und zu genau dieser Erinnerung kehrte ich zurück, als ich begann, danach Ausschau zu halten, was die Menschen dazu ermuntern könnte, ihr eigenes Denken zu erkunden und es auch zu äußern. Jene Lehrerin hatte mich vor die Wahl gestellt – über eine banale oder eine große Frage nachzudenken, aber in jedem Fall mich für meine eigenen Gedanken zu entscheiden. Es gab nie eine Erniedrigung durch sie und auch kein Urteil. Ein Jahr später entschied ich mich dazu, Englischlehrerin zu werden.
Lehrer und Lehrerinnen wie diese Frau sind selten. Das ist sehr schade, denn jeder könnte, selbst außerhalb des Bildungsbereichs, direkt in den Institutionen, an den Arbeitsplätzen und in den Familien, eine Art Mentor sein, der dafür sorgt, dass die Menschen eigenständig denken können, und sie dabei anleitet. Aber normalerweise lautet die unausgesprochene Warnung in unserer Kultur, selbst wenn wir in Gruppen ein Brainstorming veranstalten oder neue Ideen entwickeln wollen: «Denk so, wie die anderen denken. Denk so, dass du Eindruck machst. Denk so, dass du nicht lächerlich wirkst. Denk so, dass du eine Beförderung bekommst. Denk so, dass du geschickt taktieren kannst.»
Wir machen uns über Ideen lustig, die sehr ungewöhnlich sind. Wir meiden Menschen, deren Ideen eventuell den Status quo – und folglich auch unseren eigenen Status – gefährden könnten. Wir nehmen außerdem an, dass wir für andere die größte Hilfe sind, wenn wir das Denken für sie übernehmen, ihnen unsere Ideen eingeben, sie unterbrechen und ihnen sagen, was sie denken sollen. Im Beruf haben wir sogar extra gelernt, dies zu tun, uns selbst als Experten dafür zu begreifen, was die Leute tun und denken sollten. Manche Menschen wissen tatsächlich nicht, was es heißt, eigenständig zu denken. Ich habe schon sowohl mit Einzelpersonen als auch mit Gruppen gearbeitet, die die Frage «Was denken Sie wirklich?» als zutiefst verstörend empfanden, ja sogar als aufdringlich.
Diese extrem schlechte Angewohnheit, nicht eigenständig zu denken und sich zu vergewissern, dass andere dies auch nicht tun, beginnt in einem frühen Alter. Das konnte ich anschaulich bei einer Gruppe von Jugendlichen beobachten, die vor einigen Jahren bei mir in London einen Kurs über Führungskompetenzen belegt hatten. Als wir anfingen, wirkten sie offen und voller Energie. Ich bat sie, der Reihe nach folgende Frage zu beantworten: «Wann haben Sie in diesem Jahr schon einmal gezeigt, dass Sie über Führungskompetenzen verfügen?»
Ihre Gesichter verzogen sich langsam. Sie sahen mich an, als sollte ich etwas erklären. Aber was gab es da zu erklären?
«Was meinen Sie genau?», fragte mich einer von ihnen schließlich.
Also versuchte ich es anders zu sagen.
«Wann waren Sie in diesem Jahr einmal in der Situation, dass von Ihnen erwartet wurde, die Initiative zu ergreifen oder den Weg vorzugeben?»
Immer noch kein Kopfnicken. «Na, wie zum Beispiel was?», fragte jemand anderes.
«Ich weiß nicht», sagte ich. «Das müssen Sie selbst sagen. Sagen Sie, was Sie denken. Auf welche Weise haben Sie andere geführt?»
Ein kurzes Schweigen wie das, das folgte, kann sehr lang sein. Es zieht sich, bis es irgendwo zu knarzen beginnt. Niemand blickte nach unten oder rührte sich.
«Ich weiß nicht, was ich dieses Jahr gemacht habe, um andere zu führen», sagte schließlich einer der Jungen. «Hey, Jay», sagte er zu dem Jungen neben ihm. «Was würdest du sagen, hab ich gemacht, um andere zu führen?»
«Nicht viel», sagte Jay grinsend. In der Gruppe gab es ein einverständliches Glucksen.
«Nein», sagte ich. «Es geht darum, was Sie denken. Sie sind der Einzige, der weiß, was Sie denken – hierzu oder wozu auch immer.»
«Na ja, das ist nicht so einfach, wie Sie vielleicht glauben», sagte ein Mädchen namens Bristol. «Wer denkt denn überhaupt schon über diese Dinge nach? Ich meine, das ist nicht gerade eine Frage, die man sich jeden Tag stellt, oder? Sie kommt mir ein bisschen albern vor. Wen interessiert es schon, wie ich mich dieses Jahr in einer Führungsrolle verhalten habe? Ich meine, ich bin nicht gerade jeden Abend in den Nachrichten, oder?» Einige andere kicherten.
«Ja, das stimmt», sagte jemand. «Gehen wir besser zum nächsten Thema. Das ist jetzt schon irgendwie langweilig. Wollen wir das den ganzen Tag machen?»
Ich wusste, mir blieben kaum zehn Sekunden, um das bisschen an Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen, das ich vielleicht genossen hatte, als sie eingetroffen waren. Aber ich konnte mir nicht erklären, was passiert war. Was ließ die Frage für sie langweilig erscheinen? Ungewöhnlich vielleicht. Aber langweilig?
Dann fiel mir ein: Das Gefühl der Langeweile kann auch einsetzen, weil man den Kontakt zur Wahrhaftigkeit verliert. Genau dies passierte mit diesen jungen Menschen. Sie liefen vor dem davon, was sie tatsächlich dachten, und gaben sich alle Mühe herauszufinden, was sie in den Augen der anderen denken sollten – was, anders gesagt, alle anderen dachten. So, als lägen unter ihrem Schädel neben ihren Augen noch ein Paar anderer Augen, wie in einem Periskop, die die Gesichter der anderen in der Gruppe absuchten, um zu sehen, was die richtige Antwort war. Und die richtige Antwort war alles, was bei niemandem Spott auslöste. Der zögernde, naiv erscheinende Dialog, den einige mit mir riskiert hatten, war im Grunde ein raffiniertes Ritual der Anpassung. Nicht einmal einem von ihnen schien es in den Sinn zu kommen, dass eigenständiges Denken tatsächlich eine Option sein könnte.
Wahrscheinlich hätte ein Minenfeld aus der Nachkriegszeit für diese Gruppe junger Menschen nicht bedrohlicher sein können als das Terrain zwischen sich selbst und den anderen in der Gruppe. Ich habe den Verdacht, dass Teenager, die sich darüber beklagen, so oft gelangweilt zu sein, wahrscheinlich völlig davon in Anspruch genommen sind zu versuchen, jemand anders zu sein. Das gilt wahrscheinlich auch für Erwachsene.
Also sagte ich: «Wann hat Sie das letzte Mal jemand gefragt, was Sie denken?» Und langsam, ganz langsam, begannen sie zu reden. Ich werde nie vergessen, was Lisa sagte: «Niemand hat mir jemals diese Frage gestellt. Ich weiß aber, dass mein Vater immer meinte, ich solle nicht den Schlaumeier spielen, wenn ich eine eigene Meinung hatte. Er sagte, das wäre ein Zeichen von Respektlosigkeit. Und er machte mir das sehr handgreiflich klar.»
Lisa und Bristol hatten, wie die meisten Menschen, während ihrer gesamten Kindheit und des größten Teils ihrer Teenager-Zeit eher gelernt, sich einzufügen, als eigenständig zu denken. Sie sagten, sie wollten nicht als Nerds verschrien sein. Sie wollten ihre Freunde nicht verlieren.
Als Kinder lernen wir, uns nach Autoritäten zu richten, die das Denken für uns erledigen. Und dann, von dem Moment an, in dem wir Freundschaften schließen, richten wir uns nach unseren Freunden, wenn es darum geht, was wir denken. Wo immer wir sind, schauen wir uns um, analysieren die Situation und denken das, von dem wir annehmen, dass es die anderen denken, dass man es von uns erwartet. Selbst in den höheren Klassenstufen wird uns dies in der Schule auf immer raffiniertere Weise vermittelt. In den meisten Religionen ist es die Voraussetzung zur Erlösung.
In den Unternehmen, Regierungsinstitutionen und Familien, die mich als Beraterin beschäftigen, beobachte ich diese «Vierzehnjährigen» in der Diskussion. Wie eine Bristol in mittleren Lebensjahren schauen sie um sich. Sie peilen die Lage: Was sollen sie hier denken, was lässt sie in der Gunst der Menschen bleiben, die sie eingestellt haben, die ihre Leistungen beurteilen, die entscheiden, welche Schule sie für ihre Kinder aussuchen können, die über die Gewinner von Preisen abstimmen, die die Firma ausgibt?
Man tut, was alle tun. Zu denken, was alle denken, wird belohnt.
Manche erzählen mir, sie hätten Angst vor ihren eigenen Gedanken und dass sie es vorziehen würden, einfach so weiterzumachen, als innezuhalten und darüber nachzudenken, was sie tun. Sie fürchten sich vor dem Aufruhr, sagen sie, der entstehen könnte, wenn sie herausfinden, was sie wirklich denken. Der Status quo ist sicherer.