Bo, der Retter
Das Ei gab in der Pause keinen Laut von sich und auch nach Schulschluss blieb es still. Und trotzdem: Anja war sich sicher, dass sie sich nicht verhört hatte. In diesem Ei steckte etwas Lebendiges!
Doch jetzt musste sie es erst mal in Sicherheit bringen. Zu Hause wollte sie ihren Schatz an ihren Brüdern vorbeischmuggeln. Dummerweise war nämlich auch Alexander früh aus der Schule zurückgekommen und lümmelte auf dem Sofa herum. Baby-Bo baute im Wohnzimmer aus Legosteinen ein Haus für seine Gummischildkröte. Noch hatten die Jungs ihre Schwester nicht entdeckt. Anja zog leise die Stiefel aus und huschte auf Zehenspitzen zur Treppe. Das war gar nicht so einfach, denn überall lagen Legosteine herum. Kaum hatte sie mit Hüpfern und Verrenkungen die Treppe erreicht, steckte plötzlich Mama den Kopf aus der Küchentür und rief: „Hallo, kleine Schleichkatze!“
Alexander und Baby-Bo hoben sofort die Köpfe. Alexander grinste fies.
„Ihr könnt gleich den Tisch decken“, sagte Mama gut gelaunt. „In einer halben Stunde gibt’s Spaghetti!“ Mit diesen Worten verschwand sie wieder in der Küche.
Jetzt ging es um Sekunden. Anja flitzte die Treppe hoch.
„Stehen bleiben, Eierkopf!“, rief Alexander. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er vom Sofa hochschoss.
„Eierkopf! Eierkopf“, wiederholte Baby-Bo begeistert. Na klasse! Schon wieder ein neuer Spitzname! Natürlich ließ auch Baby-Bo seine Legosteine sofort fallen und wetzte hinter Alexander und ihr her. Alle drei donnerten die Treppe hinauf.
„He, was ist denn mit euch los?“, hörte Anja noch Mamas Stimme von unten. Aber da war sie schon bei ihrem Zimmer am Ende des Flurs angelangt. Sie schlüpfte hinein und warf sich mit voller Wucht gegen die Tür. Blöderweise hatte Alexander genau dieselbe Idee. Sie stöhnten beide vor Anstrengung, während sie sich von verschiedenen Seiten gegen die Tür pressten. Schließlich gelang es Anja, die Tür wenigstens ein Stück zuzudrücken.
„Gib auf!“, brüllte Alexander.
„Nein! Du fasst das Ei nicht noch mal an!“, schrie Anja und hielt mit aller Kraft die Tür zu.
„Ich will auch die blaue Rakete sehen!“, quengelte Bo auf dem Flur herum.
„Los, Bo, hilf mir!“, rief Anja. „Dann zeige ich sie dir!“
Na also, das wirkte! Ihr kleiner Bruder quetschte sich durch den Türspalt ins Zimmer und drückte nun auch von innen gegen die Tür.
„Fieser Verräter!“, schimpfte Alexander vom Flur aus.
Aber jetzt hatte er keine Chance mehr. Mit einem Knall fiel die Tür ins Schloss und Anja drehte blitzschnell den Schlüssel um.
„Das wird euch noch leidtun!“, kam Alexanders Stimme dumpf von der anderen Seite. Bo grinste unter seinem Fahrradhelm hervor.
Tja, versprochen war versprochen. Anja nahm den Schulranzen ab und holte die Mütze hervor, in der das Ei sicher gepolstert lag. „Es ist gar keine Rakete, sondern ein Ei“, flüsterte sie ihrem kleinen Bruder zu. „Es lag im Schnee.“
Bo bekam große Augen und streckte die Hände danach aus.
„Nur ansehen!“, warnte Anja.
„Ich will es aber anfassen!“, maulte er und bibberte vorsichtshalber mit der Unterlippe. Das war Bos Art, mit Geheul zu drohen. Wenn er loslegte, würde das sofort Mama auf den Plan rufen. Bo war ein richtiger Erpresser!
Anja schnaubte und hielt ihm das Ei hin. „Na gut. Aber nur streicheln, und zwar ganz vorsichtig!“, ermahnte sie ihn. Sie hatte ein ganz mulmiges Gefühl, als sie seine kleinen Wurstfinger über das schöne Ei patschen sah. Und natürlich musste er es dann auch noch ablecken.
„Iiih!“, schrie Anja. „Du Sabberbacke!“
Sie zog das Ei weg von ihm und rieb es an ihrem Pulli trocken. Doch da hörte sie es wieder, das Kichern. Ganz leise. „Hehehe.“ Als wäre das Ei kitzlig.
„Schau mal!“, quietschte Bo und deutete aufgeregt darauf.
„Was macht ihr da drinnen?“, schrie Alexander. Wütend trommelte er gegen die Tür.
Anja hob das Ei ins Licht. „Es bekommt eine andere Farbe!“, sagte sie erstaunt. Tatsächlich: Je länger es in ihrer Hand lag, desto mehr veränderte sich das Blau. Das Ei wurde erst lila und schließlich feuerrot. Und als ob das noch nicht seltsam genug gewesen wäre, leuchteten auf dem feuerroten Ei auf einmal sonnengelbe Sprenkel.
Bo machte schon den Mund auf. Vermutlich wollte er „Mama, guck mal!“ schreien und in Richtung Tür loslaufen. Aber Anja hielt ihn zurück. „Hör zu, Bo, das ist ein Geheimnis“, flüsterte sie und sah ihrem Bruder ernst in die Augen. „Alexander darf das Ei nicht in die Finger bekommen, sonst macht er es kaputt. Vielleicht ist ein blaues Küken darin. Wir müssen gut darauf aufpassen. Hast du verstanden?“
Bo riss die Augen noch weiter auf und nickte dann ernsthaft.
„He, was flüstert ihr da?“, donnerte Alexander.
Bo sah sich im Zimmer um und zupfte dann an Anjas Ärmel. „Wir müssen das Ei schnell verstecken“, sagte er besorgt.
Jetzt musste Anja doch lächeln. Wenn es darum ging, Tiere zu beschützen, konnte sie sich auf ihren kleinen Bruder verlassen. „Gute Idee. Das machen wir!“, sagte sie leise.
„Mama!“, rief Alexander. „Anja und Bo haben die Tür abgeschlossen. Und hier riecht es ganz komisch nach Streichhölzern. Ich glaube, die machen Feuer da drin!“
Das sah Alexander ähnlich! Wenn er gewinnen wollte, war ihm jedes Mittel recht. Schon erklangen Mamas feste Schritte auf der Treppe. Gleich darauf ertönte ein hartes, aber nachdrückliches Klopfen. „He, sofort aufmachen! Wehe, ihr zündelt da drin!“
„Wir zündeln doch gar nicht“, rief Anja und stürzte mit dem Ei in der Hand zur Heizung.
„Ach wirklich?“, rief Mama streng. „Und warum sperrt ihr dann die Tür zu? Ihr wisst, dass ich das nicht mag! Bo? Lass mich ins Zimmer!“
Bo bekam einen Schreck und vergaß auf der Stelle, dass er ein Küken-im-Ei-Beschützer war. Er witschte zur Tür und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Anja versteckte die Mütze mit dem Ei blitzschnell hinter der Heizung. Gerade noch rechtzeitig, bevor Alexander und Mama hereinkamen. Mama sah sich kurz um, schnupperte misstrauisch und schüttelte dann verärgert den Kopf. „Die zwei zündeln doch gar nicht!“, sagte sie streng zu Alexander.
Alexander tat so, als würde er schuldbewusst den Kopf senken. Aber Anja fiel natürlich auf, dass er den Schulranzen anstarrte. Tja, das hatte er sich so gedacht! Das Ei würde er hinter der Heizung nicht so schnell finden.
„Ein für alle Mal: Ich will nicht, dass sich hier noch einmal jemand einsperrt“, sagte Mama streng. Sie zog den Schlüssel aus dem Schloss und ließ ihn in die Hosentasche ihrer Jeans gleiten. „Und jetzt alle nach unten! Wenn ihr herumstreiten könnt, dann könnt ihr auch den Tisch decken.“